4 Einleitung Gilly nicht nur frühzeitig in die Praxis des ar- haben Schinkel Zeit seines Lebens beschäftigt.3 chitektonischen Entwerfens eingeführt zu wer- Dass er knapp vierzig Jahre später einen Pa- den, sondern auch in noch jugendlichem Alter lastentwurf auf dem Plateau der Akropolis, in Aufträge zu erhalten. Von der Zusammenarbeit unmittelbarer Nachbarschaft des Parthenon, von Vater und Sohn zeugen die Reproduktio- konzipieren durfte (Kat. V), war um 1800 noch nen von Zeichnungen Friedrich Gillys als Ti- nicht absehbar. telkupfer in David Gillys Landbaukunst oder in In Berlin versammelte Friedrich Gilly eine der Zeitschrift Sammlung nützlicher Aufsätze und Reihe gleichgesinnter angehender Architekten Nachrichten die Baukunst betreffend. Wie Marion um sich. Hierfür gründete er 1798 die Privatge- Hilliges in ihrem Aufsatz zeigt, dienten diese sellschaft junger Architekten, zu der wohl nicht nur Publikationen der Verbreitung der Entwürfe Schinkel sondern auch Carl Ferdinand Lang- und der Diskussion über neue Architekturkon- hans, der Sohn von Carl Gotthard Langhans, zepte im In- und Ausland. gehörte.4 Carl Ferdinand Langhans werden die Abb. 1: Friedrich Gilly: Entwurf zu einem Denkmal für Friedrich II., 1797 Zu den Aufträgen, die David Gilly seinem meisten Nachzeichnungen von Gillys Entwurf Sohn Friedrich vermittelte, gehört das Projekt für ein Schauspielhaus in Königsberg zuge- für ein Theater in Stettin, das allerdings nicht schrieben (Kat. II). realisiert wurde. Dieses Schicksal teilten zahl- Zum direkten Umfeld Friedrich Gillys ge- reiche Projekte Friedrich Gillys. Bei manchen hörten auch der Druckgraphiker Friedrich war eine Ausführung aufgrund ihrer ausgrei- Frick sowie der Architekt Martin Friedrich fenden Dimensionen allerdings von vornherein Rabe. Frick publizierte zwischen 1799 und chancenlos. Dies betrifft insbesondere den 1803 die Aquatinta-Serie Schloss Marienburg in Entwurf für ein Denkmal Friedrichs II. in Ber- Preußen (Kat. III). Dabei griff er zum einen auf lin aus dem Jahr 1796 (Abb. 1).1 Zeichnungen Gillys zurück, die dieser 1794 Die hier entwickelte Idee, einen Tempel von der gotischen Ordensburg angefertigt hat- nach dem Vorbild des Parthenon auf einen te. Zum anderen stützte er sich auf neue Bau- großen Unterbau zu stellen, hat auch ohne aufnahmen von Martin Friedrich Rabe. direkte Realisierung Architekturgeschichte Noch bevor sich der Kreis um Friedrich geschrieben: Sie wurde etwa von Leo von Gilly in Berlin etablieren konnte, weilte der Klenze mit der Walhalla bei Regensburg oder gebürtige Karlsruher Friedrich Weinbrenner in von Johann Heinrich Strack mit der National- der preußischen Residenz. Er verkehrte hier galerie in Berlin aufgegriffen. Als Gillys Denk- zwischen 1790 und 1792 insbesondere in der malsentwurf 1797 auf der Akademieausstellung Lehrergeneration Gillys und Schinkels, pflegte in Berlin ausgestellt wurde, machte er auf den Umgang mit Carl Gotthard Langhans, dem jungen Schinkel einen solchen Eindruck, dass Architekten des Brandenburger Tores, und dieser den Entschluss fasste, Architekt zu wer- hörte Vorlesungen bei dem Oberbaurat Fried- den und sich bei David und Friedrich Gilly rich Becherer und dem Ästhetiker Karl Philipp ausbilden zu lassen.2 Aufgesockelte Bauten Moritz.5 1792 reiste Weinbrenner in Begleitung Einleitung 5 von Asmus Jacob Carstens nach Rom, wo er Jahr 1809 sowie Karl Friedrich Schinkels Ent- die Bekanntschaft von Aloys Hirt machte, würfe für ein Schauspielhaus in Hamburg aus dessen Buch Die Baukunst nach den Grundsätzen dessen Sammlung Architektonischer Entwürfe. der Alten er später mit Illustrationen versah. Für Richtschnur der Reformkonzepte Gillys, Schinkel wiederum war diese Publikation der Weinbrenners und Schinkels war jeweils die Anlass zu einer kritischen Auseinandersetzung, Antike, die sie allerdings durchaus unterschied- die eine entscheidende Rolle für sein künstleri- lich interpretierten. Diese Vorbildfunktion wird sches Selbstverständnis spielen sollte.6 vor allem in dem Bestreben deutlich, den Zu- Hirt wiederum ging 1796 nach Berlin und schauerraum halbkreisförmig zu gestalten. spielte hier eine bedeutende Rolle bei der Neu- konzeption des Museums, das schließlich nach Schinkels Entwürfen am Berliner Lustgarten errichtet wurde. Bei den Planungen prallten die unterschiedlichen Auffassungen Schinkels und Hirts immer wieder aufeinander.7 Auch Weinbrenner und Schinkel waren gewiss nicht befreundet. Symptomatisch ist Schinkels umfassender Verriss von Weinbren- ners Theaterentwurf für Düsseldorf aus dem Jahr 1820 (vgl. Abb. 4), von dem hier nur die Fassadenkritik zitiert sei: „Die Fassade ist ge- schmacklos, dem Gegenstande nicht angemes- Abb. 2: Friedrich Gilly: Entwurf zum Berliner Na- sen. Ein durchschnittliches Hauptgesims mit tionaltheater, um 1799 einem darüber liegenden affektierten Ge- wölbebogen, der statt des ganzen Giebelfeldes, mit einem ungeschickt angeordneten Basrelief ausgeführt ist. Die armselige Anordnung von zwei Viertelpilastern und zwei Mittelpilastern, welche ohne viel Motiv angebracht sind, und endlich die ordinäre Bürgerhausform der Fen- sterpartien zu beiden Seiten können nicht dazu beitragen, dies Gebäude zu einer Zierde der Stadt zu machen.“8 Was sich aus Schinkels Sicht als eine Frage absoluter Qualität darstellt, lässt sich aus der historischen Distanz als Auf- einandertreffen von zwei verschiedenen Auf- fassungen innerhalb des Klassizismus deuten. Abb. 3: Friedrich Gilly: Entwurf zum Berliner Na- 2. Theaterarchitektur tionaltheater, um 1799 Die Auseinandersetzung um das Düsseldorfer Theater führt zu einer weiteren Facette, welche Friedrich Gillys frühe Entwürfe für Stettin und Künstler und Werke in diesem Katalog verbin- Königsberg lassen von diesen Reformvorstel- det: Friedrich Gilly, Karl Friedrich Schinkel lungen freilich noch wenig erahnen: Zu sehr und Friedrich Weinbrenner waren jeweils be- stehen sie unter einem Sparsamkeitsgebot, das deutende Theaterarchitekten und –entwerfer. die Wiederverwendung älterer Grundmauern Sie alle trieb die Frage um, wie man diese Bau- (Königsberg) oder sogar eines bestehenden aufgabe reformieren könne, die im höfischen Untergeschosses (Stettin) erforderlich machte. wie im bildungsbürgerlichen Umfeld eine zu- Wesentlich ambitionierter waren Gillys Ent- nehmend wichtigere Stellung einnahm. würfe für ein Schauspielhaus auf dem Berliner Die Ausstellung zeigt daher in Ergänzung Gendarmenmarkt, die allerdings keine Chance zu den genannten Zeichnungen Friedrich auf Verwirklichung hatten (Abb. 2, 3). An die- Weinbrenners Traktat Über Theater in Architek- ser Stelle sollte später Schinkel sein Schauspiel- tonischer Hinsicht mit Beziehung auf Plan und Aus- haus realisieren. Immerhin zeigt Gilly auf sei- führung des neuen Hoftheaters zu Carlsruhe aus dem nem Stettiner Entwurf eine Statue der Thalia 6 Einleitung mit einer Art Weiheinschrift „THALIAE“ täglich. Wie viel seltener sind bei uns solche (Kat. I-3). Hier ist etwas von der Sakralisierung gemeinnützliche Zusammenkünfte!“10 – so des Theaters als Musentempel zu spüren, die schreibt es Weinbrenner in seinem Traktat Über bei Schinkels Berliner Schauspielhaus mit sei- Theater in architektonischer Hinsicht. Nach der nen vielfachen Tempelformen zum Leitthema Revolution von 1848/49 sollte Richard Wagner werden sollte. auf dieser Grundlage – und im dezidierten Welchen Stellenwert Theaterbauten in Rekurs auf das antike Griechenland – sein Schinkels Schaffen einnehmen, lässt sich auch „Kunstwerk der Zukunft“ konzipieren und daran erkennen, dass der Architekt diese Ge- gegen die in seinen Augen pervertierte Opern- bäude immer wieder als Erprobungsfelder für tradition stellen.11 seine architekturtheoretischen Überlegungen An Gillys Theaterentwürfen fällt zumindest genutzt hat. So setzte er sowohl am Berliner auf, dass das Publikum im Parterre mit einer Schauspielhaus als auch an den Fassadenent- durchgehenden Bestuhlung eine „Disziplinie- würfen für das Schauspielhaus in Hamburg rung“ erfährt (vgl. Kat. I-3, Kat II, 9r). Wie tektonische Figuren aus dem Architektonischen Jochen Meyer herausgearbeitet hat, diente dies Lehrbuch ein.9 Manfred Luchterhandt arbeitet in der „Umerziehung“ der Theaterbesucher von seinem Aufsatz im vorliegenden Band die Be- einem „handelnden“ zu einem „empfangen- deutung des Hamburger Theaterprojekts her- den“ Publikum.12 Es entsprach dem idealisti- aus, das in der Forschung bislang zu wenig schen Konzept einer ästhetischen Bildung, dass Beachtung gefunden hat. das Theater sein Publikum zunächst von der Welt abziehen musste, bevor es dies – geläu- tert, wie man hoffte – der „Welt“ zurückgab. Gerade Schinkels Architektur wird von solchen Konzepten geprägt. Immerhin findet man bei ihm wie auch bei Weinbrenner ein subtiles Mittel der Verknüpfung von innen und außen, dem Christine Hübner in einem Aufsatz in diesem Band nachgeht: das Äußere des Thea- ters oder auch des städtischen Raumes wird über das Bühnenbild ins Innere geholt. 3. Antike und Gotik Abb. 4: Friedrich Weinbrenner: Fassadenentwurf Am Theaterbau zeigt sich, dass die Antike für das Theater in Düsseldorf, 1820 nicht nur als ästhetisches, sondern auch als gesellschaftliches Leitbild um 1800 omniprä- sent war. So ideal, wie Johann Joachim Win- Eine zentrale Frage beim Theater des 18. und ckelmann die klassische Kultur des alten Grie- 19. Jahrhunderts betrifft das Verhältnis von chenlands geschildert hatte, konnte die Grie- innen und außen: Inwieweit konnte eine neu- chenland-Begeisterung in der modernen, nord- zeitliche Spielstätte ein zentraler Ort gesell- alpinen Welt allerdings nur noch unter dem schaftlichen Lebens mit entsprechender Au- Vorzeichen des Verlustes rezipiert werden: An ßenwirkung sein? Oder diente es doch eher als ihre Kunstwelt ließ sich vorerst nur stilistisch ästhetischer Rückzugsort? Hinter dieser Frage anknüpfen. In seinen Entwürfen zum Fried- steht die Vorstellung, dass Theater in der Anti- rich-Denkmal beschwört Friedrich Gilly die ke in weitaus stärkerem Maße öffentliche Vorbildlichkeit der Akropolis in Athen: „Athen Funktionen erfüllt hatten: „Viel häufiger, als in ist ein Muster. Acropolis. Rom nicht so“ – unsern Tagen waren [...] Volksversammlungen schreibt er an den Rand einer Vorzeichnung.13 bei den Griechen und Römern. Auf Rennbah- Seine Entwürfe sind von dem Streben gekenn- nen und andern öffentlichen der Gymnastik zeichnet, der Architektur durch eine freie An- gewidmeten Plätzen, in Theatern, Bädern, wendung antikisierender Formen neue Aus- Naumachien, Odeen u. dgl., sah bei ihnen der druckskraft zu verleihen. Reiche den Armen, der gelehrte und gebildete Die Anwendung tektonischer Prinzipien Bürger den ungelehrten und ungebildeten fast griechischer Architektur (vor allem die Säulen- Einleitung 7 Gebälk-Stellungen), aber auch die Rezeption klassizistische Bauten nutzen zu können, son- einzelner Formen wie der typischen Palmetten dern tatsächlich eine Verbindung von Altertum lassen sich in der gesamten klassizistischen und Moderne an historischem Ort zu errei- Architektur des 18. und 19. Jahrhunderts ver- chen. Zu Schinkels Enttäuschung erwiesen sich folgen. diese Pläne jedoch als vollkommen unreali- In der Ausstellung wird diese Wirkungsge- stisch: Nachdem man so viel über das griechi- schichte durch den Abguss eines Gebälkstücks sche Altertum in Geschichte, Kunst und Spra- vom Erechtheion auf der Akropolis in Athen che zu wissen glaubte und sich endlich die nachvollziehbar, das als Leihgabe der Gipsab- historische Chance bot, in Athen selbst eine gusssammlung des Archäologischen Instituts Residenz zu errichten, war man nicht in der der Universität Göttingen gezeigt werden kann Lage, diesen hohen Ansprüchen auch nur an- (Abb. 5). Hier sieht man die charakteristischen nähernd gerecht zu werden. Aus archäologi- Palmetten, die sich noch auf Schinkels Entwurf scher Sicht bleibt es freilich ein Glücksfall, dass für das Schauspielhaus in Hamburg wiederfin- Schinkels Pläne nicht verwirklicht wurden. den. Die Entwürfe für einen Palast auf der Akropolis belegen, wie lange das – in diesem Falle freilich von Schinkel bewusst weiterent- wickelte – Leitbild der Antike im 19. Jahrhun- dert wirksam blieb. Demgegenüber hatte es die Gotik als ganz eigenes Architektursystem zu- nächst eher schwer. Die Neugotik etabliert sich im ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem in zwei Bereichen: im Landschaftsgarten und bei stilkonformen Ergänzungen oder Vollendun- gen bestehender mittelalterlicher Bauten. Friedrich Weinbrenners Entwürfe für den Umbau der Göttinger Paulinerkirche (Kat. IV) bieten ein Beispiel für letzteres: Hier ging es darum, eine Universitätsbibliothek in einer profanierten gotischen Bettelordenskirche unterzubringen. Weinbrenner wird dem damals verbreiteten Comformitas-Ideal gerecht, indem er seine Einbauten gotisierend plant und sogar das Fenstermaßwerk in diesem Stil zu erneuern gedenkt. Damit bieten die Pläne gleichzeitig einen seltenen Einblick in sein Schaffen als Abb. 5: Athen, Erechtheion: Ausschnitt des An- Neugotiker. themionfrieses, Gipsabguss, Göttingen, Archäologi- Weinbrenners Umgang mit der Gotik sches Institut, Gipsabgusssammlung bleibt pragmatisch. Eine ganz andere Perspek- tive auf diesen historischen Stil eröffnet Fried- rich Fricks Aquatinta-Serie Schloß Marienburg in Für Schinkel muss es ein besonderes Glück Preußen (Kat. III). Hier werden die Möglichkei- gewesen sein, den Auftrag für den Entwurf ten der Aquatinta-Technik virtuos genutzt, um eines Palastes für den König von Griechenland das Alter und die Historizität der mittelalterli- entwerfen zu dürfen. Hatte Gilly die Akropolis chen Ordensritterburg herauszustellen. Diese in Athen als Muster beschworen, so wähnte Sicht wurde bereits durch die Zeichnungen sich Schinkel nunmehr in der Position, an ge- Friedrich Gillys vorbereitet, die Frick den mei- nau dieser Stelle – in unmittelbarer Nachbar- sten seiner Drucke zugrunde gelegt hat. Der schaft zu Parthenon, Propyläen und Erechthei- Aufsatz von Christian Scholl in diesem Band on – bauen zu können. Für einen kurzen Mo- thematisiert Gillys folgenreiche Deutung der ment scheint hier die Utopie auf, das klassische Marienburg als Monument preußisch- Griechenland nicht nur aus einer Verlust- brandenburgischer Geschichte mit hohem Perspektive heraus als Formenspender für Identifikationspotential. 8 Einleitung 4. Umgang mit dem Bestehenden Brückenschlag zu seiner als dezidiert zeitgenös- sisch ausgewiesenen Architektur. Dabei sollen Während die stilistischen Referenzen der in der die Ruinen selbst unangetastet bleiben. Schin- Ausstellung gezeigten Exponate in verschiede- kel plant aber immerhin eine Rekonstruktion ne Richtungen weisen und sowohl den Klassi- der antiken Kolossalstatue der Athena Proma- zismus als auch die Gotik einschließen, gibt es chos, „damit sich für jedermann daran die Ehr- einen Aspekt, der sie auf erstaunliche Weise furcht wieder knüpfe, die die erhabene Vorzeit eint: alle Projekte waren als Umbauten oder der ewig denkwürdig Stadt gebietet“.16 Auch zumindest als Bauten in einem bestehenden seine aquarellierte Haupt-Ansicht des königlichen historischen Umfeld gedacht. Gilly plante sein Palastes, die auf eindrucksvolle Weise in eine Theater in Stettin in den Obergeschossen eines Farblithographie übertragen wurde (Kat. V-1) älteren Spritzenhauses. Weinbrenner entwarf demonstriert die zahlreichen motivischen Be- eine neue Universitätsbibliothek in den Mauern züge zwischen Antike und Klassizismus. der mittelalterlichen Paulinerkirche. Und Schinkel wollte seinen Palast für den König von Griechenland auf der Akropolis in Athen 5. Architekturdarstellung errichten, inmitten der prominenten Ruinen des griechischen Altertums. In diese Reihe fügt „Obgleich wohl Herr Schenkel unter die erste sich sogar Fricks Aquatinta-Serie Schloss Marien- schön Zeichner gezählt werden kann, so sollte burg in Preußen ein, die sich zumindest bild- er aber kein Bauprojekt entwerfen, indem er künstlerisch mit bestehender Architektur aus- durch dieselbe zu erkennen gibt, daß er von einandersetzt. dem wahren Studium der Baukunst wenig oder Wenn Gilly sein Theater in einem beste- gar nichts versteht.“17 Friedrich Weinbrenner henden Bau unterbringen wollte, so hatte dies reagierte äußerst verärgert über Schinkels Kri- sicher pragmatische Gründe. Es gibt keinen tik an seinem Entwurf für das Theater in Düs- Hinweis für eine Wertschätzung des vorhande- seldorf. Er hielt sich zweifellos für den besse- nen Gebäudes, die über funktionale Beweg- ren Architekturpraktiker. Allerdings musste er gründe hinausgeht. Dagegen entwickelt er an- konstatieren, dass Schinkel ein exzellenter gesichts der Marienburg eine spezifische Sensi- Zeichner war. bilität für dasjenige, was Alois Riegl später mit Auch Weinbrenner selbst konnte sehr gut dem denkmalpflegerischen Begriff des „Al- zeichnen, wie seine Entwürfe für den Umbau terswerts“ zu fassen versucht hat.14 Die als der Göttinger Paulinerkirche eindrucksvoll Kupferstich sowie Aquatinta überlieferte Au- belegen. Generell fällt – gerade im Vergleich ßenansicht des Hochmeisterpalastes (Abb. 57, zur zeitgenössischen figürlichen Zeichnung – 58, Kat. III-11) spielt sogar die Stabilität des das hohe, professionelle Niveau der Architek- ruinösen mittelalterlichen Gebäudes gegen den turzeichnung um 1800 auf.18 Dieses hohe Ni- Verfall einer kleinen, offensichtlich neueren veau, aber auch den Wandel kann man in Aus- Hütte aus. Vergleichbare Entgegenstellungen, stellung und Katalog verfolgen. bei denen das Alte das Neue geradezu „be- Friedrich Gillys Entwürfe für ein Theater schämt“, findet man wenige Jahre später bei in Stettin (Kat. I) stehen mit ihren trompe- Caspar David Friedrich.15 l’oeil-Effekten, die Christiane Salge in ihrem Weinbrenners Umgang mit der mittelalter- Aufsatz thematisiert, letztlich noch in einer lichen Paulinerkirche hat demgegenüber einen barocken Tradition. Die Nachzeichnungen pragmatischen Charakter. Er orientiert sich am zum Theater in Königsberg sind hingegen Stil des Gebäudes, unternimmt aber nichts, um bereits charakteristische Beispiele für die Archi- dessen Historizität oder gar Sakralität in be- tekturdarstellung des Berliner Frühklassizis- sonderer Weise herauszuarbeiten. Bezeichnend mus, wie sie im Umfeld von David Gilly ge- ist, dass er da, wo ursprünglich der Hochaltar pflegt wurde. der Kirche stand, die Toiletten plant (vgl. Kat. Einige Elemente dieser Berliner Darstel- IV-1, IV-4). lungstradition prägen auch Friedrich Fricks Zu einer emphatischen Verbindung von Marienburg-Aquatinten: Man vergleiche etwa Altem und Neuen kommt es hingegen bei die Bodenplatten in Kat. III-7 mit der Rustika Schinkels Akropolis-Projekt. Hier greift der in Kat. II-1 r. Gleichzeitig handelt es sich bei neue Palast die von den antiken Ruinen vorge- Fricks Arbeiten um Veduten, die mit ihrer gebenen Achsen auf. Der Architekt knüpft an Sepiatönung und der Herausarbeitung eines die Bedeutung dieses Ortes an und plant einen dramatischen Helldunkels in einen anderen, Einleitung 9 aber ebenfalls zeittypischen Kontext als die Dank Planrisse gehören. Hier können etwa die Aqua- tinten der Chalcographischen Gesellschaft in Die Ausstellung und der vorliegende Katalog Dessau zum Vergleich herangezogen werden.19 wurden gemeinsam mit Studierenden am Friedrich Weinbrenner hat zu seinem Dar- Kunstgeschichtlichen Seminar der Georg- stellungsstil für Architekturzeichnungen ver- August-Universität Göttingen entwickelt und mutlich in Rom gefunden. Charakteristisch ist realisiert.20 Sie zeigen erneut, welchen Schatz die blockhafte Ausarbeitung der Bauten mit die Kunstsammlung für das Seminar bietet. einer bemerkenswert kräftigen Lavierung, die Unser großer Dank gilt daher der Kustodin, etwa durch eine Verdunklung der Dachflächen Dr. Anne-Katrin Sors, für die Möglichkeit, in nach oben hin noch betont wird (Kat. IV-3, den Sammlungs- und Ausstellungsräumen mit IV-4). Auch bei Weinbrenner gibt es Darstel- ihren reichen Beständen forschen und kurato- lungstechniken, die Alterungseffekte suggerie- risch arbeiten zu können. Das Kunstgeschicht- ren: etwa die charakteristischen Tropfenlavie- liche Seminar der Universität Göttingen hat rungen in Kat. IV-3. überdies den Druck dieses Katalogs großzügig Demgegenüber entwickelt Schinkel ganz unterstützt, wofür wir insbesondere Prof. Dr. andere, die Körperlichkeit der Bauten zunächst Manfred Luchterhandt herzlich danken. einmal tendenziell zurückdrängende Visualisie- Überaus dankbar sind wir auch der Nieder- rungstechniken, die er vor allem in seiner sächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Sammlung Architektonischer Entwürfe kultiviert Göttingen, aus deren Beständen ganz wesentli- (vgl. u.a. Abb. 28). Hier geht es um ein feines che Beiträge für die Ausstellung kommen: die Spiel unterschiedlich starker Linien – eine Dar- Planzeichnungen Weinbrenners, das ein- stellungsweise, die mit der klassizistischen drucksvollste Blatt von Schinkels Akropolis- Spielart des Empire in Verbindung steht. Serie sowie zahlreiche, in Vitrinen präsentierte In seinem Spätwerk scheint Schinkel hin- Bücher zum Thema. Es ist uns eine große gegen nach Auswegen aus diesem Bildmodus Freude, die Weinbrenner-Zeichnungen als gesucht zu haben. Charakteristisch ist der zeichnerische Kunstwerke zusammen mit den Wechsel vom Kupferstich zur Lithographie, anderen Architekturdarstellungen zeigen zu die erneut Flächenwerte zu veranschaulichen können. Persönlich danken wir Dr. Johannes vermag. Die Entscheidung, die Entwürfe für Mangei, Dr. Christian Fieseler und Karsten einen Palast auf der Akropolis (Kat. V) nicht in Otte von den Spezialsammlungen der SUB. der Sammlung architektonischer Entwürfe zu publi- Eine höchst wirkungsvolle, weil dreidimen- zieren, dürfte auch mit der Suche nach neuen sionale Ergänzung kam zudem aus der Gipsab- Ausdrucksmöglichkeiten in der zeitgenössi- gusssammlung des Archäologischen Instituts schen Druckgraphik zusammenhängen. der Universität Göttingen: der Abguss eines Insgesamt bieten die hier versammelten Gebälkstücks vom Erechtheion der Akropolis Architekturansichten ein verdichtetes Panora- in Athen. Hier danken wir herzlich dem Kustos ma der Architekturzeichnung und -repro- der Sammlungen am Archäologischen Institut, duktion zwischen 1789 und 1850. Vor allem Dr. Daniel Graepler. aber sind sie ein Plädoyer dafür, auf welchem Großen Dank verdient darüber hinaus die künstlerischen Niveau die bildliche Präsentati- Zentrale Kustodie der Universität Göttingen, on von Architektur auf Papier in dieser Zeit die es ermöglicht hat, Friedrich Gillys frühe stand – und zwar unabhängig davon, ob es Zeichnungen zum Theater in Stettin zu restau- darum ging, ein kleineres Gremium zu über- rieren. Diese Restaurierung war – neben dem zeugen oder eine große Öffentlichkeit zu errei- Umstand, dass aufgrund der üblichen Fluktua- chen. So können der Schnitt durch ein umge- tionen im Assistenzvertretungs- und Privatdo- bautes Feuerwehrhaus (Kat. I-3), die Darstel- zentendasein zwei Kunsthistoriker mit ausge- lung bröckelnden Putzes (Kat. III-9), ein Blick prägtem Interesse für Architektur um 1800 zur auf gefüllte Bücherregale (Kat. IV-5) und selbst gleichen Zeit am Göttinger Kunstgeschichtli- ein Grundriss (Kat. V-2) zu künstlerischen chen Seminar tätig waren – einer der Hauptan- Ereignissen werden. lässe für die Ausrichtung der Ausstellung. Auch 10 Einleitung Schinkels Akropolis-Mappe konnte mit Unter- und Autoren zu diesem Katalog beigetragen stützung der Zentralen Kustodie rechtzeitig zur haben: Isabelle Arnold, Ines Barchewicz, Mar- Ausstellung restauriert werden. vin Barner, Anton Cos, Jacqueline Hartwig, Beim Aufbau der Ausstellung haben wir Maike Kamp, Michael Knüppel, Karen Köhler, von vielen Seiten Unterstützung erfahren. Un- Maximilian Kummer, Andreas Lampe, Marius schätzbar waren die Hilfe und der Erfindungs- Meyer, Johannes Peter, Lenka Placha, Ludmilla reichtum von Dipl. rer. nat. Ingrid Rosenberg- Schmidt, Verena Suchy und Marie Isabell Wet- Harbaum als Mitarbeiterin der Kunstsammlung cholowsky.21 Wir hoffen sehr, dass wir sie – bei der Präsentation der Objekte. Von Seiten trotz aller dazugehöriger Mühen – ein wenig der Staats- und Universitätsbibliothek Göttin- für diese Welt zwischen Autoreneuphorie und gen beriet uns Diplom-Restauratorin Rebecka redigierendem Rotstift haben begeistern kön- Thalmann. Bei der Hängung des Gipsabgusses nen. wurden wir tatkräftig von Diplom-Restau- ratorin Jorun Ruppel unterstützt. Und schließ- Christian Scholl und Marion Hilliges, lich war da die Schar der Hilfkräfte an der Göttingen im Mai 2016 Kunstsammlung: Julia Diekmann, Susanne Ehlers, Antje Habekus, Jacqueline Hartwig, Doreen Liepelt, Dietrich Meyerhöfer, Verena Suchy und Joachim Tennstedt. Ihnen allen 1 Zum Denkmal Friedrichs II. vgl. u.a. Wätjen 2009. danken wir sehr herzlich. 2 Vgl. AK Berlin 2012, S. 32. Dankbar sind wir überdies dem Universi- 3 Beispiele bieten u.a. der Entwurf für einen Dom als tätsbund Göttingen e.V. für die finanzielle Denkmal für die Befreiungskriege, die Pläne für den Wiederaufbau der Berliner Petrikirche von 1810 und Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeit. 1814, das Schauspielhaus und das Alte Museum in Berlin. Auch der Katalog wäre nicht ohne zusätz- 4 Reelfs 1984b, S. 174-178 – vgl. das Kapitel „Kopieren liche Hilfe entstanden. Hier danken wir herz- und Nachzeichnen“ in der Einführung zu Kat. II in lich dem Universitätsverlag und Jutta Pabst für diesem Band. die mittlerweile schon bewährte Betreuung. 5 Vgl. Valdenaire 1919, S. 11-17. Auch den Fotografinnen Katharina Anna Haa- 6 Vgl. Peschken 2001, S. 28-30. se und Kristina Bohle vom Kunstgeschichtli- 7 Vgl. Rave, 1941, S. 32-36. chen Seminar gilt unser Dank. Von wunderba- 8 Zit. nach Brües 1968, S. 42. rer Verlässlichkeit ist zudem das Digitalisie- 9 Dies spricht gegen den neueren Versuch Kurt W. For- rungszentrum der Staats- und Universitätsbi- sters, die Bedeutung des Fragment gebliebenen Architek- bliothek Göttingen unter Martin Liebetruth. tonischen Lehrbuchs zu marginalisieren – vgl. Forster Vor allem aber danken wir den Beiträge- 2007. Zur ästhetischen Funktion dieser Lehrbuch-Figuren rinnen und Beiträgern der einführenden Auf- vgl. Scholl 2004, S. 74-80. 10 Weinbrenner 1809, S. 1. sätze, die diesen Band maßgeblich mitprägen: 11 Wagner 1850, bes. S. 36, 81-83. Prof. Dr. Manfred Luchterhandt, Dr. Christia- ne Salge und Dr. Christine Hübner, der dar- 12 Meyer 1998, S. 180-186. über hinaus das besondere Verdienst gebührt, 13 Zit. nach Neumeyer 1997, S. 147. die noch nicht inventarisierten Marienburg- 14 Riegl [1903] 1995, S. 69-74. Aquatinten Fricks und Schinkels Akropolis- 15 Vgl. Scholl 2009, S. 185-187. Mappe in der Kunstsammlung überhaupt erst 16 Zit. nach Kühn 1989, S. 6. ausfindig gemacht zu haben. 17 Friedrich Weinbrenner an J. L. Klüber, den 6. Dezem- Insgesamt lebt ein solches Projekt ganz ber 1821, zit. nach Brües 1968, S. 44. wesentlich von vorbereitenden und begleiten- 18 Die einzigen Blätter, die eine weniger sorgsame und den Kollegengesprächen auf dem Flur, in eige- mitunter geradezu nachlässige Ausführung belegen, sind nen oder in anderen Büros und nicht zuletzt in die Carl Ferdinand Langhans zugeschriebenen Nach- zeichnungen von Friedrich Gillys Entwurf für ein Theater der Universitätsmensa. Neben Christine Hüb- in Königsberg (Kat. II). ner möchten wir hier vor allem Dr. Stefan 19 Vgl. AK Dessau 1996, S. 185-193. Morét danken, der von 2014 bis 2015 Mitarbei- 20 Hierfür hielten die Herausgeber dieses Katalogs im ter am Seminar war. Wintersemester 2015/16 ein gut besuchtes Seminar zur Und selbstverständlich gilt ein ganz beson- Architekturdarstellung im Klassizismus. derer Dank allen Studierenden des Seminars, 21 Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren findet die beim Aufbau der Ausstellung geholfen sich auf S. 195 des vorliegenden Bandes. haben und die zumeist auch als Autorinnen Einleitung 11 Blicke in die Ausstellung Gilly – Weinbrenner – Schinkel in der Kunstsammlung der Georg-August- Universität Göttingen (13. November 2015 bis 18. September 2016) Aufsätze Visualisierungsstrategien in der Architekturzeichnung um 1800: Friedrich Gilly und sein Entwurf für ein Theater in Stettin Christiane Salge Abb. 6: Friedrich Gilly: Entwürfe für ein Theater in Stettin, Profil Abb. 7: Entwürfe für ein Theater in durch die zweyte Etage (vgl. Kat. I-3) Stettin, QUER-PROFIL durch die zweyte Etage (vgl. Kat. I-4) Die Zeichnungen zu[r] Einrichtung eines neuen auf eine Idee des ehemals für Stettin (Szczecin) Schauspiel=Hauses, in Stettin von dem preußi- zuständigen Baudirektors David Gilly (1748- schen Architekten Friedrich Gilly (1772-1800) 1808) zurück, der vorschlug, in dem gerade im sind von der Forschung noch kaum wahrge- Umbau befindlichen Stettiner Spritzenhaus ein nommen worden.1 Lediglich Erhard Roß hat neues Theater einzurichten, weil das alte Ko- sich 1992 diesen vier Blättern Gillys ausführli- mödienhaus baufällig war. Da Gilly 1788 auf- cher gewidmet. In seinem Aufsatz wurden die grund seiner Beförderung zum Oberbaurat in Zeichnungen aber vor allem bau- und theater- Berlin aus zeitlichen Gründen vermutlich an geschichtlich ausgewertet und nicht bezüglich dem Entwurf verhindert war, hat er dieses ihrer bildlichen Qualitäten analysiert.2 Dabei Projekt möglicherweise an seinen Sohn Fried- besteht gerade darin der besondere Reiz dieses rich abgetreten. Die von Friedrich Gilly ent- in der Göttinger Kunstsammlung aufbewahr- worfenen Pläne wurden allerdings nie umge- ten Zeichnungskonvoluts. setzt.3 Der Beschriftung des Deckblatts zufolge Dennoch ist der Fund der Zeichnungen ei- sind diese Zeichnungen in das Jahr 1789 zu ne kleine Sensation, schließlich sind sie die datieren (Kat. I-Umschlag). Die Pläne gehen ersten überlieferten Werke des damals erst 16 Christiane Salge siebzehn Jahre alten Architekten.4 Friedrich Die beiden hier genauer zu untersuchenden Gilly gehört zu den wichtigsten Künstlern der Zeichnungen (Kat. I-3, 4; Abb. 6+7) weisen Zeit um 1800 in Berlin, seine Zeichnungen zur einen dünnen schwarzen Rahmenstrich auf. In Marienburg (1795) und zum Friedrichsdenkmal diesen scheint jeweils ein weiteres Zeichenblatt (1796/97) zählen bis heute zu den Ikonen der eingelegt beziehungsweise mit Siegellack aufge- Architekturzeichnung.5 Gilly hatte, wie sein klebt zu sein. Beim Querprofil überschneidet Freund und erster Biograph Konrad Levezow die Zeichnung den Rahmen, so dass fast der (1770-1835) überliefert, schon sehr früh Zei- Eindruck entsteht, das Blatt drohe aus dem chenunterricht genommen und ein ausgespro- gebundenen Zeichnungskonvolut herauszurut- chenes Talent gezeigt, außerdem war er von schen. Diese aufmontierten Blätter heben sich seinem Vater in den Grundlagen der Architek- mittels ihres helleren Papiertons deutlich vom tur unterwiesen worden und hatte eine hand- Zeichenuntergrund ab, die Ecken und Ränder werkliche Ausbildung absolviert.6 Als er 1788 sind zum Teil geknickt oder eingerissen. Vor mit seinem Vater nach Berlin kam, verfügte er allem am unteren Rand sind die Papiere aufge- demnach schon über eine solide Grundausbil- rollt oder großflächig geknickt. Dadurch wird dung in der Baukunst und durfte am Unterricht ein Teil der Zeichnung des Längs- und Quer- an der Akademie der Künste teilnehmen. schnitts verdeckt. Abb. 8: Andrea Pozzo: Perspectivae pictorum atque architectorum, lateinisch-deutsche Ausgabe, Bd. 2, Augsburg 1719, Tafel 26: Ein Fuß-Gestell nach der Seite Bei dem Zeichnungskonvolut zum Stettiner Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, Theater handelt es sich um zwei Fassadenan- dass es sich hier um eine geschickte Augentäu- sichten (Kat. I-1), zwei Grundrisse mit einem schung, eine Art Trompe-l’Œil, handelt, und Längsschnitt (Kat. I-2) sowie zwei aufwendige- die scheinbar aufgeklebten Zeichenblätter in re, auf einzelnen Blättern angelegte Schaurisse Wahrheit Produkt der zeichnerischen Virtuosi- des Längs- und Querschnitts des Theaters tät Gillys sind. Die wie aufmontiert wirkenden (Kat. I-3, 4). Sind die Grundrisse und Ansich- Zeichnungsblätter zeigen den wahren helleren ten nach den Konventionen der farbig lavierten Papierton, während der Zeichnungsuntergrund Reinzeichnung, wie sie seit dem 17. Jahrhun- von Gilly dunkler bzw. leicht grünlich getönt dert in Europa gebräuchlich waren, angelegt, wurde, um den plastischen Eindruck zu ver- fallen Längs- und Querschnitt durch ihre au- stärken. Mit den Mitteln der optischen Per- ßergewöhnliche, bildästhetisch sehr interessan- spektivzeichnungslehre hat er zudem die Risse te Darstellungsweise auf. und Fältelungen des Papiers und deren Schat- Visualisierungsstrategien in der Architekturzeichnung um 1800 17 ten illusionistisch so perfekt wiedergegeben, Das Motiv des aufgelegten Blattes lässt sich dass man versucht ist, das Zeichenpapier mit seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in zahl- den Händen auszurollen bzw. glattzustreichen. reichen gedruckten Perspektivbüchern finden.9 Besonders raffiniert ist der Riss mit dem So hat zum Beispiel der für seine Illusionsmale- Querprofil gezeichnet, denn hier wird das Spiel reien berühmte Maler und Architekt Andrea mit der perspektivischen Illusion durch den Pozzo (1642-1709) diese Darstellungstechnik zentralperspektivisch angelegten Bühnenpro- in seinem zwischen 1673 und 1700 erstmals spekt mit Staffagefiguren noch um eine weitere publizierten Standardwerk Perspectivae pictorum Realitätsebene gesteigert. Bei dem Längsprofil atque architectorum angewandt, das nachweislich wird diese Illusion ironisch gebrochen, macht auch noch um 1790 an der Berliner Kunst- doch der auf dem umgefalteten unteren Papier- akademie, an der Friedrich Gilly studierte, als rand befindliche Maßstab auf der Zeichnungs- Lehrbuch im Perspektivunterricht diente.10 rückseite keinen Sinn, bekommt seine Funkti- Pozzo setzt dieses Motiv der „Zeichnung auf onsfähigkeit also nur, wenn der Betrachter die der Zeichnung“ ein, um die bildliche Qualität Illusion als eine solche wahrnimmt. und Illusionskraft der perspektivischen Dar- Dieses Mittel des Trompe-l‘Œil oder des stellung eines Objekts von den rein zweidimen- Quodlibet (eine Sonderform, in der häufig sionalen Grundrissen und Schnitten abzuheben täuschend echt gemalte Schriftstücke darge- (Abb. 8). Claude Perrault verwendete das Mit- stellt werden) war vor allem in der Malerei des tel des Trompe-l’Œil auf einigen Tafeln in 17. und 18. Jahrhunderts beliebt,7 doch dass seiner 1673 erschienenen kommentierten Vi- dieses Thema auch in der Architekturzeich- truv-Übersetzung Les Dix Livres D’Architecture nung eine Tradition hatte, ist bislang wenig De Vitruve, um die Perspektivansicht von den berücksichtigt worden.8 zweidimensionalen Rissen zu scheiden (Abb. 9).11 In der Druckgraphik wurde dieses Motiv also eingesetzt, um auf einem Blatt unter- schiedliche Themen beziehungsweise Darstel- lungsweisen optisch voneinander zu trennen. Dieses ist aber bei den Zeichnungen Gillys nicht der Fall! Vielmehr scheint hier ein wahr- nehmungsästhetischer Aspekt eine wichtigere Rolle zu spielen. So kommt das Motiv der „Zeichnung auf der Zeichnung“ zum Beispiel auch in den von Gilly und seinen Zeitgenossen sehr bewunder- ten Stichwerken Giovanni Battista Piranesis zum Einsatz, der als Auslöser für eine Aufwer- tung des Mediums der Architekturzeichnung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt.12 Piranesi war an der Wahrnehmung von Archi- tektur im zweidimensionalen Medium der Zeichnung und Graphik interessiert und spielte in seinen Büchern mit den unterschiedlichen Realitätsebenen von Architektur und Zeich- nung und experimentierte mit gewagten Per- spektiven.13 Auch Gillys Idee des aus dem Rahmen rutschenden Zeichenblatts hat ein Vorbild bei Piranesi: So lässt dieser die unre- Abb. 9: Claude Perrault: Les Dix Livres gelmäßigen Umrisse eines antiken Steinplans D’Architecture De Vitruve, 2. Aufl., Paris 1684, des Forum Romanum in Rom in einer Graphik Tafel 10: Darstellung eines Tempels in der Form ebenfalls geschickt über den Rahmen hinaus in eines Amphiprostylos das Beschriftungsfeld ragen, vermutlich um dessen plastische Wirkung zu steigern. Da Friedrich Gilly über eine große Bücher- sammlung verfügte und auch die erwähnten Werke besaß, ist es nicht auszuschließen, dass 18 Christiane Salge er die Idee zu dem Motiv in seinen Stettiner Ein ähnliches Interesse ist auch bei Johann Theaterzeichnungen aus der Druckgraphik Friedrich Penther (1693-1749) zu erkennen, gewonnen hatte, wenn auch seine Gestaltung der an der Göttinger Universität Architektur und Intention der Augentäuschung eine andere und perspektivische Zeichenkunst unterrichte- zu sein scheint.14 te. Er hat in seinen gedruckten Lehrbüchern Abb. 10: Johann Friedrich Penther: Vierter Theil der ausführlichen Anleitung zur Bürgerlichen Bau-Kunst, Augsburg 1748: Frontispiz Filippo Juvarra hatte diesen Kniff des Trompe- ebenfalls dieses Motiv angewendet.16 Im vier- l’Œil im Medium der Architekturzeichnung ten Band seiner Bürgerlichen Bau-Kunst von 1748 bereits 1705 zur Inszenierung seiner architek- wird das Titelbild von einem großen Trompe- tonischen Wettbewerbsentwürfe für den Con- l’Œil geziert (Abb. 10). Geschickt spielt corso Clementino an der Accademia di San Penther mit den verschiedenen Realitätsebenen Luca in Rom eingesetzt (Abb. 46). Juvarra seiner Darstellung: Das Titelblatt zeigt eine zeigte einen Grundriss, der aufgrund der illu- perspektivisch perfekt gezeichnete große mehr- sionistischen Zeichenweise mit Reißzwecken flügelige Schlossanlage in der Vogelschau. und Fäden auf das darunterliegende Blatt mit Durch die sich seitlich einrollenden Blattränder Aufriss und Schnitt eines achteckigen Palast- wird die Illusion des dreidimensionalen Ent- entwurfes geheftet zu sein scheint. Elisabeth wurfs gebrochen und das Ganze als zweidi- Kieven hat diese Idee sehr treffend kommen- mensionale Zeichnung wahrgenommen, deren tiert: „Die Zeichnung in der Zeichnung macht Illusion durch die auf der Zeichnung liegenden die Darstellungsform zum Gegenstand eines plastisch wiedergegebenen Mess- und Zeichen- intelligenten Spiels auf verschiedenen Realitäts- instrumente, das aufgeschlagene Buch sowie ebenen. […] Die Architekturzeichnung wird die Maserung der Tischplatte verstärkt werden, zum autonomen Kunstwerk.“15 bis wiederum der Blattrand dem Spiel mit der Visualisierungsstrategien in der Architekturzeichnung um 1800 19 Augentäuschung seine Grenzen zeigt. Penther Architekturentwürfe eine ästhetische Qualitäts- macht hier mit den Mitteln der Perspektive auf steigerung in der Zeichnungsart und einen die bildlichen Möglichkeiten in der Architek- Wandel in der Darstellungsform erfuhren. Sie turzeichnung aufmerksam. waren eine Folge der ausgehend von Frank- Gilly geht aber noch einen Schritt weiter reich immer stärker institutionalisierten Ausbil- als Juvarra oder Penther, indem er mithilfe der dung in der Architektur an den Akademien. Farbe den Realitätsgrad und Effekt seiner Mittels der damit verbundenen regelmäßigen Zeichnungen noch steigert. Da Gilly nur eine Ausschreibungen von Wettbewerben und Prei- Zeichnung isoliert darstellt, geht es ihm offen- sen wurde die Konkurrenz unter den Bauschü- sichtlich mehr um den illusionistischen Effekt, lern gesteigert.18 Dies führte in ganz Europa zu denn um die Scheidung zweier unterschiedli- aufwendigeren, farbig angelegten Präsentati- cher Darstellungsformen. Er nähert sich da- onszeichnungen19, da diese Entwürfe auf jähr- durch sehr stark der Malerei des Trompe-l’Œil lich stattfindenden Ausstellungen präsentiert oder des Quodlibet an. wurden. Zugleich versuchten sich die Architek- Auch aus der Pariser École des Ponts et ten damit von den reinen Werk- und Kon- Chaussées haben sich Wettbewerbszeichnun- struktionszeichnungen, die nun auch von Inge- gen aus den Fächern Karten- und Figuren- nieuren übernommen werden konnten, zu zeichnen vom Ende des 18. Jahrhunderts erhal- emanzipieren und auf die ästhetische und ten, in denen die Schüler das Mittel des Trom- künstlerische Qualität ihrer Entwurfsidee auf- pe-l’Œil eingesetzt haben, um einerseits ihre merksam zu machen. Dies war einerseits eine künstlerische Zeichenfertigkeit zu beweisen Reaktion der sogenannten Revolutionsarchitek- und andererseits verschiedene Darstellungs- ten auf die für sie bedrohlichen Folgen der modi von Landkarten bzw. Zeichnungsthemen Entstehung des Ingenieurberufs im ausgehen- auf einem Blatt zu vereinen.17 den 18. Jahrhundert und andererseits Ausdruck Diese Beispiele haben gezeigt, dass Archi- ihres zunehmenden Selbstverständnisses als tekten im 18. Jahrhundert zunehmend Visuali- Künstlerarchitekten im Zuge der Aufklärung.20 sierungsstrategien anwendeten. Warum wählte Friedrich Gilly hat sich Zeit seines Lebens Friedrich Gilly für die Präsentation seiner mit Visualisierungsstrategien von Architektur Entwürfe ein so aufwendiges zeichnerisches auseinandergesetzt. Seine zeichnerische Bega- Verfahren? Zum einen wollte er – ähnlich wie bung und Erfindungskraft fand ihre Bestäti- Juvarra – mit diesen Blättern sicherlich auf gung in der Ernennung zum Professor für seine zeichnerische Virtuosität aufmerksam Optik und Perspektive an der 1799 neu ge- machen. Zum anderen hoffte er vielleicht, gründeten Bauakademie in Berlin.21 Auch seine durch die Qualität der Zeichnung das Wohl- auf der Ausstellung der Berliner Kunstakade- wollen der Auftraggeber und damit auch die mie im Jahre 1795 erstmals gezeigten lavierten Umsetzung des Bauprojekts zu erreichen. Zu- Federzeichnungen der Marienburg (Malbork), gleich – und das ist wohl der wichtigste Aspekt die später von Friedrich Frick für das Druck- – sollten sich diese beiden Zeichnungen – die werk über das Deutschordensschloss in Aqua- die eigentliche Idee Gillys verkörperten – tinta-Manier übertragen wurden, zeugen von durch ihre künstlerische Durchgestaltung deut- seiner Fertigkeit im Zeichnen und neuen For- lich von den konventionellen Grund- und Auf- men der Architekturdarstellung (vgl. Kat. III).22 rissen abheben, die eine Bestandsaufnahme des Seine Ansichten des Außenbaues und der bereits bestehenden Baukörpers waren. Gilly Innenräume der Marienburg beeindrucken sollte in den beiden Obergeschossen eines durch ihre, die Möglichkeiten der Perspektive bereits bestehenden Gebäudes einen neuen ausnutzenden Blickwinkel sowie durch die Theaterraum einbauen. Der Unterschied in der mittels des Einsatzes von malerischen Medien Zeichentechnik trennt also die innovative Idee (Licht, Schatten und Farbe) erzeugten Stim- des Architekten von den Zeichnungen, die mungen. Eine Inszenierung von Architektur, lediglich den Baubestand festhalten. Dies er- die an Architekturbilder erinnert, wie sie dann klärt auch die eingerollten unteren Blattränder, im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Beispiel sie verdecken gleichsam das bestehende Wirt- von Karl Friedrich Schinkel angefertigt wur- schaftsgeschoss des Spritzenhauses, das keinem den. baulichen Eingriff unterzogen werden sollte. Auch die Zeitgenossen waren sich der be- Gillys Zeichnungen sind typische Beispiele sonderen Qualität von Gillys Zeichnungen einer in ganz Europa zu beobachtenden Ent- bewusst, so erwarb der damalige König Fried- wicklung im 18. Jahrhundert, in deren Verlauf rich Wilhelm II. eine dieser Marienburgansich- 20 Christiane Salge ten und ließ sie im königlichen Schloss in Ber- lin einem Gemälde gleich aufhängen.23 7 Zum Trompe-l‘Œil bzw. Quodlibet siehe Battersby Schon in seinen ersten bislang bekannten 1974; Mauriès 1998. Zeichnungen zum Theater in Stettin wird die 8 Eine sehr frühe Würdigung der Architekturzeichnung bei Linfert 1931 und Frey 1937; zum Forschungsstand Kunstfertigkeit Friedrich Gillys im Zeichnen der Architekturzeichnung siehe Lang 2012, S. 6-10 und augenscheinlich. Wenn auch die Darstellung Fitzner 2015, S. 4-7; siehe auch Richardson 1983; Savi- der Risse noch dem Lineamento verpflichtet gnat 1983; Nerdinger 1987; Blau/Kaufman 1989; Kieven ist, wählt er zumindest bei zwei Plänen den aus 1993; Evans 2000; Pérez-Gómez/Pelletier 2000; Evers der Malerei entlehnten Kunstgriff des Quodli- 2002; Bredekamp 2004; Carpo/Lemerle 2008; Kieven 2011; Garms 2011; Philipp 2012. bet an, um mit diesem Mittel seine eigene 9 Das Spiel mit dem scheinbar auf ein Papier aufgelegten künstlerische Idee auszuzeichnen. Ausgehend zweiten Papier taucht in gedruckten Geometrie- und von der vor allem von Wolfgang Kemp ent- Perspektivbücher schon sehr früh auf. Schon 1594 wird wickelten rezeptionsästhetischen Methode es in einem Geometriebuch von Levinus Hulsius als möchte man fast sagen, dass Gilly hier vor zeichnerisches Mittel verwendet, um die auf einem Trak- tatblatt abgedruckte Darstellung der schriftlichen geome- allem das Sehen von Architekturzeichnungen trischen Berechnung und des eigentlich praktischen neu thematisiert, indem er die Betrachter be- Messverfahrens optisch zu trennen (AK Bamberg 2008, ziehungsweise deren Reflektion des Sehens in S. 87). seine Entwürfe mit einbezieht und ganz be- 10 Vgl. Pozzo 1708/19, Bd. 1, Tafel 62. wusst mit diesem Vorgang spielt. Es wird deut- 11 Freigang 2003; Heyder 2008. Noch früher hatte Per- lich, welchen ästhetischen Wert Gilly dem Me- rault diese Darstellungsweise in seinem 1671 und 1676 dium der Zeichnung beimaß: Sie ist für ihn publizierten Werk Mémoires pour servir à l’histoire naturelle weit mehr als nur Ausdruck seiner Bauidee, die verwendet, die eine perspektivisch angelegte Zeichnung mit einem aufgelegten Blatt kombinierte, auf dem in einer Zeichnung selbst ist schon das Kunstwerk. exakten Malweise Details präsentiert werden. Zu Perrault siehe: Picon 1988. 12 Höper 1999; Reudenbach 1979; zur Abbildung vgl.: Giovanni Battista Piranesi, Pianta dell’antico Foro Romanum, Radierung, Tafel XLIII aus: Le Antiquita Romane, Rom 1784. Auch in dem Vorlagenwerk zu sizilianischer Archi- tektur, das Friedrich Gilly nachweislich besaß, existiert 1 Kunstsammlung der Universität Göttingen, Sign. UK C diese Darstellungsform der Zeichnung auf der Zeich- 7/154 – vgl. Kat. I. Ehemals Graphische Sammlung nung: J. Houël: Voyage pittoresque des Isles de Sicile, de Malte Universität Königsberg, Depositum Georg-August- & de Lipari, 4 Bände, Paris 1782-1797 (z.B. Bd. 1, Tafel Universität Göttingen, Treuhandverwaltung für die Stif- XXI). tung preußischer Kulturbesitz (Ich danke der Leiterin der 13 Siehe hierzu Sonne 2011b, S. 8f. Göttinger Kunstsammlung, Anne-Katrin Sors für die 14 Friedrich Gilly besaß die zweite Auflage des Traktats Auskünfte). Die Autorin hat zu Friedrich Gillys Architekturzeichnun- von Claude Perrault, die beiden Bücher von Andrea gen bereits 2013 im Rahmen des DFG-Netzwerks Pozzo, in denen ebenfalls dieses Motiv auftaucht, und Schnittstelle Bild. Architekturgeschichte und Bildkritik im mehrere Stichwerke Giovanni Battista Piranesis (u.a. auch Dialog 1400-1800 einen Aufsatz verfasst, der voraussicht- den Traktat Della Magnificenza von 1761 und die Tafeln lich 2016 publiziert wird. Einzelne Abschnitte daraus sind des Werks Le Antiquita Romane von 1784). Daher ist eine mit dem hier vorliegenden Beitrag identisch (vgl. Salge Inspiration aus diesen Büchern – wenn wir auch nicht 2016b). wissen, wann er diese erworben hat – sehr gut möglich, 2 Roß 1992. Erhard Roß hatte erstmals 1931 auf diese wenn nicht sogar wahrscheinlich. Zur Büchersammlung Friedrich Gillys vgl. Neumeyer 1997, Anhang 2, Gillys Blätter Gillys hingewiesen (Roß 1935, S. 11f., Anm. 11, S. Bücher- und Kupferstichsammlung (Perrault Nr. 39, 123) und 1937 drei Blätter in einer Zeitung publiziert Piranesi Nr. 32-35, Pozzo Nr. 93). (Stettiner Generalanzeiger/Ostseezeitung vom 6.1.1937). Von der kunsthistorischen Forschung wurden seine 15 Zu Juvarras Zeichnungsstil siehe Kieven 1993, v. a. Publikationen aber bislang nicht berücksichtigt. S. 196f., 204., vgl. Abb. S. 205. Das Zitat auf S. 204; 3 Zur Planungsgeschichte siehe Roß 1992, S. 44f. Offen- Kieven 2011. – In der späteren Zeit taucht dieses Motiv noch häufiger in Präsentationszeichnungen auf, z.B. bei sichtlich dienten diese nicht ausgeführten Stettiner Thea- Johann Adam Delsenbach, Zeichnung des Feldsberger terpläne als Grundlage für einige spätere Theaterentwürfe Schlosses, um 1721, Sammlungen des Fürsten von und zu Gillys für Königsberg und Posen (Poznań). Vgl. dazu Roß Liechtenstein, Vaduz-Wien, GR 163 (vgl. Abb. 2 in Salge 1992, S. 53f.; Oncken 1981, S. 60-62, 135; AK Berlin 2007). Oder bei Wolfgang Hagenauer (1726-1801), der in 1984, S. 152-157; AK Berlin 2000, S. 192-196. seinen Zeichnungen zu bayerischen Schlössern mit die- 4 Bislang galten Zeichnungen zu einem Grabmonument sem Mittel die drei Darstellungsmodi (Grundriss, Aufriss aus dem Jahre 1791 als erste bekannte Werke Gillys. Vgl. und Schnitt) voneinander trennt. Vgl. dazu seine Zeich- Oncken 1981, S. 31. Siehe auch Roß 1992, S. 53. nung zur Fürstbischöflichen Residenz Schloss Freuden- 5 Zu Gilly siehe Oncken 1981; AK Berlin 1984; Reelfs hain in Passau, Projekt für den Küchengarten und die 1996; Neumeyer 1997; Wätjen 2009. Orangerie (München, Bayerische Staatsbibliothek, Hand- 6 Levezow 1801, S. 7-15. Wiederabdruck in AK Berlin schriftensammlung Cod.icon. 203, fol. 6r). [URL: 1984, S. 217-242. http://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c= Visualisierungsstrategien in der Architekturzeichnung um 1800 21 viewer&bandnummer=bsb00065065&pimage=9&v=100 tragenen Unterrichts in der Optic und Perspective auch in &nav=&l=de]. der Architektonischen und Maschinenzeichnung 1799/ 16 Penther 1744–1748, Bd. 2, 1745, Vorrede. Vgl. hierzu 1800 (Abdruck in AK Berlin 1984, S. 243-244). – Zum auch Biesler 2005, S. 83–88. Perspektivunterricht an der Berliner Akademie der Kün- 17 Picon 1988, vgl. Abb. S. 57-61. ste und der Bauakademie siehe: Siebel 2004; Salge 2016b. Laut Siebel stach die Berliner Akademie seit ihrer Grün- 18 Zu den Akademien immer noch grundlegend: Pevsner dung im Jahre 1696 durch ihren permanent angebotenen 1986; siehe auch Schöller 1993; Bollé 2009; Mai 2010. Perspektivunterricht hervor, der von Architekten bzw. 19 Diesen Prozess der Veränderung in der Architektur- von Malern vorgetragen und in der Anfangszeit auch für zeichnung hat besonders gut Ottomeyer 1999 herausge- Eleven beider Richtungen angeboten wurde. arbeitet: Siehe auch Szambien 1984; Oechslin 1987; Ger- 22 Zu den Zeichnungen Gillys zur Marienburg und zu mann 1990. dem von dem Kupferstecher Johann Friedrich Frick in 20 Zum Themenfeld Architekt und Ingenieur siehe: AK Zusammenarbeit mit Martin Friedrich Rabe herausgege- Wolfenbüttel 1984; Saint 2007. Zur Revolutionsarchitek- benen Mappenwerk zur Marienburg siehe Frick [1799- tur: AK Frankfurt am Main 1990. Zum Berufsbild des 1803] 1965; AK Berlin 1984, Kat. 23-34 zur Marienburg, Architekten siehe Nerdinger 2012. S. 100-112, sowie den Beitrag von Chr. Scholl und die 21 Berlin, GStA PK, I. HA Rep 76 alt IV, Nr. 25 Acta Einleitung zu Kat. III. im vorliegenden Katalog. 23 Reelfs 1996, S. 53. Wegen des dem Professor und Bau-Inspector Gilly über- „Ländliche Simplizität“* und die Ästhetik der Landbaukunst Marion Hilliges Ein anonymer Autor beginnt in der allgemeinen das naturnahe Leben als reinste Lebensform deutschen Literatur-Zeitung aus dem Jahr 1801 und den Bauer als den wahren Menschen.4 seinen Artikel zur „brittischen Landwirt- Somit wertete er kulturphilosophisch das schaftskunst“ mit folgenden Worten: „Magazi- Landleben und die landwirtschaftliche Produk- ne für Gartenkunst und Baukunst, architecto- tion auf. Rousseau fand nach seinen ersten nische Ideen und Muster für ländliche Partieen literarischen Erfolgen einflussreiche Freunde und Lustanlagen, sind seit ungefähr 10 Jahren am Hof des französischen Königs in Versailles, ein Lieblingsartikel der speculierenden Kunst obwohl er in seinen Schriften Bescheidenheit und des Buchhandels geworden. Nach ihrer propagierte – an einem Hof, der verschwende- ungemeinen Vervielfältigung zu urtheilen, soll- rischer nicht sein konnte. Schnell verbreiteten te man glauben, ganz Deutschland müsse bald sich die Ideen Rousseaus in ganz Europa und in einen Lustgarten verwandelt, und alle unsere wirkten sich auch auf die Baukunst aus. Die Meyerhöfe und Wirtschaftsanlagen in romanti- natürliche Bebauung (Urhütte) und das Leben sche Pleasuregrounds umgeschaffen sein.“1 auf dem Land kamen in Mode, die eigentlichen Hinter diesen polemischen Worten ver- Ideen Rousseaus völlig verkennend. Die Köni- steckt sich nicht nur eine Kritik an dem Über- gin von Frankreich, Marie Antoinette, trieb die fluss theoretischer Abhandlungen zu diesem Mode auf die Spitze und ließ sich von ihren Themengebiet, sondern gleichzeitig wohnt Architekten ein ganzes Dorf „Hameau“ nach- ihnen auch die Hoffnung inne, dass sich der im bauen, in dem sie Schäferin spielte.5 ausgehenden 18. Jahrhundert gestiegene ästhe- Die akuten Versorgungsengpässe, die nicht tische Anspruch an die sogenannte Landbau- nur im vorrevolutionären Frankreich bestan- kunst tatsächlich in den landwirtschaftlichen den, waren mit sentimentalen Schwärmereien Bauten Deutschlands niederschlagen würde. wie dem „Hameau“ allerdings nicht zu bewälti- Der umfangreichen Beschäftigung mit dem gen. Der Ackerbau befand sich im 18. Jahr- ländlichen Bauen und zahlreichen Farm- und hundert in einer Krise und es gründeten sich in Dorfentwürfen im späten 18. Jahrhundert ging zahlreichen Städten Europas „Ökonomische- europaweit ein generelles Interesse am Land Landwirtschaftliche Gesellschaften“, die es sich und vor allem an der Landwirtschaft voraus.2 zur Aufgabe machten, die Landwirtschaft zu Der französische Schriftsteller und Kulturphi- reformieren.6 Die zahlreichen Abhandlungen losoph Jean-Jacques Rousseau veröffentlichte „öconomischer Societäten“ und „practischer im Jahr 1762 seine bedeutendsten Werke: Le Schriftsteller“ zum Agrikulturalismus im späten contrat social und Emile, einen Roman, der ein 18. Jahrhundert zeugen von der herausragen- Jahr später ins Deutsche übersetzt auch in den Bedeutung der Landwirtschaft im Kontext Preußen erschien.3 Rousseau überwand die gesellschaftspolitischer Reformversuche.7 Die aufklärerische Vorstellung der Vernunft als Auswirkungen dieser Reformversuche auf die Maßstab aller Dinge und hielt die Übel der Baukunst waren entscheidend für die Ästhetik Welt für eine Folge der Zivilisation. Er pries der Architektur um 1800. 24 Marion Hilliges Abb. 11: Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten, die Baukunst betreffend. Für angehende Baumei- ster und Freunde der Architektur, 1797, Bd. 1, Titelseite und Frontispiz pommerschen Distrikt verantwortlich.10 Die David Gilly und der europäische Wetteifer in der ersten beiden Teile seines Handbuchs der Land- Landbaukunst baukunst veröffentlichte Gilly 1797 und 1798. Das aufwendig illustrierte Handbuch versteht Auszüge aus dem eingangs genannten Aufsatz sich als Anleitung zum praktischen Bauen – es des „Engländers“8 druckte David Gilly, einge- galt, das technologische Wissen aus der stetig bunden in seine eigenen Überlegungen Über anwachsenden Literatur sowie eigene Erfin- Landwirthschaftliche Gebäude und Wirtschaftshöfe dungen im Bereich der Baukonstruktion und nach englischer und französischer Art […], 1803 in neuer Materialien (Lehmbau) für die preußi- der Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten, schen Baumeister und Baubeamten aufzuberei- die Baukunst betreffend ab. Einen großen Teil ten.11 Als Mitherausgeber der 1797 erstmals nimmt dabei die Beschreibung des Gutes veröffentlichten Zeitschrift Sammlung nützlicher Hardwiekhill ein, eines 250 engl. Acre großen Aufsätze und Nachrichten, die Baukunst betreffend Pachthofes, der auf der Straße von Bedford war er stets bestrebt, wichtige Diskussionen nach Ampthill liegt. In seinem ausführlichen und Erfindungen zur Landbaukunst weiterhin Kommentar zu der Beschreibung des briti- zu erörtern und das in seinen Schriften bisher schen Pachthofes stellt David Gilly „Verglei- Versäumte nachzutragen (Abb. 11). chungen mit unsern Prinzipien“ an, wobei er Eine zusätzliche Motivation für die aus- britische Eigenheiten der Raumdisposition führliche Besprechung des Landbaus in Eng- erläutert und auf die mögliche Anwendbarkeit land und Frankreich mag auch die mehrmona- für preußische Pachthöfe prüft.9 Überaus tige „Studienreise“ nach Frankreich gewesen wohlwollend stellt David Gilly die Ordnung sein. Von dieser Reise kehrte er enttäuscht und Sauberkeit der britischen Höfe heraus. In zurück, waren doch die hohen Erwartungen der Ausgabe von 1804 nimmt er das Thema von den Fortschritten der Kunst, die Gilly an erneut auf. Sein ureigenstes Interesse am das große Land Frankreich hatte, nicht einge- Landbau ist erwartungsgemäß seinem berufli- löst worden.12 So sah er sich genötigt, in sei- chen Werdegang und seinen eigenen schriftli- nem Artikel die Stagnation auf dem Gebiet der chen Ausführungen zur Landbaukunst ge- „wirthschaftlichen Baukunst“ zu kritisieren: schuldet. Als Landbaumeister in Stargard war „Es ist aber allerdings befremdlich, daß weder er von 1772-1782 für die ländlichen Bauten mehrere einzelne Abhandlungen noch voll- und vor allem die Wasserbauten im hinter- ständige Schriften über diesen Gegenstand „Ländliche Simplizität“ und die Ästhetik der Landbaukunst 25 zum Vorschein kommen […], und es scheint weisen. Die Titelvignette des 2. Bandes des mir, als wenn die Franzosen sich wohl nicht fünften Jahrgangs von 1804 zeigt sicher nicht schämen dürften, manches unserer deutschen ohne Grund die Königshütte in Oberschlesien, Bücher über landwirthschaftliche Baukunst in in der 1802 einer der ersten Kokshochöfen, ihre Sprache übersetzt, in vielen Stücken zu eine Erfindung zur Gewinnung von Roheisen, benutzen“.13 Ein erneuter Blick nach England eingesetzt wurde (Abb. 13). schien ihm für die Modernisierung der Land- baukunst in Brandenburg-Preußen aufschluss- reicher zu sein. Inwieweit dieses Interesse von den Aufzeichnungen und Notizen seines Soh- nes Friedrich Gilly in den Briefen und den Reisetagebüchern von 1797/98 beeinflusst worden ist, muss allerdings offen bleiben. Es haben sich weder schriftliche Notizen noch Skizzen von dessen Englandreise erhalten – die Reisetagebücher sind den Bombenangriffen der letzten Kriegsjahre zum Opfer gefallen.14 Vielmehr bezieht David Gilly sich konkret auf die Abhandlungen und aktuellen Diskussionen in den entsprechenden Fachzeitschriften sowie auf Reisebeschreibungen.15 Abb. 12: Friedrich Gilly: Entwurf zur „Königs- Generell ist der Beitrag David Gillys zur hütte“ (?), Ansicht bei Nacht, um 1797, Feder, Landbaukunst in der Sammlung nützlicher Aufsät- graubraun und schwarz getuscht, 300 x 457 mm, ze im Kontext seiner kritischen Stellungnah- Berlin, Kunstbibliothek men zu sehen, die er regelmäßig in der Zeit- schrift veröffentlichte. In besonderer Weise war er dabei oft versucht, die technischen Er- rungenschaften und Bauten in Deutschland gegen die ausländische, vor allem englische und französische Vorrangstellung zu verteidigen. Einen Höhepunkt dieser Kommentare stellt sicher der Aufsatz Zur Ehrenrettung deutscher Art und Kunst dar, den er 1799 in den Jahrbüchern der preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms III. veröffentlichte.16 In diesem Artikel verteidigt David Gilly, ausgehend von einem als Angriff auf die deutschen Tugenden ver- standenen Aufsatz über Brückenbauten, die deutsche Baukunst sowie die technischen Fort- schritte, die in diesem Land geleistet würden. Der unbekannte Autor des Beitrags in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen hatte über die neuen Brückenbauten bei Schaffhausen und bei Baden berichtet und dies mit der Frage verbunden, warum in Deutsch- land nicht, wie in England auch, „gegossene eiserne Brücken“ wie die Brücke bei Coal- brookdale gebaut würden (vgl. Abb. 11 links). David Gilly hat in seiner Schrift Zur Ehrenret- tung diesem Angriff im Prinzip nicht viel entge- genzusetzen, wurde die erste preußische Ei- senbrücke in Limburg an der Lenne mit einer Abb. 13: Sammlung nützlicher Aufsätze und wesentlich geringeren Spannweite doch erst Nachrichten, die Baukunst betreffend, 5, 1804, 1794 errichtet.17 Und dennoch versäumt er zu 2. Band, Titelseite keiner Zeit, auf die Neuerungen und Erfindun- gen der Deutschen auf diesem Gebiet zu ver- 26 Marion Hilliges Abb. 14: John Sinclair: Plan zu einem idealen Dorf, vor 1800 Die Titelvignette wurde von Anton Wachs- lagen des Kontinents zählten.19 Zugleich ist sie mann nach einer Zeichnung Friedrich Gillys Ausdruck der modernen preußisch-deutschen (Abb. 12) gestochen, unten links ist die Be- Architektursprache, die Friedrich Gilly mit schriftung F. Gilly zu lesen.18 Der Entwurf zur seinen wegweisenden Entwürfen prägte. Königshütte ist in seiner architektonischen In der Konkurrenz zu England ist dem- Formensprache eine Weiterentwicklung der nach auch der Aufsatz Über landwirtschaftliche berühmten Saline Chaux (1775-79) bei Arc-et- Gebäude und Wirtschaftshöfe, nach englischer und Senan von Claude-Nicolas Ledoux. Im Gegen- französischer Art in eben diesem Band zu sehen, satz zur Ledouxschen Anlage zur Salzgewin- in dem die modernen, aus England stammen- nung zeichnet sich die Königshütte durch den den Erfindungen für die Landwirtschaft von völligen Verzicht auf den klassischen Säulen- David Gilly kritisch geprüft werden. Der Fokus Gebälk-Kanon aus. Zwar zeugen auch hier des zweiten Teils seines Artikels liegt dabei auf rustizierte Mauern im Sockelgeschoss von ei- der „leichten beweglichen Dreschscheuer“, nem abweisenden Charakter, aber glatt in die einer Erfindung, die zuerst in William Pearces Wand eingeschnittene, nach oben hin konisch Schrift View of the agriculture of Berkshire be- zulaufende Tür- und Fenstereinschnitte zeugen schrieben und abgebildet und in einer königli- von zusätzlicher martialischer Stärke. Über chen Farm im Windsorpark unter großem dem geböschten Sockelgeschoss erheben sich Beifall aufgestellt wurde.20 Es handelt sich da- glatte Wände, die nur von einem langen Figu- bei um eine Dreschscheuer auf Rädern, die in renfries und je zwei Masken verziert sind. den Schienen des rechteckigen Schobers Stück Die Titelvignette mit der Königshütte ist in für Stück weiter geschoben werden kann. Gilly zweifacher Hinsicht eine Referenz auf die Fort- würdigt die leichte Konstruktion der bewegli- schrittlichkeit Preußens. Sie verweist auf die chen Dreschscheuer und hält sie für eine prak- modernsten Produktionsstätten für Eisen tische Erfindung, deren Anwendbarkeit für (Kokshochöfen), die sich in Oberschlesien Preußen, mit einigen Modifikationen, eine befanden und zu den großartigsten Hüttenan- „ganz vollkommen[e Sache] seyn“ könnte.21 „Ländliche Simplizität“ und die Ästhetik der Landbaukunst 27 Aber die Kosten für den Bau einer solchen Dorfgrundriss vor, der ein eindeutiges Zen- Anlage würden den Nutzen nicht rechtferti- trum mit Kirche und Stadthaus ausbildete und gen.22 mit Haustypen für Wohnhäuser, Scheunen und Spannender ist allerdings der Entwurf eines Ställe im Fachwerkbau besetzt werden sollte.26 Manufakturdorfs von Sir John Sinclair, das Wenngleich die Entwürfe für Jacobshagen David Gilly in einem nachgestochenen Plan nur in wenigen Wohnbauten und dem Kir- seinen Ausführungen beifügte (Abb. 14).23 Das chenbau ausgeführt wurden, stellte Gilly bereits erstaunliche an diesem Entwurf ist nicht die mit diesem frühen Projekt seine Qualitäten als städtebauliche Disposition auf kreisrundem Landbaumeister unter Beweis. So ist es kaum Grundriss, die spätestens seit der Gründung verwunderlich, dass David Gilly 1795 den Auf- der Idealfestung Palmanova (1598), der Plan- trag für den Bau eines Sommerschlosses für stadt Karlsruhe und Ledoux’ Idealentwurf der den Kronprinzen und späteren König Fried- Saline in Chaux bekannt ist, sondern vielmehr rich Wilhelm III. erhielt. Die schlichte, ja fast die kreisrunden Häuser. Wie kleine Rundtem- sparsame Gestaltung des Schlossbaus war da- pelchen werden sie perlschnurartig entlang bei von oberster Stelle angeordnet. Der Auf- einer Kreislinie um das Zentrum des Dorfes – traggeber, Kronprinz Friedrich Wilhelm, for- der Gemeinschaftsküche – aufgereiht. derte programmatisch von David Gilly: „Nur In dem Artikel der deutschen Literatur- immer denken, daß Sie für einen armen Guts- Zeitung wird der Vorteil der runden Häuser herrn bauen.“27 darin gesehen, dass das Verhältnis von Umriss Das Sommerschloss sollte als Gutshaus in zur Grundfläche das günstigste sei, so dass an einer Dorfanlage errichtet werden (Abb. 15). Materialkosten gespart werden könne. David Ähnlich wie Marie Antoinette sich die Dorfan- Gilly kritisiert die ungeschickte und unbeque- lage „Hameau“ als romantische Idylle bauen me Grundrissdisposition in seinen Bemerkun- ließ, sollte in Paretz eine Staffage für ländliche gen allerdings scharf, zumal die Materialerspar- Sommerfeste entstehen. Gillys Aufgabe be- nis durch die Mehrarbeit (Arbeitslohn) der stand allerdings darin, ein idyllisches Schaudorf Maurer und Dachdecker durch die komplizier- mit einer ländlichen Produktionsstätte zu ver- te Rundung weitgehend ausgeglichen wäre.24 binden. Seiner Doppelfunktion gemäß schließt Dass in jenem Aufsatz der Autor die runde die Sommerresidenz an den Gutshof und die Form der Häuser eine sinnreiche Idee hat nen- Dorfanlage an, andererseits wird es in eine nen können, sei nach David Gilly nicht ein- englische Parkanlage, die sich zu beiden Seiten leuchtend und er möchte in keinem Fall die der Dorfstraße erstreckt, eingebunden. „runde Figur solcher Häuser“ für die preußi- Der Küchentrakt des Gutshofes wird di- schen Dörfer empfehlen.25 rekt an den niedrigen, langgestreckten Schloss- bau angegliedert. Das Gutsschloss ist demnach kein freistehendes Gebäude, wenngleich die Paretz und die Ästhetik der Landbaukunst Präsentationszeichnungen im sogenannten Paretzer Skizzenbuch genau das suggerieren David Gilly war ausgesprochener Spezialist auf (Abb. 15). Der Schlossbau wird lediglich for- dem Gebiet der Planung von ganzen Dorfanla- mal durch die Fassadengestaltung separiert. gen. Vor allem im Zuge der Kolonisierung der Das Schloss steht zurückgesetzt parallel zur Netze- und Warthebrüche hat er sich intensiv Dorfstraße, der herrschaftliche Pferdestall und mit Dorfneugründungen und Wiederaufbau- die Scheune bilden als schräggestellte Gebäude projekten beschäftigt. Oberstes Gebot war einen Schlossvorhof aus. Durch die Schrägstel- dabei die Wirtschaftlichkeit solcher Projekte. lung der Bauten wird eine optische Öffnung Es galt, mit geringen Mitteln langlebige Typen- zum jenseits der Dorfstraße angrenzenden häuser zu entwerfen, die schnell und mit wenig Schlosspark erreicht. Material errichtet werden konnten. Für die Bauten des Dorfes und der Parkan- Gillys erstes größeres Projekt dieser Art lage haben David und Friedrich Gilly verschie- war die Dorfanlage Jacobshagen, die 1781 nach dene Bauten entworfen und ausgeführt. Be- einem großen Brand wieder aufgebaut werden sonders aussagekräftig für die neue schlichte sollte. Der Ort war bis auf vier Häuser nieder- Ästhetik der modernen Architektur um 1800 gebrannt, doch blieben die Gemeindegrenzen ist allerdings der Schlossbau selbst. Der Ent- und die Parzellengrößen auch für den Wieder- wurf hierfür geht nach neuesten Forschungen aufbau planerische Voraussetzung. Trotzdem wohl auf Friedrich Gilly zurück, wenngleich es sah der Gillysche Plan einen regelmäßigen keinerlei Nachweise dafür gibt.28 28 Marion Hilliges Der Schlossbau ist mit seinen 19 Achsen, Aber auch die Simplizität – die Friedrich nur eineinhalb Geschossen und einem flachen Gilly schon bei der Architektur der Griechen Walmdach äußerst breit gelagert. Dieser Ein- lobte – ist es, mit der die Gestaltung des druck wird durch das Fehlen eines Sockelge- Schlossbaus den Schritt in eine Moderne „jen- schosses zusätzlich unterstützt. Überaus mo- seits jeden Stilzwangs“30 wagt. Mit einfachsten dern ist die Schlichtheit der Fassadengestaltung Mitteln wie der dezenten Farbgebung werden – aufsehenerregend der Verzicht auf Säulen die flachen Seitenrisalite betont und der Bau- und Gebälk. Der lange Baukörper ist nur durch körper zusätzlich strukturiert. Dass gerade flache Wandvorsprünge gegliedert; dabei wer- Bruno Taut mehr als 100 Jahre später für seine den der Haupteingang sowie die jeweils vier Siedlungsbauten genau hier wieder anknüpft, äußeren Fensterachsen mit den beiden Seiten- ist bezeichnend für die Qualität der Paretzer eingängen in flachen, nur eine Steinbreite vor- Bauten. springenden Risaliten zusammengefasst. Die Fenster übernehmen als glatte Wand- einschnitte die vertikale Gliederung, nur an den mittleren Portalzonen wird die schlichte Ge- Friedrich Weinbrenner und das ländliche Bauen staltung unterbrochen. Die Hauptportale an der Gartenseite und an der Hofseite sind von Friedrich Weinbrenners Auseinandersetzung einer dreiteiligen Tür-Fenstergruppe mit einem mit der Landbaukunst oder vielmehr mit dem darüber liegenden Segmentbogenfenster gebil- ländlichen Bauen wird besonders im Hinblick det: ein reduziertes Serlianamotiv, das Friedrich auf seine Reisen deutlich. Im Frühjahr 1787 Gilly bei dem Entwurf für das Königsberger wurde ihm in Zürich die Stelle eines Bauleiters Theater wieder aufnehmen wird (Kat II-1). für ein Kornhaus vermittelt, das allerdings Abb. 15: Paretzer Skizzenbuch, Fol: 3: Facade des Herrschaftlichen Wohnhauses nach der Hofseite An der Hofseite flankieren zwei schlanke hohe nicht zur Ausführung kam. Weinbrenner blieb Pappeln das Hauptportal – die Pappeln erset- dennoch fast zwei Jahre in der Gegend um zen bewusst die für gewöhnlich das Portal Zürich und verdiente sich mit der Bauleitung rahmenden Säulen. Die Verbindung mit der für kleinere Wohnbauten und ländliche Wirt- Natur und der Bezug auf die Natur sind hier schaftsgebäude seinen Unterhalt.31 evident. Die Pappeln leiten direkt über zu der Wenngleich Weinbrenner hier erste Erfah- kreisrunden Vorfahrt, die in einem Halbrund rungen mit dem Landbau sammelte, hat ihn von Pappeln gesäumt wird. Die Verbindung erst seine langjährige Studienreise nach Italien von „Natur und Kunst“ (Goethe) ist das auf dem Gebiet des ländlichen Bauens ent- Grundprinzip für den Entwurf der Schloss- scheidend geprägt. Seine eigenen Worte in den und Gutshofanlage in Paretz.29 Denkwürdigkeiten lassen den tiefen Eindruck, „Ländliche Simplizität“ und die Ästhetik der Landbaukunst 29 den diese Bauten in ihm hinterlassen haben, einem flachen Satteldach, unregelmäßig gesetz- besonders deutlich werden: te Fenstereinschnitte, eine glatte schmucklose „Ich komponiere unterwegs bis Florenz Wand – nur Altersspuren ziehen sich in vagen und dann bis nach Rom eine Menge Gebäude, Linien und Lavierungen über die Häuserwand. wozu ich meistentheils die Ideen von den ge- Maßgeblich für seinen späteren Entwurfs- meinen ländlichen Wohnungen nahm, indem prozess ist bereits hier die Komposition der mir diese Gebäude wegen ihrer mannigfaltigen einzelnen kubischen Bauten zu verschachtelten Formen, Benutzung des Locals, der Materialien Häusergruppen, zu Baukomplexen, die sich etc. oft weit ingeniöser und für ihr Bedürfniß unregelmäßig in die Höhe staffeln. zweckmäßiger als selbst manche große Palais Die komponierten Bauten, von denen er zu seyn schienen.“32 selbst spricht, und bei denen es sich vermutlich Abb. 16: Friedrich Weinbrenner: Besiedelter Abb. 17: Friedrich Weinbrenner: Ponte Nomentano, antiker Grabhügel an der Via Appia, 1792-97 1792-97 In zahlreichen seiner Reiseskizzen, die er in der um erste Entwürfe handelt, sind allerdings Umgebung Roms oder auch in Paestum anfer- nicht erhalten. Dennoch haben sich die ge- tigte, zeigt sich deutlich sein Interesse an den nannten Reiseskizzen in ihrer kompositori- ländlichen Wohnbauten, die in der Nähe anti- schen Gestalt in Weinbrenners späteren Ent- ker Ruinen idyllisch in der Landschaft lagen würfen deutlich niedergeschlagen. Nur selten oder sich an historische Stätten anschmiegten stehen die von Weinbrenner entworfenen Bau- (Abb. 16, 17). ten gänzlich frei, immer ist ein weiterer Bau angelehnt oder es wird durch Mauern eine Verbindung zu den Nebengebäuden geschaf- fen (Abb. 18). Auf seiner Rückreise nach Karlsruhe über Genua und Mailand lernte Weinbrenner in Zürich Johann Caspar Lavater kennen. Sie waren freundschaftlich verbunden, wenngleich ihre Auffassung von Kunst insbesondere „hin- sichtlich des Ausdrucks und der individuellen lebenden Natur“ nahezu gegensätzlich zu sein schien.34 Die romantische naturverbundene An- schauung Lavaters mag Weinbrenner, den strengen Hellenisten, aber zumindest berührt Abb. 18: Friedrich Weinbrenner: Entwurf zum Karlsruher Marktplatz mit dem Denkmal der Rhea haben.35 Lavater war zudem Mitglied in einigen und den Markthallen, um 1804 der landwirtschaftlich ökonomischen Gesell- schaften, die Ende des 18. Jahrhunderts in der Folge der gesellschaftspolitischen Umwälzun- Die von ihm gezeichneten Bauten selbst schei- gen hervorgesprossen sind.36 Und Lavater war nen jedoch reduziert auf ihre simpelsten es dann auch, der Weinbrenner ein wohlwol- Grundformen.33 Ein rechteckiger Kubus mit lendes Empfehlungsschreiben an den badi- 30 Marion Hilliges schen Markgrafen Karl Friedrich mit auf den komplex eingebunden ist. Zwei Einfahrten mit Weg in seine Heimat gab.37 eingestellten Säulen flankieren das symmetrisch Der Bewegung des Agrikulturalismus stand gegliederte Wohnhaus, das deutlich die typi- auch der Markgraf Karl Friedrich sehr nahe, sche Gliederungsstruktur seiner Wohnbauten der selbst, basierend auf der einschlägigen mit beherrschendem Dreiecksgiebel zeigt – französischen Literatur, einen Traktat mit dem wenngleich wesentlich schlichter. Titel Abrégé des principes de l'économie politique Nur die Nebengebäude zeigen mit ihrer glatten (1772) verfasste und große Hoffnungen auf Wand, den kleinen aneinandergereihten Fen- eine Agrarreform zur Ertragssteigerung für sein stern unter der Trauflinie und den großen Land setzte.38 Rundbogentoren jene Einfachheit der Land- In diesem Kontext versteht sich auch der baukunst, die in der Baukunst um 1800 zu Ausbau von Kammergütern oder von Modell- einer Tugend erhoben wird. Farmen, die in die Ära des Markgrafen Karl Während Gilly in seinem Entwurf des Friedrich fallen.39 Weinbrenner erhielt dadurch preußischen Sommerschlosses in Paretz für das zahlreiche Aufträge für den Bau von landwirt- Kronprinzenpaar aus den rein konstruktiven schaftlichen Gütern, wie beispielsweise für den Bedingungen heraus jene einfache subtile For- Neuaufbau des Pachthofes Katharinenthal bei mensprache zur Kunst erhebt, ist Weinbrenner Pforzheim (1808-1809) (Abb. 19).40 auch in seinen der Simplizität verpflichteten Bauten fast zu keiner Zeit bereit, sich von den gängigen Herrschaftszeichen wie Portikus, Dreiecksgiebel oder Säulenordnung zu lösen. Seine auf die Antike fokussierte Italienerfah- rung hält ihn zeitlebens gefangen. * 1794 fasste Friedrich Schiller die Wirkung des Hohen- heimer Schloßgartens in ein sprechendes Bildpaar, das die Anfänge des englischen Gartens in Deutschland in ein schwärmerisches Licht setzten: „Ländliche Simplizität und versunkene städtische Herrlichkeit, die zwei äußer- sten Zustände der Gesellschaft, grenzen auf eine rühren- de Art aneinander, und das ernste Gefühl der Vergäng- lichkeit verliert sich wunderbar schön in dem Gefühl des siegenden Lebens“ Friedrich Schiller, Über den Gartenka- lender auf das Jahr 1795 (1794), in Ders., Werke und Briefe, Bd. 8: Theoretische Schriften, Frankfurt am Main 1992, S. 1007-1015, hier S. 1013 – zit. nach Schumann 2005, S. 260. 1 Der Titel der Schrift lautet: Über einige Fortschritte der Landwirtschaftskunst durch die Bemühungen der Britten, In Auszügen abgedruckt in Gilly 1803, S. 25-29. 2 Schumann 2010, S. 257. 3 Herrn Johann Jacob Rousseaus, Bürgers zu Genf, Ae- Abb. 19: Schülerkopie nach Friedrich Weinbrenner: mil, oder Von der Erziehung. Aus dem Französischen Gut Katharinental bei Pforzheim, 1808/09 übersetzet, Berlin 1762. 4 „Er muss wie ein Bauer arbeiten und wie ein Philosoph denken, damit er kein Faulenzer werde wie ein Wilder [...].“ aus Rousseau, Emile, zit. nach Bolle 1995, S. 339. Wohnhaus, Scheune und Viehställe sind um 5 Stefan Zweig beschreibt dieses Rokoko-Schauspiel in einen großen Hof angeordnet. Der Plan der seiner Biografie der Königin mit folgenden Worten: „Um Gesamtanlage zeigt neben dem Grundriss auch die Natur noch durchtriebener zu vernatürlichen, den die Ansicht des Wohnhauses zur Straße hin Kulissen das Raffinierteste an Lebenswahrheit aufzu- und die Ansicht der Scheune zum Hof. Der schminken, werden in diese kostspieligste Schäferkomö- die aller Zeiten zur Erhöhung des Echtheitsschwindels Hof ist von einer umlaufenden Mauer umge- richtige Figuranten herangeholt: echte Bauern und echte ben, so dass auch das eigentlich frei an der Bäuerinnen, echte Kuhmägde mit echten Kühen […]. Ein Straße stehende Wohnhaus in den Gesamt- neuer, ein tieferer Griff in die Kasse, und auf Marie An- „Ländliche Simplizität“ und die Ästhetik der Landbaukunst 31 toinettes Befehl wird neben Trianon ein lebensgroßes 25 Ebd., S. 61 und 63. Puppentheater […] aus der Schachtel geholt, mit Ställen, 26 Vgl. Lammert 1981, S. 43-46. Schobern und Scheunen, mit Taubenschlägen und Hüh- 27 Ebd., S. 73. nersteigen, das berühmte Hameau.“ Zweig [1932] 1996, 28 Reelfs 1998, S. 49. S. 141. 6 Schumann 2005, S. 257, Anm. 77. 29 Ebd., S. 51. 30 Reinisch 2008, S. 40. 7Vgl. Gilly 1803, S. 22-34. Es werden hier einleitend die wichtigsten zeitgenössischen Quellentexte genannt. 31 Weinbrenner hat seine architektonischen Laufbahn in 8 David Gilly nennt keinen Namen, sondern bezeichnet in der Gegend um Zürich mit dem Bau einiger Land- den Autor lediglich als Engländer – Gilly 1803, S. 29. Oekonomie-Gebäude begonnen – Weinbrenner 1829, 9 Wie beispielsweise das Brauhaus, das auf keinem briti- S. 19. 32 Ebd., S. 87. schen Pachthof fehlen darf und als explizit britische Eigenheit diskutiert wird – Gilly 1803, S. 23. 33 Vgl. hierzu auch Schumann 2010, S. 206f. 10 Lammert 1981, S. 6. 34 Valdenaire 1919, S. 55. 11 Reinisch 2008, S. 34. 35 Vgl. ebd., S. 55f. Lavater schrieb Weinbrenner als 12 Gilly 1808, S. 12. Andenken auf ein Blatt: „Weisheit lehre dich stets, auf 13 Gilly 1803, S. 24. den wohlgeprüftesten Zweck sehn; Eins sey stets Dein Zweck – die mannigfaltige Einheit; In dem Schönen 14 Vgl. Oncken 1981, S. 57-58 sowie Reelfs 1981, S. 19. verehre von allem Schönen das Urbild; Nie laß herr- 15 David Gilly nennt im Zusammenhang mit der bewegli- schenden Ton den Geschmack der Natur Dich entlocken, chen Dreschscheuer die Beschreibung von Reisenden, die Bleib Dir selber treu, wenn Natur und Wahrheit Dich aus der Kurmark Brandenburg stammen und in England leiten. Richte Deine Werke mit Zweckfesthaltender die neue Erfindung bewundert haben – Gilly 1804, S. 47. Schärfe. Eile mit der Vollendung, wenn ganz den Entwurf 16 Vgl. hierzu ausführlich Philipp 2008, S. 25-32. du geprüft hast, Nie was die Täuschung stört in der 17 AK Paretz 1998, S. 109. Kunst, Sey Vernunft und Gesetzt Dir; Nur die Kunst sey Dir lieb, in der sich die wahrste Natur zeigt, ehe Du 18 Entwurf zur Königshütte (?), Ansicht bei Nacht, Schönheit suchst, such' Wahrheit, welche sich selbst Zeichnung im Bestand der SMBPK Kunstbibliothek Inv. preist; Reinige Deinen Geschmack durch Beschauung des Hdz. 5656, Feder grau braun, schwarz getuscht. Abbil- Schönsten was wahr ist.“ dung in AK Paretz 1998, S. 94 (V.1). 36 Zu nennen ist hier vor allem die „Naturforschende 19 Kahlow 1998, S. 46. Gesellschaft“ und die „Ökonomische Kommission der 20 Gilly 1804, S. 47. Physikalischen Gesellschaft Zürich“ – Schumann 2010, 21 Ebd., S. 54. S. 272. 37 Schumann 2010, S. 124. 22 Ebd., S. 48. 38 Karl Friedrich, Abrégé des principes de l'économie politique, 23 Den Grundriss des Manufakturdorfes hat Gilly nach Karlsruhe, Paris 1772 – vgl. Schumann 2005, S. 257. der Abbildung in dem Aufsatz aus der Literatur-Zeitung 39 Schumann 2005, S. 257f. kopiert, die auf der Tafel beigefügten Ansichten und Grundrisse der runden Häuser ist allerdings der Schrift 40 Valdenaire 1919, S. 146, Abb. 147; Schumann 2005, Decade philosophique et literaire an IX d.l.R. entnommen. S. 257f. Gilly 1804, S. 61. 24 Ebd. Friedrich Gilly und die Entdeckung der Marienburg als Bau-Denkmal Christian Scholl Friedrich Gillys Zeichnungen von der Marien- in begleitende Texte, mit denen er wesentliche burg in Westpreußen bilden einen Meilenstein Anstöße zu einer Neuinterpretation der Mari- auf dem Weg zu einer neuen, historistisch ge- enburg gab. prägten Sicht auf mittelalterliche Architektur. Die Rolle des jungen Gilly bei dieser Neu- Die durch Friedrich Fricks Aquatinta-Serie deutung herauszuarbeiten, ist umso wichtiger (vgl. Kat. III) noch potenzierte Wirkung dieser als Eduard Führ neuerdings den Versuch un- Blätter hängt nicht zuletzt damit zusammen, ternommen hat, den Architekten aus der Ge- dass hier ein Gebäudekomplex als Bau- schichte der zunehmenden preußisch- Denkmal im doppelten Sinne in Szene gesetzt nationalen Aufladung der Marienburg im 19. wurde: als eindrucksvolle Architektur und als Jahrhundert herauszulösen.3 Führ sieht Gilly historisch bedeutungsträchtiger Ort. Wie im als Aufklärer, dessen Zeichnungen „sich im Folgenden erörtert werden soll, legte Gilly auf Grunde nicht zu einer Heroisierung der Mari- diese Weise die Grundlagen für den später enburg“ eignen.4 Er verweist auf dessen Empa- stattfindenden, ideell wie materiell betriebenen thie mit den vom Deutschen Orden unter- Ausbau der Marienburg zu einem preußischen drückten Pruzzen,5 charakterisiert die Rekon- „Nationaldenkmal“. struktionen mittelalterlicher Räume als „simpel Tatsächlich entdeckte der junge Architekt, schildernd“ und kommt zu dem Schluss, „dass der seinen Vater David Gilly 1794 auf eine Friedrich Gillys Konvolut nicht geeignet ist, Dienstreise nach Westpreußen1 begleitete, die eine vaterländische und nationalpreußische Marienburg gleichermaßen als architektoni- Stimmung zu entfachen.“6 „Eine vaterländi- sches Meisterwerk als auch als historisches sche Sicht“ beginne „eigentlich erst 1803, mit Monument. In einem 1796 publizierten Auf- Ferdinand Max von Schenkendorf.“7 satz, in dem er seine Zeichnungen erläutert, So sehr man sich einen solchen, modern spricht er explizit von dieser doppelten Faszi- gesprochen „politisch korrekten“ Gilly wün- nation: „Das Schloß zu Marienburg, in West- schen mag, so ist doch aus historischer Sicht preußen, gewährt dem Beobachter ein vielfa- Vorsicht geboten. Zwar führt kein „notwendi- ches Interesse. Es ist so merkwürdig von Seiten ger“ Weg von Gillys Marienburg-Zeichnungen seiner Architektur, seiner kolossalen kühnen zu den nationalistischen, antipolnischen Deu- Strucktur und eines wirklich großen einfachen tungen der Ordensritterburg im späteren 19. Styls in dieser Art, als es ein wichtiges Denkmal Jahrhundert. für den Antiquar und für die vaterländischen Hier spielten vor allem die Befreiungskrie- Begebenheiten ist.“2 ge gegen Napoleon eine katalysatorische Rolle, Gerade die Verbindung von Geschichtsge- von denen der 1800 verstorbene Gilly nichts ladenheit und erhabener Wirkung (in den äs- ahnen konnte.8 Der junge Architekt gehörte thetischen Kategorien der Zeit gesprochen) aber zu den ersten, die das Potential der Mari- muss Friedrich Gilly tief beeindruckt haben. enburg für das politische Selbstverständnis Beides fand Eingang in seine Zeichnungen und Brandenburg-Preußens erkannten. 34 Christian Scholl Auf dem Weg zum Nationaldenkmal: schließlich der Marienburg an Brandenburg- Die Marienburg als vermeintlicher „Grundstein“ Preußen, und Friedrich II. (genannt der „Gro- der Rechte Brandenburgs an Preußen ße“) konnte den Titel „König in Preußen“ in „König von Preußen“ umwandeln.17 Die Verbindungen Brandenburgs mit den Um 1800 war die Königsherrschaft der preußischen Territorien reichen bis in die Frü- Hohenzollern schließlich so weit gefestigt und he Neuzeit zurück und waren unmittelbar mit zugleich das Interesse an nationaler Geschichte dem Schicksal des Deutschen Ordens ver- so sehr gestiegen, dass ein Traditionsbezug auf knüpft. Dieser hatte die Marienburg bereits den Deutschen Orden opportun erschien. Zu 1457 verloren und daraufhin seinen Hauptsitz diesem Zeitpunkt war es Friedrich Gilly, der nach Königsberg verlegt.9 Im Zuge der Refor- entscheidende Argumente und vor allem sug- mation und in Rücksprache mit Martin Luther gestive Bilder lieferte, während Friedrich Frick wandelte der Hochmeister Albrecht von Ho- die Rolle zukam, diese Bilder druckgraphisch henzollern-Ansbach 1525 das verbliebene Or- zu verbreiten.18 Es ist sicher kein Zufall, dass densland Preußen (später: Ostpreußen) in ein König Friedrich Wilhelm II. zu den ersten weltliches Herzogtum unter der Oberherr- Käufern der 1795 ausgestellten Zeichnungen schaft Polens um.10 1569 erreichte der bran- Gillys gehörte19 und dass sein Nachfolger, denburgische Kurfürst Joachim II., dass seine Friedrich Wilhelm III., den Druckgraphiker beiden Söhne für dieses Herzogtum Preußen Frick in einem Kabinettschreiben vom 19. mitbelehnt wurden. 1618 fiel es durch Nach- September 1802 sein „[…] höchstes Wohlge- folgerecht an Kurfürst Johann Sigismund von fallen über diese schönen Produkte vaterländi- Brandenburg.11 Mit dem Frieden von Oliva im scher Kunst“ übermittelte.20 Beide Monarchen Jahr 1660 gelang es Kurfürst Friedrich Wilhelm dürften das historische Potential der Marien- (dem sogenannten „Großen Kurfürsten“), das burg mit sicherem Blick erkannt haben. Dieses Herzogtum Preußen aus der Lehnshoheit Po- Potential – und weniger die baukünstlerische lens herauszulösen. Damit war grundsätzlich Qualität – wird vermutlich auch den Ausschlag der Weg für die Krönung seines Sohns, Kur- für die Anordnung Friedrich Wilhelms III. von fürst Friedrich III., zum König Friedrich I. in 1804 gegeben haben, die Marienburg zu be- Preußen bereitet.12 Voraussetzung für diesen wahren und zu rekonstruieren.21 1701 in Königsberg vollzogenen Akt war, dass Zuvor hatte sich Friedrich Gilly nicht nur das Herzogtum Preußen außerhalb des Herr- intensiv mit den baulichen Gegebenheiten der schaftsbereichs des Heiligen Römischen Reichs Burganlage auseinandergesetzt, sondern auch Deutscher Nation lag.13 Auf vergleichbare die Geschichte des Deutschen Ordens studiert. Weise erlangten etwa zur selben Zeit die Kur- In seinem Aufsatz von 1796 bezieht er sich fürsten von Sachsen die polnische und die wiederholt auf Christoph Hartknochs Schrift Kurfürsten von Hannover die englische Kro- Alt und neues Preußen von 1684.22 In seinem ne.14 Text bezeichnet er, wie bereits zitiert, die Mari- Schon 1701 hätten sich die Brandenburger enburg als „wichtiges Denkmal für den Anti- auf die Tradition des Deutschen Ordens bezie- quar und für die vaterländischen Begebenhei- hen können. Dies wäre allerdings nicht ratsam ten“.23 Dabei bedeutet „vaterländisch“ eher gewesen, da der Orden außerhalb Preußens „brandenburgisch-preußisch“ als „deutsch“. In weiter existierte und die Umwandlung Preu- einer weiteren Passage wird Gilly noch konkre- ßens in ein weltliches Herzogtum nie anerkannt ter, indem er über die Burganlage schreibt: „So hat.15 Schutz suchte er ausgerechnet bei den befindet man sich mit ein wirklich großen In- Habsburgern – d.h. unter dem Dach des Heili- teresse an diesem Ort, der so nahe mit der gen Römischen Reiches. Die Habsburger wie- Geschichte des Vaterlandes zusammenhängt, derum erkannten den fortgesetzten Anspruch von welchem aus sich Bildung und mächtige des Deutschen Ordens auf Preußen durchaus Herrschaft über diese Provinz verbreitet und an, waren aber auch so pragmatisch, dass sie welcher als der Grundstein der Rechte angese- der Königskrönung Friedrichs I. in Preußen hen werden kann, welche das brandenburgi- zustimmten.16 sche Haus, auf die Regierung Preussens be- In der Folgezeit konnte sich das Königtum sitzt.“24 Gilly erhebt die Marienburg damit zum der Kurfürsten von Brandenburg in Preußen historischen „missing link“ zwischen Branden- zunehmend etablieren. Im Zuge der ersten burg und Preußen. Seine Aussage lässt keinen polnischen Teilung von 1772 fiel das bald dar- Zweifel daran, dass er die Burg als ein Monu- auf Westpreußen genannte Territorium ein- ment ansah, welches dem höchst heterogenen,
Enter the password to open this PDF file:
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-