Bernadette Malinowski Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie Literatur- und Naturwissenschaften Publikationen des Erlangen Center for Literature and Natural Science/ Erlanger Forschungszentrums für Literatur und Naturwissenschaften (ELINAS) Herausgegeben von Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke Editorial Board Jay Labinger, Bernadette Malinowski, Arkady Plotnitsky, Dirk Vanderbeke Band 6 Bernadette Malinowski Literarische Wissenschafts- geschichte und Wissenschaftstheorie Kehlmann – Del Giudice – Serres ISBN 978-3-11-063974-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064238-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063982-7 ISSN 2365-3434 DOI https://doi.org/10.1515/9783110642384 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivatives 4.0 International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Library of Congress Control Number: 2020946515 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Umschlagabbildung: Photo Researchers / Science History Images / Alamy Stock Foto Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com Inhalt Einleitung | 1 1 Naturwissenschaft als Provokation der Literatur | 12 2 Poetica scientiae als Provokation der Literaturwissenschaft | 18 3 Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse | 21 4 Zum Gang der Untersuchung | 34 Teil I: Historische und systematische Grundlegungen 1 Literatur und Wissenschaft: Problematisierung einer Leitdifferenz | 39 1.1 Epistemologische Ästhetisierung: Naturwissenschaftliche, wissenschaftstheoretische und -historische Grenzöffnungen | 39 1.1.1 „Alle Wissenschaft ist Fiktion“? – Der Antipositivismus der Neuen Physik | 39 1.1.2 Der Antipositivismus der Wissenschaftsgeschichte und -theorie | 55 1.1.3 Wissenschaftsästhetik als Kritik und Programm – Impulse für eine Poetik und Hermeneutik der poetica scientiae | 69 1.2 Metapher und Begriff – Wissenschaftskritik als Sprachkritik | 74 2 Wissenschaft als Literatur: Poetik und Hermeneutik der literarischen Transformation wissenschaftlicher Diskurse | 113 2.1 Zum Transfer naturwissenschaftlicher Diskurse ins Medium der Literatur | 114 2.1.1 Komponenten des Transfers: Wiederholung und Transgression | 114 2.1.2 Transferstrategien: Akte des Fingierens und Intertextualität | 117 2.2 Lector doctus – Die Rolle des Rezipienten | 136 VI | Inhalt Teil II: Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichtsschreibung 1 Literarische Wissenschaftsgeschichtsschreibung zwischen Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte | 149 1.1 Kehlmanns wissenschaftshistorischer Roman Die Vermessung der Welt als Sonderfall des historischen Romans | 149 1.2 Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte | 151 2 Zur Lektüre und Analyse von Kehlmanns wissenschaftshistorischem Roman | 160 3 Die Vermessung der Welt zwischen fiktionaler Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftshistoriographischer Metafiktion | 166 3.1 Struktur als erzählte Geschichte – Erste Textvermessungen | 166 3.2 ‚Wissenschaft als Lebensform‘ – Zwei historische Skizzen | 176 3.2.1 Enzyklopädisches Weltgemälde: Die poetica scientiae Alexander von Humboldts | 176 3.2.2 Formelhafte Verdichtungen: Carl Friedrich Gauß | 187 3.3 Fiktionalisierung ‚fiktionaler‘ Strategien der Wissenschaftshistoriographie und Wissenschaftsbiographie | 202 3.3.1 Gattungsformale Strategie: Anekdotisches Erzählen | 202 3.3.2 Metahistoriographische und ästhetische Selbstreflexionen | 222 3.4 Fiktionalisierte Mathematikgeschichte (am Beispiel der nichteuklidischen Geometrie) | 236 3.4.1 Gauß und die nichteuklidische Geometrie | 236 3.4.2 Mathesis in poesis : Literarisierte Geometrie | 255 Inhalt | VII Teil III: Literarische Epistemologie 1 Literarische Epistemologie | 279 2 Daniele del Giudice: Atlante occidentale | 282 2.1 „La scomparsa delle cose“ – De- bzw. An-Ästhetisierung und Fiktionalisierung bzw. Poietisierung der Wirklichkeit | 282 2.1.1 Poiesis der ‚Natur‘ – Zur technologischen Konstruktion von Sichtbarkeiten | 283 2.2 Epsteins ästhetische Theorien | 302 2.2.1 Epsteins Ästhetik der Moderne | 303 2.2.2 Epsteins poetologisches Experiment | 312 2.3 Widerstreit: Moderne Anthropologie und condition postmoderne | 338 2.4 Poetologie als Epistemologie: Die doppelte Ästhetik des Atlante occidentale | 353 3 Michel Serres’ ‚Epistemopoetik‘ | 364 3.1 Philosophische Erkundungen: Epistemologische Paradoxien | 364 3.2 Erkundungen zu einer allgemeinen Epistemologie | 376 3.2.1 Wo denken? – Ethik des Rückzugs | 376 3.2.2 Wie denken? – I. Hermetische Methode | 379 3.2.3 Wie denken? – II. Von der hermetischen zur mathematischen Methode | 386 3.2.4 Wie denken? – III. Passagen zum Passagen-Denken: Enzyklopädik und Epistemologie | 412 3.2.5 Was denken? – Konfigurationen des ‚Dritten‘ | 427 3.3 Erzählte Epistemologie: Détachement. Apologue | 456 Schluss | 493 Literaturverzeichnis | 505 Register | 531 Danksagung | 537 Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-001 Einleitung Der Shakespeare-Forscher, der nie eine Seite von Darwin gelesen hat, der Maler, dem schon schwarz vor Augen wird, wenn von komplexen Zahlen die Rede ist, der Psychoana- lytiker, der nichts von den Resultaten der Insektenforschung weiß, und der Dichter, der keinem Neurologen zuhören kann, ohne einzuschlafen – das sind doch unfreiwillig komi- sche Figuren, nicht weit entfernt von einer Art selbstverschuldeter Verblödung! 1 Diese höchst provozierenden, an die Adresse der Geisteswissenschaftler und Künstler gleichermaßen gerichteten Sätze aus der Feder von Hans Magnus En- zensberger führen mitten hinein in das Themenfeld ‚Literatur und Naturwissen- schaft‘, in dem diese Studie verortet ist. Mit der bloßstellenden Rede von der „selbstverschuldeten Verblödung“, die unweigerlich an Kants Definition von Aufklärung als der ‚Herausführung des Menschen aus seiner selbstverschulde- ten Unmündigkeit‘ erinnert, klagt Enzensberger genau jene „andere Bildung“ ein, deren komplexe Inhalte der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer in seinem 2001 erschienenen Buch Die andere Bildung. Was man von den Naturwis- senschaften wissen sollte für den naturwissenschaftlich ungebildeten Leser aufbereitet und zusammengestellt hat. Ausdrücklich will Fischer sein Buch als Antwort auf den „Hochmut [der] literarisch und philosophisch Gebildeten gegenüber den Leistungen der Naturwissenschaften“ 2 verstanden wissen, wie er ihm exemplarisch in Dietrich Schwanitz’ zwei Jahre zuvor publizierten Titel Bildung. Alles, was man wissen muß entgegenschlägt. In der Tat kann man Schwanitz einen sehr reduzierten Bildungsbegriff vorwerfen, wenn er pole- misch verlauten lässt: Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, aber wenig zum Verständnis der Kultur bei. [...] [Und] so bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht. 3 || 1 Hans Magnus Enzensberger: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa, Frankfurt/M. 2002, S. 262. – Einzelne Passagen der Einleitung sowie der historisch-systema- tischen Grundlegungen sind meinem Beitrag „Literatur und Naturwissenschaft“, in: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. v. Hans Vilmar Geppert u. Hubert Zapf, Bd. II, Tübingen, Basel 2005, S. 21–47, entnommen. 2 Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, München 2001, S. 10. 3 Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muß, Frankfurt/M. 1999, S. 482. 2 | Einleitung Der hier ausgetragene Streit um die Definition dessen, was Bildung im Kern umfassen sollte, ist indessen nichts anderes als eine Fortsetzung jener querelle des sciences et des belles lettres , wie sie exemplarisch bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert von Thomas H. Huxley und Matthew Arnold und im 20. Jahr- hundert von Charles P. Snow und Frank R. Leavis ausgefochten wurde. 4 In seinem 1880 gehaltenen Vortrag zur Eröffnung des Mason’s Science Col- lege weist Huxley mit Recht auf die lange Vorgeschichte in der Auseinanderset- zung zwischen ‚science and culture‘ hin. Ohne diese „long series of battles“ 5 selbst näher zu kommentieren, führen die Spuren von Huxleys Kritik an der Dominanz der literarisch-humanistischen Fächer im englischen Bildungskanon bis ins Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts zurück. 6 Besonders zu erinnern ist in diesem Zusammenhang Condorcets Rapport et projet de décret sur l’organisation générale de l’instruction publique vom 20. und 21. April 1792. || 4 „In the last century“, so diagnostiziert Huxley 1880 in seinem Vortrag zur Eröffnung des Mason’s Science Colleges in Birmingham, „the combatants were the champions of ancient literature, on the one side, and those of modern literature on the other, but, some thirty years ago, the contest became complicated by the appearance of a third army, ranged around the banner of physical science“ (Thomas H. Huxley: Science and Culture, in: Essays: English and American, Bd. 28, hrsg. v. Charles W. Eliot, New York 1910, Online-Edition 2001, http://www.bartleby.com/28/9.html; letzter Zugriff: 5.04.08). – Vgl. hierzu auch den Abschnitt Die Two Cultures Debate und ihre Vorgeschichte im 19. Jahrhundert in Pethes’ überaus konzisem Überblick zur Vorgeschichte über den „jüngsten Forschungsboom zur Wechselbeziehung zwischen Literatur und Naturwissenschaft“: Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsge- schichte. Ein Forschungsbericht, in: IASL 28 (2003), S. 181–231, S. 186–191 (Zitat S. 186). 5 Huxley: Science and Culture. 6 Die Diskussion um die Anfänge der Zwei-Kulturen-Debatte kann hier nicht geführt werden. Nach Toulmins Einschätzung reicht die Trennung bis zu Aristoteles’ Unterscheidung zwischen einer abbildenden, ‚eikstatischen‘, im Feld des Wissens angesiedelten und einer phantasti- schen Kunst zurück und würde im exemplarisch-figurativen Gegensatz des (zeitlich früheren) humanistisch-literarischen Montaigne und des (zeitlich späteren) rationalistisch-abstrakten Descartes epochal zur Geltung kommen (vgl. Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/M. 1994, u.a. S. 49, 79 f. u. 138). Valéry macht Pascals Diffe- renzierung zwischen einem „esprit de géometrie“ und einem „esprit de finesse“ zum Auslöser der Debatte (vgl. Paul Valéry: Anmerkung und Abschweifung, in: ders.: Leonardo da Vinci, Frankfurt/M. 1998, S. 62–101, hier S. 75; Sind Geistes- und Naturwissenschaften grundver- schieden?, in: ders.: Werke, Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, hrsg. v. Jürgen Schmidt- Radefeldt, Frankfurt/M. 1995, S. 390–392). – Vgl. auch Barck, der als „urszenisches Ereignis dieser Ausdifferenzierung und Trennung von Wissensbereichen“ eine 1767 an der preußischen Akademie der Wissenschaften geführte Debatte anführt (Karlheinz Barck: Literatur/Denken. Über einige Relationen zwischen Literatur und Wissenschaft, in: „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Bernhard J. Dotzler u. Sigrid Weigel, München 2005, S. 293–302, hier S. 297). Einleitung | 3 Gegen den Mainstream seiner Zeit (und auch entsprechend erfolglos) entwirft Condorcet darin ein Erziehungs- und Bildungsprogramm, das den Primat der humanistischen Fächer zugunsten eines soliden wissenschaftlichen Studiums verwirft. Plusieurs motifs ont déterminé l’espèce de préférence accordée aux sciences mathé- matiques et physiques. D’abord, pour les hommes qui ne se dévouent point à de longues méditations, qui n’approfondissent aucun genre de connaissances, l’étude même élémen- taire de ces sciences est le moyen le plus sûr de développer leurs facultés intellectuelles, de leur apprendre à raisonner juste, à bien analyser leurs idées. On peut sans doute, en s’appliquant à la littérature, à la grammaire, à l’histoire, à la politique, à la philosophie en général, acquérir de la justesse, de la méthode, une logique saine et profonde, et cepend- ant ignorer les sciences naturelles. De grands exemples l’ont prouvé ; mais les connais- sances élémentaires dans ces mêmes genres n’ont pas cet avantage ; elles emploient la raison, mais elles ne la formeraient pas. C’est que dans les sciences naturelles les idées sont plus simples, plus rigoureusement circonscrites ; c’est que la langue en est plus par- faite, que les mêmes mots y experiment plus exactement les mêmes idées. Les éléments y sont une véritable partie de la science, resserrée dans d’étroites limites, mais complète en elle-même. 7 || 7 Jean-Antoine-Nicolas de Caritat Condorcet: Rapport et projet de décret sur l’organisation générale de l’instruction publique [20./21.4.1792], in: ders.: Œuvres. Nouvelle impression en facsimilé de l’édition Paris 1847–1849, Bd. VII, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, S. 449–573, hier S. 468 f. „Mehrere Gründe haben uns bewogen, den mathematischen Disziplinen und Natur- wissenschaften einen gewissen Vorrang zu geben. Zuvorderst ist für die Menschen, die sich nicht langen Betrachtungen hingeben, die sich in kein Wissensgebiet gründlicher vertiefen, eine auch nur elementare Beschäftigung mit jenen Wissenschaften das sicherste Mittel dazu, dass sie ihre Gedanken ordentlich gliedern. Mann kann zweifellos bei der Beschäftigung mit Literatur, Grammatik, Geschichte, Politik und Philosophie im allgemeinen sich Genauigkeit, geordnetes Vorgehen, eine gesunde und gründliche Logik aneignen und dabei mit den Natur- wissenschaften nicht Bescheid wissen; [...] Aber nicht die Anfangsgründe in diesen Wissen- schaften bringen diesen Nutzen. Sie bedienen sich wohl des Verstandes, aber sie bilden ihn nicht. In den Naturwissenschaften sind die Begriffe einfacher, fester umrissen; und zwar da- rum, weil ihre Sprache vollendeter ist, weil dieselben Worte strenger dieselben Begriffe bez- eichnen. Die Anfangsgründe sind bei ihnen ein wirklich eng begrenzter, aber in sich abges- chlossener Teil der Wissenschaft. Sie stellen außerdem eine Verstandesschulung dar, das einer viel größeren Zahl Menschen, besonders in der Jugend, zugänglich ist. Es gibt kein Kind – wenn es nicht ganz stumpfsinnig ist –, dem man nicht auch durch elementaren Unterricht in Naturgeschichte oder Landwirtschaft irgendwie zur Gewohnheit machen könnte, diese Wis- senschaften anzuwenden. Sie sind ein Heilmittel gegen die Vorurteile, gegen die Beschränkt- heit des Geistes, ein wenn nicht sichereres, so doch umfassenderes Heilmittel als selbst die Philosophie. Sie sind nützlich in allen Berufen, und es ist nicht zu ersehen, wie viel nützlicher sie sein würden, wenn sie gleichmäßiger verteilt wären. Die, die den Entwicklungsgang dieser Wissenschaften verfolgen, sehen die Zeit nahen, wo der praktische Nutzen ihrer Anwendungen 4 | Einleitung Als Huxley knapp hundert Jahre später und auf dem Höhepunkt der industriel- len Revolution nahtlos an Condorcets Plädoyer anknüpft, hat sich das traditio- nelle Profil des Bildungssystems kaum gewandelt. Ohne die Relevanz eines literarisch-humanistischen Studiums in Abrede zu stellen – „I am the last per- son [...] to suppose that intellectual culture can be complete without it“ 8 –, macht er unmissverständlich deutlich, dass der naturwissenschaftlichen Bil- dung in einer an wissenschaftlicher Rationalität und industriellem Wohlstand orientierten Welt zweifellos der Vorrang gebührt: „We may take for granted then, that [...] the diffusion of thorough scientific education is an absolutely essential condition of industrial progress.“ 9 Entsprechend sieht Arnold in seiner Replik auch nicht die Frage im Zentrum, „whether knowing the great results of the modern scientific study of nature is not required as a part of our culture, as well as knowing the products of literature and art“, 10 sondern die von Huxley vorgenommene Gewichtung zugunsten einer „scientific education“. Es sind im Wesentlichen zwei Argumente, die Arnold gegenüber Huxley ins Feld führt. Zum einen korrigiert er dessen auf die belles lettres reduzierten Begriff von Lite- ratur und stellt diesem einen erweiterten, die Wissenschaften integrierenden entgegen: Literature is a large word; it may mean everything written with letters or printed in a book. Euclid’s Elements and Newton’s Principia are thus literature. All knowledge that reaches us through books is literature. 11 „ To know ourselves and the world“ heißt demzufolge nichts anderes als „ to know the best which has been thought and said in the world “, und dieses Wissen schließt die belles lettres ebenso ein wie die Erkenntnisse eines Kopernikus, || ein Ausmaß annehmen wird, das man nicht zu erhoffen gewagt hätte, ein Zeitalter, wo der Fortschritt der Naturwissenschaften auf eine segensreiche Revolution in den mechanischen Künsten hervorrufen wird; und das sicherste Mittel, diese Umwälzung zu beschleunigen, ist das, diese Kenntnisse in allen Klassen der Gesellschaft zu verbreiten und überall bequeme Gelegenheiten zu schaffen, wo man sie auswerten kann“ (Jean-Antoine-Nicolas Condorcet [de Caritat]: Bericht über die Allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichtswesens, in: Erziehungsprogramme der Französischen Revolution. Mirabeau – Condorcet – Lepeletier, eingel. u. erläutert v. Robert Alt, Berlin, Leipzig 1949, S. 61–117, hier S. 76). 8 Huxley: Science and Literature. 9 Ebd. 10 Matthew Arnold: Literature and Science [1882], in: Philistinism in England and America (= The Complete Prose Works of Matthew Arnold, Bd. 10), hrsg. v. Robert H. Super, Ann Arbor 1974, S. 53–73, hier S. 59 f. 11 Ebd., S. 58. Einleitung | 5 Galileo, Newton oder Darwin. 12 Zum anderen – und mit diesem Argument verla- gert Arnold den Akzent nun seinerseits auf die humanistische Bildung – sieht er humanes Leben durch ethische, intellektuelle, ästhetische und soziale Bedürf- nisse geprägt, die nicht voneinander zu trennen, sondern auf vielfache Weise aufeinander bezogen sind. 13 Während die Naturwissenschaften eine Fülle von Fakten und theoretischen Konzepten bereitstellen, dabei jedoch im Bereich von Intellekt und Wissen verhaftet bleiben, 14 erfüllen die „humane letters“ eine integrative, die verschiedenen Wissens- und Erfahrungsfelder miteinander ver- bindende Funktion: Indem sie insbesondere auch die Gefühle ansprechen, ha- ben sie „not only the power of refreshing and delighting us [...], they have [also] a fortifying, and elevating, and quickening, and suggestive power, capable of wonderfully helping us to relate the results of modern science to our need for conduct, our need for beauty“. 15 In ungleich schärferer Form und mit einer wesentlich nachhaltigeren Wir- kung finden beide Positionen ihre Fortsetzung in der Snow-Leavis-Kontroverse. So bekannt Snows Thesen von den zwei Kulturen auch sind, so sehr werden sie selbst heute noch zur Untermauerung und Zementierung gerade jener Vorurtei- le instrumentalisiert, die Snow für die wechselseitige Entfremdung und Igno- ranz zwischen der literarisch-geisteswissenschaftlichen und der naturwissen- schaftlich-technischen Intelligenz verantwortlich macht. Eine mit überwiegend dualistischen Kategorien operierende Rhetorik, die sich ferner einer Reihe an- schaulicher, einprägsamer und deshalb für den populistischen Gebrauch her- vorragend geeigneter Metaphern bedient und nicht zuletzt der für viele Passa- gen der Rede-Lecture charakteristische ironische Duktus, 16 mag sicherlich die || 12 Ebd., S. 56 u. 59. 13 Vgl. ebd., S. 61 f. 14 Vgl. ebd., S. 64. 15 Ebd., S. 68; vgl. S. 64 f. u. 67. 16 Wenn man Leavis’ äußerst heftig, emotional, einseitig und abschätzig geführten Attacke gegen Snow auch nicht in allen Punkten folgen mag, so wird man – nach Abzug aller polemi- schen Schelte – dem sachlichen Kern seiner Kritik des Snow’schen Stils doch weitgehend zustimmen müssen: Snows Lecture „exhibits an utter lack of intellectual distinction and an embarrassing vulgarity of style“ (Frank R. Leavis: Two Cultures? The Significance of C. P. Snow [1962], in: ders., M. Yudkin: Two Cultures?, London 1962, S. 9–30, hier S. 11); moniert werden vor allem die sprunghafte, repetitive, historische Aspekte ignorierende Argumentation, fehlen- de Begriffsklärungen (ohne Erläuterung setze er z.B. „literary culture“ mit „traditional culture“ gleich, ebd., S. 16; „He is repetitious, but he devolops no explanation further“, ebd., S. 19), vor allem aber das Bedienen zahlreicher Klischees („it is a document for the study of cliché“, S. 17) gepaart mit unzulässigen Verallgemeinerungen (S. 19), Simplifizierungen, Verzerrungen (S. 23) und mangelhafter gedanklicher Substanz (S. 17). 6 | Einleitung ‚Topisierung‘ singulärer Formulierungen begünstigt haben. Auch oszilliert Snow zuweilen unentschieden zwischen beiden Kulturen, lässt aber – wie sei- nerzeit Huxley – letztlich keinen Zweifel daran, dass die akuten sozialen Pro- bleme der Industrienationen und die davon nicht zu trennenden globalen Pro- bleme und Gefahren, insbesondere das Gefälle zwischen Arm und Reich, die Überbevölkerung und die atomare Bedrohung, nur über eine „scientific revolu- tion“ 17 zu lösen sind. Dazu sei nicht nur Kapital erforderlich, sondern vor allem die Ausbildung einer genügenden Anzahl von Naturwissenschaftlern und Inge- nieuren, die ihr Wissen in den Dienst der nicht-industrialisierten Länder stellen und sich vor Ort um einen Ausgleich des wissenschaftlich-technologischen und des dadurch bedingten sozialen Gefälles bemühen. 18 Der postulierte soziale, politische und ökonomische Wandel setzt demzufolge die gründliche Reform des Bildungssystems, insbesondere eine Aufwertung der Natur- und Technik- wissenschaften im schulischen und universitären Fächerkanon voraus. Die Rolle, die Snow den „literary intellectuals“ in diesen Transformations- prozessen zuweist, lässt sich nur vor der von ihm gefällten negativen Diagnose über den status quo dieser Kultur rekonstruieren. Mit ihrer vergangenheitsfi- xierten, wertekonservativen, wissenschafts- und technikfeindlichen Haltung hätte sich die „traditional culture“ von jeher blind und ignorant insbesondere gegenüber all jenen gesellschaftlichen Prozessen gezeigt, denen sie ihren Wohl- stand verdanke. Die als „natural luddites“ 19 diffamierten Intellektuellen hätten den sozialen Fortschritt, dessen Nutznießer sie sind, eher behindert denn geför- dert und zeichnen maßgeblich für den gegenwärtigen Zustand der Stagnation und Erstarrung verantwortlich. 20 Ins Positive gewendet wäre gerade die Kunst dazu angehalten, Kenntnisse und Leistungen von Wissenschaft und Technik der Öffentlichkeit zu vermitteln und auf diese Weise zur Lösung des Kernpro- blems, namentlich die mangelnde Kommunikation zwischen beiden Kulturen, || 17 Zur „scientific revolution“ vgl. das gleichnamige Kapitel in: Charles P. Snow: The Two Cultures. With Introduction by Stefan Collini, Cambridge 1998, S. 29–40. 18 Vgl. ebd., S. 46 f. 19 Ebd., S. 22. 20 „In fact, those two revolutions, the agricultural and the industrial-scientific, are the only qualitative changes in social living that men have ever known. But the traditional culture didn’t notice: or when it did notice, didn’t like what they saw. Not that the traditional culture wasn’t doing extremely well out of the revolution; the English educational institutions took their slice of the English nineteenth-century wealth, and perversely, it helped crystallise them in the forms we know“ (ebd., S. 23; vgl. in diesem Kontext das Kapitel „Intellectuals as Natural Luddites“, in: ebd., S. 22–28). Einleitung | 7 beizusteuern. 21 Dass der Kunst damit eine bloße Dienstleistungsfunktion zuge- dacht ist, macht Snow unmissverständlich deutlich: It is bizarre how very little of twentieth-century science has been assimilated into twenti- eth-century art. Now and then one used to find poets conscientiously using scientific ex- pressions, and getting them wrong – there was a time when ,refraction‘ kept cropping up in verse in a mystifying fashion, and when ,polarised light‘ was used as though writers were under the illusion that it was a specially admirable kind of light. Of course, that isn’t the way that science could be any good to art. It has got to be assimilated along with, and as part and parcel of, the whole of our mental experience, and used as naturally as the rest. 22 Nicht die autonome, kreative und kritische ‚Assimilierung‘ szientifischer Gehal- te ist gefragt, sondern eine wissenschaftsrealistische bzw. -naturalistische Kunst, die die Wissenschaften als pars pro toto der Lebens- und Erfahrungswelt ausweist. Die hier demonstrierte ganzheitliche Gesinnung schrumpft indessen zur bloßen Koketterie, sobald man die fundamentale Rolle mit bedenkt, die Snow den Natur- und Technikwissenschaften einräumt: Diese beschränkt sich keineswegs darauf, die natürliche Welt zu verstehen und zu kontrollieren; 23 vielmehr sind sie „the material basis for our lives: or more exactly, the social plasma of which we are a part“. 24 Leavis’ Replik auf die provokanten Thesen Snows ist Angriff und Verteidi- gung zugleich. Über weite Strecken seines Essays versucht er sowohl den Ro- mancier als auch den Naturwissenschaftler Snow mit dessen eigenen argumen- tativen Waffen zu schlagen, indem er ihm „complete ignorance“, „intellectual nullity“ und absolute Inkompetenz in beiden Bereichen vorwirft, 25 weitet seine || 21 Vgl. Charles P. Snow: The Two Cultures: A Second Look [1963], in: ders., The Two Cultures, S. 53–100, v.a. S. 60 f., wo es heißt: „I did not mean that literary intellectuals act as the main decision-makers of the western world. I meant that literary intellectuals represent, vocalise, and to some extent shape and predict the mood of the non-scientific culture: they do not make decisions, but their words seep into the minds of those who do.“ 22 Snow: The Two Cultures, S. 16. Der russischen Literatur kommt in dieser Sicht eine Vorbild- funktion zu: Zwar mangelt es auch ihr an Verständnis für die „pure science“, weshalb diese auch nur selten adaptiert wird, doch im Gegensatz zur westlichen Literatur finde sich in ihr zumindest „a rudimentary acquaintance with what industry is all about. [...] An engineer in a Sovjet novel is as acceptable [...] as a psychiatrist in an American one“ (ebd. S. 37). 23 Vgl. ebd., S. 67. 24 Vgl. ebd., S. 30. 25 Leavis: Two Cultures?, S. 10 u. 12. Snow sei „intellectually as undistinguished as it is possi- ble to be“, „he doesn’t know what he means, and doesn’t know he doesn’t know“ (ebd., S. 10), und von Geschichte hätte er schon gar keine Ahnung (vgl. S. 16). So wenig es den Wissen- 8 | Einleitung sarkastische Kritik ausdrücklich aber auch auf alle diejenigen aus, die den My- thos ‚Snow‘ kreiert und The Two Cultures binnen kürzester Zeit zum Klassiker stilisiert haben. 26 Ungeachtet aller polemischen Spitzen bestätigt Leavis die Kernthese von den zwei disparaten Kulturen, wenn er die von Snow zur Demonstration der wechselseitigen Ignoranz exemplarisch angeführten Test- fragen, wer unter den literarisch Gebildeten in der Lage sei, das zweite thermo- dynamische Gesetz zu definieren bzw. wer unter den wissenschaftlich Gebilde- ten Shakespeares Werke gelesen hätte, mit der Bemerkung kontert, dass es zur letzteren kein wissenschaftliches Äquivalent gebe und „equations between orders so disparate“ ohnehin sinnlos seien. 27 Vor allem aber greift Leavis die bereits bei Snow angesprochene, wenngleich nicht näher ausgeführte Vision von einer dritten Kultur auf 28 und baut diese zum zentralen Argument seines || schaftler Snow gebe, so wenig existiere auch der Schriftsteller Snow: Ihm gehe jegliche „crea- tive power“ ab; seine Protagonisten seien ohne Leben: „when the characters are supposed to fall in love your are told they do, but he can’t show it happening“ (S. 13), und wenn er, wie in seinem Roman The Affair , wissenschaftliche Aspekte thematisiere, „no corresponding intellec- tual interest comes into the novel; science is a mere word, the vocation merley postulated“ (S. 14). „That he has really been a scientist, that science as such has ever, in any important inward way, existed for him, there is no evidence in his fiction“ (ebd.). „[...] Snow not only hasn’t in him the beginnings of a novelist; he is utterly without a glimmer of what creative literature is, or why it matters“ (S. 19). Entsprechend sei auch der in der Rede Lecture gezeich- nete literarische Intellektuelle nichts anderes als „the enemy of art and life“ (S. 16). 26 „Snow is a portent. He is a portent in that, being in himself negligible, he has become for a vast public on both sides of the Atlantic a mastermind and a sage. His significance is that he has been accepted – or perhaps the point is better made by saying ,created‘: he has been creat- ed as authoritative intellect by the cultural conditions manifested in his acceptance“ (ebd., S. 10). „To my surprise, however, it [the Rede Lecture] took on the standing of a classic. It was continually being referred to [...]“ (ebd., S. 11). 27 Ebd., S. 27; vgl. Snow: The Two Cultures, S. 14 f. 28 Im Kontext der Rede Lecture nimmt der Gedanke eines umfassenden Kulturbegriffs ledig- lich den Stellenwert eines Appendix mit Alibifunktion ein und wird entsprechend auch nicht näher erläutert. Nachdem er den Führungsprimat der Naturwissenschaften und Technologien bei der Lösung der eklatanten lokalen wie globalen Probleme mit dem Appell, den szientifisch- technischen Zweig innerhalb des Bildungssystems aufzuwerten, herausgestellt hat, betont Snow des weiteren: „Education isn’t the total solution to this problem: but without education the West can’t even begin to cope. All the arrows point in the same way. Closing the gap be- tween our cultures is a necessity in the most abstract intellectual sense, as well as in the most practical. When those two senses have grown apart, then no society is going to be able to think with wisdom. For the sake of the intellectual life, for the sake of this country’s special danger, for the sake of the western society living precariously rich among the poor, for the sake of the poor who needn’t be poor if there is intelligence in the world, it is obligatory for us and the Americans and the whole West to look at our education with fresh eyes“ (Snow: The Two Cul- Einleitung | 9 Essays aus. Angesichts eines rapiden wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts mit seinen unvorhersehbaren Herausforderungen, Entscheidungen und Konsequenzen, müsse die Menschheit „in full intelligent possession of its full humanity“ sein. 29 Dieses von Leavis beschworene Humanitätsideal, das gleichbedeutend ist mit der postulierten dritten Kultur, wird nicht durch Kunst und Literatur repräsentiert, sondern findet seinen angemessenen Ausdruck vielmehr in den durch sie motivierten kommunikativen Prozessen: It is in the study of literature [...] that one comes to recognise the nature and priority of the third realm [...], the realm of that which is neither merely private and personal nor public in the sense that it can be brought into the laboratory or pointed to. You cannot point to the poem; it is ,there‘ only in the re-creative response of individual minds to the black marks on the page. But – a necessary faith – it is something in which minds can meet. 30 Literary criticism wird in dieser Sicht zum Paradigma einer Kultur der Kommu- nikation und Partizipation, deren Urteilskompetenz sich gerade nicht in der zementierten Abgeschlossenheit propositionaler Aussagen bekundet, sondern eine ‚Selbstfragwürdigkeit‘ impliziert („This is so, isn’t it?“), die den Dialog mit dem anderen ermöglicht und offen ist für die Formulierung von Einwänden und Korrekturen („‚yes, but‘“). 31 Über diesen, seinerseits der ständigen Erneuerung und Entwicklung unterworfenen „collaborative-creative process“ formiere sich „a cultural community and consciousness“, eben jenes „third realm to which all that makes us human belongs“. 32 Obwohl der Mythos von den ‚zwei Kulturen‘ das natur- wie geisteswissen- schaftliche Selbstverständnis – und daraus resultierend auch die wissenschaft- || tures, S. 50). In seinem drei Jahre später verfassten Nachtrag kommt etwas deutlicher zum Tra- gen, dass Snow die Verantwortung für die Entstehung einer dritten Kultur vor allem den litera- risch Intellektuellen zuschreibt: „It is probably too early to speak of a third culture already in existence. But I am now convinced that this is coming. When it comes, some of the difficulties of communication will at last be softened: for such a culture has, just to do its job, to be on speaking terms with the scientific one“ (Snow: The Two Cultures: A second look, S. 70 f.). 29 Leavis: Two Cultures?, S. 25; weiter heißt es: „What we need, and shall continue to need not less, is something with the livingness of the deepest vital instinct; as intelligence, a pow- er – rooted, strong in experience, and supremely human – of creative response to the new challenges of time; something that is alien to either of Snow’s cultures“ (S. 26). 30 Ebd., S. 28. 31 Ebd. 32 Ebd. Diese letztlich nur regulativ aufzufassende Idee prägt auch Leavis’ Vorstellung von Universität als einem „centre of human consciousness: perception, knowledge, judgment and responsibility“ (ebd., S. 29). 10 | Einleitung liche Praxis – nach wie vor bestimmt, 33 formiert sich spätestens seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowohl im Bereich der Literatur, der Geistes- und Kulturwissenschaften als auch im Bereich der Naturwissenschaften, der Wis- senschaftstheorie, -geschichte und -philosophie eine kritische Allianz, die jene Kunst und Wissenschaft eindeutig trennende Demarkationslinie zunehmend in Frage stellt, relativiert und für transdisziplinäre 34 Betrachtungen durchlässig macht. Bei den Bemühungen, das Verhältnis zwischen Literatur und Naturwis- senschaft auszuloten, kommt den Entwicklungen in der neuen Physik und den dadurch ausgelösten erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen und ästhetischen Reflexionsprozessen seitens ihrer prominentesten Repräsentanten eine ebenso spezielle Bedeutung zu wie den von namhaften Wissenschaftstheo- retikern und -historikern geführten Diskussionen um die soziale und kulturelle Kontextabhängigkeit der hard sciences. Die exorbitante Fülle an literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen, die insbesondere seit den 80er Jah- ren des letzten Jahrhunderts im Kielwasser solcher Öffnungen entstanden sind, können jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass die durch C. P. Snow wie- der entfachte two cultures -Debatte unter der neuen euphemistischen Etikette einer one culture oder third culture weiterhin schwelt. Scheinbar ungeachtet aller geleisteten Verständigungsbemühungen treten die alten Konflikte vor allem dort zutage, wo es um bildungspolitisch angeheizte Fragen nach dem Selbstverständnis der Universitäten und insbesondere nach der Legitimität der dort angesiedelten Geisteswissenschaften geht. Die eigene Existenzberechti- gung wird dann nicht selten auf dem Rücken uralter und wissenschaftlich längst überholter Vorurteile gegenüber den vermeintlich besser gestellten (und das heißt letztlich immer: ökonomisch besser gestellten) Disziplinen propagiert und die im Kern politischen und gesellschaftlichen Probleme mit den rhetori- schen Waffen der zwei Kulturen ausgefochten. – Auf wesentlich subtilere Weise || 33 Vgl. hierzu exemplarisch Holger Dainat: Vom Nutzen und Nachteil, eine Geisteswissen- schaft zu sein. Zur Karriere der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, in: Geist, Geld und Wissenschaft: Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, hrsg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt/M. 1993, S. 66–98 sowie Simon J. Lock: Cultures of incom- prehension? The Legacy of the Two Cultures Debate at the End of the Twentieth Century, in: Interdisciplinary Science Reviews 41 (2016), S. 148–166. 34 Mit Transdisziplinarität bezeichnet Mittelstraß eine Forschung, „die sich selbst aus ihren disziplinären Grenzen löst, die ihre Probleme disziplinenunabhängig definiert und diszipline- nunabhängig löst“ (Jürgen Mittelstraß: Die Stunde der Interdisziplinarität?, in: ders.: Leonar- do-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt/M. 1992, S. 96–102, S. 90). In diesem streng disziplinenunabhängigen Sinn kann Transdisziplinarität für das vor- liegende Projekt bestenfalls als regulative Idee beansprucht werden. Einleitung | 11 manifestiert sich das konfliktuöse Verhältnis zwischen „scientists“ und „literary intellectuals“ 35 jedoch in jenen Ansätzen, welche die seitens der Naturwissen- schaften einmal konzedierten Affinitäten zu den Textwissenschaften und zur Literatur verabsolutieren und die sciences dem Kosmos einer „allumfassenden Wissenschaft der Zeichen und Symbole“ 36 einverleiben. Auf die Spitze getrieben führen solche Ansätze nicht nur dazu, die Naturwissenschaften in bloßem Konstruktivismus und reiner Rhetorizität aufgehen zu lassen und ihnen jegli- chen Bezug zur Realität abzusprechen, 37 sondern ebenso dazu, die Differenzen der Diskurssysteme von Wissenschaft und Literatur zu tilgen und damit auch der Literatur ihre spezifischen Möglichkeiten – und dies gerade in der produkti- ven Transformation naturwissenschaftlicher Themen und Theorien – in Abrede zu stellen. 38 || 35 Snow: The Two Cultures, S. 4. 36 Dirk Vanderbeke: Theoretische Welten und literarische Transformationen. Die Naturwis- senschaften im Spiegel der ‚science studies‘ und der englischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Tübingen 2004, S. 12. 37 „The claim of rhetoric is that the phrase ,brute facts‘ is an oxymoron. Facts are by nature linguistic – no language, no facts. By definition, a mind-independent reality has no semantic component“ (Alan Gross: The Rhetoric of Science, Cambridge/MA, 1990, S. 202 f.) 38 Diese vor allem im Umkreis von Feminismus und Poststrukturalismus entstandenen radi- kalen Varianten einer In-Differenzierung von Wissenschaft und Kunst waren Auslöser für die jüngste und in ihren Mitteln sicherlich auch fragwürdigste Auseinandersetzung zwischen den ,Kulturen‘: 1996 veröffentlichte der amerikanische Physiker Alan D. Sokal unter dem Titel „Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“ eine Parodie auf all jene Theorien, welche die Wissenschaften unterschiedslos als kodierte Ideologien oder als bloß subjektive Konstrukte denunzieren und denen deshalb kein privi- legierter epistemologischer Status zukomme. Die Parodie, von den Herausgebern der namhaf- ten Zeitschrift Social Text als solche nicht erkannt, sondern als ein seriöser wissenschaftlicher Beitrag in einer Sondernummer des Magazins zum Thema „Science Wars“ publiziert, löste einen Sturm von Entrüstung aus. Sokal, der in seinem Aufsatz positiv vor allem auf feminis- tisch-dekonstruktive Literatur Bezug nimmt, gab später den Grund für sein Vorgehen an: „What concerns me is the proliferation [...] of a particular kind of nonsense and sloppy think- ing: one that denies the existence of objective realities, or (when challenged) admits their existence but downplays their practical relevance. [...] In short, my concern over the spread of subjectivist thinking is both intellectual and political. Intellectually, the problem with such doctrines is that they are false (when not simply meaningless). There is a real world; its proper- ties are not merely social constructions; facts and evidence do matter. [...] And yet, much of contemporary academic theorizing consists precisely of attempts to blur these obvious truths – the utt