The Project Gutenberg etext of Sechs Vortr ̈ age, by Henri Poincar ́ e This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.net Title : Sechs Vortr ̈ age ber ausgew ̈ ahlte Gegenst ̈ ande aus der reinen Mathematik und mathematischen Physik Author : Henri Poincar ́ e Release Date : March 5, 2005 [EBook #15267] Language : German and French Character set encoding : TeX *** START OF PROJECT GUTENBERG’S SECHS VORTR ̈ AGE *** Produced by Joshua Hutchinson, K.F. Creiner and the Online Distributed Proo- freading Team. This file was produced from images generously made available by Cornell University. Mathematische Vorlesungen an der Universit ̈ at G ̈ ottingen: IV SECHS VORTR ̈ AGE ̈ UBER AUSGEW ̈ AHLTE GEGENST ̈ ANDE AUS DER REINEN MATHEMATIK UND DER MATHEMATISCHEN PHYSIK auf Einladung der Wolfskehl-Kommission der K ̈ oniglichen Gesellschaft der Wissenschaften gehalten zu G ̈ ottingen vom 22.–28. April 1909 von HENRI POINCAR ́ E Mitglied der Franz ̈ osischen Akademie Professor an der Facult ́ e des Sciences der Universit ̈ at Paris Mit 6 in den Text gedruckten Figuren Leipzig und Berlin Druck und Verlag von B. G. Teubner 1910 Pr ́ eface L’Universit ́ e de G ̈ ottingen a bien voulu m’inviter ` a traiter devant un sa- vant auditoire diverses questions d’Analyse pure, de Physique math ́ ematique, d’Astronomie th ́ eorique et de Philosophie math ́ ematique ; les conf ́ erences que j’ai faites ` a cette occasion ont ́ et ́ e recueillies par quelques ́ etudiants qui ont eu la bont ́ e de les r ́ ediger en corrigeant les nombreuses offenses que j’avais faites ` a la grammaire allemande. Je leur en exprime ici toute ma reconnaissance. Il convient ́ egalement que je m’excuse aupr` es du public de la bri` evet ́ e avec laquelle ces sujets sont trait ́ es. Je ne disposais pour exposer chacun d’eux que d’un temps tr` es court, et je n’ai pu la plupart du temps que donner une id ́ ee g ́ en ́ erale des resultats, ainsi que des principes qui m’ont guid ́ e dans les d ́ e- monstrations, sans entrer dans les d ́ etails mˆ emes de ces d ́ emonstrations. Inhaltsverzeichnis Erster Vortrag. Seite ̈ Uber die Fredholmschen Gleichungen 1 Zweiter Vortrag. Anwendung der Theorie der Integralgleichungen auf die Flutbewegung des Meeres 10 Dritter Vortrag. Anwendung der Integralgleichungen auf Hertzsche Wellen 18 Vierter Vortrag. ̈ Uber die Reduktion der Abelschen Integrale und die Theorie der Fuchsschen Funktionen 28 F ̈ unfter Vortrag. ̈ Uber transfinite Zahlen 36 Sechster Vortrag. La m ́ ecanique nouvelle 41 1 Erster Vortrag ̈ UBER DIE FREDHOLMSCHEN GLEICHUNGEN 2 Die Integralgleichung (1) φ ( x ) = λ b ∫ a f ( x, y ) φ ( y ) dy + ψ ( x ) wird bekanntlich aufgel ̈ ost durch die Integralgleichung derselben Art (1a) φ ( x ) = ψ ( x ) + λ b ∫ a ψ ( y ) G ( x, y ) dy, wobei G ( x, y ) = N ( x, y ; λ | f ) D ( λ | f ) gesetzt ist. N und D sind, wie aus der Fredholm schen Theorie bekannt ist, zwei ganze transzendente Funktionen in bezug auf λ . Um ihre Entwicklung explizite hinschreiben zu k ̈ onnen, bezeichne man, wie Fredholm , mit f ( x 1 , x 2 , ... x n y 1 , y 2 , ... y n ) diejenige n -reihige Determinante, deren allgemeines Element f ( x i , y k ) ist. Setzt man dann a n = b ∫ a b ∫ a . . . b ∫ a f ( x 1 , x 2 , ... x n x 1 , x 2 , ... x n ) dx 1 . . . dx n , so hat man D ( λ ) = ∞ ∑ 0 ( − λ ) n n ! a n Diese Gleichung formen wir um, indem wir die durch ”Iteration“ aus f ( x, y ) entstehenden Kerne heranziehen. Setzen wir zun ̈ achst f ( x α , x β ) f ( x β , x γ ) · · · f ( x λ , x μ ) f ( x μ , x α ) = f ( x α , x β , · · · x λ , x μ ) , so ist klar, daß f ( x 1 , x 2 , ... x n x 1 , x 2 , ... x n ) die Form hat ∑ ± ∏ f ( x α , . . . x μ ) , wie sofort aus der Entwicklung der Determinante hervorgeht. Sei nun b k = ∫ b a · · · ∫ b a f ( x α , · · · x μ ) dx α · · · dx μ , wobei k die Anzahl der Integrationsvariabeln x α , . . . x μ bedeutet, so k ̈ onnen wir offenbar auch setzen b k = b ∫ a f k ( x, x ) dx, 3 wenn unter f k ( x, y ) = b ∫ a · · · b ∫ a f ( x, x α ) f ( x α , x β ) · · · f ( x λ , y ) dx α · · · dx λ der “ k -fach iterierte Kern” verstanden wird. Wir haben den obigen Relationen zufolge jetzt a n = ∑ ± ∏ b k Beachten wir nun, daß gewisse unter den in einem Produkt ∏ b k enthaltenen b k einander gleich werden k ̈ onnen, daß ferner gewisse der Produkte ∏ b k selbst einander gleich sein werden, n ̈ amlich solche, die durch eine Permutation der x i auseinander entstehen, so ergibt eine kombinatorische Betrachtung f ̈ ur a n einen Ausdruck von der Form a n = ∑ aα + bβ + cγ + ... = n n ! a α b β c γ · · · a ! b ! c ! · · · [( − 1) α +1 b α ] a [( − 1) β +1 b β ] b [( − 1) γ +1 b γ ] c · · · und also D ( λ ) = ∑ a,b,c,... 1 a ! b ! c ! · · · ( − λ α b α α ) a ( − λ β b β β ) b ( − λ γ b γ γ ) c · · · d. h. (2) D ( λ ) = ∞ ∏ 1 e − λα bα α , also log D ( λ ) = − ∑ λ α b α α , (2a) D ′ ( λ ) D ( λ ) = − ∑ λ α − 1 b α (2b) Den Z ̈ ahler N ( x, y ; λ ) der Funktion G ( x, y ; λ ) kann man auf analoge Weise durch die Gleichung (3) N ( x, y ; λ ) = D ( λ ) · ∑ λ h f h +1 ( x, y ) definieren. Diese Gleichungen, welche sich ̈ ubrigens schon bei Fredholm finden, sind n ̈ utzlich als Ausgangspunkt f ̈ ur viele Betrachtungen, wie sich nun an einigen Beispielen zeigen wird. Die Fredholm sche Methode ist unmittelbar g ̈ ultig nur f ̈ ur solche Kerne f ( x, y ), die endlich bleiben. Wird der Kern an gewissen Stellen unendlich, so 4 kann dennoch der Fall eintreten, daß ein iterierter Kern, etwa f n ( x, y ), end- lich bleibt. Dann l ̈ aßt sich die Integralgleichung mit dem iterierten Kerne nach Fredholm behandeln, und Fredholm zeigt, daß die urspr ̈ ungliche Integral- gleichung (1) sich auf diese zur ̈ uckf ̈ uhren l ̈ aßt. Die Aufl ̈ osung wird wieder durch eine Formel der Gestalt (1a) gegeben, nur ist jetzt G = N 1 ( x, y ; λ ) D n ( λ ) zu setzen, wobei D n ( λ ) = D ( λ n | f n ) und N 1 ( x, y ; λ ) = D n ( λ ) · ∑ λ h f h +1 ( x, y ) ist. Dabei sind N 1 und D n wieder ganze transzendente Funktionen von λ ; jedoch zeigt es sich, daß sie einen gemeinsamen Teiler besitzen; wir wollen zusehen, wie sich dies aus unseren Formeln (2) bis (3) ergibt und wie wir eine Bruchdarstel- lung der meromorphen Funktion G erhalten, bei der Nenner und Z ̈ ahler ganze Funktionen ohne gemeinsamen Teiler sind. Aus unserer Annahme ̈ uber die iterierten Kerne folgt, daß die Koeffizienten b n , b n +1 , . . . endlich sind. Bilden wir nun in Anlehnung an Gleichung (2a) die Reihe K ( λ ) = − λ n b n n − λ n +1 b n +1 n + 1 − · · · , so wird dieselbe konvergieren. Jetzt setzen wir G ( x, y ; λ ) = e K ∑ λ h f h +1 e K und behaupten, in dieser Formel die gew ̈ unschte Darstellung zu haben. Um dies zu beweisen, haben wir zu zeigen, daß e K und e K · ∑ λ h +1 f h +1 ganze Funktionen sind. Zu diesem Zwecke bilden wir dK dλ . Man berechnet leicht − dK ( λ ) dλ = λ n − 1 b ∫ a N 1 ( x, x ) D n ( λ ) dx + k = n − 1 ∑ k =1 λ n + k − 1 b ∫ ∫ a N 1 ( x, y ) D n f k ( x, y ) dx dy. Hieraus schließt man zun ̈ achst, daß dK dλ eine meromorphe Funktion von λ ist; denn sie besitzt h ̈ ochstens Pole in den Nullstellen von D n ( λ ), d. h. in den Stellen λ = α · λ i wo α eine n -te Einheitswurzel und λ i ein Eigenwert des Kernes f n ist. Man kann nun zeigen, daß in diesen m ̈ oglichen Unendlichkeitsstellen das Cauchy sche Residuum von dK dλ gleich 1 oder 0 ist, je nachdem α = 1 oder α 6 = 1 genommen wird. Die hierzu geh ̈ orige Rechnung wollen wir jetzt nicht durchf ̈ uhren; man benutzt dabei den Umstand, daß das f ̈ ur λ = λ k genommene 5 Residuum von N 1 ( x,y ) D n gleich φ k ( x ) ψ k ( y ) ist, wo φ k , ψ k , die zu λ = λ k geh ̈ origen Eigenfunktionen, den Gleichungen b ∫ a φ k ( x ) f p ( y, x ) dx = λ − p k φ k ( y ) b ∫ a ψ k ( z ) f p ( z, y ) dz = λ − p k ψ k ( y ) gen ̈ ugen. Hieraus folgt, daß e K ( λ ) eine ganze transzendente Funktion ist, die nur an den Stellen λ = λ i verschwindet. Betrachtet man ebenso den Z ̈ ahler von G , so sieht man zun ̈ achst, daß er eine meromorphe Funktion von λ wird, die h ̈ ochstens an den Stellen λ = αλ i un- endlich werden kann. Die Betrachtung der Residuen zeigt jedoch, daß dies nicht geschieht, und somit, daß der Z ̈ ahler e K ∑ λ h f k +1 ebenfalls eine ganze tran- szendente Funktion ist. Damit ist die Reduktion des Fredholm schen Bruches geleistet. Die Reihenentwicklung f ̈ ur Z ̈ ahler und Nenner des Fredholm schen Bruches in dieser reduzierten Gestalt erhalten wir, indem wir auf die Bildungsweise von K ( λ ) zur ̈ uckgehen; setzen wir den Nenner e K ( λ ) = ∑ ( − λ ) n a ′ n n ! , so haben wir a ′ n = ∑ aα + bβ + cγ + ··· = n ± b a α b b β b c γ · · · , wobei zu setzen ist b α = 0 f ̈ ur α < n und b α = b ∫ a f α ( x, x ) dx f ̈ ur α ≥ n. In analoger Weise wird der Z ̈ ahler gebildet. Man muß also die Determinanten in der gew ̈ ohnlichen Weise entwickeln, aber diejenigen Glieder dieser Entwicklung wegwerfen, welche einen Faktor von der Form f ( x 1 , x 2 , . . . x k ) mit weniger als n Ver ̈ anderlichen enthalten. Unsere Formeln (2), (2a), (3) sind auch in dem Falle von Nutzen, daß außer dem Kern f ( x, y ) auch alle iterierten Kerne unendlich werden und die Fred- holm sche Methode also nun sicher versagt. Seien etwa die Zahlen b 1 , b 2 , . . . b n − 1 unendlich, b n , b n +1 , . . . endlich. Man kann dann jedenfalls die Reihe K ( λ ) bilden, fragen, ob sie konvergiert, und untersu- chen, ob e K ( λ ) wieder eine ganze Funktion darstellt. Unter der Voraussetzung, daß f ( x, y ) ein symmetrischer Kern ist, d. h. f ( x, y ) = f ( x, y ) , 6 ist mir dieser Nachweis gelungen. Ich benutze dabei die Relationen b n = ∑ λ − n i , die f ̈ ur n > 2 gelten m ̈ ussen, da das Geschlecht der Funktion D ( λ ) einem Ha- damard schen Satze zufolge kleiner als 2 ist. Den Beweis mitzuteilen fehlt jetzt die Zeit. F ̈ ur den Z ̈ ahler des Fredholm schen Bruches habe ich die Betrachtung nicht durchgef ̈ uhrt. Noch einige Worte ̈ uber die Integralgleichung 1. Art! Auf gewisse derartige Integralgleichungen kann man, wenn man sie zuvor auf Integralgleichungen der 2. Art zur ̈ uckf ̈ uhrt, die Fredholm sche Methode direkt anwenden. Es liege z. B. die Gleichung (1) + ∞ ∫ −∞ φ ( y )[ e ixy + λf ( x, y )] dy = ψ ( x ) ( −∞ < x < + ∞ ) vor, in der ψ ( x ) die gegebene, φ ( x ) aber die gesuchte Funktion ist, w ̈ ahrend der Bestandteil f ( x, y ) des Kerns eine gegebene Funktion ist, die gewissen, weiter unten angegebenen beschr ̈ ankenden Voraussetzungen unterworfen ist. F ̈ ur die gesuchte Funktion φ ( y ) machen wir den Ansatz φ ( y ) = + ∞ ∫ −∞ Φ( z ) e − izy dz, aus dem nach dem Fourier schen Integraltheorem, falls Φ( x ) die Bedingungen f ̈ ur dessen G ̈ ultigkeit erf ̈ ullt, umgekehrt 2 π Φ( x ) = + ∞ ∫ −∞ φ ( y ) e ixy dy folgt. Danach verwandelt sich (1) in 2 π Φ( x ) + λ + ∞ ∫ −∞ + ∞ ∫ −∞ Φ( z ) f ( x, y ) e − izy dz dy = ψ ( x ) oder 2 π Φ( x ) + λ + ∞ ∫ −∞ Φ( z ) K ( x, z ) dz = ψ ( x ) , wenn (2) K ( x, z ) = + ∞ ∫ −∞ f ( x, y ) e − izy dy 7 gesetzt wird, und damit sind wir bereits bei einer Integralgleichung 2. Art an- gelangt. Der Kern (2) gestattet die Anwendung der Fredholm schen Methode z. B. dann, wenn f ( x, y ) und ∂f ( x,y ) ∂y gleichm ̈ aßig in x f ̈ ur y = ±∞ gegen 0 konvergieren und die Ungleichung ∂ 2 f ∂y 2 < M 1 + y 2 statthat, in der M eine von x und y unabh ̈ angige Konstante bedeutet. Von ψ ( x ) gen ̈ ugt es etwa, anzunehmen, daß es nur endlichviele Maxima und Minima besitzt und im Intervall −∞ · · · + ∞ absolut integrierbar ist. Wir k ̈ onnen dieselbe Methode auf eine Reihe ψ ( x ) = ∑ ( m ) A m [ e imx + λθ m ( x ) ] anwenden; das Problem ist hier also, wenn ψ ( x ) und die Funktionen θ m ( x ) gegeben sind, die Koeffizienten A m so zu berechnen, daß die hingeschriebene Entwicklung g ̈ ultig ist. Handelte es sich soeben um eine Erweiterung des Fou- rierschen Integraltheorems , so haben wir es jetzt mit einer Verallgemeinerung der Fourierschen Reihe zu tun. Setzen wir φ ( z ) in der Form φ ( z ) = ∑ ( m ) A m e imz ; 2 πA m = 2 π ∫ 0 φ ( z ) e − imz dz an, so bekommen wir ψ ( x ) = φ ( x ) + λ 2 π 2 π ∫ 0 φ ( z ) · ∑ ( m ) e − imz θ m ( x ) · dz. Von der Reihe, welche hier als Kern fungiert, m ̈ ussen wir voraussetzen, daß sie absolut und gleichm ̈ aßig konvergiert, d. h. wir m ̈ ussen annehmen, daß (3) ∑ ( m ) | θ m ( x ) | gleichm ̈ aßig konvergiert. Setzen wir beispielsweise λ = 1 , θ m ( x ) = e iμ m x − e imx , so erhalten wir eine Entwicklung der Form ψ ( x ) = ∑ ( m ) A m e iμ m x 8 Die Bedingung (3) ist erf ̈ ullt, wenn wir die absolute Konvergenz von ∑ ( m ) ( μ m − m ) voraussetzen. Endlich betrachten wir noch die Gleichung (4) 2 π ∫ 0 φ ( y )[ e ixy + λf ( x, y )] dy = ψ ( x ) , ( −∞ < x < + ∞ ) welche sich von (1) dadurch unterscheidet, daß das Integral nicht in unendlichen, sondern in endlichen Grenzen zu nehmen ist. In diesem Fall darf ψ ( x ) nicht willk ̈ urlich gew ̈ ahlt werden: es muß, falls f ( x, y ) holomorph ist, sicher eine ganze transzendente Funktion sein, wenn die Gleichung (4) eine Aufl ̈ osung besitzen soll. Dagegen d ̈ urfen die Werte ψ ( m ) dieser Funktion ψ f ̈ ur alle ganzen Zahlen m im wesentlichen willk ̈ urlich angenommen werden. Setze ich n ̈ amlich φ ( z ) = ∑ ( m ) A m e − imz , wo 2 πA m = ∫ 2 π 0 φ ( y ) e imy dy ist, so verwandelt sich (4), f ̈ ur x = m genommen, in 2 πA m + λ ∑ ( p ) A p 2 π ∫ 0 e − ipy f ( m, y ) dy = ψ ( m ) Wir gelangen so zu einem System unendlich vieler linearer Gleichungen mit unendlich vielen Unbekannten, wie sie von Hill , H. v. Koch , Hilbert u. a. untersucht worden sind. Die L ̈ osung dieses Systems ist, falls wir f ̈ ur die Reihe (5) ∑ ( p,m ) 2 π ∫ 0 e − ipy f ( m, y ) dy die Voraussetzung absoluter und gleichm ̈ aßiger Konvergenz machen, der Fred- holm schen L ̈ osung der Integralgleichungen durchaus analog und stellt sich wie diese als meromorphe Funktion des Parameters λ dar. Die gleichm ̈ aßige und ab- solute Konvergenz von (5) ist aber, wie sich durch partielle Integration ergibt, sichergestellt, falls die Summe ∑ ( m ) f ′′ ( m, z ) oder das Integral + ∞ ∫ −∞ f ′′ ( x, z ) dx 9 absolut und gleichm ̈ aßig konvergiert. Man sieht die ̈ Ahnlichkeit und den Unterschied der beiden F ̈ alle (1) und (4) deutlich: je nachdem die Integrationsgrenzen unendlich oder endlich sind — oder auch, je nachdem der Kern in den Integrationsgrenzen keine oder eine gen ̈ ugend hohe Singularit ̈ at aufweist —, darf man die “gegebene” Funktion im wesentli- chen willk ̈ urlich w ̈ ahlen oder ihr nur eine zwar unendliche, jedoch diskrete Reihe von Funktionswerten vorschreiben. Es w ̈ are wohl nicht ohne Interesse, den hier zur Geltung kommenden Unterschied mit Hilfe der Iteration der Kerne n ̈ aher zu betrachten. 10 Zweiter Vortrag ANWENDUNG DER THEORIE DER INTEGRALGLEICHUNGEN AUF DIE FLUTBEWEGUNG DES MEERES 11 Ich will heute ̈ uber einige Anwendungen der Integralgleichungstheorie auf die Flutbewegung berichten, die ich im letzten Semester gelegentlich einer Vorlesung ̈ uber diese Erscheinung gemacht habe. Die Differentialgleichungen des Problems sind die folgenden: (1) { a) k 2 ∑ ∂ ∂x ( h 1 ∂φ ∂x ) + k 2 ( ∂φ ∂x ∂h 2 ∂y − ∂φ ∂y ∂h 2 ∂x ) = ζ, b) g · ζ = − λ 2 φ + Π + W. Wir stellen uns dabei vor, daß die Kugeloberfl ̈ ache der Erde etwa durch stereographische Projektion konform auf die ( x, y )-Ebene bezogen sei; dann be- deute k ( x, y ) das ̈ Ahnlichkeitsverh ̈ altnis der Abbildung zwischen Ebene und Kugel. Die L ̈ osung des Flutproblems denken wir uns durch periodische Funktio- nen der Zeit t gegeben, und wir nehmen speziell an, daß unsere Gleichungen (1) einem einzigen periodischen Summanden von der Form A cos( λt + α ) entspre- chen, sodaß also λ in unseren Gleichungen die Schwingungsperiode bestimmt; es ist bequem, statt des Kosinus komplexe Exponentialgr ̈ oßen einzuf ̈ uhren und also etwa anzunehmen, daß alle unsere Funktionen die Form e iλt · f ( x, y ) haben; der reelle und imagin ̈ are Teil dieser komplexen L ̈ osungen stellt uns dann die physikalisch brauchbaren L ̈ osungen dar. φ ( x, y ) ist definiert durch − λ 2 φ = V − p, wo V das hydrostatische Potential, p der Druck ist. Ist h die Tiefe des Meeres, so definieren wir h 1 = − hλ 2 − λ 2 + 4 ω 2 cos 2 θ , h 2 = − 2 ωi cos θ λ h 1 , ( i = √− 1) wo θ die Colatitude des zu ( x, y ) geh ̈ origen Punktes der Erde, ω die Winkel- geschwindigkeit der Erde bedeutet. ζ ( x, y ) ist die Differenz zwischen der Dicke der mittleren und der gest ̈ orten Wasserschicht, d. h. ζ > 0 entspricht der Ebbe, ζ < 0 der Flut. g ist die Beschleunigung der Schwerkraft, W das Potential der St ̈ orungskr ̈ afte, Π ist das Potential, welches von der Anziehung der Wassermas- sen von der Dicke ζ herr ̈ uhrt. Ist z. B. ζ = ∑ A n X n , so wird Π = ∑ 4 πA n 2 n + 1 X n , 12 wo die X n die Kugelfunktionen sind. Die Einheiten sind so gew ̈ ahlt, daß die Dichte des Wassers gleich 1, der Radius der Erdkugel gleich 1 ist. Die Gr ̈ oße Π kann man meistens vernachl ̈ assigen; tut man dies, so erh ̈ alt man sofort f ̈ ur φ eine partielle Differentialgleichung 2. Ordnung. Um aus der- selben φ zu bestimmen, muß man gewisse Grenzbedingungen vorschreiben. Wir unterscheiden da zwei F ̈ alle: 1. Der Rand des Meeres ist eine vertikale Mauer; dann wird ∂φ ∂n + 2 ωi λ cos θ · ∂φ ∂s = 0 , wobei ∂φ ∂n , ∂φ ∂s die normale bzw. tangentiale Ableitung von φ ist. 2. Der Rand des Meeres ist nicht vertikal; dann ist dort h = 0 , also h 1 = h 2 = 0 Die Grenzbedingung lautet hier, daß φ am Rande regul ̈ ar und endlich bleiben soll. Um auf diese Probleme die Methoden der Integralgleichungen anwenden zu k ̈ onnen, erinnern wir uns zun ̈ achst der allgemeinen ̈ Uberlegungen, wie sie Hil- bert und Picard f ̈ ur Differentialgleichungen anstellen. Sei D ( u ) = f ( x, y ) eine partielle Differentialgleichung 2. Ordnung f ̈ ur u , die elliptischen Typus hat, so ist eine, gewisse Grenzbedingungen erf ̈ ullende, L ̈ osung u darstellbar in der Form u = ∫ f ′ G dσ ′ , wobei G ( x, y ; x ′ , y ′ ) die zu diesen Randbedingungen geh ̈ orige Green sche Funk- tion des Differentialausdruckes D ( u ) ist; f ′ ist f ( x ′ , y ′ ), dσ ′ = dx ′ · dy ′ , und das Integral ist ̈ uber dasjenige Gebiet der ( x ′ , y ′ )-Ebene zu erstrecken, f ̈ ur welches die Randwertaufgabe gestellt ist. Um die Green sche Funktion zu berechnen und so die Randwertaufgabe zu l ̈ osen, setze man D ( u ) = D 0 ( u ) + D 1 ( u ) , wo D 1 ( u ) = a ∂u ∂x + b ∂u ∂y + cu ein linearer Differentialausdruck ist. Nehmen wir nun an, wir kennen die Green - sche Funktion G 0 von D 0 ( u ), so haben wir die L ̈ osung von D ( φ ) = f in der Form φ = ∫ G 0 ( f ′ − a ′ ∂φ ′ ∂x ′ − b ′ ∂φ ′ ∂y ′ − c ′ φ ′ ) dσ ′ 13 Schaffen wir hieraus durch partielle Integrationen die Ableitungen ∂φ ′ ∂x ′ , ∂φ ′ ∂y ′ her- aus, so werden wir direkt auf eine Integralgleichung zweiter Art f ̈ ur φ gef ̈ uhrt, die wir nach der Fredholm schen Methode behandeln k ̈ onnen, wenn ihr Kern nicht zu stark singul ̈ ar wird. Bei unserem Probleme der Flutbewegung tritt nun gerade dieser Fall ein; der Kern wird so hoch unendlich, daß die Fredholm schen Methoden versagen; ich will Ihnen jedoch zeigen, in welcher Weise man diese Schwierigkeiten ̈ uberwinden kann. Betrachten wir erst den Fall der ersten Grenzbedingung ∂φ ∂n + C ∂φ ∂s = 0 , wo C eine gegebene Funktion von x, y ist. Die Differentialgleichung, die sich bei Vernachl ̈ assigung von Π ergibt, hat die Form A ∆ φ + D 1 = f, und wir stehen daher vor der Aufgabe, die Gleichung ∆ φ = F mit unserer Randbedingung zu integrieren. Diese Aufgabe ist ̈ aquivalent mit der, eine im Innern der Randkurve regul ̈ are Potentialfunktion V , die am Rande die Bedingung ∂V ∂n + C ∂V ∂s = 0 erf ̈ ullt, als Potential einer einfachen Randbelegung zu finden. Bezeichnet s die Bogenl ̈ ange auf der Randkurve von einem festen Anfangspunkte bis zu einem Punkte P , s ′ die bis zum Punkte P ′ , so erh ̈ alt man f ̈ ur V eine Integralgleichung; jedoch wird der Kern K ( s, s ′ ) derselben f ̈ ur s = s ′ von der ersten Ordnung unendlich, und es ist daher in dem Integrale ∫ B A K ( x, y ) f ( y ) dy der sogenannte Cauchy sche Hauptwert zu nehmen, der definiert ist als das arithmetische Mittel aus den beiden Werten, die das Integral erh ̈ alt, wenn ich es in der komplexen y -Ebene unter Umgehung des Punktes y = x das eine mal auf einem Wege AM B oberhalb, das andere mal auf einem Wege AM ′ B unterhalb der reellen Achse f ̈ uhre. Anstatt die Methoden zu benutzen, die Kellogg zur Behandlung solcher unstetiger Kerne angibt, will ich einen andern Weg einschlagen. Wir betrachten neben der Operation S ( f ( x ) ) = ∫ K ( x, y ) f ( y ) dy die iterierte S 2 ( f ( x ) ) = ∫ ∫ K ( x, z ) K ( z, y ) f ( y ) dz dy, 14 bei der ebenfalls das Doppelintegral als Cauchy scher Hauptwert zu nehmen ist; dies soll folgendermaßen verstanden werden: wir betrachten f ̈ ur die Variable z die Wege AM B , AM ′ B , f ̈ ur y die Wege AP B , AP ′ B , die zueinander liegen m ̈ ogen, wie in der Figur angedeutet ist. Dann bilden wir die 4 Integrale, die sich ergeben, wenn ich einen Weg f ̈ ur z mit einem f ̈ ur y kombiniere; z : AM B , AM ′ B , AM B , AM ′ B y : AP B , AP B , AP ′ B , AP ′ B , und nehmen aus diesen 4 Integralen das arithmetische Mittel. Ziehen wir noch 2 Wege AQB , AQ ′ B wie in der Figur, so sehen wir, daß sich in der ersten Wegkombination der Weg AM B f ̈ ur z ersetzen l ̈ aßt durch AQB + AM BQA , in der zweiten AM ′ B durch AQ ′ B , in der dritten AM B durch AQB und in der vierten AM ′ B durch AQ ′ B + AM ′ BQ ′ A , sodaß wir jetzt die folgenden Wegkombinationen haben: z y AQB + AM BQA AP B AQ ′ B AP B AQB AP ′ B AQ ′ B + AM ′ BQ ′ A AP ′ B F ̈ uhren wir jetzt die Integrale aus und wenden den Residuenkalk ̈ ul auf die geschlossenen Wege an, so zeigt sich, daß unsere Operation S 2 ( f ( x ) ) , die ei- ner Integralgleichung 1. Art zugeh ̈ ort, ̈ ubergeht in eine Operation, welche durch die linke Seite einer Integralgleichung 2. Art gegeben ist, deren Kern ̈ uberall endlich bleibt; wenn wir zuerst die vier Kombinationen von den Wegen AQB und AQ ′ B mit den Wegen AP B und AP ′ B nehmen, so bekommen wir ein doppeltes Integral, welches nicht unendlich werden kann, da auf diesen Wegen x 6 = y und y 6 = z . Betrachten wir jetzt die beiden Wegkombinationen AM BQA , AP B und AM ′ BQ ′ A , AP ′ B , oder AM BQA , AP B und AQ ′ BM ′ A, BP ′ A , so ist leicht zu sehen, daß z eine geschlossene Kurve AM BQA oder AQ ′ BM ′ A um y beschreibt, und daß gleichzeitig y eine geschlossene Kurve AP BP ′ A um x beschreibt. Wir d ̈ urfen also die Residuenmethode anwenden, und wir bekom- men ein Glied, wo die unbekannte Funktion ohne Integralzeichen auftritt, wie in der linken Seite einer Integralgleichung zweiter Art. Indem wir so auf ei- ne durchaus regul ̈ are Integralgleichung 2. Art gef ̈ uhrt werden, die der Fred- holm schen Methode zug ̈ anglich ist, haben wir die Schwierigkeit bei unserem 15 Problem ̈ uberwunden. Nur ein Punkt bedarf noch der Erl ̈ auterung: wenn x und y gleichzeitig in einen der Endpunkte A, B des Intervalles hineinfallen, so versagen zun ̈ achst die obigen Betrachtungen, und es scheint, als w ̈ aren wir f ̈ ur diese Stellen der Endlich- keit unseres durch Iteration gewonnenen Kernes nicht sicher. Dieses Bedenken wird jedoch bei unserm Problem dadurch beseitigt, daß der Rand des Meeres, der das Integrationsintervall darstellt, geschlossen ist, woraus sich ergibt, daß die Punkte A, B keine Ausnahmestellung einnehmen k ̈ onnen. Durch diese ̈ Uberlegungen ist also der Fall der vertikalen Meeresufer erledigt. Wir betrachten den zweiten und schwierigeren Fall, daß das Ufer des Meeres keine vertikale Mauer ist. Dann ist am Rande h = h 1 = h 2 = 0 Da die Glieder 2. Ordnung unserer Differentialgleichung f ̈ ur φ durch den Aus- druck h 1 ∆ φ gegeben sind, so ist die Randkurve jetzt eine singul ̈ are Linie f ̈ ur die Differenti- algleichung. Außerdem werden h 1 , h 2 gem ̈ aß ihrer Definition f ̈ ur die durch die Gleichung 4 ω 2 cos 2 θ = λ 2 gegebene kritische geographische Breite θ unendlich. Um trotz dieser Singula- rit ̈ aten, welche das Unendlichwerden des Kerns K zur Folge haben, das Problem durchzuf ̈ uhren, bin ich gezwungen gewesen, das reelle Integrationsgebiet durch ein komplexes zu ersetzen, indem ich y in eine komplexe Ver ̈ anderliche y + iz verwandle; x hingegen bleibt reell. Wir deuten xyz als gew ̈ ohnliche rechtwinklige Koordinaten in einem dreidi- mensionalen Raum und zeichnen den Durchschnitt AB einer Ebene x = konst. mit dem in der ( x, y )-Ebene gelegenen Meeresbecken. Entspricht C der kriti- schen geographischen Breite, so ist es nicht schwer, diese Singularit ̈ at durch Ausweichen in das komplexe Gebiet zu umgehen. W ̈ ahlen wir ferner irgend zwei Punkte D, E zwischen A und B und umgeben A , von D ausgehend und dort- hin zur ̈ uckkehrend, mit einer kleinen Kurve und verfahren entsprechend bei B — r ̈ aumlich gesprochen: umgeben wir die Randkurve mit einem ringf ̈ ormigen Futteral —, so stellen wir uns jetzt das Problem, unsere Differentialgleichung so zu integrieren, daß φ , wenn wir seine Wert ̈ anderung l ̈ angs der den Punkt 16 A umgebenden Kurve verfolgen, mit demselben Wert nach D zur ̈ uckkehrt, mit dem es von dort ausging. Diese “ver ̈ anderte” Grenzbedingung ist mit der ur- spr ̈ unglichen, welche verlangte, daß φ am Rande (im Punkte A ) endlich bleibt und sich regul ̈ ar verh ̈ alt, ̈ aquivalent. Zwar sind die zu der neuen und der alten Grenzbedingung geh ̈ origen Green schen Funktionen G , G 1 nicht identisch, wohl aber die den betreffenden Randbedingungen unterworfenen L ̈ osungen von (1) D ( u ) = f. Hiervon ̈ uberzeugen wir uns leichter im Falle nur einer Variablen y ; dann erge- ben die Gleichungen u = ∫ G ( y, y ′ ) f ( y ′ ) dy ′ , u 1 = ∫ G 1 ( y, y ′ ) f ( y ′ ) dy ′ durch Anwendung des Cauchy schen Integralsatzes, daß u − u 1 = 0 ist. Um jetzt das Problem (1) zu behandeln, ziehe ich die vorige Methode her- an, die hier aber in zwei Stufen zur Anwendung kommt, da unsere ver ̈ anderte Randbedingung f ̈ ur die Gleichung ∆ u = f unzul ̈ assig ist. 1 Wir k ̈ onnen setzen D ( u ) = ∆( h 1 u ) + D 1 ( u ) + D 2 ( u ); dabei soll D 1 ( u ) nur die Glieder 1. Ordnung ∂u ∂x , ∂u ∂y , D 2 ( u ) aber nur u selbst enthalten. Indem wir ∆( v ) = f unter der Randbedingung v = 0 integrieren, erhalten wir f ̈ ur u = v h 1 eine am Rande endliche und regul ̈ are Funktion, f ̈ ur welche ∆( h 1 u ) ≡ D 0 ( u ) = f ist. Darauf integrieren wir D 0 ( u ) + D 2 ( u ) = f unter Zugrundelegung der urspr ̈ unglichen Grenzbedingung nach der gew ̈ ohn- lichen Methode. Der in der hierbei zu benutzenden Integralgleichung auftreten- de Kern ist zwar unendlich, aber von solcher Ordnung, daß sich die Singularit ̈ at durch Iteration des Kerns beseitigen l ̈ aßt: die partielle Integration, welche Glie- der von einer zu hohen Ordnung des Unendlichwerdens einf ̈ uhren w ̈ urde, bleibt uns an dieser Stelle erspart. Das damit bew ̈ altigte Integrationsproblem ist aber der Integration von D 0 ( u ) + D 2 ( u ) = f unter der ver ̈ anderten Grenzbedingung ̈ aquivalent, und infolgedessen k ̈ onnen wir jetzt die zweite Stufe ersteigen und auch die L ̈ osung von D ( u ) ≡ ( D 0 ( u ) + D 2 ( u ) ) + D 1 ( u ) = f 1 Diese Randbedingung ist nicht von solcher Art, daß sie eine bestimmte L ̈ osung von ∆( u ) = f auszeichnet.