Beiträge zur Verhaltensforschung Die von Günter Schmölders 1959 begründete Buchreihe „Beiträge zur Verhaltens- forschung 4 ' hatte es sich zum Ziel gesetzt, die vorherrschende, weitgehend deduktiv operierende und den lebensweltlichen Prozessen entrückte Volkswirtschaftslehre mit erfahrungswissenschaftlicher Evidenz über das reale Verhalten der Menschen im Wirtschaftsprozeß zu konfrontieren. Inzwischen, eine Generation später, hat sich die Nationalökonomie vielen in den anderen Sozial- und Verhaltenswissenschaften heimischen Konzepten und Betrachtungsweisen gegenüber geöffnet. Die lebhafte Diskussion um die Logik des kollektiven Handelns, der rationalen Erwartungen und der Wahl zwischen privaten und kollektiven Gütern, die Konzeptionen der spieltheoretischen, der institutionenökonomischen und der produktionstheoretischen Analyse mikroökonomischer Prozesse lassen den Abbau von Berührungsängsten zwischen der Ökonomie und den benachbarten Wissenschaften erkennen. Die „splendid isolation" der Ökonomie ist von außen her durch Methodenkritik, von innen durch Reflexion aufgebrochen worden. Nach wie vor aber bedürfen politikrelevante Konzepte der ökonomischen Theorie wie Angebotsorientierung, Flexibilisierung, Konsumentensouveränität dringend der empirischen Fundierung, Differenzierung und Erprobung, damit sie nicht als pseudo- präzise positive Weltbilder - mit der Autorität der Wissenschaft versehen - für Interessenpositionen herhalten müssen. Die ökonomische Verhaltensforschung muß daher die der Wirtschaftswissenschaft immanenten Welt- und Wertvorstellungen, ihre Logik und Struktur ebenso wie ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesell- schaft, kritisch untersuchen. Dazu wird sie weiterhin, ganz im Sinne ihres Gründers, mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden wirtschaftliche und wirtschaftspoli- tische Prozesse analysieren und bestrebt sein, mit diesen Analysen auch ein außer- akademisches Fachpublikum zu erreichen. Wie bisher wird also das Profil der Reihe durch Arbeiten charakterisiert sein, die von dieser methodologischen Orientierung geleitet sind. Die Arbeiten werden darüber hinaus manche inhaltlichen Fragen aufnehmen, die bislang von der ökono- mischen Verhaltensforschung weniger beachtet wurden. Die ersten Beiträge der neuen Folge befassen sich mit gesellschaftlichen Problemen und Politikfeldern in den sensiblen Bereichen Umweltschutz, Beschäftigung, Technologiegestaltung, Verbraucherpolitik und Produktentwicklung; sie orientieren sich an dem Triangel Produzenten - Konsumenten - Staat. Wie geht die Konsumgüterindustrie mit einer neuen Schicht unzufriedener und selbstbewußter Kunden um? Wie wirken sich gängige Leitbilder der Wissenschaft in der Praxis wirtschaftspolitischer Beratung aus? Wie werden staatliche Aufrufe und Anreize zur Beschäftigung jugendlicher Arbeitsloser in Unternehmen wahrgenommen und strategisch und organisatorisch umgesetzt? Wirken sich Deklarationen unternehmerischer Verantwortung in realen Strategien des Umwelt- und Ressourcenschutzes aus? Hat der vielbeschworene Wertewandel, die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse Konsequenzen für Lebenspläne, Arbeits- und Konsumstile? Es ist das Ziel der Herausgeber, in dieser Reihe Arbeiten zusammenzufassen, die in zugleich theoriegeleiteter und theoriekritischer, politikbezogener und anwen- dungsorientierter Weise die Fruchtbarkeit verhaltenswissenschaftlicher Ansätze für die Ökonomie vor Augen führen. CHRISTIANE LAMBERTY Reklame in Deutschland 1890-1914 B e i t r ä g e zur Verhaltensforschung Herausgegeben von Prof. Dr. Meinolf Dierkes, Berlin Prof. Dr. Gerhard Scherhorn, Hohenheim Prof. Dr. Burkhard Striimpel t, Berlin Heft 38 Reklame in Deutschland 1890-1914 Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung Von Christiane Lamberty Duncker & Humblot · Berlin Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lamberty, Christiane: Reklame in Deutschland 1890 - 1914 : Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung / von Christiane Lamberty. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Beiträge zur Verhaltensforschung ; H. 38) Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09794-7 D 83 Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0522-7194 ISBN 3-428-09794-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ V o r w o r t Seit 1990 schon beschäftigt m i c h die Geschichte der Reklame. A m Anfang stand ein Hauptseminar von Karin Hausen. Diese Arbeit stellt nun in leicht überarbeiteter Form meine Dissertation dar, die i m März 1998 am Fachbereich Kommunikations- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Berlin angenommen wurde. Betreut wurde sie von Karin Hausen und Heinz Reif, denen ich hiermit für ihre K r i t i k , ihre beharrlichen Fragen und ihre Geduld danken möchte. Bei Beate Binder, Sybille Brändli und Iris Kronauer stieß ich mit all meinen Gedanken und Fragen stets auf offene Ohren. Sie waren mir eine wertvolle Unterstützung. Ohne ein Promotionsstipendium der Nachwuchs- förderung des Landes Berlin hätte ich diese Arbeit nicht realisieren können. Aber auch ohne die große Hilfe und Gelassenheit meiner Familie - Thomas, Laurens und Luise - wäre es bei einer bloßen Idee geblieben. Berlin, i m Dezember 1999 Christiane Lamberty Inhaltsverzeichnis Α . Einleitung 13 Β . Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum 37 I. Reklame als Medium der Großstadt 37 1. Reklame auf der Straße 39 2. Die Schauseite der Waren 47 a) Der Anblick der Ware 49 b) Schaufensterbummel 54 II. Reizüberflutung durch Reklame 59 III. Der demokratisierte 4 Einkauf 65 1. Das Warenhaus als »Paradies der Damen' 65 2. Vom ,Publikum 4 zur ,Masse 4 - Bilder aus dem Warenhaus 76 IV. Grenzenlose Verführung: Die ,Magazinitis 4 88 C. Reklame im Geschäftsalltag 96 I. Waren- und Kaufhäuser 98 II. Versandgeschäfte 107 III. Markenartikel und Automatenverkauf 109 1. Markenartikel verändern den Einzelhandel 109 2. Das Erscheinungsbild des Markenartikels 114 3. Warenautomaten 123 IV. Kleinsthändler und Spezialgeschäfte 126 1. Die Kleinstgeschäfte 127 2. Die Spezialgeschäfte 130 V. Der Diskurs über Reklame und Fortschritt im Einzelhandel 134 VI. Der reklametreibende Kaufmann als neues Selbstbild 140 1. Fortbildungskurse für Kaufleute 141 8 Inhaltsverzeichnis 2. Fachzeitschriften und -bücher 143 3. Der Verband Berliner Spezialgeschäfte als Vorreiter moderner Reklame.... 147 4. Schaufensterwettbewerbe 150 VII. Gesetzliche Reglementierungen der Reklame 155 1. Gesetze gegen den unlauteren Wettbewerb 157 2. Warenhaussteuer 161 D. Neue Medien und ihre Produktion 166 I. Reklamemedien 166 1. Annoncen 166 2. Kunstdruck- und Luxuspapierwaren 170 a) Kalender, Agenden und Firmenschriften 173 b) Beilage- und Sammelbilder 174 c) Reklamemarken 175 d) Reklamepostkarten 176 e) Kataloge 178 3. Schaufenster und Beleuchtungstechnik 180 4. Plakate 185 5. Firmenschilder, Giebelreklame und Luftbuchstaben 199 a) Firmenschilder 199 b) Giebelreklame und Luftbuchstaben 202 6. Lichtreklame 205 7. Reklamefilme 212 a) Latema Magica 212 b) Reklamefilme 214 II. Spezialisierte Vermittler 224 1. Annoncenexpeditionen 224 2. Plakatierungsinstitute 230 E. Die Berufszweige der Reklamebranche 234 I. Die Professionalisierung der Spezialisten für Reklameorganisation 234 1. Das Aufgabenfeld und seine Organisation 236 Inhaltsverzeichnis 2. Erste Reklameberater: Ihre Qualifikation und Selbstanpreisung 247 3. Abgrenzungen 258 a) Annoncenexpediteure 258 b) , Reklame-Nepper 4 260 4. Berufsverbände 263 a) Die Vereinigung von Reklame-Fachleuten 263 b) Der Verein Deutscher Reklamefachleute (VDR) 264 5. Reklameberuf und Ausbildung 266 II. Berufe der Reklamegestaltung 273 1. Reklamegraphiker 273 a) Wegbereiter moderner Reklameplakate: Die Kunstanstalt Hollerbaum & Schmidt 278 b) Weitere Werkstätten 283 c) Ausbildungsstätten angewandter Kunst 286 2. Schaufensterdekorateure 288 a) Fachverbände 293 aa) Verband der Schaufenster-Dekorateure aller Branchen 293 bb) Verband Künstlerischer Schaufenster-Dekorateure 294 3. Neue Berufe als Chance für Kunstgewerblerinnen 295 III. Zur Charakterisierung der Reklamefachleute 307 1. Selbstdarstellungen: Reklamefachleute als Genies, Autodidakten, Großstädter 307 2. Fremdeinschätzung: Reklamefachleute und Warenhausbesitzer als Verführer der Masse 314 F. Die Einbindung der Reklame in die Kunst 321 I. Reklame, Kunst und Kultur: Die Besetzung der Begriffe 323 II. Reklame und Konsumentenerziehung im Deutschen Werkbund 328 1. Deutsche Werkbund-Ausstellung Köln 1914 335 III. Die Umsetzung der Geschmacksbildung in die Praxis 339 1. Das Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewerbe 339 2. Die Vereinigung für Kunst in Handel und Gewerbe 350 10 Inhaltsverzeichnis 3. Vorträge ,Zur Geschmacksbildung des deutschen Kaufmanns' 353 IV. Die Höhere Fachschule für Dekorationskunst 357 V. Das Plädoyer für den Zweck der Reklamekunst 362 VI. Das wirtschaftliche Interesse an der Geschmacksbildung 365 G. Die Anfange einer Reklamewissenschaft 378 I. Ansätze im Rahmen zeitungswissenschaftlicher Forschungen 378 II. Nationalökonomie und Handelswissenschaften 381 1. Die Frage nach der volkswirtschaftliche Funktion der Reklame 383 2. Die Debatte um Sombart 1908 391 3. Reklame als Thema an den Handelshochschulen 396 III. Reklame als Gebiet der Psychologie 405 1. Die Psychologie der (weiblichen) Masse 406 2. Reklamepsychologie in der Psychotechnik 415 H. Reklame als Projektionsfläche der Gesellschaftskritik 430 I. Reklame und Warenhäuser als Zeichen jüdischer Erwerbsgier 4 431 II. Reklame als Zeichen des ,amerikanischen Kapitalismus 4 443 III. Reklame und Heimatschutz 456 1. Reklame als Angriff auf eine intakt gedachte Landschaft 456 2. Gesetze gegen die Verunstaltung der Landschaft 477 I. Schluß 491 Literaturverzeichnis 494 Personen- und Sach wort Verzeichnis 532 Abbildungsverzeichnis Abb. 1 : Spittelmarkt in Berlin um 1909 13 Abb. 2: Odol-Kostüm von 1911 15 Abb. 3 : Farbige und wechselnde Lichtreklame am Potsdamer Platz um 1907 43 Abb. 4: Straßenschilder in Hamburg 46 Abb. 5: Dekoration anläßlich des Schaufensterwettbewerbes in Berlin 1909 53 Abb. 6: Karikatur zum Ladendiebstahl 93 Abb. 7: Das Warenhaus Tietz am Dönhoffplatz in Berlin, um 1912 106 Abb. 8: Glas-und Porzellanhandlung, ca. 1912 128 Abb. 9: Plakat von Lucian Bernhard, 1907/08 197 Abb. 10: Kolonialwarenladen, um 1914 201 Abb. 11: Wallstraße in Berlin, 1907 204 Abb. 12: Lichtreklame in Berlin 208 Abb. 13 : Lichtreklame bei Tag und bei Nacht 210 Abb. 14: Aufnahmen in Pinschewers Studio 217 Abb. 15: Karikatur zur Filmreklame 221 Abb. 16: Anzeige aus einem Frauenhandbuch, 1913 304 Abb. 17: Selbstbildnis von E. Deutsch 312 Abb. 18: Plakat von Willi Roerts, um 1914 332 Abb. 19: Die Ladenstraße 337 Abb. 20: Plakat von J. Gipkens, 1910 344 Abb. 21 : Plakat von W. Deffke, 1912 360 Abb. 22: ,Reklamebefreites' Stadtbild bei Högg 463 Α . Einleitung Unübersehbar prägten Plakatsäulen, Reklamewagen, Schaufenster, Lichtre- klamen und riesige Reklameaufbauten auf den Dächern die zentralen Plätze und Kreuzungen im Berlin der Jahrhundertwende. Diese wurden, neben dem dichten Verkehr und der Elektrizität, als Inbegriff moderner Urbanität wahrgenommen. Reklame wurde zu einer Metapher der Großstadt und der Moderne. 1896 gilt in Deutschland als das Jahr des Durchbruchs des modernen Reklameplakats, das Jahr der ersten Lichtreklame, des ersten Reklamefilms, aber auch der ersten ein- schränkenden Gesetzgebung in Gestalt des ,Gesetzes zur Bekämpfung des un- lauteren Wettbewerbes 4 . Die expandierende Metropole Berlin war hierbei der Vorreiter in Deutschland. Die wachsende Präsenz der Reklame um 1900 läßt sich an zahlreichen Fotografien ebenso ablesen wie anhand des sprunghaften Anstiegs des Schlagwortes Reklame in Lexika, Stadtführern oder Romanen. Re- klame als Attraktion des Neuen taugte selbst als Motto eines Kostümballs, suchte man doch immer wieder nach „ neuen und originellen Einßllen für Fes- Quelle: Landesbildstelle Berlin Abb. 1: Spittelmarkt in Berlin um 1909 14 Α . Einleitung te. Die Firma Odol offerierte 1911 dem Publikum zu Beginn der Ballsaison entsprechende Kostüme. Gegen Einsendung eines an jeder Flasche befestigten Kupons verschickte Odol ein „ Originelles Maskenkostüm", das aus „diversen Odol-Plakaten und kleinen Reklame-Gegenständen " 2 kombiniert wurde. Diese Art der Kostümierungen machte Schule. Als die Berliner Freie Studentenschaft 1913 , Reklame 4 zum Motto ihres Kostümfestes machte, konnte man Imitate der populärsten Plakate und Inserate bewundern. „ Bis in die späten Morgenstunden tanzten Zigaretten mit Littfass äulen, Bollejungen und -Mädels mit Keksen und Sekt. Im buntesten Wirrwarr stepten die Menschen gewordenen Reklamefigu- ren. " Die bekannten Plakatzeichner Julius Klinger und Ernst Deutsch trafen dort die „ihren Plakaten entsprungenen Typen"} Klinger notierte, sein Kollege Deutsch habe mit seinen Reklamefiguren einen „ Typ " kreiert, den immer mehr junge Berliner und Berlinerinnen nachahmten. Wie schon 1907 der Zeichner Hajduk mit seiner KaDeWe-Reklame das Aussehen der jungen Großstädter mit- bestimmt habe, so präge jetzt Deutsch das „elegante Berlin": „Im Bristol zum Frühstück, im Grand-Gala zum Souper kann man die korrekten Gents und die raffinierten Mondainen im Stile Ernst Deutschs sehen, nur daß die Lebenden die Gezeichneten an Charme bei weitem nicht erreichen können. " 4 Die Reklame veränderte den Alltag. Sie machte das Massenpublikum zum Träger eines neuen (demokratischen) Konsumverhaltens, begleitete den Über- gang zu völlig veränderten Geschäftsmethoden und wurde zum Medium einer neuen Ästhetik. Mit der Herstellung und Organisation von Reklame befaßte sich eine neu entstandene, spezialisierte Branche. Diese Neuerungen provozierten Hoffnungen, aber auch Ängste, die ihren Ausdruck in Zivilisationskritik such- ten. Reklame war schon um 1900 weit mehr als nur das Anpreisen von Produk- ten mit dem Ziel der Absatzsteigerung, sie wirkte als Medium für vielfältige Botschaften. Die neuen Formen der Reklame, die zuerst in den Großstädten ein- gesetzt wurden, faszinierten und ängstigten zugleich, veranlaßten zu Fort- schrittseuphorie und -kritik gleichermaßen. Die anhaltenden Debatten um die 1 George Grosz : Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst er- zählt, Reinbek 1974, S. 98. 2 Redaktionelle Notiz, in: Zeit im Bild, Heft 5/1911, S.III. (Auch Heft 5 und 6/1912). In wiederholter redaktioneller Reklame, illustriert mit Zeichnungen und Fotos, die die Kostüme zeigten, warb die Firma für diesen ,Service 4 . Abb. eines ähnlichen Kos- tüms der Firma Bahlsen von 1912 in: Die Kunst zu Werben, hg. von Susanne Bäumler, Antwerpen 1996, S. 36. 3 Kostümfest der Berliner Freien Studentenschaft, in: Das Plakat, Heft 2/1913, S. 98- 100. Julius Klinger hielt bei den Studenten vorher einen Vortrag über die Reklame, vg. ebd. S. 98 4 Julius Klinger. Ernst Deutsch, in: Mitteilungen des VDR, Heft 38/1913, S. 83. Das gesamte Heft war Deutsch gewidmet. Haiduk (Hayduk) mit seinen „Reklamekarika- turen " und der Plakatzeichner Julius Klinger wurden zum Vorbild für George Grosz, vgl. Grosz , S. 54; S. 88. Quelle: Zeit im Bild, Nr. 5/1911, S. III, Staatsbibliothek Berlin Abb. 2: Odol-Kostüm von 1911 16 Α . Einleitung Reklame belegten das neue Medium mit den unterschiedlichsten Zuschreibun- gen und versuchten, ihre gesellschaftliche Bedeutung zu definieren. Sie waren zugleich immer auch Anlaß, in der Auseinandersetzung mit der Moderne positi- ve wie negative Zukunftsentwürfe zu formulieren. Die Debatten um die Rekla- me gerieten zur Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen insgesamt. 5 Die neuen Möglichkeiten und Wirkungen der Reklame wurden als Argument im umfassenden kultur- und gesellschaftskritischen Diskurs ebenso eingesetzt, wie sie in fortschrittseuphorischen Kommentierungen des gesell- schaftlichen Wandels Verwendung fanden. Die Schärfe, mit der diese Diskussi- onen gerade auch im Hinblick auf Reklame gefuhrt wurden, zeugen davon, daß Reklame als etwas qualitativ Neues wahrgenommen wurde. Was aber machte die Faszination, aber auch das Beängstigende dieser Form der Kommunikation aus, und wie wurde die in den Städten allgegenwärtige Präsenz der Reklameträ- ger auf- und wahrgenommen? Wie wurde sie in Beziehung zu anderen gesell- schaftlichen Veränderungen gesetzt? Welche Kritik wurde formuliert und wie wurde der Einsatz der Reklame legitimiert? Welche Bedeutung wurde diesem Medium und seinen Produzenten zugewiesen und wie wurde die Reklame im gesellschaftlichen Kontext gedeutet? In der historischen Forschung sind bislang zwar die veränderten Produktions- bzw. Konsumbedingungen, die ästhetische und künstlerische Gestaltung einzel- ner Reklameträger und die damit einhergehende Veränderung visueller Ge- wohnheiten sowie einzelne Reklamekampagnen je einzeln untersucht, kaum miteinander in Beziehung gesetzt worden. Hier setzt die vorliegende Arbeit an. Sie will durch die Verknüpfung dieser Einzelaspekte herausarbeiten, welche Bedeutungen der Reklame in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu- gewiesen wurden. Daher wird die Entstehung der modernen Reklame als Phä- nomen der Jahrhundertwende in dieser Untersuchung unter einer doppelten Fra- gestellung betrachtet. Zum einen soll der Prozeß der Etablierung dieser neuen Form der Massenkommunikation rekonstruiert werden. Die Reklameträger und ihr Einsatz als Absatzinstrumente werden ebenso untersucht wie die Konstituie- rung neuer Berufsbilder im Reklamewesen. Zum anderen werden die Diskussi- onen nachgezeichnet, in deren Verlauf das Für und Wider von Reklame abge- wogen wurde. Hier interessieren die Legitimationsstrategien, mit denen die Re- klamebranche ihre Existenz und Weiterentwicklung gegenüber der Kritik aus den verschiedensten Richtungen verteidigte. Die Arbeit befaßt sich mit der Ent- 5 In der Forschung wird zwar auf den Stellvertretercharakter der Debatten um die Reklame hingewiesen, doch ist dieser Stell vertretercharakter als Kritik an der Moderne bislang nicht für die Frühzeit der Reklame aufgezeigt worden. Reinhardt erklärt in seiner Arbeit diesen Stellvertretercharakter erst zu einem Phänomen der kultur- und gesell- schaftskritischen Auseinandersetzungen um die Reklame seit den 1950er Jahren, vgl. Dirk Reinhardt : Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, S. 1. Α . Einleitung wicklung von 1890 bis 1914 in Deutschland, da in diesem kurzen Zeitraum Pro- fessionalisierung und Kritik der Reklame eine entscheidende Phase durchliefen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Zentren der Reklameentwicklung, d. h. die Großstädte und hier besonders Berlin. Zu Beginn dieses Zeitraumes wurden neben der Bezeichnung , Reklame 4 na- hezu synonym auch die Ausdrücke ,Annonce 4 , ,Propaganda 4 und ,Werbung' verwendet; diese müssen daher zunächst geklärt werden. Folgt man den Aus- fuhrungen von Otto Basler und Fritz Redlich, dann kam die Bezeichnung Re- klame 4 im 19. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche. Entgegen den meisten Herleitungen lägen die Wurzeln des Begriffs nicht in dem Wort ,le réclame 4 als Lockruf der Falknersprache, sondern in der Buchdruckersprache. ,La réclame 4 bezeichnete ursprünglich bestimmte Satzanordnungen und später auch den entsprechenden Inhalt, nämlich die um 1820 auftauchenden bezahlten Buchbesprechungen. 6 In Deutschland war zu dieser Zeit noch die Bezeichnung , Annonce 4 üblich, die mehr als nur Zeitungsanzeigen umfaßte. 7 1842 erschien in der Zeitschrift ,Grenzboten 4 ein kurzer Artikel über die ,Reclame 4 . Der Begriff bedurfte zwar noch Erklärungen, war aber schon fest mit „ Lobhudelei " 8 und Raffinesse konnotiert. Erst im Laufe der sechziger Jahre, so Basler und Redlich, verbreitete sich die Bezeichnung ,Reklame 4 in Deutschland und begann den bisherigen Ausdruck ,Annonce 4 abzulösen. 9 1864 finden sich in der Allgemei- nen deutschen Realenzyklopädie erstmals die Stichworte ,Annonce 4 und Re- clame 4 in einem Lexikon. ,Annonce 4 , so hieß es dort, sei eine mündliche oder schriftliche Ankündigung an einen größeren Kreis. Für Annoncen, die mit be- 6 Vgl. auch im folgenden Otto Basler/Fritz Redlich : Reklame, der Begriff und seine Geschichte, in: Preußische Jahrbücher, 1933, Bd. 234, S. 244-251, S. 244 f.; Hugo Schramm : Zur Geschichte der Reclame, in: Hausblätter, Bd. 4/1866, Teil I, S. 227-235, S. 229 beruft sich auf den Falknerterminus. Spätere Begriffserläuterungen beschränken sich auf knappe Ansätze: Vgl. ζ . B. John Schlepkow: Reklame - Propaganda - Werbung. Eine etymologische Studie, Hamburg 1951; Hans Buchli : 6000 Jahre Werbung. Ge- schichte der Wirtschaftswerbung und der Propaganda, 4 Bände, Berlin 1962-66, Bd. 1, S. 11-47. Erst jüngst erschien ein Aufsatz Heidrun Homburgs, der in einem fundiertem Abschnitt Werbung und Markt in den Definitionen des 19. und 20. Jahrhunderts erfaßt: Heidnin Homburg: Werbung - „Eine Kunst, die gelernt sein will in: Jahrbuch für Wirt- schaftsgeschichte, Bd. 1/1997, S. 11-52. 7 Basler/Redlich verweisen auf Max Schlesinger, der 1852 das „Annoncenwesen" in London beschrieb. Dieser faßte unter der Bezeichnung Annoncenwesen alle Formen der Reklame, wie Handzettel, Reklamebeleuchtungen („ Feuerannonce" in Schaufenstern, Reklamewagen, Plakate, Anzeigen, Wandmalereien), vgl. Max Schlesinger: Wan- derungen durch London, Bd. 1, Berlin 1852, S. 32-45. 8 Reclamen, in: Grenzboten, Jg. 2, Bd. 1/1842, S. 133. Vgl. zur Bedeutung in den vierziger Jahren Otto Ladendorf: Moderne Schlagworte, in: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, Bd. 5/1903-04, S. 105-126, S. 120 f.; Wilhelm Feldmann: Büchmanniana und Ladendorfiana, in: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, Bd. 13/1911-12, S. 91- 106, S. 104 f. 9 Vgl. Basler/Redlich , S. 249 f. Vgl. auch Schramm 1866, Teil I. 2 Lamberty 18 Α . Einleitung sonderem „ Scharfsinn " abgefaßt wurden, um die „Aufmerksamkeit zu fes- seln",™ wurde auf den Eintrag ,Reclame' verwiesen. Dieser französische Ter- minus bezeichne das „ bezahlte Lob" und wurde kritisiert: „ Diese Rubrik der heutigen Zeitungen gehört nicht unter die erfreulichsten und macht sich über Gebühr breit. Die Charlatanerie des Reclamewesens entspricht ganz der Markt- schreierei der Annoncenwirthschaft. " Und man räumte ein: „Auch in Deutsch- land hat sich der Ausdruck und die Sache eingebürgert. " n Die 1857 von dem Staatswissenschaftler Karl Knies aufgestellte Definition der , Annonce 4 machte Schule. Für Knies war die ,Annonce' wesentliches Mittel zur Beeinflussung des Absatzes, da sie Angebote bekannt geben und mit der Nachfrage zusammenfuhren könne. 12 Er betonte das wachsende geschäftliche Interesse an der Annonce und ihre steigende Bedeutung für die Zeitungen. Mey- ers Konversationslexikon folgte 1874 weitgehend dieser Definition. 13 Die Re- klame' dagegen sei „die Anwendung mehr oder weniger schlau berechneter Mittel zur Erweckung des öffentlichen Interesses [...]. Trotz der Ausschreitun- gen des Reklamewesens und des Vorschubs, den es dem Schwindel leistet, ist es ein bedeutendes Kulturmoment unserer Zeit, eine Macht, die sowohl segensreich als auch verhängnisvoll auf den modernen Handel und Wandel einwirkt. " 14 Ahnlich differenziert Brockhaus' Conversationslexikon 1882 deutlich zwischen ,Annonce' und ,Reklame'. 15 Neben diesem verbreiteten Verständnis bildete sich im Zeitungswesen in Anlehnung an die bezahlten Buchbesprechungen ein enge- rer ,terminus technicus' heraus, der zwischen der Annonce als bezahltes, meist gewerbliches Inserat und der Reklame als redaktionellem Beitrag unterschied. 16 10 Art. Annonce, in: Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände, Conversations-Lexikon, Leipzig 1864 (Brockhaus-Verlag). In der vorangegan- genen Ausgabe von 1851 findet sich weder ein Eintrag zur Reklame (Reclame), noch zur Annonce oder Anzeige. 11 Art. Reclame, in: Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stän- de, Conversations-Lexikon, Leipzig 1867. 12 Vgl. Karl Knies: Der Telegraph als Verkehrsmittel. Mit Erörterungen über den Nachrichtenverkehr überhaupt, Tübingen 1857, S. 50 ff. Fast wortwörtlich aufgenommen bei Rudolf Cronau : Das Buch der Reklame. Geschichte, Wesen und Praxis der Reklame, Abt. 1-5, Ulm 1887, S. 55, und C. von Dillmann : Die Presse im Dienste des Kaufmanns, in: Moderne Reklame. Separatabdruck bemerkenswerter Fachartikel, Feuilletons und Notizen über Reklamemittel und Reklamestückchen der verschiedensten Art aus der Fachzeitschrift ,Die Reklame', hg. von Robert Exner, Zittau 1892, S. 21-27, S. 22. Auch das Reklame-Lexikon, hg. von Hans Heinz Moor, Kattowitz/Breslau/Leipzig 1908, S. 5 f., bezog sich noch auf die Definition Knies'. 13 Art. Annonce, in: Meyers Großes Konversationslexikon, Leipzig 1874 f. 14 Art. Reklame, in: ebd. Dieser Abschnitt findet sich nahezu wortgleich noch in der Ausgabe von 1906. 15 Vgl. Art. Annonce, in: Brockhaus' Conversationslexikon, Leipzig 1882. Ähnlich der Art. Annonce, in: Meyers Großes Konversationslexikon, Leipzig/Wien 1906 f. 16 Vgl. Basler/Redlich , S. 250 f. Siehe auch Kap. C. I.