Kognitive Aspekte der Phraseologie DANZIGER BEITRÄGE ZUR GERMANISTIK Herausgegeben von Andrzej Kątny, Katarzyna Lukas und Czesława Schatte BAND 57 Anna Sulikowska Kognitive Aspekte der Phraseologie Konstituierung der Bedeutung von Phraseologismen aus der Perspektive der Kognitiven Linguistik Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Universität Szczecin. Umschlagabbildung: Panorama von Danzig mit dem Motto der Universität Gdańsk. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Universität Gdańsk. Gutachter: Prof. Dr. habil. Roman Sadziński Dr. habil. Małgorzata Guławska-Gawkowska ISSN 1617-8440 ISBN 978-3-631-77189-1 (Print) E-ISBN 978-3-631-77348-2 (E-PDF) E-ISBN 978-3-631-77349-9 (EPUB) E-ISBN 978-3-631-77350-5 (MOBI) DOI 10.3726/b14882 © Anna Sulikowska, 2019 Peter Lang – Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com Open Access: Dieses Werk ist lizensiert unter der Creative Commons Lizenz Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0). Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de Meinen Eltern gewidmet Moim Rodzicom Danksagung Die vorliegende Studie wäre ohne Unterstützung zahlreicher Personen in dieser Form nicht entstanden. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen herzlich bedan- ken, die zur Verfassung und Vollendung des Buches beigetragen haben. Für die inhaltliche Ausrichtung sei meinen bisherigen wissenschaftlichen Betreuern von der Stettiner Universität: Prof. Dr. habil. Ryszard Lipczuk, dem Lei- ter des Lehrstuhls für Deutsche Sprache und Prof. Dr. habil. Jolanta Mazurkiewicz- Sokołowska, der Leiterin des Lehrstuhls für Angewandte Linguistik gedankt. Ohne das von Prof. Lipczuk geleitete Projekt Phraseologismen in deutsch-polnischen und polnisch-deutschen Wörterbüchern wäre ich möglicherweise auf das faszinierende Forschungsfeld der Phraseologie nicht aufmerksam geworden. Prof. Mazurkie- wicz-Sokołowska verdanke ich die konstruktive Anregung für die Befassung mit der Kognitiven Linguistik. Zugleich bin ich ihr für das Wohlwollen, eine große wissenschaftliche Handlungsfreiheit, die ich unter ihrer Leitung genieße sowie genaue Korrektur des Manuskripts zu Dank verpflichtet. Mein Dank gilt ebenfalls den Gutachtern des vorliegenden Buches: Dr. habil. Małgorzata Guławska-Gawkowska und Prof. Dr. habil. Roman Sadziński. Ihre fachlichen Hinweise und professionelles Lektorat haben wesentlich zur Qualität der Publikation beigetragen. Prof. Dr. habil. Andrzej Kątny danke ich für die Auf- nahme des Buches in die Reihe Danziger Beiträge zur Germanistik Im Rahmen der Drucklegung danke ich meiner Universität für die Finanzierung der Publikation sowie Magdalena Kalita und Sandra Bennua vom Peter Lang Ver- lag, die die Durchführung der Veröffentlichung der Monographie umsichtig und engagiert begleitet haben. Mein besonderer Dank gilt dennoch meiner Familie: meinem Mann Piotr, der mir fast drei Jahre lang den Rücken frei zu halten versuchte, mich unermüdlich unterstützte, mir jederzeit zur Seite stand und meinen Kindern, Iga und Konrad, die ihrer Mutter gegenüber viel Geduld entgegenbringen mussten. Das Buch widme ich meinen Eltern, Helena und Marian, die immer unerschütterlich an mich geglaubt haben. Anna Sulikowska Szczecin, 30.11.2018 Inhaltsverzeichnis Einführung .............................................................................................................. 15 1. Phraseologie und Phraseologismen ................................................. 23 1.1 Geschichte und Forschungsstand der Phraseologie in Deutschland .. 23 1.2 Phraseologismen und Idiome ....................................................................... 28 1.2.1 Primäre Merkmale der Phraseologismen ......................................... 29 1.2.1.1 Polylexikalität ........................................................................... 29 1.2.1.2 Festigkeit ................................................................................... 32 1.2.1.3 Idiomatizität .............................................................................. 35 1.2.2 Sekundäre Merkmale der Phraseologismen .................................... 37 1.3 Klassifikationen der Phraseologismen ....................................................... 43 1.4 Zusammenfassung und Ausblick ................................................................ 46 2. Kognitive Linguistik: Entwicklung, Grundvoraussetzungen, Ansätze ........................................................ 49 2.1 Grundprämissen des holistischen Ansatzes ............................................. 52 2.1.1 Erfahrungsrealismus als philosophische Grundlage holistischer Ansätze .............................................................................. 54 2.1.2 Embodied Cognition ............................................................................... 58 2.1.3 Kategorisierung und Konzepte ........................................................... 64 2.1.4 Grammatik und Lexikon ...................................................................... 70 2.1.5 Weltwissen und Sprachwissen ............................................................ 76 2.1.5.1 Frames von Fillmore ............................................................... 77 2.1.5.2 ICMs von Lakoff ...................................................................... 79 2.1.5.3 Domänen und Profilierungen von Langacker .................. 81 2.1.6 Interaktionismus und die Rolle des Sprachgebrauchs ................... 86 EXKURS: Bedeutung in modularen und holistischen kognitiven Ansätzen ......................................................................................... 89 2.1.7 Zusammenfassung und Ausblick ....................................................... 91 Inhaltsverzeichnis 10 2.2 Analoge Repräsentationsformate und anschauliches Denken in der Kognitiven Linguistik .......................................................................... 94 2.2.1 Repräsentationsformate ..................................................................... 96 2.2.2 Repräsentationstheorien .................................................................... 98 2.2.2.1 Unitäre Repräsentationstheorie ......................................... 98 2.2.2.2 Duale Repräsentationstheorie ............................................ 100 2.2.2.3 Multimodale Repräsentationstheorie: Grounded Cognition ............................................................... 101 2.2.3 Mentale Bilder und Basisbegriffe in der Prototypensemantik von Rosch ........................................................ 113 2.2.4 Vorstellungsschemata von Johnson ................................................. 116 2.2.5 Verbildlichung bei Langacker ........................................................... 118 2.2.6 Zusammenfassung und Ausblick ..................................................... 120 2.3 Metapher und Metonymie als kognitive Prozesse ............................... 121 2.3.1 Metapher und Metonymie in der traditionellen Auffassung ..... 122 2.3.2 Grundzüge der konzeptuellen Metapherntheorie von Lakoff/Johnson ..................................................................................... 125 2.3.3 Kritik der konzeptuellen Metapherntheorie .................................. 132 2.3.4 Moderne Auffassung der Metapher und der Metonymie – Update ..................................................................................................... 137 2.3.4.1 Property attribution model von Glucksberg ..................... 139 2.3.4.2 Klassifikationen der Metaphern ......................................... 141 2.3.4.2.1 Konzeptuelle und epistemische Metaphern ... 141 2.3.4.2.2 Innovative und konventionalisierte Metaphern .............................................................. 145 2.3.4.2.3 Propositionale und bildbasierte Metaphern ... 147 2.3.4.2.4 Die Einteilung nach dem Generalitätsgrad .... 149 2.3.4.2.5 Strukturbezogene Klassifikation der konzeptuellen Metaphern ................................... 150 2.3.4.3 Metonymie .............................................................................. 152 2.3.4.4 Zur Abgrenzung von Metapher und Metonymie ........... 158 2.3.4.4.1 Metapher und Metonymie vor dem Hintergrund des Domänenbegriffes ................. 159 2.3.4.4.2 Metaphtonymie ..................................................... 161 Inhaltsverzeichnis 11 2.3.5 Die literale, non-literale und figurative Sprache .......................... 163 2.3.6 Zusammenfassung und Ausblick ..................................................... 167 3. Semantische Besonderheiten der Idiome aus kognitiver Perspektive ........................................................................... 171 3.1 Literale und phraseologisierte Lesart von Idiomen ............................. 171 3.1.1 Semiotische Perspektive ..................................................................... 173 3.1.2 Psycholinguistisch-kognitive Perspektive ..................................... 173 3.1.3 Zwischenbilanz ..................................................................................... 177 3.2 Idiomatizität .................................................................................................. 180 3.2.1 Idiomatizität aus struktureller, pragmatischer und konstruktionsgrammatischer Perspektive ..................................... 181 3.2.2 Idiomatizität in der Phraseologie – Versuche der Parametrisierung .................................................................................. 183 3.2.3 Zwischenbilanz ..................................................................................... 190 3.3 Motiviertheit der Idiome ............................................................................ 192 3.3.1 Motivation, Motivierbarkeit und Motiviertheit ............................ 194 3.3.2 Typen der Motiviertheit ..................................................................... 197 3.3.2.1 Motivertheitstypologie von Munske ................................. 198 3.3.2.2 Motiviertheitstypologie von Dobrovol’skij/Piirainen ... 202 3.3.2.3 Motiviertheitstypologie von Burger ................................. 207 3.3.3 Zwischenbilanz ..................................................................................... 210 3.4 Bildlichkeit und Bildhaftigkeit der Idiome ............................................. 213 3.4.1 Materielles, mentales und sprachliches Bild .................................. 216 3.4.2 Bildlichkeit und Bildhaftigkeit .......................................................... 219 3.4.3 Das mentale und das idiomatische Bild .......................................... 221 3.4.4 Mentale Bilder und die Konstituierung idiomatischer Bedeutung – Hypothesen .................................................................. 224 3.4.4.1 Mentale Bilder und konzeptuelle Metaphern: die kognitiv-konzeptuelle Hypothese von Gibbs/O’Brien .. 224 3.4.4.2 Mentale Bilder und literale Lesart: property- attribute modell von Glucksberg u.a. ................................. 227 Inhaltsverzeichnis 12 3.4.4.3 Die Theorie des bildlichen Lexikons von Dobrovol’skij/Piirainen ........................................................ 228 3.4.5 Zwischenbilanz ..................................................................................... 232 3.5 Zusammenfassung ....................................................................................... 236 EXKURS: Korpuslinguistik ............................................................................... 240 4. Mechanismen der Bedeutungskonstituierung von Idiomen ................................................................................................... 253 4.1 Daten und Methoden .................................................................................. 253 4.1.1 Untersuchungsmaterial ...................................................................... 255 4.1.2 Methoden der Untersuchung ............................................................ 265 4.1.2.1 Methoden der Eruierung von konzeptuellen Metaphern ............................................................................... 265 4.1.2.2 Methoden der semantisch-kognitiven Untersuchung am Korpusmaterial .................................... 266 4.1.2.2.1 Die Auswahl der zu beschreibenden Idiome .. 266 4.1.2.2.2 Methoden der semantischen Analyse von Idiomen ................................................................... 267 4.1.2.2.2.1 Erstellung der Belegsammlung ...................... 268 4.1.2.2.2.2 Ermittlung der Verwendungsprofile und Verwendungsmuster ......................................... 270 4.1.2.2.3 Methoden der kognitiven Analyse von Idiomen ................................................................... 273 4.2 Analyse und Interpretation ....................................................................... 274 4.2.1 Konzeptuelle Metaphern als Strukturierungsprinzip des semantischen Feldes der Schwierigkeit/der schwierigen Lage ..... 274 4.2.1.1 lEbEn IsT EIn wEG, schwIERIGkEITEn sInd vERhIndERUnGEn dER (voRwÄRTs-)bEwEGUnG ............ 277 4.2.1.1.1 schwIERIGkEITEn sInd hIndERnIssE aUf dEm wEG ................................................................. 279 4.2.1.1.2 schwIERIGkEITEn sInd EInE lasT .................... 281 4.2.1.1.3 schwIERIGE laGE IsT EInschRÄnkUnG dER bEwEGUnGsfREIhEIT ........................................... 282 Inhaltsverzeichnis 13 4.2.1.2 schwIERIGkEIT IsT UnGEnIEssbaREs EssEn ................... 283 4.2.1.3 schwIERIGE laGE IsT fEhlEndE lUfT/lUfTEnTZUG ..... 284 4.2.1.4 schwIERIGE laGE IsT hITZE ................................................ 284 4.2.1.5 schwIERIGE laGE IsT schlEchTEs wETTER .................... 284 4.2.1.6 schwIERIGE laGE IsT EIn vERloREnEs spIEl .................. 285 4.2.2 Mechanismen der Bedeutungskonstituierung von Idiomen ...... 292 4.2.2.1 Die Weg-Metaphorik im Deutschen: schwIERIGkEITEn sInd vERhIndERUnGEn dER voRwÄRTsbEwEGUnG ........................................................... 294 4.2.2.1.1 schwIERIGkEITEn sInd hIndERnIssE aUf dEm wEG ................................................................. 295 4.2.2.1.1.1 schwIERIGE laGE IsT UnsIchERER bodEn ... 295 4.2.2.1.1.1.1 schwankender Boden ....................................... 295 4.2.2.1.1.1.2 dünnes Eis ......................................................... 314 4.2.2.1.1.1.3 glattes Parkett .................................................. 325 4.2.2.1.1.1.4 Resümee mit Schwerpunkt: Epistemische Metaphern und Konstituierung der Idiom-Bedeutung ..................................... 335 4.2.2.1.1.2 schwIERIGkEITEn sInd hIndERnIssE, dIE EInEn ZU fall bRInGEn .............................. 343 4.2.2.1.1.2.1 ein Bein stellen ................................................ 343 4.2.2.1.1.2.2 Knüppel zwischen die Beine werfen .................................................... 352 4.2.2.1.1.2.3 Resümee mit Schwerpunkt: Konzeptuelle Metonymien und Konstituierung der Idiom-Bedeutung ........ 359 4.2.2.1.2 schwIERIGkEITEn sInd EInE lasT .................. 364 4.2.2.1.2.1 Klotz am Bein ...................................................... 364 4.2.2.1.2.2 am Hals haben .................................................... 372 4.2.2.1.2.3 Resümee mit Schwerpunkt: Ontologische Metaphern, Embodiment und Bedeutung von Phraseologismen ........................................ 382 EXKURS: Somatismen in der Phraseologie und in der Kognitiven Linguistik ................... 385 4.2.2.1.3 schwIERIGE laGE IsT RÄUmlIchE bEschRÄnkThEIT .................................................. 394 Inhaltsverzeichnis 14 4.2.2.1.3.1 in die Enge treiben .............................................. 394 4.2.2.1.3.2 jmdn. an die Wand drücken .............................. 403 4.2.2.1.3.3 Resümee mit Schwerpunkt: Interlinguale Äquivalenz, Arbitralität und Motiviertheit von Phraseologismen aus kognitiver Perspektive .......................................................... 414 4.2.2.2 schwIERIGkEITEn sInd UnGEnIEssbaREs EsssEn .......... 425 4.2.2.2.1 ein hartes Brot ........................................................ 426 4.2.2.2.2 eine harte Nuss ....................................................... 435 4.2.2.2.3 in den sauren Apfel beißen ................................... 448 4.2.2.2.4 ein dicker Brocken .................................................. 453 4.2.2.2.5 Resümee mit Schwerpunkt: Mentales Bild und die Konstituierung der phraseologisierten Bedeutung .............................................................. 465 5. Resümierende Schlussbemerkungen ........................................... 475 Anhang .................................................................................................................... 485 Abbildungsverzeichnis ................................................................................ 505 Tabellenverzeichnis ....................................................................................... 513 Literatur ................................................................................................................. 517 Index ......................................................................................................................... 565 Einführung Idioms are the poetry of daily discourse. (Johnson-Laird 1993: IX) Anstelle der theoretischen Erwägungen wird einleitend am Beispiel eines meister- haften, aber keinesfalls vereinzelten Gebrauchs die besondere semantische Potenz der Phraseologismen diskutiert: Männer würden ihren Frauen viel mehr zu den Füßen liegen , würden diese ihnen nicht so oft auf die Zehen treten . Frauen verbrennen sich gerne die Zunge an der Suppe , die sie sich mit den falschen Männern eingebrockt haben . (Ruth W. Lingen- felser) Aus traditionell-sprachwissenschaftlicher Perspektive sind es zwei zusammen- gesetzte Sätze, die vier Phraseologismen im engeren Sinne (= Idiome) enthalten. Diese Idiome – definiert als feste Mehrwortverbindungen, deren Bedeutung sich nicht aus Bedeutungen der einzelnen Konstituenten ableiten lässt – werden als arbiträre Sprachzeichen betrachtet. Als solche lassen sie sich ohne größere Schwie- rigkeiten mit Paraphrasen umschreiben, so wie es z.B. im Duden Universalwörter- buch der Fall ist: jmdm. zu Füßen liegen (gehoben: jmdn. über die Maßen verehren) jmdm. auf die Zehen treten (1. umgangssprachlich: jmdm. zu nahe treten; jmdn. belei- digen. 2. jmdn. unter Druck setzen, zur Eile antreiben) sich die Zunge verbrennen (seltener; Mund 1a) sich <Dativ> den Mund verbrennen (umgangssprachlich: sich durch unbedachtes Reden schaden) jmdm., sich eine schöne Suppe einbrocken (umgangssprachlich: jmdn., sich in eine unangenehme Lage bringen) (DUW online, Zugriff am 29.12.2017) Das Erste, was auffällt, ist die Tatsache, dass die Bedeutungsparaphrasen selbst viele Phraseologismen (= feste Wortverbindungen) enthalten ( über die Maßen, jmdm. zu nahe treten, jmdn. unter Druck setzen, zur Eile antreiben ). Versucht man das Zitat mit möglich wenigen Idiomen anhand der angeführten Bedeutungsum- schreibungen wiederzugeben, dann könnte man folgende Paraphrase vorschlagen: Männer würden ihre Frauen mehr verehren , würden diese sie nicht so oft belei- digen (belästigen? bedrängen?) . Frauen schaden sich gerne (durch unbedachtes Reden?), indem sie sich mit falschen Männern in eine unangenehme Lage bringen Dieser Text hätte den Status eines Aphorismus wahrscheinlich nie erreicht. Das Bildhafte, Raffinierte, Sprachspielerische ist verloren gegangen. Unter lexi- kalisierten Spracheinheiten kommt Idiomen nämlich eine besondere Stellung zu: Einerseits fest, alltäglich, lexikalisiert, entfalten sie doch (unter bestimmten Einführung 16 kontextuellen Bedingungen) ein besonderes Inferenz- und Emotionspotenzial; sie eröffnen Auslegungsspielräume, rufen individuelle Assoziationen wach, evozieren mentale Bilder, heben bestimmte Bedeutungsaspekte hervor und lassen andere in den Hintergrund treten. So geht die Bedeutung des Idioms jmdm. zu den Füßen liegen in der einfachen Paraphrase ‚verehren‘ nicht auf, viele konnotative Werte schwinden in der Bedeu- tungsumschreibung dahin. Der sprachliche Ausdruck (der phonologische oder graphematische Pol einer sprachlichen Einheit) funktioniert nämlich als ein kog- nitiver Stimulus, der den Rezipienten zur Konstruktion einer aktuellen Bedeutung, einer Konzeptualisierung veranlasst. Dabei ist die konnotative Potenz des Idioms um Vielfaches reicher als die eines Einwortlexems: Das mentale Bild des einer Frau zu Füßen liegenden Mannes ruft unwillkürlich Inferenzen wach, die beim Lexem ‚verehren‘ nur infolge einer vertieften linguistischen Reflexion zustande kommen könnten. Dementsprechend weiß der Rezipient, dass die Frau wie eine Göttin behandelt wird, dass sie angebetet, vergöttert, verhimmelt, angeschwärmt ist. Aus der Lage des Mannes, der unten ist, aufblicken muss, kann des Weite- ren geschlussfolgert werden, wer das Sagen in der Beziehung hat: In ähnlicher Stellung, zu Füßen kniend, huldigte man doch früher einem Herrscher. Da diese Position ebenfalls als Unterwerfungsposition gilt, wird ersichtlich, in welchem affektiven Zustand (einer hoffnungslosen Verliebtheit) sich der Verehrende befin- det. Das mentale Bild vermittelt eine emotionale Dramatik, die der Paraphrase nicht eigen ist. Ein anderes, für Phraseologismen im authentischen Gebrauch typisches Phä- nomen – die Vagheit der Bedeutung – liegt im Idiom jmdm. auf die Zehen tre- ten vor. Die beiden lexikographisch erfassten Teilbedeutungen (1. jmdm. zu nahe treten; jmdn. beleidigen. 2. jmdn. unter Druck setzen, zur Eile antreiben) schöp- fen potenzielle Auslegungsmöglichkeiten keinesfalls aus. Die literale Lesart des Idioms nimmt Bezug auf eine wohl von allen Menschen geteilte körperliche Erfah- rung: Jeder weiß, wie empfindlich und innerviert die Zehen sind, wie schmerzhaft und unangenehm das Treten auf einen Fuß ist. Aktiviert wird auch das Wissen, dass diese Handlung einen unmittelbaren körperlichen Kontakt voraussetzt, der als eine Verletzung der Privatsphäre, Eindringen in interne, intime Angelegenheiten empfunden werden kann. Diese Wissensinhalte werden in die komplexe psycho- logische Domäne der männlich-weiblichen Beziehungen projiziert und eröffnen den Spielraum für die Interpretationen, die im vorliegenden Fall folgendermaßen aussehen können: (i) Frauen sind den Männern gegenüber zu kritisch. Sie verletzen, kränken, beleidigen die Männer. Die schmerzhaften Aspekte der körperlichen Erfah- rung werden hervorgehoben und auf die psychologische Domäne projiziert. (ii) Frauen sind zu aufdringlich, ihr verbales Verhalten in der Beziehung ist zu invasiv, ihre Forderung nach hundertprozentiger Offenheit und Ehrlichkeit zu penetrant. Die physische Überschreitung der Privatsphäre wird fokussiert und in den Bereich der verbalen Handlungsweise übertragen. Einführung 17 (iii) Frauen wollen zu viel Nähe in der Beziehung, sie streben Unzertrennlichkeit an. Dies wird von Männern als Einengung der Freiheit, der Entfaltungsmög- lichkeiten empfunden, ist belästigend, einschränkend, ruft Verärgerung aus. (iv) Frauen sind zu ehrgeizig, zu aktiv, schwer zu befriedigen. Sie lassen die Männer nicht in Ruhe, wollen immer mehr, setzen sie unter Druck. Das idio- matische Treten auf die Zehen wird hier als nachdrückliches Ermahnen zur Aktivität, irritierendes Antreiben ausgelegt. Die interindividuelle Variabilität der potenziellen Auslegungsmöglichkeiten ist darauf zurückzuführen, dass das Idiom hier in gewissem Maße wie eine innova- tive Ad-hoc-Metapher funktioniert: Das sprachliche Zeichen bildet den Impuls, der beim Sprachproduzenten und dem Sprachrezipienten die geteilten Wissens- und Erfahrungsinhalte evoziert. Zwar ist der Interpretationsraum durch die lexikali- sierte Bedeutung teilweise abgegrenzt, aber zugleich groß genug, um eine Viel- zahl der Auslegungen zuzulassen. Viele Idiome sind durch derartige semantische Unschärfe und Dehnbarkeit gekennzeichnet. Der zweite Satz: Frauen verbrennen sich gerne die Zunge an der Suppe, die sie sich mit den falschen Männern eingebrockt haben veranschaulicht textbildende Poten- zen, kontextuelle Abwandlungen und semantischen Mehrwert der Idiome. Das Idiom sich die Zunge verbrennen wird modifiziert (okkasionell abgewandelt) und um das Nomen Suppe erweitert, das zugleich eine integrale Konstituente des Idioms sich/jmdm. die Suppe einbrocken ausmacht. Durch die Extension der ersten Wortverbindung wird die Verschränkung der beiden Idiome erzielt und um die ‚Suppe‘ herum ein leicht visualisierbares Szenario ausgebaut. Die angestrebte und erreichte Bildhaftigkeit und stilistische Auffälligkeit des Satzes ziehen die Notwen- digkeit eines innovativen und kreativen Umgangs mit Idiomen nach sich und set- zen einen größeren kognitiven Aufwand seitens des Sprachrezipienten voraus: So ist die lexikographisch erfasste Paraphrase des Idioms sich die Zunge verbrennen ‚sich durch unbedachtes Reden schaden‘ an dieser Stelle nur eingeschränkt ein- setzbar. Möglicherweise wird konzeptuell an ein in seinem Konstituentenbestand ähnliches Idiom sich die Finger verbrennen ‚[durch Unvorsichtigkeit] bei etwas Schaden erleiden‘ (DUW online, Zugriff am 16.03.2018) angeknüpft, die Autorin hat sich für das Zungen -Idiom der Kohärenz des ausgebauten Szenarios halber ent- schieden. Aus demselben Grund wird unter zahlreichen Idiomen der schwierigen Lage das Idiom sich die Suppe einbrocken gewählt. Die Fokussierung der Sprachpro- duzentin auf die ‚Suppe‘ ist dennoch nicht zufällig und lässt sich möglicherweise nicht ausschließlich auf die ästhetisch-semantische Funktion der Sprache redu- zieren: Die Suppe als warme, gekochte Mahlzeit wird mit häuslichem Herd, dem weiblich-mütterlichen Element, dem Alltag assoziiert. Sie lässt einen zusätzlichen, nuancierenden, emotiven Wert in der Konzeptualisierung der männlich-weibli- chen Beziehungen mitschwingen (Nähe suchende Frauen, bindungsunwillige bzw. -unfähige Männer, Einzug des Alltags in die Beziehung), der in der „idiomfreien“ Paraphrasierung ‚Frauen lassen sich gerne auf Beziehungen mit falschen Männern ein, wodurch sie sich selber schaden‘ verloren geht. Einführung 18 Die besprochenen Idiome führen semantische Potenzen vieler Phraseologismen im engeren Sinne, ihre vielfältigen Assoziierungs- und Modifizierungsmöglichkeiten vor Augen. Idiome sind in ihrer Struktur fest und flexibel zugleich, holistisch und doch auch in Bezug auf einzelne Komponenten analysierbar. Sie sind bildhaft, d.h. sie evozieren mentale Bilder, woraus ihre erhöhte Expressivität sowie Inklination zum sprachspielerischen Gebrauch resultiert. Ihre Bedeutungen sind zwar konven- tionalisiert, oft werden sie aber idiosynkratisch gebraucht und modifiziert: erweitert, reduziert oder in ihrem Konstituentenbestand verändert. Als Sprachzeichen mit einer phraseologisierten Bedeutung sind sie arbiträr, dennoch gleichzeitig für viele Mutter- sprachler post festum motiviert: Wären die Sprachrezipienten ausschließlich an die lexikalisierten Bedeutungen gebunden, wären die Hinzuinterpretationen – so wie es im Falle von jmdm. auf die Zehen treten oder sich die Zunge verbrennen ist, nicht mög- lich. Die vielen Idiomen eigene Unschärfe, semantische Dehnbarkeit und Vagheit, ihre konnotative und kreative Potenz lassen schlussfolgern, dass die jeweiligen Ko- und Kontexte nicht die Bedeutungen, sondern Bedeutungspotenziale aktivieren. Dabei muss hervorgehoben werden, dass Phraseologismen eine äußerst hetero- gene Gruppe der sprachlichen Einheiten bilden. Die Probleme mit ihrer Beschrei- bung sind einerseits auf die terminologische Vielfalt einer sich etablierenden sprachwissenschaftlichen Disziplin zurückzuführen – die germanistische Phraseo- logie hat sich als wissenschaftliche Disziplin erst in den 70er Jahren des 20. Jh. her- ausgebildet. Andererseits gehört es zur Natur der Phraseologismen, dass sie sich aufgrund der Phraseologizitätskriterien (Polylexikalität, Stabilität, Idiomatizität, Lexikalisierung, Motiviertheit, Bildhaftigkeit) intuitiv klar erfassen lassen, keines der genannten Kriterien ist aber – für sich genommen – ausreichend trennscharf, um die Grenze zwischen dem Phraseologischen und dem Nicht-Phraseologischen eindeutig ziehen zu können. Die Phraseologismen sind mehr oder weniger stabil, mehr oder weniger idiomatisch, mehr oder weniger bildhaft und motiviert, selbst die Polylexikalität gilt in manchen Fällen als umstritten (vgl. die Meinungsunter- schiede bezüglich des Status von metaphorischen Komposita wie Strohwitwe oder sog. strukturellen Phraseologismen wie weder ... noch, sowohl ... als auch im Deut- schen, Burger 2010: 15, Ehegötz 1990: 3, Fleischer 1982: 72, Stöckl 2004: 156). Ins- gesamt gilt es zu betonen, dass die Phraseologie einen sprachwissenschaftlichen Bereich darstellt, in dem man grundsätzlich mit skalaren und nicht mit absoluten Größen operiert. Ein kurzer Forschungsüberblick über die Phraseologie im weite- ren und im engeren Sinne (= Idiomatik) und somit eine einleitende Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes erfolgen im ersten Kapitel. Kapitel 2 reflektiert den linguistisch-theoretischen Rahmen der vorliegen- den Arbeit. Zahlreiche semantische Aspekte der Phraseologismen im engeren Sinne: ihre Bildhaftigkeit, Motiviertheit, ihr konnotativer Mehrwert lassen sich im Rahmen reduktionistischer 1 Sprachtheorien nicht erklären. Theoretische Ansätze, 1 „Reduktionistisch ist eine Sprachtheorie dann, wenn ihre methodischen Prämissen zu einer unzureichenden Erfassung verstehensrelevanter Bedeutungsaspekte führen oder deren Erfassung sogar verhindern“ (Ziem 2008: 3), vgl. auch Kardela (2006).