Bernadette Malinowski Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie Literatur- und Naturwissenschaften Publikationen des Erlangen Center for Literature and Natural Science/ Erlanger Forschungszentrums für Literatur und Naturwissenschaften (ELINAS) Herausgegeben von Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke Editorial Board Jay Labinger, Bernadette Malinowski, Arkady Plotnitsky, Dirk Vanderbeke Band 6 Bernadette Malinowski Literarische Wissenschafts- geschichte und Wissenschaftstheorie Kehlmann – Del Giudice – Serres ISBN 978-3-11-063974-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064238-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063982-7 ISSN 2365-3434 DOI https://doi.org/10.1515/9783110642384 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivatives 4.0 International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Library of Congress Control Number: 2020946515 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Umschlagabbildung: Photo Researchers / Science History Images / Alamy Stock Foto Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com Inhalt Einleitung | 1 1 Naturwissenschaft als Provokation der Literatur | 12 2 Poetica scientiae als Provokation der Literaturwissenschaft | 18 3 Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse | 21 4 Zum Gang der Untersuchung | 34 Teil I: Historische und systematische Grundlegungen 1 Literatur und Wissenschaft: Problematisierung einer Leitdifferenz | 39 1.1 Epistemologische Ästhetisierung: Naturwissenschaftliche, wissenschaftstheoretische und -historische Grenzöffnungen | 39 1.1.1 „Alle Wissenschaft ist Fiktion“? – Der Antipositivismus der Neuen Physik | 39 1.1.2 Der Antipositivismus der Wissenschaftsgeschichte und -theorie | 55 1.1.3 Wissenschaftsästhetik als Kritik und Programm – Impulse für eine Poetik und Hermeneutik der poetica scientiae | 69 1.2 Metapher und Begriff – Wissenschaftskritik als Sprachkritik | 74 2 Wissenschaft als Literatur: Poetik und Hermeneutik der literarischen Transformation wissenschaftlicher Diskurse | 113 2.1 Zum Transfer naturwissenschaftlicher Diskurse ins Medium der Literatur | 114 2.1.1 Komponenten des Transfers: Wiederholung und Transgression | 114 2.1.2 Transferstrategien: Akte des Fingierens und Intertextualität | 117 2.2 Lector doctus – Die Rolle des Rezipienten | 136 VI | Inhalt Teil II: Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichtsschreibung 1 Literarische Wissenschaftsgeschichtsschreibung zwischen Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte | 149 1.1 Kehlmanns wissenschaftshistorischer Roman Die Vermessung der Welt als Sonderfall des historischen Romans | 149 1.2 Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte | 151 2 Zur Lektüre und Analyse von Kehlmanns wissenschaftshistorischem Roman | 160 3 Die Vermessung der Welt zwischen fiktionaler Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftshistoriographischer Metafiktion | 166 3.1 Struktur als erzählte Geschichte – Erste Textvermessungen | 166 3.2 ‚Wissenschaft als Lebensform‘ – Zwei historische Skizzen | 176 3.2.1 Enzyklopädisches Weltgemälde: Die poetica scientiae Alexander von Humboldts | 176 3.2.2 Formelhafte Verdichtungen: Carl Friedrich Gauß | 187 3.3 Fiktionalisierung ‚fiktionaler‘ Strategien der Wissenschaftshistoriographie und Wissenschaftsbiographie | 202 3.3.1 Gattungsformale Strategie: Anekdotisches Erzählen | 202 3.3.2 Metahistoriographische und ästhetische Selbstreflexionen | 222 3.4 Fiktionalisierte Mathematikgeschichte (am Beispiel der nichteuklidischen Geometrie) | 236 3.4.1 Gauß und die nichteuklidische Geometrie | 236 3.4.2 Mathesis in poesis: Literarisierte Geometrie | 255 Inhalt | VII Teil III: Literarische Epistemologie 1 Literarische Epistemologie | 279 2 Daniele del Giudice: Atlante occidentale | 282 2.1 „La scomparsa delle cose“ – De- bzw. An-Ästhetisierung und Fiktionalisierung bzw. Poietisierung der Wirklichkeit | 282 2.1.1 Poiesis der ‚Natur‘ – Zur technologischen Konstruktion von Sichtbarkeiten | 283 2.2 Epsteins ästhetische Theorien | 302 2.2.1 Epsteins Ästhetik der Moderne | 303 2.2.2 Epsteins poetologisches Experiment | 312 2.3 Widerstreit: Moderne Anthropologie und condition postmoderne | 338 2.4 Poetologie als Epistemologie: Die doppelte Ästhetik des Atlante occidentale | 353 3 Michel Serres’ ‚Epistemopoetik‘ | 364 3.1 Philosophische Erkundungen: Epistemologische Paradoxien | 364 3.2 Erkundungen zu einer allgemeinen Epistemologie | 376 3.2.1 Wo denken? – Ethik des Rückzugs | 376 3.2.2 Wie denken? – I. Hermetische Methode | 379 3.2.3 Wie denken? – II. Von der hermetischen zur mathematischen Methode | 386 3.2.4 Wie denken? – III. Passagen zum Passagen-Denken: Enzyklopädik und Epistemologie | 412 3.2.5 Was denken? – Konfigurationen des ‚Dritten‘ | 427 3.3 Erzählte Epistemologie: Détachement. Apologue | 456 Schluss | 493 Literaturverzeichnis | 505 Register | 531 Danksagung| 537 Einleitung Der Shakespeare-Forscher, der nie eine Seite von Darwin gelesen hat, der Maler, dem schon schwarz vor Augen wird, wenn von komplexen Zahlen die Rede ist, der Psychoana- lytiker, der nichts von den Resultaten der Insektenforschung weiß, und der Dichter, der keinem Neurologen zuhören kann, ohne einzuschlafen – das sind doch unfreiwillig komi- sche Figuren, nicht weit entfernt von einer Art selbstverschuldeter Verblödung!1 Diese höchst provozierenden, an die Adresse der Geisteswissenschaftler und Künstler gleichermaßen gerichteten Sätze aus der Feder von Hans Magnus En- zensberger führen mitten hinein in das Themenfeld ‚Literatur und Naturwissen- schaft‘, in dem diese Studie verortet ist. Mit der bloßstellenden Rede von der „selbstverschuldeten Verblödung“, die unweigerlich an Kants Definition von Aufklärung als der ‚Herausführung des Menschen aus seiner selbstverschulde- ten Unmündigkeit‘ erinnert, klagt Enzensberger genau jene „andere Bildung“ ein, deren komplexe Inhalte der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer in seinem 2001 erschienenen Buch Die andere Bildung. Was man von den Naturwis- senschaften wissen sollte für den naturwissenschaftlich ungebildeten Leser aufbereitet und zusammengestellt hat. Ausdrücklich will Fischer sein Buch als Antwort auf den „Hochmut [der] literarisch und philosophisch Gebildeten gegenüber den Leistungen der Naturwissenschaften“2 verstanden wissen, wie er ihm exemplarisch in Dietrich Schwanitz’ zwei Jahre zuvor publizierten Titel Bildung. Alles, was man wissen muß entgegenschlägt. In der Tat kann man Schwanitz einen sehr reduzierten Bildungsbegriff vorwerfen, wenn er pole- misch verlauten lässt: Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, aber wenig zum Verständnis der Kultur bei. [...] [Und] so bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.3 || 1 Hans Magnus Enzensberger: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa, Frankfurt/M. 2002, S. 262. – Einzelne Passagen der Einleitung sowie der historisch-systema- tischen Grundlegungen sind meinem Beitrag „Literatur und Naturwissenschaft“, in: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. v. Hans Vilmar Geppert u. Hubert Zapf, Bd. II, Tübingen, Basel 2005, S. 21–47, entnommen. 2 Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, München 2001, S. 10. 3 Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muß, Frankfurt/M. 1999, S. 482. Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-001 2 | Einleitung Der hier ausgetragene Streit um die Definition dessen, was Bildung im Kern umfassen sollte, ist indessen nichts anderes als eine Fortsetzung jener querelle des sciences et des belles lettres, wie sie exemplarisch bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert von Thomas H. Huxley und Matthew Arnold und im 20. Jahr- hundert von Charles P. Snow und Frank R. Leavis ausgefochten wurde.4 In seinem 1880 gehaltenen Vortrag zur Eröffnung des Mason’s Science Col- lege weist Huxley mit Recht auf die lange Vorgeschichte in der Auseinanderset- zung zwischen ‚science and culture‘ hin. Ohne diese „long series of battles“5 selbst näher zu kommentieren, führen die Spuren von Huxleys Kritik an der Dominanz der literarisch-humanistischen Fächer im englischen Bildungskanon bis ins Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts zurück.6 Besonders zu erinnern ist in diesem Zusammenhang Condorcets Rapport et projet de décret sur l’organisation générale de l’instruction publique vom 20. und 21. April 1792. || 4 „In the last century“, so diagnostiziert Huxley 1880 in seinem Vortrag zur Eröffnung des Mason’s Science Colleges in Birmingham, „the combatants were the champions of ancient literature, on the one side, and those of modern literature on the other, but, some thirty years ago, the contest became complicated by the appearance of a third army, ranged around the banner of physical science“ (Thomas H. Huxley: Science and Culture, in: Essays: English and American, Bd. 28, hrsg. v. Charles W. Eliot, New York 1910, Online-Edition 2001, http://www.bartleby.com/28/9.html; letzter Zugriff: 5.04.08). – Vgl. hierzu auch den Abschnitt Die Two Cultures Debate und ihre Vorgeschichte im 19. Jahrhundert in Pethes’ überaus konzisem Überblick zur Vorgeschichte über den „jüngsten Forschungsboom zur Wechselbeziehung zwischen Literatur und Naturwissenschaft“: Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsge- schichte. Ein Forschungsbericht, in: IASL 28 (2003), S. 181–231, S. 186–191 (Zitat S. 186). 5 Huxley: Science and Culture. 6 Die Diskussion um die Anfänge der Zwei-Kulturen-Debatte kann hier nicht geführt werden. Nach Toulmins Einschätzung reicht die Trennung bis zu Aristoteles’ Unterscheidung zwischen einer abbildenden, ‚eikstatischen‘, im Feld des Wissens angesiedelten und einer phantasti- schen Kunst zurück und würde im exemplarisch-figurativen Gegensatz des (zeitlich früheren) humanistisch-literarischen Montaigne und des (zeitlich späteren) rationalistisch-abstrakten Descartes epochal zur Geltung kommen (vgl. Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/M. 1994, u.a. S. 49, 79 f. u. 138). Valéry macht Pascals Diffe- renzierung zwischen einem „esprit de géometrie“ und einem „esprit de finesse“ zum Auslöser der Debatte (vgl. Paul Valéry: Anmerkung und Abschweifung, in: ders.: Leonardo da Vinci, Frankfurt/M. 1998, S. 62–101, hier S. 75; Sind Geistes- und Naturwissenschaften grundver- schieden?, in: ders.: Werke, Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, hrsg. v. Jürgen Schmidt- Radefeldt, Frankfurt/M. 1995, S. 390–392). – Vgl. auch Barck, der als „urszenisches Ereignis dieser Ausdifferenzierung und Trennung von Wissensbereichen“ eine 1767 an der preußischen Akademie der Wissenschaften geführte Debatte anführt (Karlheinz Barck: Literatur/Denken. Über einige Relationen zwischen Literatur und Wissenschaft, in: „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Bernhard J. Dotzler u. Sigrid Weigel, München 2005, S. 293–302, hier S. 297). Einleitung | 3 Gegen den Mainstream seiner Zeit (und auch entsprechend erfolglos) entwirft Condorcet darin ein Erziehungs- und Bildungsprogramm, das den Primat der humanistischen Fächer zugunsten eines soliden wissenschaftlichen Studiums verwirft. Plusieurs motifs ont déterminé l’espèce de préférence accordée aux sciences mathé- matiques et physiques. D’abord, pour les hommes qui ne se dévouent point à de longues méditations, qui n’approfondissent aucun genre de connaissances, l’étude même élémen- taire de ces sciences est le moyen le plus sûr de développer leurs facultés intellectuelles, de leur apprendre à raisonner juste, à bien analyser leurs idées. On peut sans doute, en s’appliquant à la littérature, à la grammaire, à l’histoire, à la politique, à la philosophie en général, acquérir de la justesse, de la méthode, une logique saine et profonde, et cepend- ant ignorer les sciences naturelles. De grands exemples l’ont prouvé ; mais les connais- sances élémentaires dans ces mêmes genres n’ont pas cet avantage ; elles emploient la raison, mais elles ne la formeraient pas. C’est que dans les sciences naturelles les idées sont plus simples, plus rigoureusement circonscrites ; c’est que la langue en est plus par- faite, que les mêmes mots y experiment plus exactement les mêmes idées. Les éléments y sont une véritable partie de la science, resserrée dans d’étroites limites, mais complète en elle-même.7 || 7 Jean-Antoine-Nicolas de Caritat Condorcet: Rapport et projet de décret sur l’organisation générale de l’instruction publique [20./21.4.1792], in: ders.: Œuvres. Nouvelle impression en facsimilé de l’édition Paris 1847–1849, Bd. VII, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, S. 449–573, hier S. 468 f. „Mehrere Gründe haben uns bewogen, den mathematischen Disziplinen und Natur- wissenschaften einen gewissen Vorrang zu geben. Zuvorderst ist für die Menschen, die sich nicht langen Betrachtungen hingeben, die sich in kein Wissensgebiet gründlicher vertiefen, eine auch nur elementare Beschäftigung mit jenen Wissenschaften das sicherste Mittel dazu, dass sie ihre Gedanken ordentlich gliedern. Mann kann zweifellos bei der Beschäftigung mit Literatur, Grammatik, Geschichte, Politik und Philosophie im allgemeinen sich Genauigkeit, geordnetes Vorgehen, eine gesunde und gründliche Logik aneignen und dabei mit den Natur- wissenschaften nicht Bescheid wissen; […] Aber nicht die Anfangsgründe in diesen Wissen- schaften bringen diesen Nutzen. Sie bedienen sich wohl des Verstandes, aber sie bilden ihn nicht. In den Naturwissenschaften sind die Begriffe einfacher, fester umrissen; und zwar da- rum, weil ihre Sprache vollendeter ist, weil dieselben Worte strenger dieselben Begriffe bez- eichnen. Die Anfangsgründe sind bei ihnen ein wirklich eng begrenzter, aber in sich abges- chlossener Teil der Wissenschaft. Sie stellen außerdem eine Verstandesschulung dar, das einer viel größeren Zahl Menschen, besonders in der Jugend, zugänglich ist. Es gibt kein Kind – wenn es nicht ganz stumpfsinnig ist –, dem man nicht auch durch elementaren Unterricht in Naturgeschichte oder Landwirtschaft irgendwie zur Gewohnheit machen könnte, diese Wis- senschaften anzuwenden. Sie sind ein Heilmittel gegen die Vorurteile, gegen die Beschränkt- heit des Geistes, ein wenn nicht sichereres, so doch umfassenderes Heilmittel als selbst die Philosophie. Sie sind nützlich in allen Berufen, und es ist nicht zu ersehen, wie viel nützlicher sie sein würden, wenn sie gleichmäßiger verteilt wären. Die, die den Entwicklungsgang dieser Wissenschaften verfolgen, sehen die Zeit nahen, wo der praktische Nutzen ihrer Anwendungen 4 | Einleitung Als Huxley knapp hundert Jahre später und auf dem Höhepunkt der industriel- len Revolution nahtlos an Condorcets Plädoyer anknüpft, hat sich das traditio- nelle Profil des Bildungssystems kaum gewandelt. Ohne die Relevanz eines literarisch-humanistischen Studiums in Abrede zu stellen – „I am the last per- son […] to suppose that intellectual culture can be complete without it“8 –, macht er unmissverständlich deutlich, dass der naturwissenschaftlichen Bil- dung in einer an wissenschaftlicher Rationalität und industriellem Wohlstand orientierten Welt zweifellos der Vorrang gebührt: „We may take for granted then, that […] the diffusion of thorough scientific education is an absolutely essential condition of industrial progress.“9 Entsprechend sieht Arnold in seiner Replik auch nicht die Frage im Zentrum, „whether knowing the great results of the modern scientific study of nature is not required as a part of our culture, as well as knowing the products of literature and art“,10 sondern die von Huxley vorgenommene Gewichtung zugunsten einer „scientific education“. Es sind im Wesentlichen zwei Argumente, die Arnold gegenüber Huxley ins Feld führt. Zum einen korrigiert er dessen auf die belles lettres reduzierten Begriff von Lite- ratur und stellt diesem einen erweiterten, die Wissenschaften integrierenden entgegen: Literature is a large word; it may mean everything written with letters or printed in a book. Euclid’s Elements and Newton’s Principia are thus literature. All knowledge that reaches us through books is literature.11 „To know ourselves and the world“ heißt demzufolge nichts anderes als „to know the best which has been thought and said in the world“, und dieses Wissen schließt die belles lettres ebenso ein wie die Erkenntnisse eines Kopernikus, || ein Ausmaß annehmen wird, das man nicht zu erhoffen gewagt hätte, ein Zeitalter, wo der Fortschritt der Naturwissenschaften auf eine segensreiche Revolution in den mechanischen Künsten hervorrufen wird; und das sicherste Mittel, diese Umwälzung zu beschleunigen, ist das, diese Kenntnisse in allen Klassen der Gesellschaft zu verbreiten und überall bequeme Gelegenheiten zu schaffen, wo man sie auswerten kann“ (Jean-Antoine-Nicolas Condorcet [de Caritat]: Bericht über die Allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichtswesens, in: Erziehungsprogramme der Französischen Revolution. Mirabeau – Condorcet – Lepeletier, eingel. u. erläutert v. Robert Alt, Berlin, Leipzig 1949, S. 61–117, hier S. 76). 8 Huxley: Science and Literature. 9 Ebd. 10 Matthew Arnold: Literature and Science [1882], in: Philistinism in England and America (= The Complete Prose Works of Matthew Arnold, Bd. 10), hrsg. v. Robert H. Super, Ann Arbor 1974, S. 53–73, hier S. 59 f. 11 Ebd., S. 58. Einleitung | 5 Galileo, Newton oder Darwin.12 Zum anderen – und mit diesem Argument verla- gert Arnold den Akzent nun seinerseits auf die humanistische Bildung – sieht er humanes Leben durch ethische, intellektuelle, ästhetische und soziale Bedürf- nisse geprägt, die nicht voneinander zu trennen, sondern auf vielfache Weise aufeinander bezogen sind.13 Während die Naturwissenschaften eine Fülle von Fakten und theoretischen Konzepten bereitstellen, dabei jedoch im Bereich von Intellekt und Wissen verhaftet bleiben,14 erfüllen die „humane letters“ eine integrative, die verschiedenen Wissens- und Erfahrungsfelder miteinander ver- bindende Funktion: Indem sie insbesondere auch die Gefühle ansprechen, ha- ben sie „not only the power of refreshing and delighting us […], they have [also] a fortifying, and elevating, and quickening, and suggestive power, capable of wonderfully helping us to relate the results of modern science to our need for conduct, our need for beauty“.15 In ungleich schärferer Form und mit einer wesentlich nachhaltigeren Wir- kung finden beide Positionen ihre Fortsetzung in der Snow-Leavis-Kontroverse. So bekannt Snows Thesen von den zwei Kulturen auch sind, so sehr werden sie selbst heute noch zur Untermauerung und Zementierung gerade jener Vorurtei- le instrumentalisiert, die Snow für die wechselseitige Entfremdung und Igno- ranz zwischen der literarisch-geisteswissenschaftlichen und der naturwissen- schaftlich-technischen Intelligenz verantwortlich macht. Eine mit überwiegend dualistischen Kategorien operierende Rhetorik, die sich ferner einer Reihe an- schaulicher, einprägsamer und deshalb für den populistischen Gebrauch her- vorragend geeigneter Metaphern bedient und nicht zuletzt der für viele Passa- gen der Rede-Lecture charakteristische ironische Duktus,16 mag sicherlich die || 12 Ebd., S. 56 u. 59. 13 Vgl. ebd., S. 61 f. 14 Vgl. ebd., S. 64. 15 Ebd., S. 68; vgl. S. 64 f. u. 67. 16 Wenn man Leavis’ äußerst heftig, emotional, einseitig und abschätzig geführten Attacke gegen Snow auch nicht in allen Punkten folgen mag, so wird man – nach Abzug aller polemi- schen Schelte – dem sachlichen Kern seiner Kritik des Snow’schen Stils doch weitgehend zustimmen müssen: Snows Lecture „exhibits an utter lack of intellectual distinction and an embarrassing vulgarity of style“ (Frank R. Leavis: Two Cultures? The Significance of C. P. Snow [1962], in: ders., M. Yudkin: Two Cultures?, London 1962, S. 9–30, hier S. 11); moniert werden vor allem die sprunghafte, repetitive, historische Aspekte ignorierende Argumentation, fehlen- de Begriffsklärungen (ohne Erläuterung setze er z.B. „literary culture“ mit „traditional culture“ gleich, ebd., S. 16; „He is repetitious, but he devolops no explanation further“, ebd., S. 19), vor allem aber das Bedienen zahlreicher Klischees („it is a document for the study of cliché“, S. 17) gepaart mit unzulässigen Verallgemeinerungen (S. 19), Simplifizierungen, Verzerrungen (S. 23) und mangelhafter gedanklicher Substanz (S. 17). 6 | Einleitung ‚Topisierung‘ singulärer Formulierungen begünstigt haben. Auch oszilliert Snow zuweilen unentschieden zwischen beiden Kulturen, lässt aber – wie sei- nerzeit Huxley – letztlich keinen Zweifel daran, dass die akuten sozialen Pro- bleme der Industrienationen und die davon nicht zu trennenden globalen Pro- bleme und Gefahren, insbesondere das Gefälle zwischen Arm und Reich, die Überbevölkerung und die atomare Bedrohung, nur über eine „scientific revolu- tion“17 zu lösen sind. Dazu sei nicht nur Kapital erforderlich, sondern vor allem die Ausbildung einer genügenden Anzahl von Naturwissenschaftlern und Inge- nieuren, die ihr Wissen in den Dienst der nicht-industrialisierten Länder stellen und sich vor Ort um einen Ausgleich des wissenschaftlich-technologischen und des dadurch bedingten sozialen Gefälles bemühen.18 Der postulierte soziale, politische und ökonomische Wandel setzt demzufolge die gründliche Reform des Bildungssystems, insbesondere eine Aufwertung der Natur- und Technik- wissenschaften im schulischen und universitären Fächerkanon voraus. Die Rolle, die Snow den „literary intellectuals“ in diesen Transformations- prozessen zuweist, lässt sich nur vor der von ihm gefällten negativen Diagnose über den status quo dieser Kultur rekonstruieren. Mit ihrer vergangenheitsfi- xierten, wertekonservativen, wissenschafts- und technikfeindlichen Haltung hätte sich die „traditional culture“ von jeher blind und ignorant insbesondere gegenüber all jenen gesellschaftlichen Prozessen gezeigt, denen sie ihren Wohl- stand verdanke. Die als „natural luddites“19 diffamierten Intellektuellen hätten den sozialen Fortschritt, dessen Nutznießer sie sind, eher behindert denn geför- dert und zeichnen maßgeblich für den gegenwärtigen Zustand der Stagnation und Erstarrung verantwortlich.20 Ins Positive gewendet wäre gerade die Kunst dazu angehalten, Kenntnisse und Leistungen von Wissenschaft und Technik der Öffentlichkeit zu vermitteln und auf diese Weise zur Lösung des Kernpro- blems, namentlich die mangelnde Kommunikation zwischen beiden Kulturen, || 17 Zur „scientific revolution“ vgl. das gleichnamige Kapitel in: Charles P. Snow: The Two Cultures. With Introduction by Stefan Collini, Cambridge 1998, S. 29–40. 18 Vgl. ebd., S. 46 f. 19 Ebd., S. 22. 20 „In fact, those two revolutions, the agricultural and the industrial-scientific, are the only qualitative changes in social living that men have ever known. But the traditional culture didn’t notice: or when it did notice, didn’t like what they saw. Not that the traditional culture wasn’t doing extremely well out of the revolution; the English educational institutions took their slice of the English nineteenth-century wealth, and perversely, it helped crystallise them in the forms we know“ (ebd., S. 23; vgl. in diesem Kontext das Kapitel „Intellectuals as Natural Luddites“, in: ebd., S. 22–28). Einleitung | 7 beizusteuern.21 Dass der Kunst damit eine bloße Dienstleistungsfunktion zuge- dacht ist, macht Snow unmissverständlich deutlich: It is bizarre how very little of twentieth-century science has been assimilated into twenti- eth-century art. Now and then one used to find poets conscientiously using scientific ex- pressions, and getting them wrong – there was a time when ,refraction‘ kept cropping up in verse in a mystifying fashion, and when ,polarised light‘ was used as though writers were under the illusion that it was a specially admirable kind of light. Of course, that isn’t the way that science could be any good to art. It has got to be assimilated along with, and as part and parcel of, the whole of our mental experience, and used as naturally as the rest.22 Nicht die autonome, kreative und kritische ‚Assimilierung‘ szientifischer Gehal- te ist gefragt, sondern eine wissenschaftsrealistische bzw. -naturalistische Kunst, die die Wissenschaften als pars pro toto der Lebens- und Erfahrungswelt ausweist. Die hier demonstrierte ganzheitliche Gesinnung schrumpft indessen zur bloßen Koketterie, sobald man die fundamentale Rolle mit bedenkt, die Snow den Natur- und Technikwissenschaften einräumt: Diese beschränkt sich keineswegs darauf, die natürliche Welt zu verstehen und zu kontrollieren;23 vielmehr sind sie „the material basis for our lives: or more exactly, the social plasma of which we are a part“.24 Leavis’ Replik auf die provokanten Thesen Snows ist Angriff und Verteidi- gung zugleich. Über weite Strecken seines Essays versucht er sowohl den Ro- mancier als auch den Naturwissenschaftler Snow mit dessen eigenen argumen- tativen Waffen zu schlagen, indem er ihm „complete ignorance“, „intellectual nullity“ und absolute Inkompetenz in beiden Bereichen vorwirft,25 weitet seine || 21 Vgl. Charles P. Snow: The Two Cultures: A Second Look [1963], in: ders., The Two Cultures, S. 53–100, v.a. S. 60 f., wo es heißt: „I did not mean that literary intellectuals act as the main decision-makers of the western world. I meant that literary intellectuals represent, vocalise, and to some extent shape and predict the mood of the non-scientific culture: they do not make decisions, but their words seep into the minds of those who do.“ 22 Snow: The Two Cultures, S. 16. Der russischen Literatur kommt in dieser Sicht eine Vorbild- funktion zu: Zwar mangelt es auch ihr an Verständnis für die „pure science“, weshalb diese auch nur selten adaptiert wird, doch im Gegensatz zur westlichen Literatur finde sich in ihr zumindest „a rudimentary acquaintance with what industry is all about. […] An engineer in a Sovjet novel is as acceptable […] as a psychiatrist in an American one“ (ebd. S. 37). 23 Vgl. ebd., S. 67. 24 Vgl. ebd., S. 30. 25 Leavis: Two Cultures?, S. 10 u. 12. Snow sei „intellectually as undistinguished as it is possi- ble to be“, „he doesn’t know what he means, and doesn’t know he doesn’t know“ (ebd., S. 10), und von Geschichte hätte er schon gar keine Ahnung (vgl. S. 16). So wenig es den Wissen- 8 | Einleitung sarkastische Kritik ausdrücklich aber auch auf alle diejenigen aus, die den My- thos ‚Snow‘ kreiert und The Two Cultures binnen kürzester Zeit zum Klassiker stilisiert haben.26 Ungeachtet aller polemischen Spitzen bestätigt Leavis die Kernthese von den zwei disparaten Kulturen, wenn er die von Snow zur Demonstration der wechselseitigen Ignoranz exemplarisch angeführten Test- fragen, wer unter den literarisch Gebildeten in der Lage sei, das zweite thermo- dynamische Gesetz zu definieren bzw. wer unter den wissenschaftlich Gebilde- ten Shakespeares Werke gelesen hätte, mit der Bemerkung kontert, dass es zur letzteren kein wissenschaftliches Äquivalent gebe und „equations between orders so disparate“ ohnehin sinnlos seien.27 Vor allem aber greift Leavis die bereits bei Snow angesprochene, wenngleich nicht näher ausgeführte Vision von einer dritten Kultur auf28 und baut diese zum zentralen Argument seines || schaftler Snow gebe, so wenig existiere auch der Schriftsteller Snow: Ihm gehe jegliche „crea- tive power“ ab; seine Protagonisten seien ohne Leben: „when the characters are supposed to fall in love your are told they do, but he can’t show it happening“ (S. 13), und wenn er, wie in seinem Roman The Affair, wissenschaftliche Aspekte thematisiere, „no corresponding intellec- tual interest comes into the novel; science is a mere word, the vocation merley postulated“ (S. 14). „That he has really been a scientist, that science as such has ever, in any important inward way, existed for him, there is no evidence in his fiction“ (ebd.). „[…] Snow not only hasn’t in him the beginnings of a novelist; he is utterly without a glimmer of what creative literature is, or why it matters“ (S. 19). Entsprechend sei auch der in der Rede Lecture gezeich- nete literarische Intellektuelle nichts anderes als „the enemy of art and life“ (S. 16). 26 „Snow is a portent. He is a portent in that, being in himself negligible, he has become for a vast public on both sides of the Atlantic a mastermind and a sage. His significance is that he has been accepted – or perhaps the point is better made by saying ,created‘: he has been creat- ed as authoritative intellect by the cultural conditions manifested in his acceptance“ (ebd., S. 10). „To my surprise, however, it [the Rede Lecture] took on the standing of a classic. It was continually being referred to […]“ (ebd., S. 11). 27 Ebd., S. 27; vgl. Snow: The Two Cultures, S. 14 f. 28 Im Kontext der Rede Lecture nimmt der Gedanke eines umfassenden Kulturbegriffs ledig- lich den Stellenwert eines Appendix mit Alibifunktion ein und wird entsprechend auch nicht näher erläutert. Nachdem er den Führungsprimat der Naturwissenschaften und Technologien bei der Lösung der eklatanten lokalen wie globalen Probleme mit dem Appell, den szientifisch- technischen Zweig innerhalb des Bildungssystems aufzuwerten, herausgestellt hat, betont Snow des weiteren: „Education isn’t the total solution to this problem: but without education the West can’t even begin to cope. All the arrows point in the same way. Closing the gap be- tween our cultures is a necessity in the most abstract intellectual sense, as well as in the most practical. When those two senses have grown apart, then no society is going to be able to think with wisdom. For the sake of the intellectual life, for the sake of this country’s special danger, for the sake of the western society living precariously rich among the poor, for the sake of the poor who needn’t be poor if there is intelligence in the world, it is obligatory for us and the Americans and the whole West to look at our education with fresh eyes“ (Snow: The Two Cul- Einleitung | 9 Essays aus. Angesichts eines rapiden wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts mit seinen unvorhersehbaren Herausforderungen, Entscheidungen und Konsequenzen, müsse die Menschheit „in full intelligent possession of its full humanity“ sein.29 Dieses von Leavis beschworene Humanitätsideal, das gleichbedeutend ist mit der postulierten dritten Kultur, wird nicht durch Kunst und Literatur repräsentiert, sondern findet seinen angemessenen Ausdruck vielmehr in den durch sie motivierten kommunikativen Prozessen: It is in the study of literature […] that one comes to recognise the nature and priority of the third realm […], the realm of that which is neither merely private and personal nor public in the sense that it can be brought into the laboratory or pointed to. You cannot point to the poem; it is ,there‘ only in the re-creative response of individual minds to the black marks on the page. But – a necessary faith – it is something in which minds can meet.30 Literary criticism wird in dieser Sicht zum Paradigma einer Kultur der Kommu- nikation und Partizipation, deren Urteilskompetenz sich gerade nicht in der zementierten Abgeschlossenheit propositionaler Aussagen bekundet, sondern eine ‚Selbstfragwürdigkeit‘ impliziert („This is so, isn’t it?“), die den Dialog mit dem anderen ermöglicht und offen ist für die Formulierung von Einwänden und Korrekturen („‚yes, but‘“).31 Über diesen, seinerseits der ständigen Erneuerung und Entwicklung unterworfenen „collaborative-creative process“ formiere sich „a cultural community and consciousness“, eben jenes „third realm to which all that makes us human belongs“.32 Obwohl der Mythos von den ‚zwei Kulturen‘ das natur- wie geisteswissen- schaftliche Selbstverständnis – und daraus resultierend auch die wissenschaft- || tures, S. 50). In seinem drei Jahre später verfassten Nachtrag kommt etwas deutlicher zum Tra- gen, dass Snow die Verantwortung für die Entstehung einer dritten Kultur vor allem den litera- risch Intellektuellen zuschreibt: „It is probably too early to speak of a third culture already in existence. But I am now convinced that this is coming. When it comes, some of the difficulties of communication will at last be softened: for such a culture has, just to do its job, to be on speaking terms with the scientific one“ (Snow: The Two Cultures: A second look, S. 70 f.). 29 Leavis: Two Cultures?, S. 25; weiter heißt es: „What we need, and shall continue to need not less, is something with the livingness of the deepest vital instinct; as intelligence, a pow- er – rooted, strong in experience, and supremely human – of creative response to the new challenges of time; something that is alien to either of Snow’s cultures“ (S. 26). 30 Ebd., S. 28. 31 Ebd. 32 Ebd. Diese letztlich nur regulativ aufzufassende Idee prägt auch Leavis’ Vorstellung von Universität als einem „centre of human consciousness: perception, knowledge, judgment and responsibility“ (ebd., S. 29). 10 | Einleitung liche Praxis – nach wie vor bestimmt,33 formiert sich spätestens seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowohl im Bereich der Literatur, der Geistes- und Kulturwissenschaften als auch im Bereich der Naturwissenschaften, der Wis- senschaftstheorie, -geschichte und -philosophie eine kritische Allianz, die jene Kunst und Wissenschaft eindeutig trennende Demarkationslinie zunehmend in Frage stellt, relativiert und für transdisziplinäre34 Betrachtungen durchlässig macht. Bei den Bemühungen, das Verhältnis zwischen Literatur und Naturwis- senschaft auszuloten, kommt den Entwicklungen in der neuen Physik und den dadurch ausgelösten erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen und ästhetischen Reflexionsprozessen seitens ihrer prominentesten Repräsentanten eine ebenso spezielle Bedeutung zu wie den von namhaften Wissenschaftstheo- retikern und -historikern geführten Diskussionen um die soziale und kulturelle Kontextabhängigkeit der hard sciences. Die exorbitante Fülle an literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen, die insbesondere seit den 80er Jah- ren des letzten Jahrhunderts im Kielwasser solcher Öffnungen entstanden sind, können jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass die durch C. P. Snow wie- der entfachte two cultures-Debatte unter der neuen euphemistischen Etikette einer one culture oder third culture weiterhin schwelt. Scheinbar ungeachtet aller geleisteten Verständigungsbemühungen treten die alten Konflikte vor allem dort zutage, wo es um bildungspolitisch angeheizte Fragen nach dem Selbstverständnis der Universitäten und insbesondere nach der Legitimität der dort angesiedelten Geisteswissenschaften geht. Die eigene Existenzberechti- gung wird dann nicht selten auf dem Rücken uralter und wissenschaftlich längst überholter Vorurteile gegenüber den vermeintlich besser gestellten (und das heißt letztlich immer: ökonomisch besser gestellten) Disziplinen propagiert und die im Kern politischen und gesellschaftlichen Probleme mit den rhetori- schen Waffen der zwei Kulturen ausgefochten. – Auf wesentlich subtilere Weise || 33 Vgl. hierzu exemplarisch Holger Dainat: Vom Nutzen und Nachteil, eine Geisteswissen- schaft zu sein. Zur Karriere der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, in: Geist, Geld und Wissenschaft: Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, hrsg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt/M. 1993, S. 66–98 sowie Simon J. Lock: Cultures of incom- prehension? The Legacy of the Two Cultures Debate at the End of the Twentieth Century, in: Interdisciplinary Science Reviews 41 (2016), S. 148–166. 34 Mit Transdisziplinarität bezeichnet Mittelstraß eine Forschung, „die sich selbst aus ihren disziplinären Grenzen löst, die ihre Probleme disziplinenunabhängig definiert und diszipline- nunabhängig löst“ (Jürgen Mittelstraß: Die Stunde der Interdisziplinarität?, in: ders.: Leonar- do-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt/M. 1992, S. 96–102, S. 90). In diesem streng disziplinenunabhängigen Sinn kann Transdisziplinarität für das vor- liegende Projekt bestenfalls als regulative Idee beansprucht werden. Einleitung | 11 manifestiert sich das konfliktuöse Verhältnis zwischen „scientists“ und „literary intellectuals“35 jedoch in jenen Ansätzen, welche die seitens der Naturwissen- schaften einmal konzedierten Affinitäten zu den Textwissenschaften und zur Literatur verabsolutieren und die sciences dem Kosmos einer „allumfassenden Wissenschaft der Zeichen und Symbole“36 einverleiben. Auf die Spitze getrieben führen solche Ansätze nicht nur dazu, die Naturwissenschaften in bloßem Konstruktivismus und reiner Rhetorizität aufgehen zu lassen und ihnen jegli- chen Bezug zur Realität abzusprechen,37 sondern ebenso dazu, die Differenzen der Diskurssysteme von Wissenschaft und Literatur zu tilgen und damit auch der Literatur ihre spezifischen Möglichkeiten – und dies gerade in der produkti- ven Transformation naturwissenschaftlicher Themen und Theorien – in Abrede zu stellen.38 || 35 Snow: The Two Cultures, S. 4. 36 Dirk Vanderbeke: Theoretische Welten und literarische Transformationen. Die Naturwis- senschaften im Spiegel der ‚science studies‘ und der englischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Tübingen 2004, S. 12. 37 „The claim of rhetoric is that the phrase ,brute facts‘ is an oxymoron. Facts are by nature linguistic – no language, no facts. By definition, a mind-independent reality has no semantic component“ (Alan Gross: The Rhetoric of Science, Cambridge/MA, 1990, S. 202 f.) 38 Diese vor allem im Umkreis von Feminismus und Poststrukturalismus entstandenen radi- kalen Varianten einer In-Differenzierung von Wissenschaft und Kunst waren Auslöser für die jüngste und in ihren Mitteln sicherlich auch fragwürdigste Auseinandersetzung zwischen den ,Kulturen‘: 1996 veröffentlichte der amerikanische Physiker Alan D. Sokal unter dem Titel „Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“ eine Parodie auf all jene Theorien, welche die Wissenschaften unterschiedslos als kodierte Ideologien oder als bloß subjektive Konstrukte denunzieren und denen deshalb kein privi- legierter epistemologischer Status zukomme. Die Parodie, von den Herausgebern der namhaf- ten Zeitschrift Social Text als solche nicht erkannt, sondern als ein seriöser wissenschaftlicher Beitrag in einer Sondernummer des Magazins zum Thema „Science Wars“ publiziert, löste einen Sturm von Entrüstung aus. Sokal, der in seinem Aufsatz positiv vor allem auf feminis- tisch-dekonstruktive Literatur Bezug nimmt, gab später den Grund für sein Vorgehen an: „What concerns me is the proliferation […] of a particular kind of nonsense and sloppy think- ing: one that denies the existence of objective realities, or (when challenged) admits their existence but downplays their practical relevance. […] In short, my concern over the spread of subjectivist thinking is both intellectual and political. Intellectually, the problem with such doctrines is that they are false (when not simply meaningless). There is a real world; its proper- ties are not merely social constructions; facts and evidence do matter. […] And yet, much of contemporary academic theorizing consists precisely of attempts to blur these obvious truths – the utter absurdity of it all being concealed through obscure and pretentious language“ (Alan D. Sokal: A Physicist Experiments with Cultural Studies, s. http://www.physics.nyu.edu/facul- ty/sokal/lingua_franca_v4/lingua_franca_v4.html, letzter Zugriff: 18.06.05). Auf Sokals Homepage findet sich auch „Transgressing the Boundaries“. 12 | Einleitung 1 Naturwissenschaft als Provokation der Literatur Dass derartige Assimilierungsversuche seitens der Geistes- und Kulturwissen- schaften auch Ausdruck einer permanenten Legitimationskrise sind, gilt mit Einschränkung nicht minder von der Literatur selbst. Auch dort werden Legiti- mationsversuche meist dann unternommen, wenn der Wert, der Status oder die Funktionstauglichkeit von Dichtung nicht mehr selbstverständlich gegeben sind. Dies scheint immer dann der Fall zu sein, wenn andere Weltdeutungssys- teme ihren Führungsanspruch behaupten, wie etwa die Philosophie seit der griechischen Antike oder die moderne Wissenschaft seit ihrer festen Etablierung im frühen 18. Jahrhundert. Dass die Literatur spätestens seit der Romantik eine wahre Flut an kritischen Bestandsaufnahmen und Rechtfertigungsversuchen hervorgebracht und auf vielfältige Weise versucht hat, sich selbst im Spiegel- medium nicht-literarischer, ganz besonders eben auch wissenschaftlicher Dis- kurse zu definieren oder in der unmittelbar literarisch ausgetragenen Konfron- tation mit den zeitgenössischen Wissenschaften das jeweils Ästhetikspezifische und dichterisch Genuine zu bestimmen – sich also gleichsam über die literari- sche ‚Arbeit an der Wissenschaft‘ die Differenz zur Wissenschaft zu erschrei- ben – ist vor dem Hintergrund einer langen kulturellen Entwicklung zu sehen: Angefangen von der seit der Renaissance sich vorbereitenden Aufklärung des 18. Jahrhunderts, deren herrschender Geist in Alexander Popes Epitaph von 1727 – „Nature and Nature’s Laws lay hid in Night. / God said, Let Newton be! and all was Light“39 in mehrfacher Hinsicht glänzend zum Ausdruck gebracht ist, über die „Bildungsrevolution des 19. Jahrhunderts“40, die einherging mit einem „außergewöhnlichen Aufstieg der Naturwissenschaften“, der Technik und der Medizin „zu einer das Leben und die Welt umgestaltenden Groß- macht“41, mit einer beschleunigten Ausdifferenzierung des Wissenschaftssys- tems in neue disziplinäre Formationen und einer akademischen „Professionali- sierung der Disziplinen, ihrer Standards und ihrer Karrieremuster“42 bis hin zu den revolutionären, das fundamentum inconcussum der klassischen Physik gewaltig erschütternden Erkenntnissen der Relativitätstheorie und Quantenme- chanik zu Beginn des 20. Jahrhunderts – all dies schien den Führungsprimat der Wissenschaften auf ewig zu sichern und den Legitimationsdruck auf die || 39 Alexander Pope: „Epitaphs“ [XII], in: Pope. Poetical Works, hrsg. v. Herbert Davis, Oxford, London u.a. 1978, S. 651. 40 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, Mün- chen 1983, S. 451. 41 Ebd., S. 484. 42 Ebd., S. 495. Naturwissenschaft als Provokation der Literatur | 13 Literaten vehement zu verstärken. – Soll der Dichter, so die ebenso plastisch wie polemisch formulierte Frage Gottfried Benns, „jede neue Bulle des wissen- schaftlichen Ordens studieren, feststellen, was die Haute Couture diese Saison liefert, euklidische Muster oder akausale Dessous“, oder genügt es, wenn er in das „allgemeine Gejodel über die Größe der Zeit und den Komfort der Zivilisa- tion“ einstimmt?43 Selbstverständlich setzt Benn hier ein klares ‚Nein‘: Statt einem Wirklichkeitsbegriff zu frönen, der die „Trennung von Ich und Welt, die schizoide Katastrophe, die abendländische Schicksalsneurose“44 nach sich zog, oder einem „Szientifismus [zu dienen], in dem die Aufklärung vor unseren Bli- cken endet“,45 verlangt der frühe Benn vom Dichter, sich „in einer Art Rückfall- fieber und Sturzgeburt nach Innen, Niederem“ sinken zu lassen, bis er in „jene Sphäre“ gelangt, wo das Denken „in den dunklen Kreis organischer Belange tritt“46 und zu „prälogischen, aber noch erfüllungsfähigen Welten“47 zurückfin- det. In markantem Gegensatz zu solchen archaisierenden Rettungsversuchen des Dichterischen, die, wie im Falle Benns, gegen „das komplizierte, zerfaserte, hybrid übersteigerte Begriffsnetz der modernen induktiven Naturexegese“48 genauso wettern wie gegen die neue Physik, stehen Forderungen ganz anderer Art. Sehr entschieden beansprucht etwa Robert Musil: [...] die Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild kann der Literatur nicht er- spart bleiben und ein gut Teil ihrer heutigen Gegenstandslosigkeit geht darauf zurück, daß sie sich dabei verspätet hat.49 Dass sich die Literatur dem jeweiligen Wissen, einschließlich der naturwissen- schaftlichen Erkenntnisse, einer Zeit nicht verschließen darf, sondern dieses rezipieren und reflektieren muss, ist auch eine Forderung, die Hermann Broch erhebt: Denn wenn es überhaupt so etwas wie Zeitgerechtheit gibt, so kann es nicht an der Wahl der Themen liegen [...], sondern es muß aus einem bestimmten Zustand des Bewußtseins, || 43 Gottfried Benn: Zur Problematik des Dichterischen, in: ders.: Sämtliche Werke (im Folgen- den zitiert unter der Sigle SW), in Verbindung mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster u. Holger Hof, Bd. 3, Stuttgart 1986–2003, S. 232–247, hier S. 237. 44 Gottfried Benn: Provoziertes Leben, in: SW 4, S. 310–320, hier S. 314. 45 Benn: Zur Problematik des Dichterischen, S. 241. 46 Ebd. 47 Benn: Provoziertes Leben, S. 314. 48 Gottfried Benn: Goethe und die Naturwissenschaften, in: SW 3, S. 350–384, S. 371. 49 Robert Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag [1927], in: Gesammelte Werke in 9 Bänden, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg ²1981, Bd. 8, S. 1180–1186, hier S. 1183. 14 | Einleitung aus einem bestimmten Zustand der Logik, kurzum einer bestimmten Technik des Denkens herstammen, aus einer Logik, die für die betreffende Zeit verbindlich ist und die damit automatisch zu ihren Themen und den ihr eigentümlichen Inhalten hinführt.50 Was Musil und Broch als „Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild“ bzw. „Zeitgerechtheit“ bezeichnen, meint sicherlich nicht, dass Literatur den wissenschaftlichen Errungenschaften jeweils hinterher zu schreiben hat und ihr damit eine bloß reaktive oder kompensatorische Funktion zukommen würde. Auch liegt diesem Assimilierungspostulat alles andere als eine wissenschaftsen- thusiastische oder blind wissenschaftsgläubige Haltung zugrunde, die sich aus der Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden und Inhalte eine „Rechtfer- tigung des ästhetischen Gebildes“ (Blumenberg) erhoffen würde. Gleichwohl spricht sich in diesen Äußerungen die sehr realistische Einsicht aus, dass den Wissenschaften ihre paradigmatische Position im Ensemble zeitgenössisch verfügbarer Weltdeutungssysteme nicht länger abgesprochen werden kann. Beansprucht die Literatur, ihr Mitspracherecht innerhalb einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ihre kritische und erkenntnisstiftende Funktion wahrzu- nehmen, aber auch ihr ästhetisches Innovationspotential auszuschöpfen, dann ist sie zur Auseinandersetzung mit bewusstseinsverändernden Denkprozessen, mit neuen Formen von Rationalität, mit allgemein autorisierten und anerkann- ten Normen und damit zum Überdenken ihrer eigenen sozialen, kulturellen, logisch-erkenntnistheoretischen und ästhetischen Voraussetzungen angehal- ten. Erst in der Auseinandersetzung mit dem, was Literatur nicht ist, so der einheitliche Tenor bei Broch und Musil,51 findet Literatur zu ihren Formen, Gegenständen und Aufgaben, also zu dem, was sie potentiell sein kann. Dabei dienen epistemologische Reflexionen der kritischen Erprobung von Wissen (in Brochs Roman Die unendliche Größe52 etwa werden divergente, miteinander konkurrierende Wissensparadigmen jeweils ‚linienverlängert‘ und solcherart die Grenzen und Aporien humaner Rationalität überhaupt aufgezeigt) ebenso wie der Bildung struktureller, ikonischer und emotionaler Äquivalenzen und der Entwicklung innovativer literarischer Darstellungsverfahren (so bezieht || 50 Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag, in: ders.: Kommentierte Werkausgabe (im Folgenden zitiert unter der Sigle KW), hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Bd. 9/1 S. 63–94, hier S. 76. 51 Zum Einfluss der neuen Physik auf poetologische Konzepte der deutschen Literatur vgl. Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schrif- ten zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970), Berlin 1995. 52 Hermann Broch: Die unbekannte Größe, in: KW 2, S. 11–142. Naturwissenschaft als Provokation der Literatur | 15 Musils im Mann ohne Eigenschaften53 literarisch entwickelte Konzeption des „Essays“ seine ethische und narratologische Doppelfunktion aus der Koinzi- denz von humanistischer Gattungstradition und naturwissenschaftlich- methodischem Experiment). Exemplarisch für viele ‚Wissenschaftsliteraten‘ verweist Broch auf die kom- plementäre Beziehung, in der wissenschaftliche und literarische Erkenntnis stehen: Während der wissenschaftlichen Erkenntnis die Aufgabe zufällt, zur Totalität der Welt in unendlich vielen und kleinen rationalen Schritten vorzu- dringen, müsse die künstlerische Erkenntnis den von der Wissenschaft un- erreichbaren „Weltrest“ erahnen lassen, den zu erfassen die ewige Sehnsucht des Menschen sei.54 Dichtung müsse deshalb den „Zusammenhang zwischen der logischen und allgemein geistigen und schließlich ethischen Struktur der Menschenseele“55 aufzeigen, also die komplexen Beziehungen und gleitenden Übergänge verdeutlichen, die zwischen dem rational-logischen und dem irra- tional-mythischen und religiösen Erkennen und nicht zuletzt zwischen Erken- nen und Handeln bestehen. Mag die Rede von der „mythischen Erbschaft der Dichtung“ oder vom Kunstwerk als einem „ahnenden Symbol der geahnten Totalität“56 aus heutiger postmodern gefilterter Sicht antiquiert erscheinen, so bleibt jener von Broch angesprochene „Weltrest“ und damit jener Grenzbereich, wo das Exakte und Disziplinierte hinausweist und hinweist auf jenen „rational unbewältigten Erkenntnisrest“, wie er sich in den „großen Fragen des Todes, der Liebe, des Nebenmenschen“57 manifestiert, auch für die Literatur der Gegenwart kennzeichnend. Desgleichen trifft zu, wenn Broch die poetisch- narrative Verfahrensweise im Umgang mit dem von Wissenschaft und Geschich- te bereitgestellten „Realitätsvokabular“ geradezu programmatisch beschreibt: Aber es sind Realitätsvokabeln, die das Material der Dichtung ausmachen, und gleich dem Traum gewinnt Dichtung in neuer und eigener, und jetzt dürfen wir auch sagen, in sub- jektiver Logik und Syntax aus der Zusammenstellung dieser Vokabeln den Sinn, die Wirk- lichkeitstreue, den Symbolwert ihres autonomen Bereiches. Mit anderen Worten: auf die Realitätsvokabeln hat der Dichter, hat der Träumende keinen oder bloß einen sehr gerin- gen Einfluß, sie gehören der objektiven Sphäre an, sie sind das Stück Reportage, das in || 53 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 2002. 54 Hermann Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis [1933], in: KW 9/2, S. 43–49, hier S. 48 f. 55 Hermann Broch: Die mythische Erbschaft der Dichtung, in: KW 9/2, S. 202–211, hier S. 209. 56 Vgl. ebd. sowie Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis, S. 49. 57 Hermann Broch: Grundzüge zum Roman Die unbekannte Größe, in: KW 2, S. 243–246, hier S. 245. 16 | Einleitung jedem Traum, in jeder Dichtung steckt, die subjektive Sphäre dagegen, in der der Träu- mende frei schaltet, das ist die Syntax, in der er die Realitätsvokabel einbaut.58 Damit formuliert Broch freilich alles andere als das Konzept einer écriture auto- matique, einer gleichsam unbewusst sich selbst schreibenden Literatur: Die subjektive Bearbeitung und ‚Anverwandlung‘ des objektiven Materials meint vielmehr jene gezielt vorgenommenen sprachlich-strukturellen Operationen, die im Rationalen, Objektiven, Begrifflichen und Endlichen das Irrationale, Subjektive, Symbolische und Unendliche sichtbar und erlebbar machen. Die künstlerisch-autonome Form will nicht, um mit Eco zu sprechen, als „Surrogat der wissenschaftlichen Erkenntnis“ aufgefasst sein, sehr wohl jedoch als „epis- temologische Metapher“, womit zum Ausdruck gebracht ist, „daß in jeder Epo- che die Art, in der die Kunstformen sich strukturieren – durch Ähnlichkeit, Verwandlung in Metaphern, kurz Umwandlung des Begriffs in Gestalt –, die Art, wie die Wissenschaft oder überhaupt die Kultur dieser Epoche die Realität sieht, widerspiegelt“.59 Die epistemologische Metapher übernimmt dabei im Wesentli- chen die Funktion, „zwischen der abstrakten Kategorie der Wissenschaft und der lebendigen Materie der Sinnlichkeit“ zu vermitteln und erscheint somit „als eine Art von transzendentalem Schema, das es uns ermöglicht, neue Aspekte der Welt zu erfassen“.60 Ästhetische Transformationen und Übersetzungen von wissenschaftlichen Theoremen, Begrifflichkeiten, Anschauungsformen und Methoden in Strukturen und Quasi-Welten des Erzählens sind immer auch Pro- zesse der Metaphorisierung, die mit Operationen der Verfremdung und Nega- tion, der Verknappung und Erweiterung, der Umfunktionalisierung und Über- blendung etc. einhergehen und auf diese Weise das Abstrakte und bloß formelhaft Denkbare – also das ‚Wissenschaftliche‘ – so zurüsten, dass es sich zum einen der ikonischen Vorstellung und dem emotionalen Erleben öffnet und zum anderen wieder verweist „auf die rückwärtigen Verbindungen zur Lebens- welt als dem ständigen – obwohl nicht ständig präsent zu haltenden – Motivie- rungsrückhalt aller Theorie“.61 Mit diesen exemplarischen Skizzen sind bereits einige allgemeine Konstitu- tionsmerkmale dessen, was im Folgenden mit dem hybriden und gattungsüber- greifenden Begriff einer poetica scientiae bezeichnet wird, angesprochen: 1. Die explizite Bezugnahme auf die Wissenschaften, insbesondere auf die Naturwissen- || 58 Hermann Broch: Das Weltbild des Romans, in: KW 9/2, S. 89–118, hier S. 105. 59 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk [1962], Frankfurt/M. 1973, S. 46. 60 Ebd., S. 165. 61 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frank- furt/M. 41993, S. 77. Naturwissenschaft als Provokation der Literatur | 17 schaften, kennzeichnet die poetica scientiae als einen dezidiert referentiellen, an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelten Literaturtypus; in diesem Sinne erweist sie sich als realistische Literatur, die von einem ästhetizis- tischen, ‚rein‘ selbstreferentiellen Dichtungsverständnis deutlich abzugrenzen ist. 2. Diese Schnittstelle markiert die produktive Differenz zwischen szientifischem und fiktionalem Diskurs, eine szientifische Deixis, deren spezifische ‚Diskursivi- tät‘, Phänomenologie, Funktionalität, Semantik, Wahrheits- und Erkenntniswert zwar vom jeweiligen narrativen Kontext abhängig und nur innerhalb desselben zu klären sind, deren Differenzqualität, d.h. die Unterschiedenheit und Unter- scheidbarkeit beider Diskurse, jedoch ungeachtet der ästhetischen Transforma- tionen des Szientifischen erhalten bleibt.62 3. Der für die poetica scientiae charak- teristische Realismus – gleichsam ihre Heteroreferentialität – schließt, dies mag nahezu selbstredend sein, autoreferentielle und metafiktionale Reflexionen kei- neswegs aus; vielmehr erweist sich gerade der ‚andere‘, szientifische Diskurs als eine ideale Reibungsfläche, um die eigene poetologische Physiognomie zu kontu- rieren. Gleichwohl bleiben diese Spiegelungen des Eigenen im Fremden – und dies gerade dort, wo sie aus einem konkurrierend-aemulativen Verhältnis zum Anderen generiert werden – auf jenes szientifisch ‚Andere‘ verwiesen, von dem es das poetisch-literarisch Eigene abzugrenzen gilt. 4. Die poetischen und narrativen Verfahrensweisen, die „Formen selbstreflexiven Erzählens“63, deren sich die poe- tica scientiae bedient, umfasst die Pluralität der narrativen, dramatischen und lyrischen Möglichkeiten, wie sie für die einzelnen Gattungen kennzeichnend sind. Spezielle Bedeutung kommt indessen referentiellen Verfahren, insbesondere den Strategien der Intertextualität zu: Sie generieren jene produktive Differenz zwi- schen scientia und poetica, inszenieren die vielfältigen Beziehungs-, Kreuzungs- und Semantisierungsmöglichkeiten zwischen dem „disziplinierten Wort“64 der Wissenschaft und dem ‚undisziplinierten‘ Wort der Literatur und steuern nicht zuletzt die Analyse-, Interpretations- und Verstehensprozesse seitens des Rezi- pienten. || 62 Selbst eine ästhetisch forcierte Auslöschung dieser Differenz setzt ihre Etablierung voraus, so dass alle Formen einer ununterscheidbaren Amalgamiserung, einer Steigerung und ‚Über- höhung‘ des Szientifischen ins Mystische, Mythische oder Utopische, einer Indifferenzierung von szientifischem und literarischem Zeichencharakter etc. als solche nur funktionieren, so- lange die Differenz miterzählt ist. 63 So die gleichnamige Studie von Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997. 64 Formulierung nach Renate Lachmann: Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mytho- poetik als Paradigma poetisierter Lyrik, in: Das Gespräch, hrsg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München 1984, S. 489–515, hier S. 494. 18 | Einleitung 2 Poetica scientiae als Provokation der Literaturwissenschaft Ganz im Gegensatz zu science fiction als einem eingebürgerten Gattungsbegriff, muten Bezeichnungen wie Wissenschaftsliteratur, Wissenschaftspoesie oder poetica scientiae, mit denen im folgenden diejenige Literatur gekennzeichnet ist, die sich explizit wissenschaftlicher Anleihen bedient, eher befremdend an. Es ist sicherlich nicht abwegig, sie mit der rhetorischen Figur des Oxymorons zu identifizieren, verknüpfen diese Bezeichnungen doch zwei Begriffe, die nach konventionellem Verständnis einander widersprechen oder sich gar ausschlie- ßen. So sehen wir die Literarizität eines Textes etwa durch das Merkmal der Fik- tionalität und Poetizität gekennzeichnet, womit ausgesagt ist, dass sich Litera- tur zwar durchaus auf Wirklichkeit beziehen kann, dass diese Bezugnahme aber nicht unmittelbar geschieht, sondern vermittelt in einer Sprache, die sich ästhe- tischer Form- und Gestaltungsprinzipien bedient, die von der sogenannten Alltagssprache abweichen. Dieser ästhetikspezifische Sprachgebrauch stattet einen Text mit Fiktionssignalen aus, welche die in ihm dargestellte Welt ganz unabhängig vom Anteil ihrer realen Bezüge und ganz unabhängig vom Identifi- kationspotential, das sie für den Leser bereithält, als eine fiktionale Welt des Als-ob ausweisen. Ferner resultiert aus diesem ästhetikspezifischen Sprachge- brauch, der die unterschiedlichsten, funktional aber stets miteinander in Bezie- hung stehenden Aspekte von Sprache betreffen kann, die Bedeutungsoffenheit der Literatur und damit die Möglichkeit, ein und denselben literarischen Text auf vielfache Weise auslegen und verstehen zu können. Demgegenüber assoziieren wir die Sphäre der Wissenschaft, insbesondere der hard sciences, mit dem Merkmal der Faktizität und verbinden damit den Anspruch, dass die in wissenschaftlichen Texten gemachten Aussagen auf be- stimmte Problem- und Phänomenbereiche der Realität bezogen, durch spezifi- sche Verfahrensweisen begründet und in einer klar und deutlich definierten und entsprechend intersubjektiv mitteilbaren und rational überprüfbaren Be- griffs- oder Formelsprache dargestellt sind.65 Zwar lehren uns Wissenschafts- theoretiker und -historiker wie Karl Popper, Thomas S. Kuhn, Paul Feyerabend oder Larry Laudan, dass die Grundlage einer Wissenschaft eben kein System || 65 Vgl. dazu Art. „Naturwissenschaft“, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheo- rie, hrsg. v. Jürgen Mittelstraß, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 1984, S. 977–979, sowie Art. „Wissen- schaft“, in: ebd., Bd. 4, Stuttgart, Weimar 1996, S. 719–724. Zur Begriffsgeschichte vgl. ferner Art. „Naturwissenschaften“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 6, Basel, Darmstadt 1984, Sp. 641–650. Poetica scientiae als Provokation der Literaturwissenschaft | 19 zeitloser, allgemeingültiger, von einer Universalvernunft einsehbarer Ideen oder Axiome darstellt, sondern dem historischen und kulturellen Wandel unterworfen ist; auch relativieren sie wissenschaftsdogmatische Auffassungen mit dem Hinweis, dass alle wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse von nicht- wissenschaftlichen Ideen, Glaubensinhalten und Weltanschauungen beein- flusst und neben den rationalen immer auch von psychologischen und soziolo- gischen Kräften mitgeprägt sind; nicht zuletzt vermitteln sie uns eine Skepsis gegenüber einem kumulativ sich vollziehenden, auf das Telos objektiver Wahr- heit ausgerichteten Wissenschaftsfortschritt; doch bei aller Verunsicherung des wissenschaftlichen Fundaments, die mit diesen Bestimmungsversuchen ein- hergeht, bleiben wir im Großen und Ganzen in jenem dualistischen Denken verhaftet, das Wissenschaft und Kunst, Vernunft und Emotion, wissenschaftli- che Rationalität und humane Vernünftigkeit, Objekt und Subjekt, Formel und Metapher, Abstraktion und Anschaulichkeit, Mythos und Logos voneinander abgrenzt.66 Gerade diese durch die Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie mit bedingten Verunsicherungen und Relativierungen ermöglichen es zwar, die Frage nach vergleichbaren Aspekten zwischen so radikal verschiedenen Dis- kurssystemen wie Literatur und Wissenschaft weitaus unbefangener anzugehen als dies bis vor wenigen Jahrzehnten noch der Fall war, zugleich begünstigen sie aber auch jene oben skizzierten radikalen Ansätze, die zwischen Literatur und Naturwissenschaft bestenfalls einen graduellen, nicht aber einen prinzi- piellen Unterschied sehen. Die Position, die die vorliegende Studie demgegen- über einnimmt, ist entschieden moderater und konventioneller. Ihr kommt es darauf an, die differentia specifica des wissenschaftlichen und literarischen Diskurses in der produktiven Konfrontation beider überhaupt erst zu eruieren. || 66 Heinz Schlaffers ebenso anregendes wie irritierendes Buch Poesie und Wissen (Frankfurt/M. 1990) ist symptomatisch für das hartnäckige Verharren innerhalb des beschriebenen dichoto- mischen Denkmodells. Das „unwiderlegliche Weltbild der neuzeitlichen Wissenschaft“ (S. 123) kontrastiert mit einer zur „Statthalterin des Ungültigen“ (S. 147) degradierten Dichtung, die sich in der „ironischen Wiederholung widerrufener Botschaften“ (S. 134) und damit jenem Wissen erschöpft, das „vom Fortschritt neuzeitlicher Wissenschaft überholt“ worden ist (S. 115). Indem sie – wider die theoretische Einsicht der modernen Naturwissenschaft – an der „Verbindung von Anschaulichkeit und Bedeutsamkeit“ festhalten, „sind die Künste der moder- nen Welt prinzipiell – d.h. unabhängig von jeder fortschrittlichen oder restaurativen Gesin- nung der Künstler – konservativ“ (S. 125; vgl. S. 127). Angesiedelt an der „Grenze zwischen idealer Forderung und realistischer Resignation“ (S. 123) und in Ermangelung eines „objekti- ven Systems“ (S. 122), erweisen sich Künstler, Kunst und Kunstrezipient letztlich als antiquierte Weltflüchtige. 20 | Einleitung Insofern sie ihren Ausgang jeweils in literarischen Texten nimmt, in Abhängig- keit von diesen den darin gelegten und ästhetisch transformierten ‚szientifi- schen‘ Spuren nachgeht, versteht sich die Arbeit als eine dezidiert literaturwis- senschaftliche; insofern diese ‚szientifischen‘ Spuren nicht nur minimalistisch gelesen, sondern in ihren umfangreicheren wissenschaftlichen, historischen und epistemologischen Kontext gestellt werden, versteht sie sich zugleich als ein dezidiert interdisziplinäres Unterfangen. Grundlegend für diese Positionie- rung ist die Auffassung, wonach Literatur ganz allgemein als ein kulturelles Integrationssystem beschrieben werden kann, das sich potentiell auf die Ge- samtheit des Wissens – naturwissenschaftliches Wissen eingeschlossen – be- zieht. Ihrem Gegenstand entsprechend muss also auch die Literaturwissen- schaft als eine Integrationswissenschaft aufgefasst werden, die ihrem wissenschaftlichen Anspruch nur dann genügen kann, wenn sie sich den in der Literatur thematisierten und vielschichtig miteinander verflochtenen Spezial- diskursen stellt. In diesem Sinne meint Interdisziplinarität nichts anderes als die – zuweilen äußerst provokante – Forderung, die die Literatur aufgrund ihres interdiskursiven Charakters zwangsläufig an die Literaturwissenschaft stellt. Die simple Beobachtung, dass die Literatur vor der Wissenschaft keinesfalls Halt macht, sondern sich aus dem reichen Fundus wissenschaftlicher, ganz besonders eben auch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, Theorien und Ver- fahrensweisen bedient, die ihrerseits wiederum Einfluss auf die Entwicklung narrativer Formen und Techniken sowie auf die Ausbildung poetologischer Konzepte und Selbstverständnisse nehmen, führt damit unweigerlich immer wieder zurück zu den ganz grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis von Literatur und Wissenschaft, nach ihren je spezifischen Möglichkeiten und Leis- tungen und ganz besonders eben auch nach dem Status, den Möglichkeiten und den Grenzen der Literaturwissenschaft selbst. Anders gesagt: Die Beobachtung des Dialogs zwischen Literatur und Wissenschaft führt nicht nur zu der Frage nach der produktiven Rezeption wissenschaftlicher Theorien in der Literatur, wie sie sich etwa in den immanent oder explizit zugrunde liegenden Poetiken oder in spezifischen Verfahrensweisen und Darstellungsmodi spiegelt; vielmehr wird dadurch umgekehrt auch auf Seiten der Wissenschaft ein selbstreflexiver Prozess in Gang gesetzt, in dem Fragen nach den Impulsen, welche die Literatur für die Wissenschaft, speziell die Literaturwissenschaft und deren Theorien und Methoden bereitstellt ebenso provoziert werden wie Fragen, die sich aus der intensiveren Beschäftigung mit ‚fremden‘ Disziplinen für die eigene Disziplin ergeben. Die Art und Weise, wie die Literatur auf historisches und zeitgenössi- sches wissenschaftliches Wissen reagiert und wie sie dieses Wissen ästhetisch sich aneignet und funktionalisiert, führt unweigerlich dazu, sich – wie ‚grenz- Poetica scientiae als Provokation der Literaturwissenschaft | 21 gängerisch‘ auch immer – mit diesem ‚anderen‘ Wissen, diesen ‚fremden‘ Diszi- plinen auseinanderzusetzen. Die literarische Praxis der Intertextualität korre- liert folglich mit der literaturwissenschaftlichen Praxis der Interdisziplinarität, einer Praxis, die kaum ohne revidierenden und korrigierenden Rückwirkungen auf unser Verständnis sowohl von Literatur als auch von (Litera- tur-)Wissenschaft bleibt.67 Das interdisziplinäre Postulat, dem sich die Spezialdisziplin ‚Literaturwis- senschaft‘ seitens ihres Gegenstandes, der Literatur, unterstellt sieht, adäquat einzulösen, birgt jedoch mindestens ebenso viele Schwierigkeiten und Proble- me wie es Chancen und Perspektiven eröffnet – dies um so mehr, wenn es sich bei der literarisch integrierten ‚anderen‘ Disziplin nicht vorrangig um eine aus- schließlich sprachlich operierende Textwissenschaft handelt, sondern, wie in dieser Studie der Fall, um überwiegend mathematisch und physikalisch- experimentell operierende Wissenschaften. In der Regel ist der Literaturwissen- schaftler ein mathematisch-naturwissenschaftlicher Laie und außerstande, die Höhenkämme mathematisch-naturwissenschaftlicher Disziplinen zu erklim- men; der Zugang zur fremden Disziplin ist ihm „letztlich nur durch die Inan- spruchnahme einer Übersetzungstätigkeit möglich, die keinesfalls mit der eigentlichen Wissenschaft gleichgesetzt werden sollte“.68 3 Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse Die gattungsübergreifende, überaus vielgestaltige Physiognomie der poetica scien- tiae, die stark ausdifferenzierten und in sich wiederum äußerst komplexen natur- wissenschaftlichen Disziplinen und Diskurse, ferner der interdisziplinäre Anspruch verbunden mit der Maßgabe, den Untersuchungsgegenstand möglichst zu verein- heitlichen und die daran geknüpften Fragestellungen innerhalb eines thematisch kohärenten Zusammenhangs zu diskutieren, waren ausschlaggebend dafür, die vorliegende Untersuchung auf mathematisch-physikalische Diskurse zu beschrän- ken und nur solche literarische Werke zu berücksichtigen, die diese Diskurse auf klar identifizierbare Weise inhaltlich und formal aufgreifen. Zwei Themenkomplexe || 67 Ausführlicher dazu vgl. Gert-Ludwig Ingold, Bernadette Malinowski: Chancen und Grenzen des interdisziplinären Dialogs: Erfahrungsbericht über das Seminar ‚Farben und Licht in ästhe- tischer und physikalischer Perspektive‘, in: Physikerinnen stellen sich vor. Dokumentation der Deutschen Physikerinnentagung 2003, hrsg. v. Cosima Schuster, Berlin 2004, S. 107–112. 68 Vanderbeke: Theoretische Welten und literarische Transformationen, S. 15. 22 | Einleitung stehen dabei im Zentrum: der Aspekt der literarischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichtsschreibung sowie der Aspekt der literarischen Wissenschafts- theorie bzw. Epistemologie. Mit dieser Engführung auf wissenschaftshistorische und epistemologische Problem- und Fragestellungen intendieren die nachfolgenden Studien, einen nach wie vor überaus interessanten Bereich auf dem weiten und inzwischen kaum mehr zu überblickenden Feld literatur- und kulturwissenschaftli- cher Untersuchungen zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft noch weiter auszuleuchten und damit zur Profilierung der Literatur der Postmoderne und Gegenwart in ihrem ebenso strittigen wie konstruktiven Dialog mit den Wissen- schaften beizutragen. Im wissenschaftshistorischen Zusammenhang kommt dabei dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte und deren narrativ- fiktionalen Transformationen besondere Aufmerksamkeit zu. Dabei gilt es die im systematischen Teil erörterten ästhetischen Öffnungen seitens der Wissen- schaftsgeschichte und -theorie produktiv zu machen und die Wechselwirkun- gen zwischen wissenschaftlichen Geschichtsdarstellungen und -schreibweisen sowie deren theoretischer Fundierung einerseits, der wissenschaftshistorischen Fiktion und wissenschaftshistoriographischen Metafiktion andererseits aufzu- zeigen. Von dezidiert epistemologischem Interesse sind vor allem Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Nichtwissen, nach spezifischen wissenschaftli- chen und literarischen Erkenntnisformen und insbesondere nach den Möglich- keiten, die eine literarische Epistemologie für eine allgemeine Epistemologie der Wissenschaften bereitstellt. Ausschlaggebend hierfür wird weniger sein, die literarischen Texte durch ein primär theoriegeleitetes Vorgehen zu analysieren als vielmehr, durch intensive Lektüren die Theoriewertigkeit der Literatur selbst offenzulegen – dies eingedenk des unhintergehbaren Faktums, dass es schlech- terdings kein theorieunabhängiges Sehen und Wahrnehmen geben kann.69 Die Fokussierung der genannten thematischen Schwerpunkte und der durch diese jeweils aufgeworfenen spezifischen Fragestellungen bleibt dabei eingebunden in einen allgemeinen Fragehorizont, innerhalb dessen vor allem die (produkti- ons-, werk- und rezeptions-)ästhetischen Bedingungen einer poetica scientiae zu rekonstruieren und Aspekte einer produktiven (strukturell, semantisch und poetologisch) erfolgenden Aneignung, Transformation und Reflexion wissen- schaftlicher Diskurse zu erörtern sind. Zentral sind hier zunächst Fragen nach der Motivation und Zielsetzung solcher Rückgriffe und Eingriffe, wobei das || 69 „[U]nd so kann man [mit Goethe] sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt [auch in die Textwelt] theoretisieren“ (Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre [1810], hrsg. v. Manfred Wenzel, Frankfurt/M. 1991, S. 14). Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse | 23 Spektrum von einer dem Postulat der imitatio veterum verpflichteten Wissen- schaftsliteratur über gemäßigtere, um Ausgleich bemühte, dabei Wissenschaft und Literatur komplementäre Sichtweisen, Erkenntnisleistungen und kulturelle Funktionen konzedierende Varianten, bis hin zu einer von Emanzipations- und Überbietungsbestrebungen motivierten, literarisch ausgefochtenen querelle des sciences et des littératures reicht. Ein weiterer Fragekomplex betrifft die spezifi- schen Verfahrensweisen, zu denen etwa Modi der Selektion und Kombination wissenschaftlicher Diskurseme, die Vielfalt rhetorisch-narrativer Techniken der intertextuellen Markierung, der ästhetischen Verwandlung, Semantisierung und Funktionalisierung szientifischer Bezüge gehören, wobei es insbesondere die Verlaufslogik von wissenschaftlichen zu narrativen Gehalten und Methoden zu beschreiben gilt. Weiterführend sind schließlich Fragen nach den kulturel- len, ästhetischen, ethischen und nicht zuletzt auch wissenschaftlichen Konse- quenzen zu berücksichtigen. Einer an Perspektiven, Einsichten, Kenntnissen und Denkimpulsen überaus reichen und in ihrem individuellen Anregungspotential kaum angemessen zu würdigenden Forschung zur literarisch produktiven Rezeption und Transforma- tion naturwissenschaftlicher Diskurse verdankt die vorliegende Untersuchung eine ganze Reihe methodischer und konzeptioneller Anschlussmöglichkeiten. Einen Forschungsüberblick auch nur annähernd versuchen zu wollen, wäre ein hoffnungsloses Unterfangen; gleichwohl lässt sich das weite Feld – der ‚Trich- terlogik‘ eines Untersuchungsgangs verpflichtet, der an der Breite ansetzt (Zwei- Kulturen-Debatte) und immer enger führend zur literarischen Wissenschafts- geschichtsschreibung und Epistemologie fortschreitet – tendenziell in fünf Sektoren untergliedern. Der erste Sektor umfasst Forschungsliteratur, die sich vor allem im An- schluss an die Zwei-Kulturen-Debatte literatur- und kulturwissenschaftlich, wissenschaftstheoretisch und -historisch um eine Verhältnisbestimmung von wissenschaftlichem und kulturellem Wissen bemüht (so etwa die Sammelbände von Helmut Kreuzer, Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die „zwei Kulturen“,70 George Levine, One Culture. Essays in Science and Literature,71 John Brockman, The Third Culture. Beyond the Scientific Revolu- tion,72 Daniel Fulda und Thomas Prüfer, Faktenglaube und fiktionales Wissen: || 70 Stuttgart 1969. 71 Madison 1987. 72 New York 1996. 24 | Einleitung zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne,73 sowie Elinor S. Shaffer, The Third Culture: Literature and Science74 und die Monographien von Stuart Peterfreund: Literature and Science. Theory and Practice75, Daniel Cordle, Postmodern Postures: Literature, Science and the Two Cultures Debate,76 David L. Wilson und Zack Bowen, Science and Literature. Bridging the Two Cultures77 sowie John H. Cartwright und Brian Baker: Literature and Science: Social Impact and Interaction78). In diesem Zusammenhang sind vor allem auch die seit 1993 von der John Hopkins-University herausgegebene Zeitschrift Configurations. A Journal of Literature, Science, and Technology ferner das seit 1997 von Lutz Dan- neberg, Wilhelm Schmidt-Biggemann u.a. edierte Jahrbuch Scientia Poetica. Jahrbuch für die Geschichte der Literatur und der Wissenschaften/Yearbook for the History of Literature, Humanities and Sciences79 sowie die seit 2015 von Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke herausgegebene ELINAS- Schriftenreihe zu Literatur- und Naturwissenschaften80 zu nennen. Besonders hervorzuheben sind ferner Studien, die dezidiert von der „gegenseitigen Be- dingtheit der Wissenskulturen“ ausgehen und die „Austauschprozesse zwi- schen den Wissenskulturen in den Blick [nehmen]“. Exemplarisch realisiert ist dieses Unternehmen in dem von Caroline Welsh und Stefan Willer herausgege- benen Band „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen81. Wie bereits die für diesen Band titelgebende Formulierung von Friedrich Schlegel „Interesse für bedingtes Wissen“ anzeigt und wie es sich || 73 Frankfurt/M. 1993. 74 Berlin, New York 1998. 75 Boston 1990. 76 Aldershot 1999. 77 Grainesville u.a. 2001. 78 Santa Barbara 2005. 79 Tübingen 1997 ff. 80 Berlin, Boston 2014 ff. ELINAS ist „ein interdisziplinäres Forschungszentrum, das sich dem wechselseitigen Wissenstransfer zwischen Physik und Literatur widmet und von der Naturwis- senschaftlichen, der Philosophischen und der Medizinischen Fakultät [der Friedrich- Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg] getragen wird“ (Aura Heydenreich u. Klaus Mecke: Zur Einführung. Dialogisches Denken. Für eine Kultur des Ideenaustausches und der Wech- selwirkungen zwischen Schriftstellern, Physikern und Literaturwissenschaftlern, in: Physik und Poetik. Produktionsästhetik und Werkgenese. Autorinnen und Autoren im Dialog, Berlin, Boston 2015, S. 1–22, hier S. 3). Es ging hervor aus einem Arbeitskreis für „Physik und Litera- tur“, dessen lebendige Dialogkultur die Fruchtbarkeit interdisziplinären Austauschs – und nicht zuletzt auch die gewachsene Institutionalisierung dieses Dialogs – sichtbar werden ließ. 81 München 2008. Der von Caroline Welsh und Stefan Willer verfassten Einleitung „Die wech- selseitige Bedingtheit der Wissenskulturen – ein Gegenentwurf zur Trennungsgeschichte“ entstammen auch die Zitate, vgl. S. 10. Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse | 25 auch in der vorliegenden Arbeit zeigen wird, sind wissens- und wissenschafts- geschichtliche Fragestellungen von epistemologischen nicht kategorisch vonei- nander abzulösen (beispielhaft hierfür sind die im Rahmen des SFBs „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ v.a. von Olaf Breidbach durchgeführten Analy- sen zu „Empirie versus Spekulation“82), sondern zumeist zwei Seiten einer Me- daille, die freilich jeweils für sich einer akzentuierten Betrachtung unterzogen werden können, ohne die jeweils andere Seite aus dem Blick zu verlieren. Auch ist an dieser Stelle bereits auf die im Druck befindliche Untersuchung Physica Poetica: Zählen und Erzählen. Theorie und Praxis der Prozesse der Interformation zwischen Literatur und Naturwissenschaft von 1600 bis 2016 von Aura Heyden- reich zu verweisen, die in äußerst exakter zeichen- und symboltheoretischer Argumentation für die „Grenzprozess[e] des Zeichenverkehrs“ zwischen Litera- tur und Physik das sehr produktive Konzept der „Interformation“ entwickelt.83 Zum zweiten Sektor gehören vor allem im Bereich der Linguistik und der Sprachphilosophie angesiedelte Studien, die sich der Beschreibung und Diffe- renzierung epistemisch-diskursiver und literarisch-metaphorischer Sprache und Symbolsysteme widmen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem diejenigen Arbeiten, die sich mit Rhetorik, Bildlichkeit und Semiotik der Wissenschaftssprache beschäftigen. In diese Gruppe fallen Arbeiten, die trotz ihres innovativen Vorgehens und ihres Kenntnisreichtums letztlich disziplinä- ren Interessen verpflichtet bleiben, indem sie ausgehend von der sprachlich- rhetorischen Verfasstheit allen Wissens dazu tendieren, den Unterschied zwi- schen Literatur und Wissenschaft einzuebnen (z.B. Mary Hesses Models and Analogies in Science,84 Alan Gross’ The Rhetoric of Science85 oder der von Peter Dear herausgegebene Sammelband The Literary Structure in Scientific Argu- || 82 Vgl. z.B. Olaf Breidbach: Empirie versus Spekulation? Naturphilosophie als spekulative Wissenschaftslehre und die Formierung der modernen Naturwissenschaften aus der Situation Weimar-Jena um 1800, in: Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, hrsg. v. Olaf Breidbach, Klaus Manger u. Georg Schmidt, Paderborn 2015, S. 237–276. Wie Breidbach darin aufzeigt, ist das für die Situation um 1800 konstatierte „Gegeneinander der zwei Kulturen“, hier konkret von „Philosophie in spekulativer und Naturforschung in empirisch-induktiver Hinsicht“ (ebd., S. 243), ein „Konstrukt“ (ebd.) – zutreffend sprechen Welsh und Willer von einem „Narrativ der Trennungsgeschichte“ (Welsh/Willer: „Interesse für bedingtes Wissen“, S. 11), dessen Korrek- tur gleichermaßen von wissenschaftshistorischem wie wissenschaftstheoretischem Wert ist (vgl. ebd.). 83 Die Studie, die hier leider keine Berücksichtigung mehr finden konnte, wird voraussichtlich noch in diesem Jahr erscheinen. 84 Notre Dame 1966. 85 Cambridge/MA, London 1990. 26 | Einleitung ment86), aber auch Untersuchungen, die sich kritisch gegen Nivellierungsversu- che wenden (Hermann J. Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs. Der Dialog mit der Evolutionsbiologie in der englischen und amerikanischen Lite- ratur87 oder Richard Nates Aufsatz „Rhetorik und der Diskurs der Naturwissen- schaften“88) oder ästhetische und szientifische Erkenntnisformen sprachlogisch differenzieren (z.B. Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnis- formen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft89). Die letztgenannten Arbeiten berühren bereits den dritten Sektor, der Stu- dien umfasst, denen es um die Schematisierung und Systematisierung des theo- retisch-methodischen und methodologischen Verhältnisses von Literatur und Wissen bzw. Literatur und Wissenschaften zu tun ist, im Zuge dessen auch das weite Forschungsfeld strukturieren und damit einen wertvollen Kompass für jede Forschungsarbeit bieten. In diesem Zusammenhang sind v.a. Ralf Klausnit- zers Monographie Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen90 sowie der von Tilmann Köppe herausgegebene Band Literatur und Wissen. Theore- tisch-methodische Zugänge91 anzuführen, auf dessen vielperspektivische Beiträ- ge im Zuge dieser Arbeit immer wieder zurückzukommen sein wird. Generell gilt es festzuhalten, dass die Frage nach den Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Literatur und Wissen bzw. Wissenschaften92 in der letzten Zeit an || 86 Philadelphia 1991. 87 München 1992. 88 In: Die Aktualität der Rhetorik, hrsg. v. H. F. Plett, München 1996. 89 Stuttgart 1991. Ohne die Unterscheidung zwischen „Wahrheit und Dichtung, Fakten und Fiktionen“ aufzuweichen, plädiert Gabriel – und hierin ist ihm uneingeschränkt zuzustim- men –, für eine „Erweiterung des Erkenntnisbegriffs“: Der „Erkenntniswert“ der Literatur sei v.a. in ihrer „Vergegenwärtigungsleistung“ zu sehen. Dichterische Erkenntnis vollziehe sich auf Grund der Richtungsänderung des Bedeutens im Sinne einer aufweisenden Bezugnahme, einer symbolischen Exemplifikation, welche die reflektierende Urteilskraft des Lesers auf der Suche nach einer Deutung aktiviert, weniger im Sprachmodus des propositionalen Sagens als vielmehr im Sprachmodus des vergegenwärtigenden Zeigens (Gottfried Gabriel: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, in: Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Litera- tur. Philosophische Beiträge, hrsg. v. Christoph Demmerling u. Ingrid Vendrell Ferran, Berlin 2014, S. 163–180, hier S. 163 f. u. 168 f.). 90 Berlin, New York 2008. 91 Berlin, New York 2011. Einen kompakten Überblick über die einzelnen Beiträge bietet Köp- pes Einleitung: Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen, in: ebd., S. 4–28, v.a. S. 14–18. 92 Vgl. erneut den bis 2003 reichenden Forschungsüberblick von Pethes: Literatur- und Wis- senschaftsgeschichte, S. 210 ff. sowie ders.: Poetik/Wissen. Konzeption eines problematischen Transfers, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hrsg. v. Gabriele Brandstetter u. Gerhard Neumann, Würzburg 2004, S. 341–372. – Einschlägig ist Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse | 27 Bedeutung erheblich zugenommen hat. Vergegenwärtigt man sich die beiden programmatischen Diskussionen, wie sie 2007 in der Zeitschrift KulturPoetik93 und in der Zeitschrift für Germanistik94 geführt wurden, so kollidieren beide Male ein harter Wissensbegriff (Stiening, Köppe) und ein weicher (Vogl, Bor- gards, Dittrich). Durch die Nivellierung der differentia specifica zwischen litera- rischen und nicht-literarischen (Vogl) sowie historischen und kulturellen Aus- prägungen von Wissensformen (Köppe) führen beide Extrempositionen letztlich zu einer Entdifferenzierung des Wissens und Wissensbegriffs und erweisen sich als analytisch nicht mehr sinnvoll handhabbar.95 Für die vorliegende Untersu- chung ist es nicht zielführend, a priori mit einem vorgefassten Wissensbegriff zu arbeiten, vielmehr sollen die Weisen des Verhältnisses der untersuchten Texte zum Wissen sich durch die Analysen allererst konkretisieren. Als zweckmäßig erweist sich jedoch die Grundunterscheidung ‚propositionales‘ und ‚nicht- propositionales Wissen‘, deren Relevanz für textwissenschaftliche Fragestel- || Krämers Klassifizierung nach den drei Relationierungstypen „Intention“, „Korrelation“ und „Zirkulation“ (Olav Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptio- nen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen, in: Köppe: Literatur und Wissen, S. 77–115; zu einer knappen Charakterisierung dieses Ansatzes vgl. B. Malinowski u. Michael Ostheimer: Komparatistik als Wissenspoetik, in: Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, hrsg. v. Rüdiger Zymner u. Achim Hölter, Stuttgart, Weimar 2013, S. 256–261). Vgl. auch Thomas Klinkerts Beitrag Literatur und Wissen. Überlegungen zur theo- retischen Begründbarkeit ihres Zusammenhangs, in: Köppe: Literatur und Wissen, S. 116–139, in dem er – teils in sachlicher Überschneidung mit Krämers Klassifizierung – vier Möglichkei- ten der Relationierung von Literatur und Wissen unterscheidet: eine „wissensrezeptive“, eine ‚gegendiskursive‘, eine ‚wissensgenerierende‘ sowie eine ‚wissensproblematisierende‘ (vgl. S. 118–123). 93 Vgl. Gideon Stiening: Am „Ungrund“ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man „Poetologien des Wissens“ sowie Joseph Vogl: Robuste und idiosynkratische Theorie, in: KulturPoetik, 7. Jg., 2 (2007), S. 234–248 u. 249–258. Wie Stiening in einem späteren Aufsatz betont, gilt in erkenntnistheoretischer Hinsicht zwar „ohne alle Einschränkungen, dass Litera- tur kein Wissen ist“ (205); in wissensgeschichtlicher Hinsicht bedeutet dies ist jedoch keines- wegs, dass „Literatur […] kein Wissen [enthalte]“ (Gideon Stiening: „Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei“. Zum Verhältnis von Wissen und Literatur am Beispiel von Goethes Die Metamorphose der Pflanzen, in: Köppe: Literatur und Wissen, S. 192–213, hier S. 204). 94 Vgl. Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur; Roland Borgards: Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 17. Jg., 2 (2007), S. 398–410 u. 425–428. Ferner Andreas Dittrich: Ein Lob der Bescheidenheit. Zum Konflikt zwischen Er- kenntnistheorie und Wissensgeschichte; Tilmann Köppe: Fiktionalität, Wissen, Wissenschaft. Eine Replik auf Roland Borgards und Andreas Dittrich, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 17. Jg., 3 (2007), S. 631–637 u. 638–646. Zum Gegensatz harter vs. weicher Wissensbegriff vgl. auch Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 182 f. 95 Vgl. hierzu auch Malinowski/Ostheimer: Komparatistik als Wissenspoetik, S. 256–261. 28 | Einleitung lungen etwa Andrea Albrecht herausgearbeitet hat. Wie Albrecht am Beispiel der Sklavenszene in Platons Menon zeigt, sind es „insbesondere die indirekten, deiktischen und performativen Komponenten […], die die Diskrepanz zwischen normativer und deskriptiver Epistemologie, zwischen propositionalem Wis- sensanspruch und nicht-propositionaler Wissensexemplifikation deutlich wer- den lassen“.96 Dies führt unmittelbar auf den vierten Bereich von Forschungsliteratur, die sich dezidiert mit literarischer Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsge- schichtsschreibung und Wissenschaftstheorie auseinandersetzt. Neuere wis- senschaftsgeschichtliche Ansätze wie sie etwa Lorraine Daston, Peter Galison, Hans Jörg Rheinberger oder Michael Hagner geprägt haben, sind in diesem Zusammenhang ebenso einschlägig wie Studien zur Historiographie und zur Gattungstheorie des Historischen Romans (Hans Vilmar Geppert, Fabian Lam- part, Ansgar Nünning).97 Anzuführen sind vor allem auch die Arbeiten von Christian Kohlross (Die poetische Erkundung der wirklichen Welt. Literarische Epistemologie [1800–2000]98) und Thomas Klinkert (Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung99). Kohlross begründet das u.a. mit den Namen Schiller, Kleist und Novalis verbundene Unternehmen einer „literarischen Epistemologie“ als ein „Konkurrenzpro- gramm zu der um 1800 sich von der Metaphysik emanzipierenden Erkenntnis- theorie“100 und der damit verbundenen Reduktion dessen, was Wirklichkeit und Wissen sei. Anders als dies die Philologie seit dem 19. Jahrhundert zu tun pflegt, nämlich „sich mehr um die Generierung eines Wissens über Literatur [zu küm- mern]“ als um das „Wissen der Literatur“ selbst, intendiert Kohlross, „das eigentlich erkenntnistheoretische Programm einer nicht-empirischen Epistemo- logie, deren Gegenstand die Formen der Weltdarstellung sind“101 in den von ihm durchgeführten Einzelstudien auszuloten. – Im Ausgang system- und fiktions- theoretischer Überlegungen leistet Klinkert in seiner komparatistisch-diachron || 96 Vgl. Andrea Albrecht: Zur textuellen Repräsentation von Wissen am Beispiel von Platons Menon, in: Köppe: Literatur und Wissen, S. 140–163, hier S. 161. 97 Vgl. exemplarisch Lorraine Daston u. Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2007; Hans- Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Protein- synthese im Reagenzglas, Göttingen 2001; Hans Vilmar Geppert: Geschichte umerzählt von Walter Scott bis zur Gegenwart, Tübingen 2009; Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde., Trier 1995. 98 Bielefeld 2010. 99 Berlin, New York 2010. 100 Kohlross: Literarische Epistemologie, S. 13. 101 Ebd., S. 8. Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse | 29 angelegten Studie zunächst eine theoretische Begründung der Interrelationen von Literatur und Wissenschaft: Aus der Doppelcodierung literarischer Texte resultiert nicht nur der „Widerstreit zwischen einer Fokussierung der Form (schön vs. hässlich) und einer Akzentuierung des Dargestellten als eines wis- senswerten Gegenstandes (Fiktion vs. Wahrheit)“;102 vielmehr erwächst der Literatur aufgrund der zweiten Leitdifferenz auch die Möglichkeit, „an Wis- sensdiskursen [zu] partizipieren und somit zu epistemologischen Fiktionen [zu] werden“103. – Die bereits angesprochene unhintergehbare Verschränkung von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie zeigt sich am deutlichsten in dem von Albrecht, Danneberg, Spoerhase und Werle entwickelten Konzept einer „Historischen Epistemologie […], das die Rekonstruktion wissenschaftli- cher Wissensansprüche als Bestandteil epistemischer Situationen zu modellieren versucht“.104 Die Anschlussmöglichkeiten einer so verstandenen ,Historischen Epistemologie‘ an literaturwissenschaftliche Forschungszweige sind, wie die von Gittel unternommene Systematisierung zeigt,105 vielfältig. Die Fokussierung literarischer Texte, die Wissenschaft produktiv rezipieren, so die Maßgabe für die vorliegende Studie, entlastet keineswegs von der möglichst genauen Re- konstruktion jener Quellen, auf die der literarische Text Bezug nimmt, entlastet also mithin nicht von einer zumindest im Ansatz realisierten ,Historischen Epis- temologie‘. Dabei geschieht die Inblicknahme der von Danneberg so bezeichne- ten „epistemischen Situation“106 – auch wenn die wissenschaftlichen Quellen möglichst unabhängig vom literarischen Text, in den sie eingegangen sind, untersucht werden – letztlich doch unter dem für die hier interessierende Frage nach einer poetica scientiae konstitutiven Primat des Ästhetischen – und dieser ist wiederum von den Komplementärparadigmen ‚Poetologie des Wissens‘ und ‚Epistemologie der Poetik‘107 nicht völlig abzulösen.108 || 102 Klinkert: Epistemologische Fiktionen, S. 3. 103 Ebd., S.4. 104 Vgl. Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase u. Dirk Werle: Zum Konzept Historischer Epistemologie, in: Scientia Poetia, Bd. 20, Heft 1 (2016), S. 137–165, hier S. 138. 105 Vgl. Benjamin Gittel: Historische Epistemologie und Literaturwissenschaft, in: ebd., S. 290–305. 106 Zu diesem Begriff vgl. Albrecht et al.: Zum Konzept Historischer Epistemologie, S. 140 f.; Lutz Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Ima- ginationen, in: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, hrsg. v. Lutz Raphael u. Heinz-Elmar Tenorth, München 2006, S. 193–221, v.a. S. 209 f. 107 Formulierungen nach Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 210. Der vielfach kritisierte Wissensbegriff, den Vogl seiner 1991 erstmals formulierten „Poetologie des Wissens“ zugrundelegt (s.o.; vgl. Joseph Vogl: Einleitung, in: Poetologien des Wissens um 1800, hrsg. v. 30 | Einleitung Die fünfte Sektion schließlich umfasst dezidiert literaturwissenschaftliche Arbeiten zur ‚Wissenschaftsliteratur‘. Hier nehmen die Überblicksdarstellungen einen relativ überschaubaren Raum ein. Zu nennen sind vor allem motiv- und diskursgeschichtliche Längsschnitte, wie sie etwa von Elisabeth Emter, Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970)109 und Katherine N. Hayles (z.B. The Cosmic Web: Scientific Field Models and Literary Strategies in the Twentieth Century und Chaos Bound: Orderly Disorder in Contemporary Lite- rature and Science110) unternommen werden. Kommen komparatistische Darstel- lungen lediglich vereinzelt vor (vgl. den von Norbert Elsner und Werner Frick herausgegebenen, diachron angelegten Aufsatzband „Scientia poetica“. Litera- tur und Naturwissenschaft111 oder Betül Dilmac: Literatur und Physik. Literarisie- rungen der Physik im französischen, italienischen und lateinamerikanischen Gegenwartsroman112), gibt es eine Fülle von nationalphilologisch ausgerichteten Studien zur Literatur des 20. Jahrhunderts, die themenverwandte Fragestellun- gen aufgreifen (z.B. der von Helene Harth u.a. herausgegebene Band Konflikt der Diskurse. Zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im modernen Ita- lien,113 Maureen DiLonardo, New Physics and Modern French Novel: an Investiga- tion of Interdisciplinary Discourse114 oder die umfangreiche Studie von Dirk Van- derbeke: Theoretische Welten und literarische Transformationen. Die Naturwissenschaften im Spiegel der ‚science studies‘ und der englischen Literatur || Joseph Vogel, München 1999, S. 7–16 sowie ders.: Für eine Poetologie des Wissens, in: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, hrsg. v. Karl Richter, Jörg Schönert u. Michael Titzmann, Stuttgart 1997, S. 107–127), sollte das Verdienst, nämlich den Blick auf die (kul- tur)historischen und kreativ-poietischen Aspekte des Wissens und der Wissensgenerierung gelenkt und ineins damit die epistemologische Relevanz poetologischer Konzepte aufgezeigt zu haben, nicht schmälern. Nicht zuletzt sind es ja gerade die dadurch ausgelösten eristisch geführten Debatten, die die nachhaltige Produktivität dieses Ansatzes bezeugen. 108 Damit ist nicht zugleich jenem von Albrecht et al. zurecht angemahnten „Reduktionis- mus“ stattgegeben, der die „Bedeutung epistemischer Werte […] negiert oder gegenüber sozia- len, ästhetischen oder anderen Faktoren vernachlässigt“ (Albrecht et al.: Zum Konzept Histori- scher Epistemologie, S. 138). 109 Berlin 1995. 110 Ithaca/NY, London 1984 und Ithaca/NY, London 1990. Instruktiv ferner der von Hayles herausgegebene Sammelband Chaos and Order. Complex Dynamics in Literature and Science, Chicago, London 1991. 111 Göttingen 2004. 112 Freiburg/Br. 2012. 113 Tübingen 1991. 114 New York u.a. 1995. Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse | 31 des ausgehenden 20. Jahrhunderts,115 die neben einer Reihe von einzelnen litera- rischen Fallstudien eine kritische Auseinandersetzung mit der geisteswissen- schaftlichen Perspektive auf die Naturwissenschaften unternehmen). Eine Viel- zahl von Anknüpfungsmöglichkeiten bietet ferner die komparatistische Arbeit von Andreas B. Kilcher, mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600–2000,116 die das Verhältnis von Literatur und Wissen am Beispiel der En- zyklopädie untersucht. Die quantitativ umfangreichste Gruppe zu den Wechsel- beziehungen zwischen Literatur und Naturwissenschaften bildet Sekundärlite- ratur zu einzelnen Autoren und Werken, mit denen sich die vorliegende Studie am gegebenen Ort auseinandersetzen wird.117 In Darstellung und Methode passt sich die Untersuchung dem dynamischen Reichtum ihres Quellenrepertoires, aber auch den daraus resultierenden wech- selnden Perspektiven und Fragestellungen an und ist vorrangig um ein sachlich angemessenes Verhältnis zwischen historischer und systematischer Betrach- tung, zwischen textnaher Evidenz und übergreifender theoretischer Konzeptua- lisierung bemüht. Vor dem Hintergrund der leitenden Fragestellung nach den Beziehungen zwischen Literatur und den in ihr ästhetisch transformierten wis- senschaftlichen ‚Prätexten‘118 mit ihren jeweiligen wissenschaftshistorischen und epistemologischen Implikationen, erweisen sich insbesondere die Inter- textualitätstheorie (vor allem deren textdeskriptiven Varianten) und die Rezep- tionsästhetik als methodische Konstanten. Der genannten sachlichen Zielset- zung, durch die interdisziplinäre Perspektivierung exemplarischer Texte der poetica scientiae Einsicht in die Konstitutionsbedingungen von Literatur im Spannungsfeld von dialogischer Anknüpfung an naturwissenschaftliche Dis- kurse und deren vielgestaltige Transformationen in einer aus der klassizisti- schen Nachahmungsdoktrin längst entlassenen Kunstepoche zu gewinnen, || 115 Tübingen 2004. 116 München 2003. 117 Hierzu gehören auch Forschungsarbeiten, die nicht im zeitlichen Kontext des 20. Jahr- hunderts angesiedelt sind, von denen aber gleichwohl wertvolle Impulse ausgehen. Exempla- risch seien genannt die Monographien von Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankfurt/M. 1978; Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung, München 1972; und die Novalis- und Romantik-Studien von Erk F. Hansen: Wissenschaftswahrnehmung und -umsetzung im Kon- text der deutschen Frühromantik. Zeitgenössische Naturwissenschaft und Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs [Novalis], Kiel 1991; sowie Jürgen Daiber (z.B. Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment, Göttingen 2001). 118 Diese Annahme impliziert die bereits erwähnte Voraussetzung, dass auch die literarisch rezipierten naturwissenschaftlichen Diskurse textuell verfasst sind. 32 | Einleitung korreliert dabei die methodische Zielsetzung, auf der Grundlage etablierter und bewährter literaturwissenschaftlicher Theorien das begriffliche und methodi- sche Instrumentarium zur Analyse und Beschreibung von Prozessen der Trans- formation und Poetisierung, des literarischen Experimentierens mit und Überset- zens von szientifischem Wissen in poetisches ‚Wissen‘ zu erweitern. Darin deutet sich nicht zuletzt auch ein anthropologisches Interesse an, dies freilich spezifi- ziert und fokussiert auf jene Grenzbereiche, in denen die literarischen Transfor- mationen szientifischen Wissens selbst angesiedelt sind bzw. deren Fragehorizont sie implizit provozieren, namentlich die Grenzbereiche von wissenschaftlichem und kulturellem Wissen, von realitätsorientiertem pragmatischem Handeln und entpragmatisiertem literarischem Entwurf, von Wissen und Nichtwissen, von Wissenschaft, Ästhetik und Ethik, von Physik und Metaphysik. Dass sich die vorliegende Studie auch als ein komparatistisches Unterneh- men begreift, bedarf einer knappen Erläuterung. Das Desiderat eines kompara- tistischen Vorgehens ergibt sich aus dem Befund, dass es sich bei dem von der Literatur rezipierten Gegenstand ‚Naturwissenschaft‘ ja gerade um einen ‚trans- nationalen‘ handelt, folglich die Referenztexte zumal in ihren dezidiert episte- mischen Gehalten die Begrenzung auf eine nationalphilologische Sichtweise gar nicht erst zulassen. Damit zusammenhängend ist das für ausnahmslos alle Formen der poetica scientiae konstitutive produktionsästhetische Verfahren der Intertextualität nicht abzulösen von der Forderung nach einer lecture relation- nelle seitens des Interpreten,119 und diese beschreibt letztlich wiederum nichts anderes als eine ‚lecture comparée‘. Dieses Postulat einer vergleichend- relationalen Lektüre, das sich aus einer die literarischen Texte konstituierenden intertextuellen Schreibpraxis ergibt, korrespondiert mit der interdisziplinären Perspektive, ja wird durch diese in gewisser Weise sogar verschärft. Der intertex- tuellen Analyse eines intertextuell organisierten Textes kommt es darauf an, die || 119 Zur ‚lecture relationnelle‘ bzw. ‚lecture palimpsestueuse‘ vgl. Gérard Genette: Palimpses- tes. La littérature au second degré, Paris 1982, S. 452 (dt.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M. 1993, S. 533). Intertextualität als produktionsästhetisches Verfahren be- zeichnet zunächst nichts anderes als „eine Möglichkeit, eine Alternative, ein Verfahren des Bedeutungsaufbaus literarischer Werke“ (Wolfgang Preisendanz: Zum Beitrag von R. Lach- mann „Dialogizität und poetische Sprache“, in: Dialogizität, hrsg. v. Renate Lachmann, Mün- chen 1982, S. 25–28, hier S. 26 f.), ein Verfahren, das auf die Lektüren eines Autors verwiesen bleibt. Produktion und Rezeption intertextuell organisierter Werke koinzidieren gleichsam in diesen Mehrfachlektüren. Interpretation ist dann wesentlich eine „Rekonstruktion von Lektü- ren“ (so Ulrich Gaier, Über Lektüre und Interpretation. Zu einem Gedicht von Ernst Jandl, in: Lachmann: Dialogizität, S.107–126, hier S. 113).
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