Das Techkollektiv Think-it gibt nicht nur jungen Tunesiern eine berufliche Perspektive, sondern geht auch die großen Probleme des Jetzt an ls Joscha Raue, Mehemed Bougsea und Amel Abid in Tunesien ankamen und ihr Konzept erklärten, waren die Reaktionen extrem positiv: „Su- per, das ist genau das, was unser Land braucht!“ Trotzdem nahm erst mal keiner die drei Uniabsol- venten ernst. Niemand glaubte, dass sie eines der größten Probleme Tunesiens lösen könnten. Die Idee von Raue, Bougsea und Abid: jungen tune- sischen Techtalenten Jobs in europäischen und amerika- nischen Unternehmen vermitteln, und zwar auf Remo- te-Basis. Hintergrund ist, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Tunesien wahnsinnig hoch ist, trotz des sehr guten Ausbildungsniveaus, insbesondere im Techbereich. Der Grund: Es gibt einfach keine passenden Jobs. Die Folge: viel Abwanderung, wenig Verbesserung. In Europa und den USA hingegen herrscht ungebrochener Bedarf an Softwareingenieuren, Data-Scientists und Machine-Lear- ning-Experten. So hatten Raue und seine Mitgründer sich ein Modell überlegt, das beide Welten zusammenführt: Think-it, ein Techkollektiv für anspruchsvolle Projekte aus aller Welt, das Tunesiern ermöglicht, auf internationaler Ebene an State-of-the-Art-Technologien zu arbeiten – ohne dafür das Land verlassen zu müssen. Dahinter steht die Hoffnung, dass die sogenannten Think-iteers schnell wertvolle Erfahrungen sammeln und eigene Unternehmen gründen, damit das tunesische Ökosystem befeuert wird. Die Idee zu Think-it entstand, als Mehemed Bougsea für eine Managementberatung arbeitete. Für ein Projekt wurden französischsprachige Übersetzer gesucht, und da Bougsea jede Menge Freunde in Kamerun hatte, ver- wies er seinen Chef an einen Kameruner Kumpel. Der Chef vertraute nach anfänglichen Zweifeln Bougsea und dessen warmer Empfehlung. Am Ende war er maximal zufrieden. Bougsea sah, dass so eine Zusammenarbeit über Kontinente hinweg funktionieren kann. Es braucht lediglich einen Vermittler, der für Qualität und Verläss- lichkeit haftet. So wie Think-it. Die Geschäftsidee nahm konkrete Gestalt an, als Bougsea seinen Master an der Columbia University machte, wo er zu Employment und Education in Afrika forschte. Ihm stach die große Diskrepanz zwischen Jugendarbeitslo- sigkeit und Ausbildungsniveau in Tunesien ins Auge. Als er Amel Abid kennenlernte, eine Tunesierin, die in New York Computer Science studierte, trieben sie die Idee zu Think-it gemeinsam voran. 2016 holten sie zusätzlich Joscha Mit Daten die Welt retten A Mehemed Bougsea (r.) kam die Idee zu Think-it während seines Jobs bei einer Managementbe- ratung. Heute gehören zu dem Techkollektiv 30 Softwareingenieure, Data-Scientists und Ma- chine-Learning-Experten WORK: Think-it Text TANJA LEMKE Business Punk — 063 Business Punk — 062 Raue ins Boot, den Bougsea während seines Bachelors in Köln kennengelernt hatte. Aus dem Projekt wurde eine Company. Bougsea wurde CEO, Abid CTO, Raue CGO. Wichtig war den drei Gründern, dass Think-it weder eine Personalvermittlung noch eine Agentur wird. Sie begriffen sich als Kollektiv und Team, dessen Mitglie- der bei unterschiedlichen Unternehmen angestellt sind. Und zwar als vollwertig eingebundene Mitarbeiter, die nur zufällig von einem anderen Kontinent aus arbeiten. Außerdem konzipierten Raue, Bougsea und Abid eine Art Bootcamp, das die Talents anfangs durchlaufen müssen, um noch ein wenig an ihren Skills zu feilen. Aber damit all das funktioniert, gab es drei wichtige Prämissen, sagt Raue: „Finden wir gute Leute mit viel Potenzial? Schaffen wir es, diese Leute noch mal auf ein anderes Level zu bringen? Und finden wir Unternehmen, die bereit sind, diesen Leuten eine Chance zu geben und sie einzustellen?“ Touchdown in Tunis Mit diesen drei Fragen flogen Raue, Bougsea und Abid im Juni 2017 nach Tunesien. Kurz zuvor wurde ihr Konzept bei einem Innovations-Award mit 10 000 Dollar prämiert. Dieses Geld wollten sie nutzen, um ihre Gründungsidee vor Ort zu validieren. Den ersten Monat kamen die drei bei Abids Eltern in einem Vorort von Tunis unter, schlie- fen in deren leer geräumtem Keller und lebten aus dem Koffer. Jeden Tag gingen sie in einen der wenigen Cowor- king-Spaces, stellten allen, die zuhören wollten, ihre Idee vor und baten um Intros zu Leuten, die sich in der lokalen Techszene auskannten. Diese Szene steckte damals noch in den Kinderschuhen. Es gab kaum Infrastruktur oder Förderung für Startups, zusätzlich war die tunesische Bürokratie noch lange nicht im digitalen Zeitalter ange- kommen. Entsprechend schwer hatten es die drei Gründer. „Wir mussten erst mal ein bisschen gegen die Wand laufen, um zu verstehen, wie es hier läuft“, sagt Raue. Grundsätzlich waren die drei aber äußerst willkommen in Tunis. Einerseits, weil ausländische Gründer ohnehin ein gutes Ansehen genießen, aber auch, weil da nicht einfach drei weiße Kids aus dem Westen kamen und mal eben die afrikanische Jugend retten wollten, wie Raue sagt. Mit Abid als Tunesierin und Bougsea als Deutsch-Libyer war man automatisch eher auf Augenhöhe. Auch weil sie sich als Matchmaker verstanden: „Wir wollten eine Brücke zwischen Nordafrika, Europa und den USA bauen“, sagt Raue. „Aber die, die es vorantreiben müssen, sind die jungen Menschen in Tunesien. Die müssen das wollen.“ Im September 2017, drei Monate nach der Ankunft in Tunis, ließen Raue, Bougsea und Abid die erste Kohorte von sechs Entwicklern das Trainingsprogramm durch- laufen. Vier weitere Monate später stellten tatsächlich zwei Startups aus Berlin die ersten Think-iteers ein. Das Feedback: „Eure Leute sind richtig gut, die sind produk- tiver als unsere hier in Berlin.“ Feuerprobe bestanden. Heute gehören 35 Leute zum Kollektiv, 25 Think- iteers sind bereits weitergezogen. Worauf die Gründer wahnsinnig stolz sind: Die Frauenquote liegt bei über- durchschnittlichen 35 Prozent. Inzwischen seien um die 10 000 Bewerbungen eingegangen, sagt Raue, die Nachfrage ist also riesig. In der Regel kommen die Bewerber frisch von der Uni, bringen aber bereits einiges an Coding-Er- fahrung mit. Und das Bemerkenswerte: Die Tunesier sind im Gegensatz zu den meisten deutschen Studenten auch oft Monate oder gar Jahre und dazu haufenweise Expertise, um diese Daten auszuwerten und brauchbare Insights herauszufiltern. „Data-Scien- tists, Machine-Learning-Ingenieure und AI-Talente sind nicht überall verfügbar, außerdem können sich viele Teams die guten Leute gar nicht leisten“, sagt Raue. „Darum sorgen wir auch dafür, dass die Daten nicht nur verfügbar, sondern auch schon analysiert sind.“ Think-it setzt also unzählige Datensätze ins Verhält - nis, hält die Erkenntnisse fest, erstellt Visualisierungen und bereitet fertige Machine-Learning-Kits vor, um den Teams die Entwicklung ihrer Algorithmen zu erleichtern. Diese Datenaufbereitung übernimmt Think-it aktuell für zwei Projekte der X-Prize Foundation. Einmal für die mit 10 Mio. Dollar dotierte Rainforest Challenge, bei der eine Technologie entwickelt werden soll, mit der sich die Biodiversität des Regenwalds dauerhaft überwachen und analysieren lässt. Außerdem für die von X-Prize neu ge- gründete Pandemic Alliance, ein Bündnis aus Unternehmen, Organisationen und Wissenschaftlern auf der ganzen Welt, die ihre Daten und Learnings miteinander teilen, um Covid-19 schneller zu stoppen. Über 20 Mitglieder sind dieser Allianz inzwischen beigetreten, darunter IBM, die Munich Re und der große amerikanische Krankenversicherer Anthem. Im Rahmen der Pandemic Alliance hostet Think-it auch zwei extracurricular wahnsinnig engagiert. „Die Leute gehen während der Uni sehr steil nach oben, sind supermotiviert und ambitioniert“, sagt Raue. „Umso fataler, dass es keine Jobs gibt, wo sie weiter durchstarten können.“ Die meisten Think-iteers seien vor allem dadurch motiviert, für andere junge Menschen im Land etwas auf- zubauen und der westlichen Welt zu beweisen, dass man sich sehr wohl auf tunesische Entwickler verlassen kann. Für sie ist es mehr als nur ein Job. Darum bezeichnet sich Think-it nicht nur als „Kollektiv“, sondern ist tatsächlich so organisiert: Jeder bekommt Anteile am Unternehmen und darf mitbestimmen, wo es hingeht. „Dieses Partizipa- torische ist den Leuten sehr wichtig“, sagt Raue. Für Raue, Bougsea und Abid ist aber nicht nur der Impact ihres eigenen Programms wichtig, auch die Pro- jekte wählen sie gezielt aus. „Wir widmen uns den großen Herausforderungen unseres Planeten und unserer Gesell- schaft“, sagt Raue. Dafür hat sich Think-it auf Big-Da- ta-Projekte und den Aufbau von Cloud-Infrastrukturen spezialisiert, die dazu beitragen, die Welt nachhaltiger, besser, demokratischer zu machen. „Data for Impact“ nennt sich dieser Ansatz, den erst wenige Unternehmen weltweit verfolgen. Ein Beispiel, das dieses Credo schnell begreiflich macht, ist ein Projekt aus dem vergangenen Jahr: Think- it wertete Wetter- und Satellitendaten aus dem Senegal aus und erstellte ein Dashboard, das vorhersagt, wie sich der Klimawandel auf die Wasserstände und Weideflächen auswirkt. Ziel war, es den Hirten zu erleichtern, frucht- bares Land für ihre Viehherden zu finden und dadurch häufig auftretende, gewaltsame Konflikte zu vermeiden. Ein deutlich größeres Projekt für Think-it ist eine kürzlich angelaufene Kooperation mit BMW. Details darf Raue noch nicht verraten, nur dass Think-it für BMW eine Cloud-Plattform baut, in der die von Tausenden Autosensoren im Sekundentakt gesammelten Daten zu- sammengeführt, analysiert und anschaulich aufbereitet werden. Dies soll BMW dabei helfen, den CO₂-Footprint des gesamten Konzerns zu reduzieren. Der nächste Moonshot Bedeutend für Think-it ist auch die Zusammenarbeit mit der X-Prize Foundation, einer kalifornischen Stiftung, die 1995 vom Singularity-University-Gründer Peter Diamandis ins Leben gerufen wurde. Regelmäßig schreibt die Stiftung hoch dotierte Preise für technische und wissenschaftliche Innovationen aus, an denen Teams oder Einzelpersonen aus aller Welt teilnehmen können. Diese Moonshot-Chal- lenges laufen meist über mehrere Jahre und drehen sich beispielsweise um die Entwicklung von Raumfahrzeugen, die Kartografierung des Meeresbodens oder bessere Bil- dung in Entwicklungsländern. Seit Ende 2019 ist Think-it strategischer Partner von X-Prize und hilft der Stiftung gerade beim Aufbau der Data Collaboratives. Hierbei handelt es sich um eine Plattform, die zu jeder ausgeschriebenen Challenge allerhand relevante und voranalysierte Daten bündelt, auf die alle teilnehmenden Teams Zugriff haben. So bekommen sie eine extrem wertvolle Grundlage für ihre Arbeit, denn erstens ist es für die meisten Teams unheimlich schwierig, überhaupt an relevante Daten heranzukommen. X-Prize als namhafte Stiftung kann da deutlich leichter mit renommierten Forschungseinrichtungen oder der Nasa verhandeln. Zweitens brauchen die Teams Kurzzeit-Challenges und sucht konkrete AI-Lösungen, um Corona-Beschränkungen gezielter anzuordnen und künftige Pandemien besser vorhersehen zu können. So hat sich Think-it in der „Data for Impact“-Szene inzwischen einen Namen gemacht. Trotzdem stellten Raue, Bougsea und Abid fest, dass sie in puncto Skalierbarkeit an Grenzen stoßen. Ursprünglich wollten sie innerhalb von vier Jahren 1 000 Talente onboarden. In so kurzer Zeit ließen sich aber nicht genügend Arbeitsplätze auftreiben, sagt Raue. Darum stellt Think-it mittlerweile keine ganzen Kohorten mehr ein, sondern nur noch einzelne Leute. Um aber weiterhin möglichst vielen jungen Menschen in der MENA-Region ein Sprungbrett zu bieten, arbeitet Think-it gerade an einer kostenlosen Lernplattform, An- fang 2021 soll sie launchen. Die Inhalte stehen durch das Bootcamp eh schon, warum also nicht viel mehr Leute davon profitieren lassen? Der Unterschied zu anderen Anbietern: „Wir setzen an einem anderen Level an und hören an einem anderen Level auf“, sagt Raue. Man soll also nicht ganz schnell ein bisschen coden lernen, es geht um die tiefer gehende Spezialisierung auf besonders ge- fragte Technologien. Zusätzlich soll ein starker Fokus auf Soft Skills und Persönlichkeitsentwicklung liegen. „Denn wir glauben, das ist der wesentliche Knackpunkt, um sein Potenzial voll ausschöpfen zu können“, sagt Raue. Mit ihrem Engagement gehören Raue und sein Team mittlerweile zu den Posterboys der tunesischen Tech- szene. Inzwischen trägt ihre Arbeit sogar erste Früchte, denn drei der Alumni haben tatsächlich eigene Startups gegründet. Und auch die moderne Arbeitskultur von Think- it beginnt, auf andere Unternehmen abzufärben. Flexible Arbeitszeiten, flache Hierarchien, das Individuum im Vordergrund – „das ist eine Kultur, die gab es so vorher nicht, da sind wir einer der Vorreiter“, sagt Raue. Erfreu- licherweise hat mittlerweile auch der Staat erkannt, dass Startups gefördert werden sollten, und tut nun einiges für das Ökosystem. Trotzdem muss in der Region noch sehr viel getan werden. Raue sieht gerade mal den Grundstein gelegt: „Bis 2050 wird es in der MENA-Region etwa 300 Millionen Menschen unter 25 Jahren geben, die keinen Job haben. Wir müssen uns also ordentlich ranhalten.“ »Wir widmen uns den gro- ßen Heraus- forderungen unseres Planeten« JOSCHA RAUE Der Co-Gründer und Chief Growth Officer von Think-it kümmert sich vor allem um die Partner des Tech- kollektivs und tütet frische Deals ein. Die Hälfte des Jahres arbeitet er in Tunesi- en, den Rest der Zeit remote aus Europa. WORK: Think-it Business Punk — 065 Business Punk — 064