ÜBER DAS VERHÄLTNIS DER WISSENSCHAFT ZUM LEBEN. AKADEMISCHE EINLEITUNGSREDE VON AUGUST BÖCKH. V o r g e t r a g e n in der öffentlichen Sitzung der König], Preuss. Akademie der Wissenschaften zur Feier des Geburtsrestes Seiner Majestät des Königs Friedrich W i l h e l m des Vierten, am 17ten October 1844. B E R L I N V E R L A G V O N V E I T U N D C O M P . 1 8 4 4. Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM V o n den unzähligen Festlichkeiten, welche der Freude geweiht sind über die W i e d e r k e h r des glücklichen T a g e s , an welchem Friedrich Wilhelm der Vierte als Nachfolger für den Preussischen Thron g e - boren w u r d e , hat in jedem J a h r e , ganz vorzüglich aber in diesem, in welchem er uns gleichsam zum zweiten Male von der göttlichen Vorsehung geschenkt w o r d e n , jegliche ihre Berechtigung, weil er der gemeinsame H e r r , Beschützer, W o h l t h ä t e r aller ist, die unter den Flügeln des Königlichen Adlers ein sicheres, soweit es die B e - schränktheit menschlicher Verhältnisse und die Schwierigkeit der Zeitumstände erlauben, und so weit es von dem Herrscher abhängt, nicht unerfreuliches Daseyn führen. Aber nicht alle diese F e s t e h a - ben auch ihre eigenthümliche Berechtigung, wie das unsrige. Denn die meisten Körperschaften, Gemeinen, Anstalten, Gesellschaften, selbst die höhern und niedern Schulen, von welchen die Geburts- feier des theuersten und edelsten Königs begangen w i r d , sind u n - 1 e Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 4 entbehrliche Theile des Staates; sie entstehen in jedem einigermaassen zu menschlichcr Bildung vorschrcitendcn Lande mit einer gewissen N o t w e n d i g k e i t , sind überall, in dieser oder jener Gestalt, vollkom- mener oder unvollkommener vorhanden, und werden mehr oder m i n - der gepflegt: unsere Gesellschaft der Wissenschaften d a g e g e n , o b - gleich die erste im Staat, hat so wenig Anspruch auf Unentbehrlich- keit, ist, um von einem Standpunkt aus, den sehr hoch und sehr niedrig gestellte Personen mit einander Ihcilen, etwas plump zu sprechen, so überflüssig, dass in unserem Deutschen Vaterlande nicht etwa bloss kleinere Staaten einer solchen ermangeln, sondern sogar jder, wenn auch nicht der geistigen Bewegung doch dem äusseren Range nach erste Deutsche Staat, welchcr viele Jahrhunderte im Besitze der Deutschen Kaiserkrone war. Nicht irgend ein dringendes B e - dürfniss weder der Vergangenheit noch der Gegenwart noch der Z u k u n f t ist es, dem unsere Akademie ihr Daseyn verdankt; sie ist eine ganz freie und uneigennützige, fast möchte man sagen, wenn dies nicht ein innerer W i d e r s p r u c h wäre, ausserhalb des Staates g e - setzte Gründung unserer F ü r s t e n , gewiss weniger mit den Staats- zwecken verbunden als die Kirche, welche doch vorzugsweise nicht selten den Anspruch macht, ein vom Staate unabhängiges Leben zu führen; sie ist wie die frommen Stiftungen früherer Zeiten ein W e r k der Liebe, und um nicht weiter zurückzugehen, der Liebe des grossen Friedrich zu den Wissenschaften, jener Liebe, die auf Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM seine Nachfolger v e r e r b t , im reinsten und glänzendsten Lichte von dem sinnigen Geiste d e s Königs ausstrahlt, welchem heute unsere Huldigung gilt. Hierin liegt ausser unserer allgemeinen Pflicht noch eben eine besondere, innig anzuerkennen, was wir dem erhabenen Fürstenhause verdanken; und geschieht dies nicht so würdig und g e - nügend als wir wünschten, so bleibt uns nur das Bedauern übrig, dass die in so vielen und wichtigen Beziehungen erspriessliche, a n - derseits aber auch mannigfach angefeindete Zurückgezogenheit ei- ner rein wissenschaftlichen Anstalt sich nicht mit dem Gepränge u m - geben lässt, welches anderen Körperschaften zu Gebote steht, ja dass von dieser Tafel aus passender W e i s e nicht einmal jener höhere Ton der feierlichen Beredsamkeit angestimmt werden kann, welcher dem Rednerstuhl angemessen ist. Ich s a g e , die Akademie ist eine uneigennützige Stiftung unserer Fürsten, hervorgegangen aus Liebe zu den Wissenschaften: denn jede ächte Liebe ist frei von E i g e n - nutz. Aber wenn in den Verhältnissen des gewöhnlichen Lebens jeder Gebildete zugiebt, der liebe nicht w a h r h a f t , welcher statt in dem geliebten Gegenstand ein geistiges Ideal zu finden, seinen B e - sitz bloss um äusserer Güter und Vortheile willen sucht; wenn auch die Bessern unter denen, welchen die Wissenschaft oder Gelehr- samkeit Lebenszweck ist, davon durchdrungen sind, dass diese aus innerem Trieb und aus Begeisterung für das Wissen, nicht als Mit- tel des E r w e r b e s zu üben sei: wird dies dicht immer erkannt, wenn Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 6 von derjenigen Liebe zu den Wissenschaften die Rede ist, welche ihre Beschützer haben sollen oder h a b e n : und gerade dies ist die Beziehung, in welche sich unser erhabener König, dem Beispiele seiner glorreichen Vorfahren folgend, zu unserer Akademie gestellt hat, indem er nicht verschmäht ihr Protector zu heissen. D e r F ü r - sten Neigung zu den Wissenschaften ist oft nur auf Zeitvertreib und angenehme Unterhaltung gerichtet; oft entspringt sie aus E i t e l - keit und Sucht zu glänzen: andere scheinen zwar die Wissenschaft selbst zu lieben, aber sie thun es nur, weil sie wo nicht gerade für sich, doch für die Beherrschten Nutzen von ihr e r w a r t e n ; sie stel- len daher auch die F o r d e r u n g an die Wissenschaften, dass sie sich nützlich machen sollen, und werden also denjenigen Theilen oder Richtungen der Erkenntniss allein oder vorzugsweise förderlich seyn, von welchen sie solche Vortheile e r w a r t e n : wie sollte man diese Berechnung und Hoffnung auf Gewinn, selbst wenn er nicht ihr eigener seyn sollte, noch Liebe nennen können? Eine alte Einthei- lung unterscheidet dreierlei Arten der G ü t e r : solche, die um ihrer selbst willen wünschenswerth sind; a n d e r e , die wir w e g e n , ihrer Folgen suchen; endlich andere, die um ihrer selbst willen und w e - gen der Folgen werth sind besessen zu werden. Unstreitig, gehört die Wissenschaft zu dieser dritten G a t t u n g : wer sie aber bloss um ihrer Folgen willen sucht oder ehrt, wirft sie unter diejenige Classc der G ü t e r , welche offenbar die geringste ist, und sie hat für ihn Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM keine höhere Bedeutung als etwa das Geld, welches kein Verstän- diger um seiner selbst willen liebt. Da sich der grösste Theil der Thätigkeit im Staate auf Praktisches bezieht, und der Fürst als höchster Staatsmann, je mehr er in die Geschäfte eingeht, desto mehr auch eine praktische Richtung nehmen wird, so kann man es einem Fürsten, sogar von nicht gemeinen Anlagen, kaum verargen, wenn er gerade eben von diesem seinem Standpunkte aus selbst in Rücksicht der Wissenschaft sein Augenmerk auf den im prakti- schen Leben erscheinenden Nutzen hinlenkt: nur eine hervorragend treffliche geistige N a t u r , eine ursprüngliche Idealität, Freiheit und Freisinnigkeit seiner Geistesrichtung, eine angeborene Liebe für das W a h r e , Gute und Schöne an sich, kann ihn über diese Rücksichten erheben. W i e diese Richtung einst in Friedrich dem Grossen sich offenbar darstellte, so spreche ich es, entfernt von aller Schmeiche- lei, welche in gleichem Grade des Königs, von welchem ich rede, als der Gesellschaft, in deren Namen ich rede, unwürdig seyn würde, aus voller Ueberzeugung, Erfahrung und Anschauung aus, dass nur diese reine Liebe für Wissenschaft und Kunst, die Begeisterung für alles Edle, worunter vor Allem die Erkenntniss begriffen ist, im in- nigsten Verein mit einem tief empfindenden und zart fühlenden H e r - zen und Gemüthe, unseren erhabenen Beschützer belebt und beseelt. Soweit die Reflexion über das Leben der Menschen in sei- nen verschiedenen Richtungen zurückreicht, hat sich der Unterschied Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 8 zwischen dem theoretischen und dem praktischen Leben herausge- stellt: unter dem letztern begreifen wir die ganze Thätigkeit des Menschen, inwiefern sie auf die Familie und den Hausstand und Erwerb aller Art, und auf den Staat, die grosse Familie des Vol- kes, sich bezieht; unter ersterem nicht bloss die Wissenschaft oder Erkenntniss, sondern auch die Ideen verkörpernde Kunst und das religiöse Bewusstseyn. Beide Richtungen sind nicht schlechthin ge- schieden. Fast in allen Dingen ist die Ausübung älter als die Be- trachtung, also im Ganzen genommen die Praxis älter als die Theo- rie; meist liefert die Praxis der Theorie erst den Stoff, dass sie durch Sonderung und Verbindung desselben ihn lichte und ordne. Und wie sich immer auch die Praxis gegen die Theorie sträuben und hartnäckig darauf beharren mag, dass sie ihre eigenen Gesetze innerhalb ihrer selbst habe und ihren selbstgebildeten Regeln folge, kann sie nicht die Theorie von sich abhalten, in welcher sie erst zum Bewusstseyn über sich kommt; ja es hat sich unzähligemal ge- funden, dass die Praxis von Jahrhunderten falsch und verwerflich gewesen, dass sie von der erstarkten Theorie sich einen andern W e g musste anweisen lassen als den des Herkommens, an welchem die Praxis so gerne klebt, und die Fortschritte der Menschheit be- ruhen eben darauf, dass die Praxis von der Theorie oder Erkennt- niss immer mehr durchdrungen und umgestaltet werde; wie man, um nur die einleuchtendsten Beispiele zu wählen, an der allmähli- Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 9 gen Verwirklichung besserer Grundsätze des Rechtes und der Staats- wirthschaft erkennen kann. Trotz dieser unläugbaren Gemeinschaft beider Thätigkeiten haben sich beide, das theoretische und das prak- tische Leben, von uralten Zeiten her verhältnissmässig geschieden; die Absonderung des erstem stellt sich in der ältesten Völkerge- schichte, auf der ursprünglichsten Bildungsstufe, in den morgenlän- dischen Priesterkasten dar, wie sie vorzüglich bei den Indern, Ba- byloniern und Aegyptern bestanden haben: und dennoch erscheint auch hier schon die Herrschaft des Theoretischen über das P r a k - tische, indem die ganze Erkenntniss des Volksgeistes im Priester- thum zusammengefasst und zusammengedrängt war, und von hier aus das gesammte Leben des Volkes geregelt wurde. Ist irgend- wann und irgendwo Praxis und Theorie kräftig und lebendig in- einander gebildet worden und zu wechselseitiger Durchdringung ge- kommen, so war es im Hellenischen Leben: aber auch bei den Hellenen sind sie wieder auseinander und in Gegensatz getreten, und es ist so jener alte Kampf der Staatsmänner und Philosophen entbrannt, den wir im Sokrates und seinen Gegnern auf die Spitze getrieben sehen, bis auf Tod und Leben. Diese Kluft zwischen beiden Thätigkeiten ist von Piaton befestigt worden; und auch Ari- stoteles, indem er als die drei hervorstechendsten Arten des Lebens das geniessende, das politische und das theoretische bezeichnet, ist weit entfernt, zwischen diesen eine Vermittelung zu suchen, sondern 2 Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 10 giebt dem theoretischen entschieden den Vorzug. W i e in den G e - bilden der Natur, je höher das Naturerzeugniss ist, desto bestimm- t e r , gegliederter, bedeutsamer die einzelnen O r g a n e , Systeme und Lebensthätigkeiten auseinandertreten, während sie auf den niederen Stufen, ungeschiedener und unentwickelter, gleichsam in eine chao- tische Masse zusammenfliessen, in welcher nur das Mikroskop u n - serer unermüdlichen Forscher noch eine mikrokosmische Ordnung findet; so muss auch, j e gebildeter das Zeitalter, je reger die B e - w e g u n g der Geister, je vollkommener die Entwickelung, desto mehr sich der Gegensatz der Richtungen geltend machen und das B e s t r e - ben entstehen, dass Eines das Andere ü b e r w i n d e , jene Anmassung der Theorie die Praxis zu beherrschen, diese Anmassung der P r a - xis die Theorie zu beschränken, ihr ein Ziel zu setzen, welches sie nicht überschreiten solle, oder von ihr zu verlangen, dass sie sich dem Herkommen unterwerfe und anpasse oder es unterstütze: so entspringt das, was man den Conflict der Wissenschaft mit dem Leben zu nennen pflegt, wenn jene sich nicht lieber vom Leben zurückzieht und aussondert, bis eine höhere Macht, die Vorsehung, welche den Weltplan mit ganz andern Linien, als womit ihn die Menschen oft zu ziehen glauben, vorgezeiclinet hat, jene Versöhnung herbeiführt, die sie schon mehr als einmal herbeigeführt hat. Viele Betrachtungen drängen sich hier auf, und ich will sie nicht alle von mir abweisen: viele F o r d e r u n g e n , und ganz entgegengesetzte, w e r - Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 11 den von vielen Seiten an die Wissenschaft gemacht, und ich will nicht b e h a u p t e n , dass irgend eine derselben ohne alle Begründung sei. Dass die Wissenschaft sich nicht in das T r i e b w e r b des soge- nannten Lebens hineinbegeben solle, fordert bald die Staatsgewalt, bald die Wissenschaft selbst; hat diese R e c h t , so hat es auch jene, nur vielleicht nicht aus richtigem G r u n d e , inwiefern nämlich jene die Wissenschaft häufig nur darum aus dem Leben verweist, weil sie nicht mit der herrschenden Praxis übereinstimmt: aber an sich scheint mir jene F o r d e r u n g , obwohl nicht allgemein und schlecht- hin gültig, doch keinesweges so tadelnswerth als es manchen schei- nen mag. Die Wissenschaft ist nämlich das Allgemeine, allen Völ- kern und Staaten Gemeinsame, und insofern ein Abstractes: ein Ausdruck, womit ich nach alter W e i s e etwas Aechtes und Tüchti- ges bezeichne, ohne mich daran zu k e h r e n , dass die ganze W e l t auf die Abstractionen schilt und das vielgepriesene Concrete sucht: welche Verschiedenheiten auch die Wissenschaft und namentlich die Philosophie in ihren verschiedenen Entwickelungsläufen angenommen hat und noch künftig annehmen m a g , so ziehen sich doch durch alle Zeiten dieselben F ä d e n , dieselben ewigen Grundwahrheiten durch, und keine Wissenschaft, sei es Philosophie oder Geschichte oder Naturkunde, kann sich durch das, was ausser ihr liegt, welchen Namen es auch haben mag, bestimmen lassen. Zwar weiss ich sehr wohl, und habe es auch auf dem Gebiete, auf welchem sich meine o * Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 12 wissenschaftliche Thätigkeit bewegt, in Anwendung gebracht, dass nach Zeitaltern und Volksstämmen sich gewisse Unterschiede in aller Wissenschaft und namentlich in der Philosophie herausgestellt und geltend gemacht haben: man spricht von morgenländischer und abend- ländischer Philosophie, von Indischer und Chinesischer, von Griechi- scher und Römischer, von Deutscher, von Englischer, von Franzö- sischer, von heidnischer und christlicher, ja neuerdings sogar von katholischer: aber was an diesen Unterschieden eine Berechtigung hat, liegt theils in dem nothwendigen und unwillkürlichen E n t - wickelungsgang, theils in der einem bestimmten Volksgeiste ange- messenen überwiegenden Hervorhebung und Ausbildung der einen oder der andern Seite, theils in einer unwesentlichen, den innern Kern kaum berührenden Färbung; was ausserdem in jenen Unter- schieden erscheint, hat seinen Sitz in dem, was an einer gegebenen sogenannten Philosophie eben nicht Philosophie ist: denn sowenig es eine besondere monarchische und eine besondere aristokratische oder demokratische Philosophie geben kann, ebensowenig können in ihr irgend welche andere Unterschiede Gültigkeit haben, die nicht innerhalb ihrer selbst begründet sind, und wer einen solchen hin- ejnlegt, steht auf gleicher Linie mit dem Sophisten, dessen Wesen es ist, zu denken wie die herrschende Meinung denkt, und diese scheinbar zu begründen, nicht aber die Wahrheit zu suchen. I n - wiefern nun das Erkennen unbekümmert um alles Aeussere seyn Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 13 soll, ist es ihm offcnbiir erspriesslich, sich abzusondern von allem dem, wodurch es von der geraden Bahn abgelenkt w i r d , von allem Zufälligen; was man aber gemeinhin Leben zu nennen pflegt, ist für dasselbe ein Zufälliges, und ist weit grösserem W e c h s e l u n t e r - worfen als der G e d a n k e , welcher, wie die Ideen des Attischen W e i s e n , sich selbst gleich und unveränderlich beharrt. Soll ferner die Wissenschaft ins Leben eingehen, so wird der wissenschaftliche Mann veranlasst, sich in die Geschäfte zu mischen; wenn indess al- lerdings hervorragende T a l e n t e , wie etwa Leibnitz w a r , beides, die praktische und die wissenschaftliche Richtung, zu vereinigen im Stande sind, so benimmt doch eine mannigfache Geschäftsthätigkeit dem wissenschaftlichen Manne die Sammlung des Geistes, deren er vor allem bedarf; selbst bei einem Leibnitz hat jene Zerstreuung gewiss nicht vortheilhaft auf seine wissenschaftlichen Untersuchungen gewirkt, und um so mehr werden Gelehrte von minderer Begabung, die dennoch bei freierer Müsse Dankcnswerlhes zu leisten im Stande w a r e n , wenn sie unfreiwillig oder gar aus eigener Neigung sich in den Strudel der Geschäftigkeit hineinbegeben, in diesem ihre besten Kräfte zersplittern, und für die Wissenschaft verloren gehen. Ist irgend eine gelehrte Anstalt dazu b e r u f e n , die Wissenschaft, ohne alle Rücksicht auf das L e b e n , an sich und für sich zu f ö r d e r n , so sind es die Akademien der Wissenschaften; und mit Recht hat, wie sich manche unter uns noch erinnern w e r d e n , Schleiermacher e h e - Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 14 mals in einer dieser öffentlichen Versammlungen den Gedanken aus- g e f ü h r t , in der Einsetzung und Erhaltung der Akademien spreche der Staat die Gellung und Anerkennung der Erkenntniss und W i s - schaft an und für sich selbst, ohne allen Nebenzweck, aus. Auch ist es in bewegten Zeiten kein geringer Preis, wie Cicero nach den Mühen und Leiden einer gefahrvollen Thätigkeit im Staate sich an der Philosophie labte, einen edlen Rückzug aus dem Leben zu h a - ben. Mag dieses Lob, dieses Glück der Akademien vielen ein sehr zweideutiges scheinen, so wird man doch zugeben, dass sie durch diese ihre Stellung ebensowohl unbilligen und ungerechten A n m u - thungen als billigen und gerechten entnommen sind; mag einer mir, dem Altcrthumsforscher, jenes Solonische Gesetz entgegenhalten, welches den mit der Verbannung belegte, der in bürgerlichen Z w i - stigkeiten keine Parthei ergriffen h a b e : wir lassen uns diesen E i n - wurf gefallen, weil er die über den Partheiungen stehende W i s s e n - schaft nicht trifft. W i r wollen nicht behaupten, dass die W i s s e n - schaft keinen Einfluss auf das Leben haben solle; ja ich behaupte im Gegentheil, dass die höchste Vollendung des menschlichen L e - bens gerade in der Einheit der Theorie und der Praxis, des E r k e n - nens und Handelns, des Gedankens und der That erreicht w e r d e ; aber ehe dieses Ideal, oder vielmehr dieser i d e a l - r e a l e Zustand, das Göttliche im Menschlichen, ganz errungen seyn wird, lasse man doch jegliche, wenn nur tüchtige Einseitigkeit g e w ä h r e n , fordere Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 15 nicht alles von allen, sondern von jedem das, wozu er geeignet ist, und vermische nicht alle Standpunkte und Lebenskreise. Man kann von der Mathematik nicht verlangen, dass sie dem kirchlichen Dogma zu Hülfe komme, noch von der Kirche, dass sie die mathematischen Erkenntnisse vermehre; und sowenig man etwa der Tagespresse zumuthen w i r d , sie solle sich die Ergründung der strengen W i s - senschaften zur Aufgabe stellen, sowenig kann man einer A k a - demie die Pflicht auferlegen, die Wissenschaft unmittelbar ins L e - ben überzusetzen. Diese beiden Anstalten bilden so zu sagen entgegengesetzte Pole der geistigen Thätigkeit, und zwischen i h - nen bedarf es mannigfacher und geschickter Vermittler und B e - richterstatter. D e r Einfluss der Wissenschaft auf das Leben betrifft theils das Materielle, theils das Ideelle. Einen materiellen Nutzen hat sie, inwiefern sie die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse und B e - quemlichkeiten des Lebens verbessert und mehrt, den E r w e r b p h y - sischer Güter befördert, das körperliche Wohlbefinden hervorbringt, und die natürlichen und leiblichen Ucbel entfernt: hierzu sind vor- züglich die Naturwissenschaften und die angewandten Theile der Mathematik geeignet; aber auch solche Zweige des Wissens, welche mehr auf der Seite des Geschichtlichen liegen und der Staatslehre verwandt sind, haben eine grosse Wichtigkeit für das materielle W o h l , welches sehr davon abhängig ist, ob richtige oder falsche Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 16 Maassregeln der Gesetzgebung und Verwaltung die Production und Fabrication, den Landbau, die G e w e r b e und den Handel und V e r - kehr begünstigen oder h e m m e n : und dass die Theorie hierauf viel einwirke, wird schwerlich bestritten werden können. Aus dem m a - teriellen W o h l geht nun zwar nicht nothwendig das geistige h e r - vor, sondern dieses wird sogar durch den Luxus gefährdet: aber ohne Wohlstand ist kein geistiger Fortschritt des Volkes möglich, weil Armuth und Dürftigkeit mit den zahllosen Uebeln, die in ihrem Gefolge sind, den Geist niederdrücken, und wenn sie einen hohen Grad erreicht haben, auch die Sitten des Volkes verderben. Die Beförderung des materiellen Wohlstandes bahnt daher dem geistigen W o h l e den W e g . Dennoch ist der ideelle Nutzen der Wissenschaft höher zu r e c h n e n , welcher in der Herbeiführung einer sittlicheren Gesinnung und eines sittlicheren Lebens durch bessere Erkenntniss liegt. W o h l ist es ein grosses Glück, wenn ein Volk alte angeerbte, tief gewurzelte Sitten und Gebräuche und Einrichtungen hat, v e r - möge deren es fast bewusstlos im richtigen Gleise wandelt und das Rechte ü b t : aber die Menschheit verbleibt nicht immer in diesem Zustande paradiesischer Unschuld, und der alten wenn auch noch so guten und idyllischen Gewohnheitssitte sind häufig viele falsche G e - w ö h n u n g e n , Mängel und störende Vorurtheile beigemischt. W e n n es richtig ist, und ich halte es für richtig, dass die Tugend E r k e n n t - niss sei, so muss sie zum Bewusstseyn erhoben werden. Die V o r - Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 17 wirklichung der menschlichen Tugend soll der Staat seyn; von ihm und seinem Handeln ist also zunächst die höchste Sittlichkeit zu for- dern, wenn die Privatsitten sich bessern sollen. Hierauf hat aber die ideelle Seite der Wissenschaft zwar in der Regel keinen plötz- lichen, aber einen allmähligen und langsam wirkenden Einfluss. Frei- lich finden einige, die gegenwärtigen Sitten der gebildeten Völker seien schlechter als früher, und da doch die Wissenschaften unstrei- tig fortgeschritten sind, so würde hieraus folgen, dass mit dem F o r t - schritt, ja sogar einer sehr weiten Verbreitung der Erkenntniss ein Rückschritt der Sitten eingetreten sei. Aber wenn ich auch zu- gebe, dass der Gang des menschlichen Geschlechts nicht aus lauter Fortschritten bestehe, indem vielmehr wie in der Natur so in der Geschichte übermächtige Umwälzungen eintreten, welche ohne Un- terschied Gutes und Schlechtes vertilgend, die Gesellschaft für den Augenblik zurückwerfen, bis sie aus den Trümmern der alten Bil- dung sich ein neues Gebäude errichtet, und aus der Verwesung ein neues Leben ersteht: so erweisen doch die grossen Perioden der Weltgeschichte, neben unläugbarem Untergang edler Erscheinungen, in den höchsten und wichtigsten Beziehungen der Menschheit einen Fortgang, der sich nirgends deutlicher als in den öffentlichen und Privatsitten zeigt. W e r da behauptet, in unserem Zeitalter seien die Sitten im Verfall, der weise doch nach, dass in dem gepriesenen Mittelalter, in welchem die Sittenlosigkeit massenhaft erscheint, oder 3 Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 18 im sechzehnten oder siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert mehr Sittlichkeit und weniger Laster und Verbrechen vorhanden gewesen: es ist mir gar nicht zweifelhaft, dass eine gründliche Untersuchung gerade das Gegentheil herausstellen wird. Es bedarf aber dieser Untersuchung kaum: der wahre Maassstab der Sittlichkeit eines Vol- kes oder Zeitalters ist die Sittlichkeit des Staates selbst, das heisst der Gesetze und der Art ihrer Ausführung; und es hiesse den Staat unserer Zeit lästern, wenn man verkennen wollte, dass er sittlicher geworden: im Namen des Gesetzes und in gutem Glauben fromm und gottgefällig zu handeln, hat der Staat sonst Thaten begangen, welche die bessere Einsicht der spätem Zeit als offenbare Verbre- chen erkennen musste; Besonnenheit und Weisheit ist, im Durch- schnitt genommen, an die Stelle der Leidenschaft getreten; Vernunft herrscht in der Regel statt der Gewalt selbst bei unumschränkten Regierungen, Offenheit statt des Truges und der List, menschliches Gefühl statt der Härte, Roheit und Grausamkeit: mehr durch Be- lehrung und Ueberzeugung als durch Furcht und Schrecken sucht man zu regieren. Die von der Gegenwart so trübe Ansichten ha- ben und in ihr nur Verderben sehen, täuschen sich über die Be- deutung einzelner Erscheinungen, und legen diesen, so vereinzelt sie auch dastehen, als sogenannten Zeichen der Zeit, durch ungehörige Verallgemeinerung eine übertriebene Wichtigkeit bei, ohne zu wis- sen oder zu bedenken, dass eben dieselben früher viel schlimmer Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 19 und häufiger dagewesen sind; wissen sie es auch, so tritt ihnen ihr Wissen in den Hintergrund, weil bekanntlich die Geschichte nieman- den lehrt, dem leidenschaftliche Verstimmung die Besonnenheit nimmt. W a r u m sollte es befremden, dass das Urtheil der Laien den starken Eindrücken einzelner bedeutenden Eräugnisse unterliegt, wenn selbst Heroen der Geschichtschreibung sich dadurch so verwirren lassen, dass sie das Zeitalter und die Erfolge der Begebenheiten von der verkehrtesten Seite ansehen? Unbekümmert um die, welche für ihre und unsere Freunde und grosse Gelehrte eine unbedingte Vereh- rung in Anspruch nehmen, und die Erwähnung einer menschlichen Schwäche, auch wenn sie um der Sache willen, nicht um die P e r - sonen zu beeinträchtigen, geschieht, gleich zu einer Verletzung der Pietät stempeln, wird es erlaubt seyn anzuführen, wie zwei als Ge- schichtschreiber ausgezeichnete ehemalige Mitglieder dieser Akade- mie, die auch dazu noch Staatsmänner waren, sich über ihre Zeit geirrt haben. Johannes von Müller, nachdem er lange die Napo- leonische Herrschaft mit den Waffen der Rede bekämpft hatte, weissagte in ihrer unüberwindlichen Befestigung nach der Besiegung Preussens der Welt ein neues goldenes Zeitalter; Niebuhr fand in der Julirevolution den Untergang der humanen Bildung und den Ein- bruch der Barbarei. Beide sind schon durch die nächsten Jahre wi- derlegt worden, die Hoffnungen des Einen wie die Befürchtungen des Andern; sie waren nur dem Eindruck des Augenblicks gefolgt, 3 * Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM 20 wie es den Gemüthsvollsten so leicht begegnet, dass sie durch T e m - perament, Neigung und Stimmung, kurz durch ihre Subjectivität sich fortreissen lassen, während um der Gegenwart und der Zukunft das Horoskop richtig zu stellen, die unerschütterliche Besonnenheit des geordnetsten Denkens und jene Objectivität des Geistes erfordert wird, wie wir sie am Thukydides bewundern, mit welchem jene b e i - den in andern Beziehungen höchst vortrefflichen Männer sehr u n - geschickt verglichen worden sind. Eine ähnliche Befangenheit ist es, welche eine Verschlimmerung der Sitten bei nicht zu läugnen- der Vorschreitung der Erkenntniss und Wissenschaft zu finden glaubt; um nicht von denen zu reden, welche die Quelle des eingebildeten Uebels gar in dem Wissen selbst suchen. Nur durch den Geist kann sich das menschliche Geschlecht vorwärts b e w e g e n , die T h ä - tigkeit des Geistes ist aber das Wissen. Freilich muss dieser Geist ein heiliger seyn; aber die Heiligung liegt nicht in dem starren Dogma, sondern auch das religiöse Bewusstseyn muss sich f o r t w ä h - rend reinigen und verklären: sonst würde aller Fortschritt verneint, bis eine neue Offenbarung erschiene. W e n n n u n , wie gesagt, auf diesen ideellen Fortschritt die ideelle Seite der Wissenschaft einen besonderen Einfluss ü b t , so würde man sich doch an den N a t u r - wissenschaften versündigen, wenn man ihnen nicht auch hieran ei- nen bedeutenden Antheil zuerkennen wollte. Nimmt der Geist die Natur in sich auf, erkennt er in ihr Gesetze, führt er sie auch nur Unauthenticated Download Date | 7/25/19 5:25 PM