Deutsche Russlandpolitik Waren sie alle von Sinnen? Gegen den Krieg kann Deutschland nicht tun, was es tun müsste. Das ist die Folge einer an Pathos und Profit orientierten Regierungspolitik. Von Bernd Ulrich ARTIKEL HÖREN Deutschland fühlt sich dem Frieden verpflichtet. Und machte lange Gewinn damit. © Illustration: Dennis Vernooij für DIE ZEIT Ist es möglich, die Vergangenheit zu bewältigen, während sie noch gegenwärtig ist? Wahrscheinlich nicht, aber es muss sein – zu viel Schmerz ist da, zu viel steht auf dem Spiel. Und dann ist da noch die entscheidende Frage: Kann man jenen, die derart falschlagen, zutrauen, heute und morgen das Richtige zu sagen oder zu tun? Die Rede ist von der deutschen Russlandpolitik und also von einer ungeheuren Demütigung. Seit zwei Monaten führt Russland einen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine, begeht Kriegsverbrechen, mordet, vertreibt, vergewaltigt, hungert aus. Und Deutschland, eines der reichsten Länder der Welt und das mächtigste Land der EU, tut nicht, was es tun müsste. Es kann nicht aufhören, das russische Regime täglich mit 200 Millionen Euro für die Lieferung von Öl, Kohle und Gas zu füttern. Und es kann nicht genügend Waffen an die um ihr Leben kämpfenden Ukrainer liefern, weil die Bundeswehr, wie es heißt, selbst 20. April 2022 / / EXKLUSIV FÜR ABONNENTEN 52 Kommentare Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 17/2022. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen. [https://premium.zeit.de/abo/d iezeit/2022/17] so schlecht bestückt ist, dass sofort die Landesverteidigung in Gefahr geriete, gäbe man ein paar Leopard-Panzer zu viel ab. Jedes Kettenfahrzeug zählt. Also jedes, das fährt. Es ist unendlich peinlich, man schämt sich. Und man sucht nach den Schuldigen. Und die Schuldigen? Die suchen nach Auswegen. Sie geben das eine oder andere zu, zum Beispiel, dass Nord Stream 2 [https://www.zeit.de/thema/nord- stream-2] ein Fehler war. Wobei man sagen muss: Ein Fehler, der über einen solch langen Zeitraum begangen wurde, ein Fehler, auf den man international und national wieder und wieder aufmerksam gemacht wurde, ein Fehler, den man mit derartiger Macht und so erheblichem Stehvermögen durchgesetzt hat, ist womöglich gar kein Fehler, sondern die logische Konsequenz einer grundfalschen Russlandpolitik. Und lässt einen für weiteres Regieren oder Präsidieren möglicherweise ungeeignet erscheinen. Es wird auch gesagt, niemand habe wissen können, dass Wladimir Putin so weit gehen würde. Das stimmt natürlich nicht, denn die Ukraine und der amerikanische Geheimdienst wussten es. Doch selbst wenn man die Kontingenz der Geschichte in Anschlag bringt und behauptet, ohne Corona und den damit verbundenen Kreml-Lagerkoller wäre Putin womöglich nicht einmarschiert – selbst dann bleibt doch recht erstaunlich, warum Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Olaf Scholz, Wolfgang Kubicki und, ja, Angela Merkel so gehandelt haben, als könne eine russische Aggression auf gar keinen Fall passieren. Denn nur dann wäre es ja gerechtfertigt gewesen, die Infrastruktur der Freiheit in Deutschland – erneuerbare Energien, Flüssiggas-Terminals, eigene Gasspeicher, Diversifizierung der Gasimporte, funktionierende Bundeswehr – derart fahrlässig, man kann sogar sagen: mutwillig zu vernachlässigen. Das aber haben sie getan. Und wegen dieser Vernachlässigung kann Deutschland jetzt nicht tun, wozu es als demokratisches Land die Pflicht hätte, wenn die eigene Sicherheit und Freiheit am Dnipro von anderen blutig verteidigt wird. Für die Ukraine wird es dadurch noch schwerer als ohnehin. Doch auch die Deutschen nehmen Schaden an ihrer Seele. Jeden Tag. Denn während frühere Regierungen die energiepolitische Abhängigkeit von Russland ständig erhöht haben, sagt ihnen die neue Regierung jetzt: Ihr Lieben, bei eurer großen Abhängigkeit einen sofortigen Energieboykott zu verhängen, das haltet ihr sowieso nicht durch. Ihr seid keine Helden, wir kennen euch. Gut zu wissen, was eine Regierung so denkt über ihr Volk. Die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker haben Glück. Denn ihnen wird nun manches vorgeworfen, was übertrieben klingt und auch ist. Gerade wieder twitterte der ukrainische Botschafter an die Adresse des ehemaligen Außenministers Sigmar Gabriel: "Bösartig ist vor allem IHRE @sigmargabriel & Ihrer SPD-Kumpane jahrelange Putin-freundliche Politik gewesen, die den barbarischen Vernichtungskrieg gegen den ukrainischen Staat (...) erst herbeigeführt hat. Die Aufarbeitung kommt noch. Shame on you." Ja, nun. Die Behauptung, Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier – und nicht etwa Wladimir Putin – hätten diesen Krieg "herbeigeführt", verwischt den fundamentalen Unterschied zwischen Unterlassen und Tun, zwischen schweren Fehlern und mörderischer Absicht. Auch der Vorwurf, es sei falsch gewesen, 2008 beim Nato-Gipfel in Bukarest die Ukraine und Georgien nicht gleich in die Nato aufzunehmen, ist hochspekulativ. Womöglich wäre die Eskalation dann einfach früher gekommen. Prompt antwortete die sonst über immer mehr Folgen ihrer Amtszeit schweigende Ex-Kanzlerin auf diese Vorwürfe: Sie stehe zu ihrer damaligen Entscheidung. Auch die fundamentale Kritik am Minsker Abkommen seitens der ukrainischen Regierung hält einer tieferen Analyse nicht stand, was einer der Hauptverantwortlichen der Misere, Sigmar Gabriel, in einem Artikel für den Spiegel zu nutzen wusste. Dort flüchtete er sich ins Detail des Abkommens, ohne die eigene Rolle in der desaströsen Russlandpolitik zu reflektieren. Die Mächtigen verschwinden in der Menge Überschießende Kritik verführt die Verantwortlichen für die falsche deutsche Russlandpolitik dazu, die Bühne so lange mit eigenen Argumenten zu fluten, bis keiner mehr weiß, wo links und rechts, wo Ost und West ist: Man nutzt überzogene Angriffe, um sie zurückzuweisen; man sucht sich ein wenig entscheidendes Detail, um irgendetwas zuzugeben; man verweist schließlich darauf, sich geirrt zu haben "wie viele andere auch". Das heißt: Die Mächtigen verschwinden in der Menge. Besonders ausgeprägt ist diese Ablenkungstaktik beim früheren Kanzleramtsminister, zweimaligen Außenminister und heutigen Bundespräsidenten zu beobachten. Im Interview mit dem Spiegel sagte er: "Ich zähle mich zu denjenigen, die ein politisches Leben lang dafür gearbeitet haben, dass der Krieg nie mehr nach Europa zurückkehrt. Das ist nicht gelungen. Waren deshalb die Ziele falsch? War es falsch, dafür zu arbeiten? Das ist die Debatte, die ich, die wir jetzt führen müssen." Man kann schon verstehen, dass Steinmeier diese Debatte gern führen möchte, denn wer würde behaupten, es sei falsch gewesen, sich für den Frieden eingesetzt zu haben?! Steinmeier sitzt eben immer noch im Salon der eigenen Selbstgefälligkeit, stets ist er derjenige, der nur das Beste gewollt hat. Nein, Herr Präsident, die jetzt dringliche Debatte ist eine andere: Was, um Himmels willen, war in die seinerzeit Regierenden gefahren, dass sie die Wehrhaftigkeit unserer Freiheit gegenüber Russland derart verkommen ließen? In einem historischen Prozess, der jeder Beschreibung spottet: • Im April 2008 nimmt die Nato, auf Betreiben der Bundeskanzlerin, Georgien und die Ukraine vorerst nicht ins Bündnis auf. • Im August desselben Jahres marschiert Wladimir Putin zum Dank in Georgien ein. • Im Februar 2014 besetzt der russische Präsident die Krim und beginnt einen Krieg in der Ostukraine. • 2015 lässt Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel den Verkauf der deutschen Gasspeicher an Gazprom zu. • Im September 2015 beschließen europäische Energiekonzerne, befördert von der Bundesregierung, den Bau einer weiteren Gaspipeline, Nord Stream 2, die nur einen einzigen geopolitischen Zweck hat: die Umgehung der Ukraine. • 2016 bombardieren russische und syrische Truppen die Stadt Aleppo, begehen Kriegsverbrechen, verwenden verbotene Waffen. • Zwischen 2015 und 2022 erhöht die Regierung die deutsche Abhängigkeit vom russischen Gas von 45 auf etwa 55 Prozent. • Das Jahr 2021 zählt beim Ausbau der Windenergie in Deutschland zu den schlechtesten seit der Jahrtausendwende. • Im September 2021 wird bei Nord Stream 2 die letzte Naht verschweißt, die Bundesregierung setzt sich für eine zügige Indienstnahme ein. • Ende 2021 marschieren russische Truppen an den Grenzen der Ukraine auf, am 17. Dezember nennt Bundeskanzler Olaf Scholz die Pipeline noch einmal ein "privatwirtschaftliches Projekt". Während all dies geschieht, benutzt die Union das Verteidigungsministerium, um Kanzlerkandidaten durchzuprobieren (zu Guttenberg, von der Leyen, Kramp-Karrenbauer), wobei die Funktionstüchtigkeit der Bundeswehr keinerlei Fortschritte macht. Kurz und brutal zusammengefasst: Je unmissverständlicher Putin durch Taten seinen Charakter offenbarte und je schamloser er seine Absichten erkennen ließ, desto vehementer vergrößerte die deutsche Politik ihre Abhängigkeit von ihm. Je aggressiver er sich gebärdete, desto wehrloser machte sich Deutschland. Wer sich solche Abläufe vor Augen führt, dem drängen sich verstörende Fragen auf: Wie konnten als vernünftig geltende Mitte-Politiker wie Steinmeier, Gabriel, Merkel oder Scholz das deutsche Volk in eine Lage manövrieren, in der ihm nur noch die Wahl bleibt zwischen Heldentum und Feigheit? Waren die jüngsten Bundesregierungen sicherheits- und energiepolitisch von Sinnen? Antwort: Sie waren es nicht. Wer dabei war und in jener Zeit mit ihnen allen geredet hat, der traf zum Thema Putin und Nord Stream 2 wohl auf andere Meinungen – Politikerinnen und Politikern, die von Sinnen gewesen wären, begegnete er gewiss nicht. Umso erklärungsbedürftiger ist es, warum so rationale und im Großen und Ganzen auch verantwortungsbewusste Leute über einen Zeitraum von mindestens acht Jahren derart widersinnig und unverantwortlich handeln konnten. Verzögern ist Verleugnen An dieser Stelle muss es vor allem um jene Partei gehen, die wie keine zweite die falsche Politik vorangetrieben hat: die SPD. Sie war die ganze Zeit über unbelehrbar, oder andersherum: penetrant belehrend. Zwei Schichten von falsch verstandener, plump benutzter, aber mit umso größerer Verve vorgetragener Geschichte verstellten den Sozialdemokraten den Blick auf die russische Wirklichkeit. Da ist zum einen die deutsche Vergangenheit, die uns zu Recht in besonderer Verantwortung sieht gegenüber einem Russland, das von den Deutschen einst überfallen wurde. Weniger hingegen sah man sich in der Verantwortung gegenüber jenen Ländern, die ihrerseits von den Russen überfallen wurden; oder jenen, die von den Deutschen sonst noch überfallen worden waren – wie etwa die Ukraine. Deshalb kann das historische Argument in einem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine überhaupt nicht wirken. Zum anderen ist da die Entspannungspolitik, mit deren Hilfe Willy Brandt und Egon Bahr vor einem halben Jahrhundert erhebliche Veränderungen im damaligen Ostblock bewirkt haben, die aber unter heute völlig veränderten Bedingungen russlandpolitisch als Muster ohne Wert anzusehen ist. Trotzdem wurde sie von der SPD gern dazu benutzt, sich Putin schönzuhistorisieren. Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Wer vor lauter Geschichte die Gegenwart nicht mehr erkennt, der ist wahrscheinlich in der SPD. Eines nämlich hätte sogar die Sozialdemokraten, hätte Martin Schulz und Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Matthias Platzeck und alle anderen, die so gern von der Verantwortung vor der Geschichte gesprochen haben, stutzig machen müssen: dass die Last der Verantwortung gegenüber Russland stets mit hohen Profiten und billigem Gas daherkam. Pathos und Profit, Gewissen und Gewinn, das war quasi alles eins. Womit sollte sich Z + Exklusiv für Abonnenten Estrel Berlin "Wir haben überhaupt nicht daran gedacht, irgendetwas zu stoppen" [h ps://www.zeit.de/zeit-fuer-unternehmer/2022/01/estrel-berlin-hotel-ausbau-corona] Alison Roman Was die Köchin der berühmtesten Internetrezepte wirklich isst [h ps://www.zeit.de/zeit-magazin/wochenmarkt/2022/02/alison-roman-koechin-ernaehrung-essen- alltag] Wahlen in Frankreich Erst am Ende zeigt Marine Le Pen ihr wahres Gesicht [h ps://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/wahlen-frankreich-tv-duell-emmanuel-macron-marine-le- pen] Mehr Abotexte [h ps://www.zeit.de/exklusive-zeit-artikel] Deutschland diese Win-win-Situation eigentlich verdient haben? Zwischen dem größten Verbrechen der Menschheit und der Exportweltmeisterschaft verlief offenbar eine unterirdische Pipeline. Das gefiel nicht bloß der SPD. Nur – wie selbstgerecht muss ein Volk sein, wenn es sich nicht davon irritieren lässt, dass die Geschichte ihm dermaßen den Arsch pudert? Der Gerechtigkeit halber muss man feststellen: Dieser Geschichts-Deal – from pain to gain – wurde auch von anderen freudig mitunterschrieben, von der CSU sowieso, aber auch von Teilen der CDU und der FDP und nicht zu vergessen – der deutschen Wirtschaft. Einer der ersten Deutschen, die nach dem ersten Krieg gegen die Ukraine wieder in Moskau vorstellig wurden, war Joe Kaeser, damals Chef von Siemens. Die SPD stand also nie allein, im Gegenteil: Der historisch-moralische Überbau, den die Sozialdemokratie lieferte, kam den anderen ganz gelegen. Es lässt sich nun einmal viel ungestörter wirtschaften, wenn es nicht nur um schnöde Interessen (in Form von billigem Gas) geht, sondern auch um Schuld, Verständigung, Versöhnung. Gewinn und Gewissen bildeten also eine unheilige, aber unschlagbare Allianz. Und am Ende stand schließlich die heimliche Staatsräson auf dem Spiel: Nur als außerordentlich erfolgreiches, von Wohlstand überquellendes Land bleibt Deutschland auch ein ziviles Land. Ja, so denkt fast ihre gesamte Elite von den Deutschen. Der Preis für diese pathetisch-profitable Politik ist nun fällig. Und es fragt sich, ob jenen in der aktuellen Russlandpolitik zu trauen ist, die ihre Realitätsblindheit so lange und selbstsicher als Geschichtsbewusstsein inszeniert haben. Da fällt schon auf, dass es wiederum die Sozialdemokratie ist, die für ihre jüngsten heroischen Grundsatzentscheidungen zwar beklatscht werden will, dabei aber den für die Ukraine alles entscheidenden Faktor Zeit systematisch vernachlässigt. Wie bei der Klimakrise wird die Sache selbst nicht bestritten, wohl aber der Zeitdruck. Aber um den geht es, bei beiden Themen: Verzögern ist Verleugnen. Die "Zeitenwende" kann schwerlich als Indiz für einen echten Lernprozess gelten, schon weil die 100 Milliarden im Moment gar nichts bewirken und es bei den Waffenlieferungen an die Ukraine nicht auf das Überhaupt ankommt, sondern auf das Wie-viel, auf das Was und vor allem auf das Wann und das Wie-schnell. Schließlich ist da noch die unzerstörbare Standardphrase sozialdemokratischer Russlandpolitik, die von keiner Realität widerlegt werden kann und von der man leider befürchten muss, dass sie umgehend ausgepackt wird, sobald Putin beim Morden mal Pause macht: "Es gibt keinen Frieden in Europa/Syrien/Afghanistan/Sonstwo gegen Russland, sondern nur mit Russland." Und je schlimmer Putin es treibt, desto wahrer wird dieser Satz. Vielleicht haben aber auch diejenigen in der Sache recht, die glauben, man sollte besser keine oder nur wenige Panzer in die Ukraine liefern und auch vorerst weiter Geld nach Moskau überweisen. Schließlich bietet auch die verkorkste russlandpolitische Geschichte keine klare Richtschnur für pragmatische Fragen im Hier und Jetzt. Allein weil Nord Stream 2 Wahnsinn war, müssen schwere Panzer nicht schon das Richtige sein. Aber um den Sozialdemokraten und allen anderen Zauderern ihre sachlichen Gründe glauben zu können, müssten sie ihre ideologischen Erblasten einigermaßen überzeugend bearbeitet haben. Was leider keineswegs der Fall ist. Und hätte man jetzt einen Bundespräsidenten, der sich mit allem eigenen Risiko dieser Debatte stellen würde – Mensch, das wäre toll.