Andrea Riedl Kirchenbild und Kircheneinheit Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät Begründet von Michael Schmaus †, Werner Dettloff † und Richard Heinzmann Fortgeführt unter Mitwirkung von Ulrich Horst Herausgegeben von Isabelle Mandrella und Martin Thurner Band 69 Andrea Riedl Kirchenbild und Kircheneinheit Der dominikanische „Tractatus contra Graecos“ (1252) in seinem theologischen und historischen Kontext Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF): PUB 774-Z. ISBN 978-3-11-069683-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069766-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069767-4 ISSN 0580-2091 Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by/4.0. Library of Congress Publication Number: 2020948248 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Andrea Riedl, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com Inhalt Vorwort XI Einleitung: Ost-westliche Kontroverstheologie im 13. Jahrhundert 1 Erste Vorbemerkung: Polemik 5 Zweite Vorbemerkung: Methodik 8 Dritte Vorbemerkung: Das Motiv des Kirchenbildes 11 Zum Aufbau der vorliegenden Studie 14 Rahmenbedingungen 16 Der Vierte Kreuzzug (1202 – 1204) und die Etablierung des Latei- nischen Kaiserreichs (1204 – 1261) 16 Der vierte Kreuzzug (1202 – 1204) 16 Die Etablierung des Lateinischen Kaiserreichs (1204 – 1261) und die byzantinischen Exilreiche 20 Das Lateinische Patriarchat von Konstantinopel und die grie- chischen (Exil ‐ )Patriarchen 24 Der Zeitraum 1204 – 1261 aus west- bzw. ostkirchlicher Per- spektive: Schlaglichter 27 Stationen der Unionsbemühungen und -verhandlungen 29 Petrus Capuanus und Ioannes Mesarites (1204) 29 Nikaia/Nymphaion 1234 30 Manuel II. und Innozenz IV. (1250 – 1254) 39 Die ‚ Griechenfrage ‘ auf den Konzilien des 13. Jahrhunderts 43 IV. Lateranum (1215) 43 I. Konzil von Lyon (1245) 48 II. Konzil von Lyon (1274) 50 Kontroverstheologische Motive: Der Primat Roms als bestimmendes Vorzeichen? 57 Der Briefwechsel zwischen Papst Innozenz III. und Patriarch Jo- hannes X. Kamateros über die Vorrangstellung Roms und die Be- deutung von ecclesia universalis 58 plenitudo potestatis und vicarius Christi: Schlagworte päpstlicher Souveränität im 13. Jahrhundert 63 Dominikaner im Osten 66 Die Präsenz des Dominikanerordens im Lateinischen Kaiserreich 66 Frühe dominikanische Studienrichtlinien und ordensinterne Ausbildungskultur 70 Schola , studia provincialia und studium generale 71 „ Studia linguarum “ 74 Die Sonderstellung des Tractatus contra Graecos (1252) innerhalb der literarisch-theologischen Auseinandersetzungen zwischen Ost- und Westkirche 75 Autor 76 Verbreitung und Einfluss 84 Der anonyme Tractatus contra Graecos (1252) 92 Aufbau und Methode 92 Inhalte, Argumente und theologischer Ertrag 94 Tractatus maior 94 Appendix 130 Analyse der Argumentation und Veranschaulichung anhand des Mo- tives des Kirchenbildes im Tractatus contra Graecos 148 Basis der Argumentation: Die Väterzitate im Tractatus contra Graecos 149 Das Kirchenbild des Tractatus contra Graecos 150 Analyse lateinischer und griechischer Werke 163 Lateinische Werke 163 Nikolaos von Cotrone und Thomas von Aquin 163 Humbert von Romans: De schismate Graecorum 178 Bonacursius von Bologna: Thesaurus veritatis fidei und Contra Graecos 192 Bartholomeus Constantinopolitanus: Libellus contra precipuos er- rores Grecorum 200 Griechische Werke 208 Anonymus: Περ ì τ ῶ ν Φρ ά γκων κα ì τ ῶ ν λοιπ ῶ ν Λατ ί νων bzw. Opus- culum contra Francos 208 Niketas Choniates: Θησαυρ ὸ ς τ ῆ ς Ὀ ρθοδοξ ί ας / Thesaurus or- thodoxae fidei 211 Konstantinos Stilbes: Τ ὰ α ἰ τι ά ματα τ ῆ ς λατινικ ῆ ς ἐ κκλησ ί ας 217 Meletios der Bekenner (Homologetes bzw. Galesiotes): Über die Gewohnheiten der Lateiner 221 Anonymus: Πανοπλ ί α κατ ὰ τ ῶ ν Λατ ί νων 223 Beobachtungen und Ergebnisse 228 Abkürzungsverzeichnis 234 VI Inhalt Literaturverzeichnis 235 Lateinische und griechische Quellen 235 Literatur 238 Namens- und Sachindex 252 Inhalt VII Sed numquid ista sufficiunt ad excusationem tanti scismatis et tantarum perditionem animarum? Minime. Sed occasiones querit, qui uult recedere ab amico (TcG V, 33 – 35 (p. 113)). Genügt denn all dies, um ein derartiges Schisma, ja den Verlust so vieler Seelen zu rechtfertigen? Wohl kaum. Aber nach Gründen sucht, wer den Freund verlassen will. Vorwort „ Ökumene im Mittelalter “ – was dem Begriff nach wie ein Anachronismus, für manche sogar wie ein Widerspruch in sich klingt, ist der Sache nach ein hochspan- nender Teilbereich der Theologischen Mediävistik, dessen Schätze für die Wissen- schaft lange noch nicht gehoben sind. Mein persönlicher Zugang, ja meine Motivation für die jahrelange Forschungstätigkeit, deren Ertrag nun in dieser Studie vorliegt, ist das Interesse an der Ökumene/Ostkirchenkunde wie an der Kirchen- und Theolo- giegeschichte des Mittelalters gleichermaßen. An den vielen kleinen und großen Schritten in den heutigen ökumenischen Bemühungen, an dem, was bisweilen aus- sichtslos, nicht mehr zeitgemäß oder relevant erscheint, bisweilen ökumenische Annäherung erst möglich macht – an all dem fasziniert mich in erster Linie der his- torische Fragehorizont. Die Kenntnis der Geschichte der Beziehungen zwischen den christlichen Kirchen – hier zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche – ist für jeden ökumenisch motivierten Schritt nicht nur wünschens- oder erstrebenswert, sondern konstitutiv. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/17 von der Katholisch- Theologischen Fakultät der Universität Wien als Dissertation angenommen. Ihre Pu- blikation in der Münchener Reihe „ Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie “ erfolgt jetzt zeitgleich mit der Veröffentlichung meines zweiten und inhaltlich eng verflochtenen For- schungsprojektes, der kritischen Edition des im Fokus stehenden anonymen Tractatus contra Graecos (1252) in der Reihe „ Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis (CCCM 303) “ im Verlag Brepols Publishers und seiner deutschen Übersetzung. Beide Publikationen sind aufeinander bezogen und ergänzen einander mit den jeweiligen theologischen bzw. theologiegeschichtlichen und philologischen bzw. editorischen Schwerpunktsetzungen. Ein wissenschaftliches Forschungsprojekt, zumal eine Dissertation bedeutet, ei- nen langen Weg zu beschreiten. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle all jenen, die auf unterschiedliche Weise zu ihrem Gelingen beigetragen haben: An erster Stelle sei mein Doktorvater, Univ.-Prof. Dr. Thomas Prügl, genannt. Durch seinen fachlichen Anspruch und das Wohlwollen, das er mir entgegengebracht hat, war das Arbeiten in einem motivierenden und produktiven Umfeld möglich. Ihm danke ich dafür, mich durch seinen Handschriftenfund in einem Codex der Öster- reichischen Nationalbibliothek auf dieses so ertragreiche Thema aufmerksam ge- macht zu haben, für jede Förderung, für sein großes Interesse am Thema und am Vorankommen der Arbeit und für die finanzielle Unterstützung aus den Mitteln seines Forschungsetats. Dem Fachbereich „ Theologie und Geschichte des christlichen Ostens “ – allen voran Univ.-Prof. Dr. Rudolf Prokschi – danke ich für die Möglichkeit, in den wis- senschaftlichen Betrieb in Forschung und Lehre einzutauchen. Die Zeit meiner An- stellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin ermöglichte mir gerade im Hinblick auf OpenAccess. © 2020 Andrea Riedl, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 International. https://doi.org/10.1515/9783110697667-001 das Entstehen der Dissertation zahlreiche Austausch- und Vernetzungsmöglichkeiten, die der Fachbereich immer befürwortet und gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Yuri Avvakumov danke ich in seiner Funktion als Zweitgutachter, darüber hinaus für wertvolle Anregungen und Hilfestellungen bzgl. der Fortführung meiner Forschungen im Rahmen des Folgeprojektes an der University of Notre Dame, Indiana/USA. Ich danke den drei Fachgremien bzw. Gutachterinnen und Gutachtern, die im Rahmen von Ausschreibungen akademischer Auszeichnungen meine Dissertation als preiswürdig beurteilt haben (Arbeitsgemeinschaft der Kirchenhistoriker und Kir- chenhistorikerinnen im deutschen Sprachraum (AGKG), Verleihung im Mai 2018; Ka- tholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Verleihung im Oktober 2017; Gesellschaft zum Studium des Christlichen Ostens (GSCO), Verleihung im Mai 2017). Finanzielle Unterstützung für Forschungsaufenthalte, Konferenzteilnahmen, Handschriftenreproduktionen und schließlich für die Schlussphase der Arbeit an der Dissertation erhielt ich dankenswerterweise durch folgende Fördereinrichtungen (in chronologischer Reihung): Kurzforschungsaufenthalt am Centro Tedesco di Studi Veneziani (Juni 2017); ÖAW-Stipendium am Österreichischen Historischen Institut Rom (Apr. bis Juni 2016); Abschlussstipendium der Universität Wien (Okt. 2015 bis März 2016); Stipendium des Forschungsförderungsprogramms „ Internationale Kom- munikation “ der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) und Stipendium des Förderprogramms „ Dissemination – Unterstützung von Konferenzteilnahmen im Ausland “ der Universität Wien (beide Sept 2015); Forschungsstipendium der Monu- menta Germaniae Historica (MGH) München (Mai 2015); Stipendium für kurzfristige Aufenthalte der Aktion Österreich – Slowakei der Österreichischen Austauschdienst- GmbH (Mai 2014); Kurzfristiges wissenschaftliches Auslandsstipendium (KWA) der Universität Wien (Jan. bis Feb. 2014); Institut für Historische Theologie (Fachbereiche Kirchengeschichte und Theologie und Geschichte des christlichen Ostens) an der Katholisch-Theologischen Fakultät Wien; Reisekostenzuschüsse der Stiftung PRO ORIENTE. Prof. Dr. Isabelle Mandrella und Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Thurner danke ich für die Aufnahme in die Reihe „ Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie “ sowie für die freundliche und un- komplizierte Zusammenarbeit. Frau Mag. a Johanna Weber verdanke ich das auf- merksame und sorgfältige Lektorat des Manuskriptes (http://www.lektorat-weber.at/). Den Verantwortlichen und Gutachtern des Verlags Walter de Gruyter, allen voran Herrn Dr. Albrecht Döhnert, danke ich für die kompetente Unterstützung im Publi- kationsprozess. Durch die großzügige finanzielle Förderung des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF wurde mir die Veröffentlichung des Buches in der vorlie- genden Form ermöglicht. Am Wegrand stehen viele Menschen, die im privaten Bereich den Entstehungs- prozess dieser Arbeit mitverfolgt und begleitet haben. Ihnen danke ich aus ganzem Herzen: Meinen Eltern und meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden – bei Euch konnte ich gerade im Hinblick auf die wechselvollen Phasen wissenschaftlicher XII Vorwort Arbeit auf uneingeschränkten Rückhalt und echte Freundschaft zählen. Gewidmet sei dieses Buch meiner Mutter Pauline Riedl – als kleine Entschädigung dafür, dass ich auch nach Abschluss der beiden Buchprojekte ihre Frage immer noch nicht beant- worten kann, wie der anonyme dominikanische Autor des Tractatus contra Graecos denn nun wirklich geheißen hat. Auf dass es zukünftiger Forschung gelingen möge, ihr diese Frage zu beantworten. Wien im Juni 2020 Andrea Riedl Vorwort XIII Einleitung: Ost-westliche Kontroverstheologie im 13. Jahrhundert Im ökumenischen Fokus der Kirchengeschichtsschreibung werden die Ereignisse des Jahres 1054 längst als ein symbolisches Datum des Schismas zwischen Ost- und Westkirche angesehen. Was noch in vielen kirchengeschichtlichen Studien der zwei- ten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Bruchstelle, ja als ausschlaggebendes Moment oder jedenfalls als Wendepunkt im Auseinanderdriften derjenigen beiden Kirchen gesehen und gelehrt wurde, die wir heute als katholische und orthodoxe Kirche konfessionell voneinander unterscheiden, ¹ weicht mittlerweile in der historischen Beurteilung vielerorts und zu Recht dem vierten Kreuzzug, der Einnahme Konstantinopels und dem Lateinischen Kaiserreich als Brennpunkte des Schismas. Sooft das Datum der gegenseitigen Exkommunikationen von 1054 nun als ‚ symbolisches ‘ betont wird, womit nicht selten seine Relevanz im Kontext der (kirchen ‐ )politischen lateinisch- griechischen Beziehungen geschmälert wird, sooft wird gleichzeitig übersehen, dass die Akteure von 1054 eben nicht nur Kirchenpolitik betrieben und kirchenrechtlich agierten: Sie waren Theologen, die literarisch-theologisch über den Konfliktstoff re- flektierten – ein Konfliktstoff, der sie in ihren Argumentationen und Handlungen antrieb, wie in den Quellen nachvollziehbar ist. Und obwohl – oder vielleicht gerade weil – der kirchenpolitische/-rechtliche Aspekt in der Rezeption von 1054 eindeutig den Vorrang erhalten hat, eröffnet die literarisch-theologische Tätigkeit der Akteure als Initialzündung kontroverstheologischer Auseinandersetzungen den Blick in eine ganz andere Dimension der ost-westlichen Beziehungen, die exemplarisch nachzu- verfolgen und zu analysieren Gegenstand der vorliegenden Studie ist. Mit dem Brief des Patriarchen von Konstantinopel Michael Kerullarios an den Patriarchen Petros von Antiochia ² , verfasst im Jahr 1054, beginnt eine Tradition so- genannter Irrtumslisten oder Irrtumskataloge auf Seiten der Byzantiner gegen die Lateiner. Der im selben Jahr entstandene Brief Adversus Graecorum calumnias ³ des Kardinallegaten Humbert von Silva Candida reiht sich ein in eine bereits bestehende Tradition polemischer Werke unterschiedlicher Gattungen gegen die Byzantiner auf Seiten der Lateiner. Diese beiden Werke sind Beispiel und Modell des Umgangs mit dem jeweils Anderen bzw. mit der anderen Kirche im Spiegel der eigenen Recht- gläubigkeit. Dabei spielt der Rekurs auf den griechischen Patriarchen Photius, jene schillernde Gestalt der ost-westlichen Kontroverse des 9. Jahrhunderts, eine für die Entstehung der polemischen Textgattungen maßgebliche, weil konstitutive Rolle: Die theologische Kritik des Photius in Bezug auf das Filioque und der Appell des Papstes Vgl. die bibliographischen Angaben bei B ayer 2 2004 , 2 – 7 et passim. Im Bereich research to public findet sich sogar aktuell die inzwischen überholte These von 1054 als entscheidender Bruch zwischen Ost- und Westkirche: vgl. dazu den Beitrag von K irchschläger 2020 , 31 – 33, hier: 33. Vgl. PG 120, col. 781B – 796 A bzw. W ill 1861 , 172 – 184. Vgl. PL 143, col. 929 – 974 A bzw. W ill 1861, 93 – 126. OpenAccess. © 2020 Andrea Riedl, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 International. https://doi.org/10.1515/9783110697667-002 Nikolaus I. an die westlichen Theologen, entsprechende Gegenentwürfe zu erstellen, gilt allgemein als die „ Geburtsstunde der polemischen Schriftgattung De erroribus Graecorum im Westen bzw. Κατ ὰ τ ῶ ν Λατ ί νων im Osten. “ ⁴ Die Werke contra Graecos und κατ ὰ τ ῶ ν Λατ ί νων , die diese Linie in unterschiedlichen Stilen, Absichten und Entstehungszusammenhängen jahrhundertelang fortführen, kennen und prägen eine Reihe von Kontroversfragen, die sie je nach Gewichtung und je nach theologischem, ekklesiologischem oder kirchenpolitischem Hintergrund besonders ins Licht rücken. Unter ihnen ragen Themenkomplexe hervor, die zum einen immer wiederkehrende Elemente derartiger Schriften sind, deren Lösung zum anderen in vielen Fällen zur Grundbedingung jedes weiteren Gesprächs oder Austausches gemacht wird: Die richtige, weil rechtgläubige und die kirchliche Tradition seit jeher bewahrende Aus- legung jener Themenbereiche ist also konstitutiv für die zu suchende, wiederzufin- dende oder zu heilende Kircheneinheit. Es sind vor allem vier Themengebiete, die kontroverstheologisches Konfliktpotential bargen und dies zum Teil bis heute im ost- westlichen ökumenischen Dialog tun: Den Bereich der Dogmatik, näherhin den Be- reich der Trinitätstheologie wie auch der Pneumatologie berührt die Frage nach dem Ausgang des Heiligen Geistes. Insbesondere die von der Westkirche einseitig vollzo- gene Einfügung des Filioque in den Wortlaut des nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses und ihre Implikationen gehören zu den brennendsten und konfliktreichsten Streitpunkten der theologischen Kontroversliteratur spätestens seit dem 11. Jahrhundert. Nicht weniger belastet ist die Frage nach der eucharistischen Zelebration mit gesäuertem oder ungesäuertem Brot, die sogenannte Azymenfrage, womit der Bereich des Ritus und damit der Liturgie betroffen ist. Ein interessanter und in der Analyse ausgewählter Werke zu zeigender Befund ist, dass aber nicht nur die Stellung der Azymenfrage, sondern durchaus auch die im liturgischen Credo gesun- gene Einfügung des Filioque im Grunde Konfliktstoff ist, der dem Bereich der Liturgie zuzurechnen und von daher sensiblen, weil religiöse Identität stiftenden Parametern unterworfen ist. Auch der dritte Themenkomplex, nämlich der ab dem 13. Jahrhundert aufkommende eschatologische Streit um die Vorstellung des Aufenthaltsortes der Seelen zwischen dem individuellen Tod und dem Jüngsten Gericht (in verkürzter Form oft als Konflikt um das Purgatorium dargestellt) macht deutlich, dass es in den ost- westlichen Auseinandersetzungen in erster Linie Konflikte in Ritusfragen waren, die virulent ausgetragen wurden: ⁵ Gerade das in der Liturgie verankerte Gebet für die Verstorbenen wird neben den biblisch-theologischen und patristischen Belegen aus westlicher Perspektive zum Hauptargument für die Existenz eines Reinigungsortes der Seelen der Verstorbenen. Als vierter und besonders in den lateinischen Werken um- fassend präsenter Streitpunkt erweist sich die Ekklesiologie, konkretisiert an der C apizzi 1999 , 267 – 273, hier: 270 (Hervorhebungen im Original). Y. Avvakumov macht in seiner Studie über Entstehung und Verlauf des Azymenstreits deutlich, dass sich „ die gesamten kirchenpolitischen und theologischen Beziehungen zwischen Ost und West im Hochmittelalter in gewisser Hinsicht stets um die Streitfragen des Ritus drehen. “ (A vvakumov 2002 , 16). 2 Einleitung: Ost-westliche Kontroverstheologie im 13. Jahrhundert heiklen Frage nach der Vormachtstellung der römischen Kirche innerhalb der oder gar als Universalkirche – ein Konflikt, der die Frage nach der Stellung, den Rechten und dem Vorrang des römischen Papstes inkludiert. Das Thema des päpstlichen Primats ist in vielen Fällen zudem nicht reduziert auf einen Konfliktpunkt unter mehreren, sondern stellt gewissermaßen die Folie aller anderen Divergenzen – seien sie litur- gisch, dogmatisch, praktisch usw. – dar: Aus lateinischer Sicht ist die Anerkennung der Vormachtstellung Roms vonseiten der ganzen Kirche, das heißt Lateiner wie By- zantiner, die Bedingung dafür, dass die Einheit der Kirche entweder wiederhergestellt werden kann, sofern sie in den betreffenden Schriften als verloren erachtet wird, oder dass sie sichtbar gemacht werden kann, sofern sie als bestehend, aber gefährdet angesehen wird. So sehr aus lateinischer Perspektive in beiden genannten Fällen das Papsttum an sich der Garant der Einheit der Kirche ist, so wenig herausgehoben ist es aus Sicht der Byzantiner, die dem apostolischen Gleichheitsgedanken bzw. dem Prinzip der Pentarchie folgen, in der es der Theorie und Theologie nach keine Vor- rangstellung mit Ausnahme des Ehrenprimats gibt. Das 13. Jahrhundert stellt nicht nur in kirchenpolitischer Hinsicht eine Ausnah- mesituation für die lateinisch-griechischen Beziehungen dar. In vielen Studien, die sich mit den Verhältnissen zwischen den Kirchen im Hoch- und Spätmittelalter be- fassen, gilt das 13. Jahrhundert im Vergleich zum geradezu irenischen 12. Jahrhundert als die Zeit des endgültigen Bruches, des beginnend-bleibenden Risses zwischen Ost- und Westkirche, zum Teil sogar mit scholastisch-offensiver Prägung. ⁶ Die vorliegende Studie hat sich vor diesem Hintergrund zum Ziel gesetzt, die diesbezügliche Brisanz des 13. Jahrhunderts und darin vor allem die Zeit des Lateinischen Kaiserreichs von Konstantinopel (1204 – 1261) unter einem bestimmten, der heutigen ökumenischen Theologie Rechnung tragenden Aspekt zum Thema zu machen: Gegenstand der Un- tersuchung sind die Beziehungen zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche zur Zeit und im geographischen Rahmen des Lateinischen Kaiserreichs (1204 – 1261) bis zum II. Konzil von Lyon 1274 (und in begründeten Einzelfällen darüber hinaus). Dabei stehen nicht die kirchenpolitisch-diplomatischen Kontakte im Mittel- punkt, sondern die facettenreiche Darstellung des ost-westlichen theologischen Ver- hältnisses, wie es im polemischen Schrifttum des 13. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Im Zentrum der Untersuchung stehen daher ausgewählte literarisch-theolo- gische Werke, die im genannten Zeitraum innerhalb der Reichsgrenzen des Lateini- schen Kaiserreichs bzw. des griechischen Exilreichs Nikaia sowohl von lateinisch- sprachigen als auch von griechischsprachigen Autoren verfasst wurden, aber auch Schriften, die direkten Bezug auf erstgenannte Werke aufweisen. Zeitlich am Beginn des 13. Jahrhunderts anzusetzen und den eingrenzenden Rahmen bis zum II. Lug- dunense als dem ersten konziliaren Unionsversuch des Mittelalters zu spannen, bietet sich für das Konzept der vorliegenden Studie aus mehreren Gründen an: Bedingt Zur Haltung der Lateiner gegenüber den Griechen im langen 12. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf die kirchenpolitisch-diplomatischen Kontakte vgl. jüngst N eocleous 2019 Einleitung: Ost-westliche Kontroverstheologie im 13. Jahrhundert 3 durch die Ereignisse rund um die Einnahme Konstantinopels 1204 und ihre Impli- kationen, die wohl am deutlichsten und folgeträchtigsten in der Etablierung des La- teinischen Kaiserreichs zum Ausdruck kamen, ist der „ Sitz im Leben “ der betreffenden Schriften ein wichtiger Faktor dafür, was ihnen an theologischem Gehalt entnommen werden kann. Vor dem Hintergrund dessen, dass die Autoren ihre Werke in einer kirchenpolitisch hochbrisanten Zeit verfassten, stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich eine derartige Ausnahmesituation auch auf den theologischen Dialog zwischen Ost- und Westkirche übertrug und damit Einfluss auf die theologischen Argumenta- tions- und Begründungsschemata ausübte. Mit anderen Worten: Das Forschungsin- teresse der vorliegenden Studie wird von der Frage geleitet, ob und inwiefern sich die kirchenpolitische Ausnahmesituation auch auf die theologischen – heute würde man sagen: ökumenischen – Beziehungen zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche, auf ihre Einheitsvorstellungen und -bedingungen sowie auf das Bild aus- wirkte, das man von der jeweils anderen Kirche hatte. Im Zentrum der Auswahl literarisch-theologischer Werke, die in der vorliegenden Studie behandelt werden, steht ein herausragendes Werk lateinischer Kontrovers- theologie des 13. Jahrhunderts, das nicht nur bestimmend und prägend für eine ganze Reihe nachfolgender Schriften unterschiedlicher Genera wurde, sondern das nach heutigem Wissensstand als erste lateinische Quelle jene Viererstruktur theologischer Kontroverspunkte aufweist, wie sie später prominent auf der Agenda der Konzilien von Lyon 1274 und Ferrara-Florenz 1438/39 zu finden sind: Filioque – Eschatologie/Pur- gatorium – Azymen – Primat Roms. Es handelt sich um den anonymen Tractatus contra Graecos , der im Jahr 1252 im Dominikanerkonvent von Konstantinopel verfasst wurde und der bisherigen Forschung in Form eines unvollständigen Druckes von zum Teil geringer sprachlicher Qualität in Mignes Patrologia Graeca zur Verfügung stand (PG 140, col. 487 – 574). In mehr als einer Hinsicht stellt dieses umfangreiche domi- nikanische Dossier – gleichzeitig Handbuch für lateinische Akteure im Diskurs mit den Byzantinern und Aushängeschild der sprachlichen wie (kontrovers ‐ )theologi- schen Kenntnisse seines Verfassers – einen Kristallisationspunkt lateinischer Kon- troverstheologie dar, die zu entfalten Gegenstand des zentralen dritten Kapitels der vorliegenden Studie ist. Basierend auf der wertvollen und detailreichen Vorstudie von Antoine Dondaine aus dem Jahr 1951 ⁷ liegt jetzt die kritische Edition des Tractatus contra Graecos in der Reihe CCCM (Band 303) ⁸ vor, die es ermöglicht, den Traktat solide und in seinen theologischen und historischen Kontext eingebunden darzu- stellen, wofür wiederum griechisch- und lateinischsprachige Werke des zeitgenössi- schen theologischen Diskurses exemplarisch ausgewählt und im vierten Kapitel dar- gestellt wurden. Vgl. D ondaine 1951 Vgl. Anonymus: Tractatus contra Graecos , ed. Andrea Riedl, Turnhout 2020 (= CCCM 303). Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich alle Quellenangaben des Traktats auf diese Edition und werden im Folgenden mit TcG abgekürzt. 4 Einleitung: Ost-westliche Kontroverstheologie im 13. Jahrhundert Bevor der Aufbau der Studie vorgestellt wird, seien im Hinblick auf die zentrale Analyse der ausgewählten lateinischen und griechischen Werke drei Leitmotive vor- angestellt, die das Forschungsinteresse an den Texten leiten: 1 Erste Vorbemerkung: Polemik Die Eingliederung der im Fokus stehenden Werke unter das Stichwort „ Polemik “ bzw. „ Kontroverstheologie “ , wie sie in der Sekundärliteratur durchgehend stattfindet, verlangt zunächst nach einer genaueren Präzisierung dessen, was im jeweiligen Kontext unter Polemik zu verstehen ist. Der Textanalyse vorzuschalten ist daher eine Kriteriologie bzw. Charakterisierung von ost-westlicher Polemik anhand der Auswahl repräsentativer Werke für den gewählten Zeitrahmen. Dies dient in weiterer Folge dazu, einen Leitfaden für die Zuordnung der ausgewählten Werke zum Genre der Polemik zur Hand zu haben und damit ein Prüfinstrument, ob und inwieweit als Polemik geltende Schriften den Kriterien dieses Genres entsprechen. Daran an- schließend sollen im Zuge der einzelnen Werkanalyse die Auswirkungen berück- sichtigt werden können, die das „ Gewand der Polemik “ auf die transportierten theologischen Inhalte hat. H. Smolinsky stellt in seinem Artikel über „ Kontroverstheologie “ im Lexikon für Theologie und Kirche kritisch fest, dass zu klären sei, ob und inwieweit die „ Ausein- andersetzungen mit der Ostkirche, die oft auf eine Kirchenunion zielten “ ⁹ , als Kon- troverstheologie zu qualifizieren seien. Seine kritische Anfrage impliziert, dass das Streben nach der Kircheneinheit ein Ausschließungsgrund polemischer Intentionen sei. Oder, umgekehrt und allgemeiner formuliert: Polemische Methoden verfolgen vielmehr eo ipso nicht das Ziel einer Einigung in der diskutierten Angelegenheit. Gerade vor dem Hintergrund dieses am Einzelfall zu klärenden Verständnisses von Polemik in der ost-westlichen Kontroverse lohnt der Blick auf eine Auswahl reprä- sentativer Sekundärliteratur, die sich mit ost-westlicher Kontroverstheologie des Mittelalters befasst und entweder in Randbemerkungen erwähnt oder – seltener – eine klare Definition dessen voranstellt, was sie im jeweiligen Kontext unter Polemik ver- steht: H. G. Beck vertrat in der Mitte des 20. Jahrhunderts in seinem vielzitierten Stan- dardwerk Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich (Erstauflage 1959) die Sichtweise, dass die Dogmengeschichte der byzantinischen Kirche „ in erster Linie die Geschichte der byzantinischen Polemik “ ¹ ⁰ sei, dass die byzantinische Dogmatik „ sich in einem hohen Maße in der Polemik erschöpft. “ ¹¹ Aus diesem Blickwinkel betrachtet entsteht die Dogmatik als Lehrgebäude der Kirche aus dem polemischen S molinsky 1997 , 333 – 335, hier: 335. B eck 1959 , 279. Als explizite Reaktion auf diese Sichtweise vgl. den Sammelband R igo/Ermilov 2009 B eck 1959 , 279. 1 Erste Vorbemerkung: Polemik 5 Diskurs bzw. kann – radikal formuliert – als dessen Produkt gesehen werden. Beck gesteht allerdings auch „ Lücken [ein], welche die Polemik offenlässt “ ¹² , die zu finden und zu überbrücken sind. Ohne an dieser Stelle auf die Implikationen jener Sichtweise für die byzantinische Dogmatik einzugehen, ergibt sich als Indiz seines Verständ- nisses von theologischer Polemik, dass polemisches Agieren ein Profilierungsinstru- mentarium darstellt, mittels dessen man in Abgrenzung von und Schärfung an einem Gegenüber das artikulieren kann, was das Eigene ist, was als das zu Vertretende an- gesehen wird und entsprechend argumentiert bzw. verteidigt werden muss. Nach der Definition von Ch. Schabel dagegen ist ein Text dann als polemisch zu charakteri- sieren, wenn der Autor Thema und Agenda seines Werkes mit dem Ziel wählt, ent- weder dem Gegner inhaltlich und verbal überlegen zu sein oder dem eigenen Kreis Argumente für die Debatte mit dem Gegner zu liefern. ¹³ Y. Avvakumov grenzt in seiner Studie Die Entstehung des Unionsgedankens polemische Literatur von Werken ab, die sich mit der kirchenrechtlichen Dimension (Dekretalien und Konzilsdokumente) und der Lehre bzw. Theologie der Kirche (systematisch-theologische Abhandlungen) be- fassen, da diese nicht in Abgrenzung, sondern in positiver Darstellung „ den allge- meingültigen Fundus des theologischen Wissens und Könnens “ ¹ ⁴ vermitteln. Er un- terteilt zudem die Schriften, die sich mit den Kontroversthemen zwischen Byzantinern und Lateinern beschäftigen, in zwei Kategorien: zum einen Schriften, „ deren Haupt- zweck ein bewusst polemischer ist “ ¹ ⁵ , worunter contra- / κατ ὰ -Werke zu verstehen sind, außerdem Berichte über mündliche Disputationen, Briefe als Handreichung und Zi- tatensammlung sowie Abhandlungen, die als direkte Reaktion auf Polemik entstan- den sind. Zur zweiten Kategorie zählt Avvakumov Werke, deren Absicht „ primär un- polemisch “ ¹ ⁶ ist und die die Frage nach der Beziehung untereinander „ vor allem illustrativ, aber auch argumentativ “ ¹ ⁷ berühren. C. Delacroix-Besnier, die sich in ihren Studien hauptsächlich den im Osten angesiedelten Mendikantenorden in der Aus- einandersetzung mit der griechischen Kirche widmet, stellt die beiden Begriffe Po- lemik und Dialog einander gegenüber und definiert damit Polemik nicht als Methode, sondern als Medium der Kommunikation: Während der Dialog mündlich und in di- rektem Zusammentreffen stattfindet, handle es sich bei Polemik um die einseitige Positionierung in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber in verschriftlichter Form. ¹ ⁸ Insofern spricht sie an vielen Stellen von der Ausbildung und Etablierung Ebd. Vgl. S chabel 2011 , 85 – 128, hier: 89. A vvakumov 2002 , 18. Ebd., 117. Avvakumov zählt auch Humbert von Romans zu den Polemikern. Ebd. Ebd. D elacroix-Besnier 2011 , 151 – 168, hier: 151. 6 Einleitung: Ost-westliche Kontroverstheologie im 13. Jahrhundert