Technische Universität Berlin Fakultät I | Institut für Sprache und Kommunikation Fachgebiet Allgemeine Linguistik Sekretariat H42, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (M.A.) zum Abschluss des Masterstudiengangs Sprache und Kommunikation Erstgutachterin: Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel Zweitgutachter: Dr. Simon Meier Jedem das Seine Von der Gerechtigkeitsformel zum Synonym von Massenmord? Eine korpuslinguistische Zeitungsanalyse einer nationalsozialistisch belasteten Phrase - eingereicht im Juni 2017 vorgelegt von Julian Gerlach (Matrikelnummer: 361761) Türkenstraße 21 13349 Berlin E-Mail: gerlach.julian@web.de Abstract Diese Arbeit setzt sich kritisch mit der Verwendung nationalsozialistisch belasteter Sprache im öffentlichen Diskurs auseinander. Grundlage hierfür ist die jahrtausendealte Gerechtigkeitsformel suum cuique, zu Deutsch Jedem das Seine, die von den Nationalsozialisten als zynische Inschrift am Innentor des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht wurde und bis heute für Leidtragende ein Sinnbild des Nationalsozialismus darstellt. Da die Phrase jedoch ebenfalls für Gerechtigkeit, Individualität oder Gleichheit stehen kann und nicht zu den eindeutigen sprachlichen Pejorisierungsstrategien wie Zigeuner oder Neger gehört, wird sie in Printmedien hochfrequent gebraucht. Weiterhin finden sich zahlreiche Verwendungen der Phrase in der Werbebranche, um beispielsweise für einen hohen Grad an Individualität zu werben. Es herrscht somit kein öffentlicher Konsens darüber, wie mit diesem belasteten Ausdruck umgegangen werden soll. Die Arbeit macht es sich zur Aufgabe, diese Ambivalenz genauer zu untersuchen und nach weiteren Gründen zu forschen, warum eine nationalsozialistisch belastete Phrase unbedarft weiterverwendet wird. Inhalt 1 Einleitung ................................................................................................................... 1 1.1 Thesen................................................................................................................. 2 1.2 Vorgehen ............................................................................................................ 3 2 Forschungsstand ........................................................................................................ 4 2.1 Forschungsstand zur NS-Sprache ....................................................................... 4 2.2 Forschungsstand zu Jedem das Seine ................................................................. 6 2.3 Forschungsstand zur Kenntnis des Nationalsozialismus .................................... 8 3 Phraseologische Merkmale von Jedem das Seine.................................................... 10 4 Geschichte der Phrasen ........................................................................................... 13 4.1 Suum cuique in der Antike ................................................................................ 13 4.2 Suum cuique in der Neuzeit .............................................................................. 15 4.3 Jedem das Seine im deutschsprachigen Raum ................................................. 17 4.3.1 Jedem das Seine im Nationalsozialismus .................................................. 17 4.3.2 Jedem das Seine von 1945-1998 ............................................................... 18 5 Korpusanalyse .......................................................................................................... 21 5.1 Korpus ............................................................................................................... 21 5.1.1 Methodik ................................................................................................... 22 5.1.2 Zeitungen................................................................................................... 24 5.1.3 Aufklärungsrate ......................................................................................... 25 5.1.4 Aufklärungsrate nach Zeitungen ............................................................... 26 5.1.5 Aufklärungsrate nach Jahren..................................................................... 28 5.1.5.1 Das Jahr 1998 ..................................................................................... 29 5.1.5.2 Das Jahr 2001 ..................................................................................... 31 5.1.5.3 Das Jahr 2009 ..................................................................................... 33 5.1.5.4 Die Jahre 2014 und 2015 ................................................................... 34 5.1.5.5 Die kontrastiven Jahre ....................................................................... 35 5.2 Thematische Domänen ..................................................................................... 36 5.2.1 Aufklärungsrate nach thematischen Domänen ........................................ 37 5.2.2 Funktionen von Phraseologismen ............................................................. 38 5.2.3 Die Domäne Sport ..................................................................................... 39 5.2.4 Die Domäne Werbung/Werbungsannoncen ............................................. 44 5.2.5 Die Domäne Politik .................................................................................... 49 5.2.6 Die Domäne Wirtschaft ............................................................................. 55 5.2.7 Die Domäne Bildung .................................................................................. 58 5.2.8 Ausgewählte Belege der restlichen Domänen .......................................... 62 5.2.9 Phraseologische Aspekte........................................................................... 65 5.2.9.1 Definition als Geflügeltes Wort .......................................................... 65 5.2.9.2 Extension ............................................................................................ 67 5.2.10 Zusammenfassung der Verwendung in Domänen .................................... 69 5.2.10.1 Muster zur Bewältigung einer kommunikativen Aufgabe ................. 70 5.3 Metasprachliche Belege ................................................................................... 72 5.3.1 Die Domäne Buchenwald .......................................................................... 72 5.3.2 Sprachkritische Ansätze nach Verfehlungen ............................................. 74 5.3.3 Die Domäne Sprachkritik ........................................................................... 76 5.3.4 Metasprachliche Deutung der Phrase ....................................................... 82 6 Diskussion ................................................................................................................ 85 6.1 Zusammenfassung ............................................................................................ 88 6.2 Ausblick ............................................................................................................. 89 7 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 91 8 Abbildungsverzeichnis ............................................................................................. 98 9 Tabellenverzeichnis ................................................................................................ 100 10 Selbständigkeitserklärung .................................................................................. 101 1 1 Einleitung „Alle Leute haben eben so ihre eigenen Ansichten und Vorlieben. Auch vergleichbare Wendungen tragen dem Rechnung. So kann man auch sagen: "jeder, wie es ihm beliebt" oder "jedem das Seine" - ein sehr altes ethisches Prinzip und geflügeltes Wort.“1 Jedem das Seine. Eine Phrase, die Toleranz predigt. Die es ermöglicht, jedem das zu gewähren was ihm zusteht, das was er persönlich für richtig hält, das Seine eben. Dem im obigen Zitat beschriebenen ethischen Prinzip wohnt jedoch noch ein weiterer Kontext inne, der Teil dieser Arbeit ist. Im Zuge des Baus des Konzentrationslagers Buchenwald wurde die Phrase am Innentor des Lagers angebracht, um die Insassen zu verhöhnen und ihnen tagtäglich vor Augen zu führen, dass sie die an ihnen vollzogenen Gräueltaten verdienen und die Nationalsozialisten legitim handeln. In der Phrase spiegelt sich somit ein immenser Kontrast wider. Sie ist eine wünschenswerte Gerechtigkeitsformel, nach welcher eine Gesellschaft leben sollte und zugleich ein Synonym für das Leid von Millionen von Menschen und Massenmord. Die beschriebene Ambivalenz ist Grundlage dieser Arbeit. Auf Basis von 1242 Belegen der Phrase von deutschen und ausländischen Zeitungen soll erörtert werden, wie dieser Bedeutungskontrast zustande kommt. Es soll dabei analog beantwortet werden, ob eine unbedarfte Weiterverwendung der Phrase ohne Bezugnahme auf den nationalsozialistischen Kontext gebilligt wird und ob sich hier womöglich Unterschiede hinsichtlich Zeitungen, Ländern und thematischen Domänen finden lassen. Potenzielle Veränderungen über Zeit können ebenfalls betrachtet werden, da die Belege von 1956 bis 2015 reichen. Die Arbeit bietet somit sowohl eine statistisch-quantitative Analyse der Phrase als auch eine qualitative, die die Untersuchung von 82 Einzelbelegen beinhaltet. Dass die Thematik außerdem ein hohes Maß an Kontroversität beinhaltet und sich über mehrere Jahrtausende erstreckt, wird auch von KLENNER (2002:328) erkannt. „Denn Jedem das Seine! ist ins Gerede gekommen. Sehr sogar, und mit politischer Brisanz. Ein Schlagwort also, das Schlagzeilen macht. Auch das ist nicht das Gängige, zumal dieses Schlagwort uralt und der Skandal brandneu ist.“ Die 1 Beleg aus der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG vom 27.10.2011 zur Interpretation des Sprichworts Dem einen sin Uhl, dem anderen sin Nachtigall. 2 Untersuchung der Phrase ist somit Bindeglied zwischen Linguistik, Gesellschaft, Politik und Geschichte. Im Zentrum steht jedoch die Frage, wie eine unbedarfte Weiterverwendung bei solch einer belasteten Phrase zustande kommen kann. 1.1 Thesen Da Jedem das Seine trotz prominenter nationalsozialistischer Vergangenheit auch als ein „durch keinen spezifischen geschichtlichen Kontext determinierte[n] Ausdruck“ (BRUNNSEN 2010:300) weiterverwendet wird, ist davon auszugehen, dass 1. Jedem das Seine nicht dem typischen NS-Vokabular entspricht. Deswegen ist der nationalsozialistische Hintergrund größtenteils unbekannt 2. es außerhalb des Kontexts des Nationalsozialismus und der Gerechtigkeitsformel weitere vielfältige Kontexte gibt, da die Phrase hochfrequent verwendet wird und durch nichts „determiniert“ ist 3. die Phrase darauf basierend, dass sie nicht nur als Geflügeltes Wort verwendet wird2, auch linguistisch betrachtet eine Mischform darstellt, welche dann auch unterschiedliche Funktionen besitzt 4. sich die beschriebenen unterschiedlichen Funktionen durch eine vage Semantik realisieren lassen, da das Seine unterspezifiziert ist 5. sich durch die Vagheit ein sprachliches Modell ergibt, welches universell auf vielfältige Situationen eingesetzt werden kann Während sich die beschriebenen Hypothesen auf Verwendungen der Phrase beziehen, in denen sie semantisch wie funktional in den Kotext eingebunden ist, so ist die Untersuchung der Belege, die sich metasprachlich auf die Phrase beziehen ebenfalls interessant. Folgende Hypothesen werden hierfür angenommen: 1. Metasprachliche Belege beziehen sich zu einem Großteil auf den Kontext des Nationalsozialismus 2. Es gibt keinen öffentlichen Konsens, wie mit der nationalsozialistisch belasteten Phrase umgegangen werden soll 2 Da der Ausdruck zum Teil durch keinen geschichtlichen Kontext determiniert ist, muss es Verwendungsweisen geben, die sich nicht auf eine Definition als Geflügeltes Wort beziehen. 3 3. Daher verfehlen sprachkritische Ansätze ihre Wirkung, da sie keine fundierte Empfehlung abgeben können 4. Semantisch zeigt sich eine hohe Diskrepanz zwischen funktional eingebetteten und metasprachlichen Belegen 1.2 Vorgehen Zahlreiche Hypothesen zur Phrase Jedem das Seine können nicht nur mit der Analyse des Korpus eingehender untersucht werden. Gleichzeitig ist eine ausführliche Einleitung zum Forschungsstand und Geschichte der Phrase unabdingbar, um nachfolgend eine geeignete Korpusanalyse durchführen zu können. Daher widmet sich Kapitel 2 der Arbeit den verschiedenen Forschungsständen zur NS- Sprache im Allgemeinen, zu Jedem das Seine sowie zur Kenntnis des Nationalsozialismus. In diesen Kapiteln soll die Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes betrachtet werden, da einer adäquaten gesellschaftlichen Aufklärung sowohl eine Kenntnis der Phrase, eine sprachliche Sensibilisierung sowie ein bewusster Umgang mit belasteter Sprache einhergehen würde. Kapitel 3 befasst sich mit den phraseologischen Merkmalen von Jedem das Seine. Ziel dieses Kapitels ist es, eine zutreffende terminologische Einordnung der Phrase zu finden und die Hypothese der Mischform zu untersuchen. Kapitel 4 widmet sich der Entstehung, der Verwendung und dem Missbrauch der Phrase und analysiert die knapp 2500 Jahre andauernde Geschichte einer Formel, die bis heute unterschiedlich gedeutet wird. Dieses Kapitel ist Grundlage für die darauffolgende Korpusanalyse und soll außerdem aufzeigen, dass die in den Hypothesen proklamierte vielfältige Semantik der Phrase bereits in der Vergangenheit höchst prominent war. Der Hauptteil dieser Arbeit, Kapitel 5, gliedert sich in drei große Abschnitte. Kapitel 5.1 befasst sich größtenteils mit der statistisch-quantitativen Analyse des Korpus und betrachtet die Hypothese des fehlenden Konsenses zur Weiterverwendung von Jedem das Seine. Als Quantifizierung des fehlenden Konsenses wird eine Aufklärungsrate bestimmt, die die Belege danach gliedert, ob der nationalsozialistische Hintergrund erwähnt wird oder nicht. Dieses Kapitel ist auch Grundlage für die Untersuchung der sprachkritischen Ansätze (Kapitel 5.3.2 und 5.3.3). 4 Kapitel 5.2 ist nach thematischen Domänen gegliedert und versucht anhand dieser Domänen verschiedene pragmatische Funktionen der Phrase herauszuarbeiten, um die Hypothese der Polyfunktionalität zu untersuchen. In Kapitel 5.3 werden darauffolgend die metasprachlichen Belege betrachtet, um den nationalsozialistischen Kontext genauer zu untersuchen. Schließlich erfolgt eine Einordnung der gewonnenen Erkenntnisse in Kapitel 6. 2 Forschungsstand 2.1 Forschungsstand zur NS-Sprache Das Jahr 1945 markiert das „Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ (STÖTZEL 1995¹:19) und somit eine „politisch wie auch sprachhistorisch bedeutsame Zäsur.“ Obgleich „die NS-Organisations- und Verwaltungswörter und der totalitäre Radikalwortschatz nach dem Ende der NS-Diktatur größtenteils rasch außer Gebrauch gekommen sind“ (VON POLENZ 1999:550), so gibt es doch manche Worte, die „sich so tief eingefressen [haben], daß sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen“ (KLEMPERER 2010:24). Einen wichtigen Grundstein zur Erforschung der NS- Sprache im Osten Deutschlands legte der oben zitierte Victor Klemperer, der sich schon 1947 mit der nationalsozialistischen Sprache in seinem Buch Lingua Tertii Imperii3 – Notizbuch eines Philologen auseinandersetzte.4 Die von ihm veröffentlichten Beiträge im Buch stammen größtenteils aus der Zeit des Nationalsozialismus, in welchen er in seinem Tagebuch festhält, dass die NS-Sprache den Menschen „in millionenfachen Wiederholungen“ aufgezwungen wurde und die dadurch „mechanisch und unbewußt übernommen wurde“ (KLEMPERER 2010:25). Obwohl (STÖTZEL 1995¹:19) eine Zäsur für diese Zeit definiert, so hält SCHLOSSER (1995:208) doch fest, dass es eine sprachliche Stunde Null nach 1945 nicht gab.5 Für die DDR stellt BOCHMANN (1991:86) fest, dass es nach Klemperers Werk keine nennenswerten linguistischen Beiträge mehr zur NS- Sprache gab und der Nationalsozialismus mit dem Faschismus gleichgesetzt wurde. 3 KLEMPERER (2010:19) wählt bewusst die Abkürzung LTI, um als „parodierende Spielerei“ auf die abkürzenden Bezeichnungen der Nazi-Zeit (BDM, HJ, DAF) zu referieren. STÖTZEL (1995²:356) beschreibt den Titel als „Geheimtitel“. 4 Zur Darstellung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Phrase Jedem das Seine siehe Kap. 4.3.2. 5 Zu diesem Ergebnis kommt ebenfalls FALKENBERG (1989:6). 5 Eine sprachkritische Auseinandersetzung mit der NS-Sprache in Westdeutschland wurde insbesondere in der Zeitschrift Die Wandlung vorangetrieben. Zwischen 1945 und 1948 verfassten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind verschiedene Artikel, die sich mit dem rassistischen Radikalwortschatz auseinandersetzen. 1957 wurden diese Artikel zusammengefasst und als Buch unter dem Namen Aus dem Wörterbuch des Unmenschen veröffentlicht (STERNBERGER/STORZ/SÜSKIND 1968).6 Dass die beschriebenen Bücher ihre breite gesellschaftliche Wirkung bis 1960 jedoch verfehlten, „lag vor allem an der in der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren in ganz Deutschland vorherrschenden Verdrängungsmentalität, die nach der Kapitulation aus dem weit verbreiteten Bedürfnis nach Entlastung von der jüngsten Vergangenheit entstanden war“ (BRUNNSEN 2010:302), sowie im „komplizierten Charakter des Mediums Sprache“ (STÖTZEL 1995²:357). Eine dezidierte „Weiterverwendungsdiskussion“ (STÖTZEL 1995²:356) setzte in den 1960er Jahren in Westdeutschland insbesondere durch Cornelia Berings 1964 erschienenes Buch „Vom ‘Abstammungsnachweis’ zum ‘Zuchtwart’: Vokabular des Nationalsozialismus“ ein, welches konträr zu vorangegangenen Büchern „philologisch abgesichert und quellenmäßig breiter angelegt“ (STÖTZEL 1995²:362) war und über 500 Wendungen der NS-Sprache darlegt (SCHMITZ-BERING 1998).7 Die Studentenbewegungen der 1960er Jahre führten außerdem zu einer „Änderungen des öffentlichen Bewußtseins und zur erhöhten Sensibilität gegenüber sprachlichen Benennungen“ (WENGELER 1995:384). Trotz dessen wurde die Sprache des Nationalsozialismus zur Zeit des Ost- West-Konflikts instrumentalisiert, um damit jeweilige Kontrahenten zu diskreditieren. Diese gängige Diffamierungsmethode manifestiert sich in sogenannten Nazi- Vergleichen (EITZ/STÖTZEL 2007:489), welche trotz hoher Dichte an wissenschaftlichen Arbeiten (u.a. PÉRENNEC (2008), SCHWARZ-FRIESEL (2013:197ff.), SCHWARZ-FRIESEL (2009) SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ (2013:231ff./347ff.), STÖTZEL (1989), WETTE (2003)) auch heute noch ein prominentes sprachliches Mittel sind, um zu denunzieren.8 6 1968 wurde das Buch nochmals um zehn Artikel erweitert und erneut veröffentlicht. VON POLENZ (1995:316) definiert die Beiträge jedoch als „undifferenzierte Breite allgemeiner Kulturkritik“, die ihre Wirkung verfehlten. 7 Dieses Buch wurde unter dem Namen Vokabular des Nationalsozialismus erweitert (SCHMITZ-BERING 1998). 8 Dass der NS-Vergleich ebenfalls durch Jedem das Seine realisiert werden kann, zeigt Kap. 4.3.2. 6 Nach 1968 finden sich zahlreiche Werke, die sich kritisch mit der NS-Sprache auseinandersetzten und diese auch kategorisierten. Gerade BRACKMANN/BIRKENHAUER (1988) oder PÄTZOLD ET. AL (2002) weisen gegenüber den wesentlich prominenteren Werken, Polenz‘ Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (1999), Thorsten Eitz‘ und Georg Stötzels Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung (2007), STÖTZEL/WENGELER (1995) oder SCHMITZ-BERING (1998) einen entscheidenden Vorteil für die gesellschaftliche Reflexion einer missbrauchten Phrase auf. Sie thematisieren die Verwendung von Jedem das Seine im Nationalsozialismus, während die anderen Arbeiten bedeutsamere Beispiele der Sprache des Nationalsozialismus analysieren und Jedem das Seine außen vor lassen. Diese Feststellung kann als erster Grund dafür gesehen werden, dass die gesellschaftliche Kenntnis zur Phrase unbefriedigend ist und sie vielfältig eingesetzt wird. Weiterhin ist festzustellen, dass die Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes nach Ende des Nationalsozialismus bis in die 1970er Jahre größtenteils verdrängt wurde. Beide Erkenntnisse sind wichtige Faktoren für die folgende Untersuchung der Phrase. In Kapitel 2.2 soll dargelegt werden, was Jedem das Seine von anderen sprachlichen Zeugnissen der NS-Zeit unterscheidet. 2.2 Forschungsstand zu Jedem das Seine Völlig konträr zu dieser gewachsenen Sensibilität mit der Sprache des Nationalsozialismus entwickelte sich die Verwendung der Redewendung Jedem das Seine. Sie kann konträr zu vielen anderen typischen Wendungen nicht pauschal „jenem rassistischen Radikalwortschatz [zugeordnet werden], dessen Inventar — wie zum Beispiel ‘Ariernachweis’9, ‘Blut und Boden’, ‘erblich Minderwertige’, ‘judenfrei’, ‘Untermensch’ oder ‘Zuchtwart’ — eindeutig und praktisch ausschließlich in der nationalsozialistischen Ideologie verankert ist“ (BRUNNSEN 2010:309).10 Weiterhin gehört die Phrase nicht zu den typischen Pejorisierungsstrategien der NS-Zeit, zu welchen beispielsweise „vernegern“ oder „rassefremd“ zählen (BRUNNSEN: 2010:309). Die Phrase dient ebenfalls nicht vorrangig der sprachlichen Diskriminierung, wie es beispielsweise Stereotype oder negative Assoziationen tun (SCHWARZ-FRIESEL 2013:339ff.). Sie ist also 9 Die Anführungszeichen wurden ohne Abänderung aus den Originalzitaten entnommen. Daher sind die in den Zitaten verwendeten Anführungszeichen nicht konsistent. 10 Zur Geschichte der Phrase siehe Kapitel 4. 7 nicht per se diffamierend aufzufassen. Jedem das Seine gehört viel eher einer vierten Kategorie an, zu welcher u.a. auch das Lexem Euthanasie (vgl. FELDER 2009:13) zählen könnte. Hiermit sind Lexeme oder Wendungen gemeint, die für das nationalsozialistische System umgedeutet und missbraucht11 wurden und daher mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden. Dass sich diese Verbindung jedoch nicht zwangsläufig aufrechterhalten lässt, zeigt ein Beleg von STERNBERGER/STORZ/SÜSKIND (1968:8). Sie schreiben: „Das Wort >>Lager<<, so harmlos es einmal war und wieder werden mag, können wir doch auf Lebzeiten nicht mehr hören, ohne an Auschwitz zu denken.“ Gleichzeitig existiert ein elementarer linguistischer Unterscheid zwischen einem Lexem wie Euthanasie und der universell einsetzbaren Phrase Jedem das Seine.12 Dass Jedem das Seine – auch konträr zu Arbeit macht frei – nicht zu den prominenten Kategorien gehört, kann als ein weiterer Grund dafür angesehen werden, warum die Phrase nicht zwangsläufig mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht wird. Daher gleicht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Phrase eher einem Desiderat. Es existieren jedoch einige Artikel, die diesem Umstand entgegenzuwirken versuchen. Hierzu zählt u.a. HEYL (1998), der es sich aufgrund mehrmaliger Verfehlungen von Werbetreibenden zur Aufgabe machte, über die Geschichte der Phrase aufzuklären oder auch BRUNNSEN (2010:290), der festhält, dass es „bis heute [...] den Deutschen nicht überzeugend gelungen [ist], einen verbindlichen gesellschaftlichen Konsens über den angemessenen Umgang mit nationalsozialistisch belasteten Wörtern und Wendungen“ herzustellen. Gerade dieses Werk, wie auch der Aufsatz von KLENNER (2002) sind für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung. Im nachfolgenden Kapitel sollen zwei weitere Ursachen dargelegt werden, die die „ahistorisch profane“ (BRUNNSEN 2010:290) Verwendung der Phrase begründen könnten. 11 Es existieren wissenschaftliche Überlegungen, die nicht zwangsläufig von einem Missbrauch der Phrase sprechen. So stellt beispielsweise Klenner fest, dass „die Meinungen, ob im Falle des KZ Buchenwald ein Gebrauch oder ein Mißbrauch des Schlagwortes vorliegt“ weit auseinandergehen (KLENNER 2002:331). 12 Zu linguistischen Merkmalen der Phrase siehe Kapitel 3. 8 2.3 Forschungsstand zur Kenntnis des Nationalsozialismus Will man die gesellschaftliche Sensibilität im Umgang mit NS-Sprache fördern, so ist es von großer Bedeutung, dass eine prinzipielle Kenntnis des Nationalsozialismus vorherrscht. Dass dies jedoch nicht zwangsläufig der Fall ist, zeigen verschiedene Studien. So konnte Forsa im Auftrag des Magazins STERN (2012) herausfinden, dass beispielsweise 21 Prozent der 18- bis 30-Jährigen den Begriff Auschwitz nicht einordnen konnten.13 Wie AHLHEIM/HEGER (2002) in einer Studie mit 2200 Studierenden der Universität Essen herausfinden konnten, verfügten 54 Prozent der Befragten über lückenhaftes Faktenwissen zum Nationalsozialismus und Holocaust. 17 Prozent verfügten gar über ein geringes Faktenwissen.14 Eine Studie des Forschungsverbandes SED-Staat der Freien Universität Berlin von 2012 konnte außerdem festhalten, dass nur etwa die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler den Nationalsozialismus einer Diktatur zuordnen würde.15 Immerhin 25 Prozent einer Forsa-Umfrage von 2007 sind der Meinung, dass der Nationalsozialismus auch gute Seiten gehabt hat. 16 Bei den Hauptschulabsolventen waren es sogar 44 Prozent. Die dargelegten Fakten machen eine Kenntnis der geschichtlichen Zäsur der Phrase Jedem das Seine sehr unwahrscheinlich. Aus diesen Gegebenheiten folgt jedoch eine viel weitreichendere Konsequenz, die einen dramatischen Einfluss auf die gesellschaftliche Aufklärung bezüglich des Nationalsozialismus und respektive auch Jedem das Seine hat. Betrachtet man die weiterführenden Ergebnisse der Studie von AHLHEIM/HEGER (2002), so wird deutlich, dass 47 Prozent der Studierenden mit geringem Faktenwissen einen „Schlussstrich“ hinter die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands ziehen wollen (vgl. Abbildung 1). Selbst bei Studierenden mit gutem Faktenwissen sind es immer noch 29 Prozent. Bei der beschriebenen Forsa-Umfrage für den STERN (2012) waren es gar 40 Prozent, die sich für einen Schlussstrich aussprachen.17 13 http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-01/umfrage-auschwitz (zuletzt eingesehen am 19.03.2017). 14 Gestellte Fragen der Studie u.a.: Wann begann/endete der zweite Weltkrieg? Was passierte in der sogenannten Reichskristallnacht? Was wurde auf der Wannsee-Konferenz geplant? AHLHEIM/HEGER (2002:63). 15 http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/schueler-wissen-wenig-ueber-ddr-und- nationalsozialismus-a-841157.html (zuletzt eingesehen am 21.03.2017). 16 http://www.stern.de/politik/deutschland/stern-umfrage-hatte-die-ns-zeit-gute-seiten--3228902.html (zuletzt eingesehen am 21.03.2017). 17 In einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung von 2007 waren es sogar 57 Prozent (ZICK 2010:232). 9 Abbildung 1: Ergebnisse der Studie zum Wissen über den Nationalsozialismus aus AHLHEIM/HEGER (2002:68). „Die Schlussstrich-Forderung stützt sich dabei […] auf das Argument, lange genug sei der Erinnerungs- und Gedenkpflicht genüge getan und es seien hinreichend finanzielle Reparationen geleistet worden“ (SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ 2012:281). Während Unwissenheit mit gesellschaftlicher Aufklärung, wissenschaftlichen Arbeiten und medialer Sensibilisierung entgegenzuwirken wäre, verhält es sich bei der Forderung nach einem Schlussstrich anders. Gerade weil ein adäquater Umgang mit NS-Sprache Empathie erfordert – da der unbedarfte Gebrauch vieler Wendungen nicht strafbar ist – wirkt sich eine „Überdrussmentalität“ (SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ 2012:282) gravierend auf eine adäquate Erinnerungskultur aus. „Das Zurückweisen der Erinnerungskultur ist gekoppelt an die Verweigerung eines emphatischen Gefühls: Keinerlei Verständnis wird für das Bedürfnis der Opfer(nachkommen) gezeigt, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten“ (SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ 2012:282). Denn während bei einem Teil der Gesellschaft „historische Erinnerung (etwa bei den Überlebenden) oder historisches Bewusstsein und Sensibilität vorhanden [ist]“, und die Phrase Jedem das Seine „unweigerlich Assoziationen an den nationalsozialistischen Terror wachrufen“ wird (HEYL 1998:5), gibt es ebenfalls einen Teil, der „vom Trauma der Davongekommenen nichts wissen will, eine[r] Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch des Nationalsozialismus“ (BRUNNSEN 2010:311) skeptisch gegenübersteht und einen endgültigen Schlussstrich ziehen möchte. Gerade diese Gründe machen eine angemessene Erinnerungskultur, die auch den Umgang mit Jedem das Seine beinhaltet, so komplex und gesellschaftlich polarisierend. Es zeigt sich, dass die eingangs proklamierte These zum Teil relativiert werden muss. Es ist nicht nur die besondere Rolle von Jedem das Seine im Vergleich zu anderen 10 sprachlichen Phänomenen der NS-Zeit (Kap. 2.2), die dafür sorgt, dass der nationalsozialistische Hintergrund der Phrase größtenteils unbekannt ist. Es ist weiterhin das Fehlen von wissenschaftlicher Aufklärung in der Nachkriegszeit (Kap. 2.1), die Unwissenheit zum Nationalsozialismus im Allgemeinen und die Forderung nach einem Ende der Erinnerungskultur, die eine Verwendung der Phrase in „ahistorisch profaner Bedeutung“ (BRUNNSEN 2010:290) fördern. Betrachtet man Jedem das Seine aus phraseologischer Sicht, so zeigen sich weitere markante Merkmale, die einen universellen Einsatz in verschiedenen Kontexten ermöglichen und somit einen wichtigen Anhaltspunkt für eine ahistorische Verwendung darstellen. 3 Phraseologische Merkmale von Jedem das Seine Ein für die folgende Untersuchung wichtiger Faktor ist die Einordnung von Jedem das Seine hinsichtlich phraseologischer Merkmale. PALM (1995:3) definiert die Wendung eindeutig als Sprichwort und somit als Unterkategorie von Phraseologismen.18 Sprichwörter „sind in sich geschlossene Sätze, die durch kein lexikalisches Element an den Kontext angeschlossen werden müssen“ (BURGER 2010:106). Insofern Jedem das Seine als geschlossener Satz definiert wird, weist er eine syntaktische Irregularität auf, da er einen verblosen Aufforderungssatz darstellt (PAUL 1995:134).19 Weiterhin ist Jedem das Seine eine polylexikalisch feste Wortverbindung, die sowohl gebräuchlich20 als auch strukturell fest ist.21 BURGER (2010:37ff.) nimmt folgende Klassifikation für den Gesamtbereich der Phraseologie vor (vgl. Abbildung 2). 18 U.a. FLEISCHER (1997:255) zählt Sprichwörter nicht zur Klasse der Phraseologismen: „Im Unterschied, zu Routineformeln und Phraseolexemen, die als Einheiten des Sprachsystems reproduziert werden, werden Sprichwörter als Texte zitiert“. 19 Im Korpus wird Jedem das Seine sowohl textwertig, satzwertig wie auch satzgliedwertig verwendet. 20 Das zeigen die zahlreichen Ergebnisse des Korpus. 21 Das wird ebenfalls durch die syntaktische Irregularität deutlich. Weitere phraseologische Merkmale wie Modifikation und Variation werden analog zur Analyse verschiedener Belege ab Kapitel 5.2 erörtert. 11 Abbildung 2: Klassifikation der Phraseologie Weil kommunikative Phraseologismen „bestimmte Aufgaben bei der Herstellung, Definition, dem Vollzug oder der Beendigung kommunikativer Handlungen“ (BURGER 2010:36) besitzen, das Sprichwort hingegen als referentiell eingeordnet wird, zeigt sich hier bereits die Problematik einer strikten Definition. Sprichwörter können nach KOLLER (1977:52) ebenfalls „den Höhepunkt oder den Abschluß eines Gesprächs“ markieren und nach LÜGER (1999:161) der Ablaufregulierung (z.B. Eröffnung oder Zusammenfassung von Abschnitten)22 dienen. Sie haben somit oftmals eine textlinguistische Funktion. Gerade für Jedem das Seine trifft das – wie in Kapitel 5.2.4 gezeigt wird – zu. Referentiell-propositionale Phraseologismen sind „Aussagen über Objekte und Vorgänge“, die satzwertig oder textwertig sind (BURGER 2010:37). LÜGER (1999:92) hingegen definiert, dass Sprichwörter „in der Regel keine Verweise auf irgendwelche Situationsfaktoren“ beinhalten. Die nachfolgende Analyse wird zeigen, dass Jedem das Seine beide beschriebenen Definitionen bedienen kann. Ebenfalls konträr zu LÜGER (1999:131) gliedert BURGER (2010:37ff.) satzwertige Phraseologismen nicht nach dem Kriterium der Idiomatizität, sondern nach syntaktischen und textlinguistischen Kriterien. Hieraus ergeben sich dann die Klassen feste Phrasen23 und topische Formeln. Topische Formeln sind generalisierende Aussagen, die „auch ohne Verankerung in einem spezifischen Kontext, einer spezifischen Situation verständlich sind“ (BURGER 2010:41). 22 Auch RÖHRICH/MIEDER (1977:81) erkennen in Sprichwörtern die Funktion der Zusammenfassung. 23 Sie beziehen sich durch deiktische/anaphorische Elemente direkt auf den Kontext. 12 Sie können somit prinzipiell kontextfrei verstanden werden, wobei dies gerade für Jedem das Seine, wie diese Arbeit zeigen wird, nicht immer gilt. Auch BURGER (2010:106) relativiert dieses Merkmal zumindest in Teilen. Betrachtet man die topischen Formeln weiter, so ergeben sich zwei Unterkategorien. Gemeinplätze definieren keine neuen Erkenntnisse und haben einen tautologischen Charakter. Zumindest PETERSEN (2017:45) erkennt dieses Merkmal in Jedem das Seine basierend auf einer Definition als Gerechtigkeitsformel (vgl. Kap. 4.1). Linguistisch betrachtet besteht jedoch ein Unterschied zwischen Gemeinplätzen wie Was sein muss, muss sein und Jedem das Seine, da Jedem das Seine vielmehr die Form eines „All-Satzes“ aufweist, die nach BURGER (2010:106) charakteristisch für Sprichwörter sind und somit einen generalisierenden Aspekt aufweisen. Eine Definition als Sprichwort leuchtet somit durchaus ein. Verweist man jedoch mit der Verwendung der Phrase beispielsweise auf Cicero oder Platon, so ist eine Definition als Geflügeltes Wort ebenfalls möglich. Eine strikte Trennung zwischen Sprichwort und Geflügeltem Wort wie LÜGER (1999:131)24 sie vornimmt, hat in der folgenden Analyse keinen Mehrwert, da dieses Kriterium bei Jedem das Seine erst durch die explizite Definition des Verfassers zum Tragen kommt und sich die Semantik der Phrase zum Teil daraus erst ergibt.25 „Entscheidend ist jeweils, dass bei den Sprechern ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass der Ausdruck auf eine bestimmte […] Quelle zurückgeht“ (BURGER 2010:48). Das Kapitel 5.2.9.1 untersucht die Definition als Geflügeltes Wort genauer. Die Wendung Jedem das Seine kann somit sowohl als Phrase, Geflügeltes Wort wie auch als Sprichwort definiert werden.26 Eine strikte Definition wäre für diese Untersuchung nicht nur nicht förderlich, sondern sogar schädlich, da Jedem das Seine eine Mischform ist, die je nach Situation heterogene Funktionen27 aufweist und auch von Verfassern zum Teil kontrastiv gedeutet wird. Hierzu zählen insbesondere auch verschiedene 24 LÜGER geht nach dem Kriterium +/-belegbar vor. 25 Im Korpus liegen beide Verwendungsweisen vor. 26 STEIN (1995:45) liefert noch weitere potenzielle Bezeichnungen, die ebenfalls für Jedem das Seine gelten könnten (Redewendung, Redensart, formelhafte Wendung, Phraseologismus, vorgeformter Ausdruck, sprachliches Fertigteil, Routineformel usw.). Unter diesen Bezeichnungen subsumieren sich jedoch die bereits definierten Charakteristika. 27 Diese werden im weiteren Verlauf der Arbeit analog zu thematischen Domänen (ab Kapitel 5.2.3) genauer definiert. 13 pragmatische Funktionen (KOLLER 1977:70ff., GRZYBEK 1984:225), die u.a. als „Warnung, Überredung, Mahnung, Zurechtweisung, Feststellung, Charakterisierung […]“ (RÖHRICH/MIEDER 1977:81) gedeutet werden können und „eine bestimmte Bewußtseinsänderung beim Rezipienten“ (GRZYBEK 1984:225) erzielen möchten.28 Ziel dieser Arbeit ist es, diese hohe Variabilität einer Phrase hinsichtlich ihrer Funktion, Semantik und metasprachlicher Deutung präzise darzustellen. Denn gerade aus der vielfältigen Anwendbarkeit ergibt sich womöglich einer der Gründe, warum die Phrase nicht nur im Kontext des Nationalsozialismus verwendet wird. „Doch ist ohnehin nicht die Eindeutigkeit, sondern die Deutungsvielfalt intelligenter Sätze das Normale. Schon deshalb, weil sich der geistige Gehalt eines Textes ohne dessen jeweiligen Kontext nicht erschließen läßt“ (KLENNER 2002:327). 4 Geschichte der Phrasen Für eine angemessene Untersuchung der Phrasen Jedem das Seine sowie dem lateinischen Äquivalent suum cuique ist eine ausführliche geschichtliche Betrachtung von großer Bedeutung. Nachfolgend soll erläutert werden, wo die jeweiligen Phrasen ihren Ursprung haben, in welchem Kontext sie verwendet wurden und welche Semantik ihnen zugewiesen werden kann. 4.1 Suum cuique in der Antike Erste Spuren der Phrase finden sich bereits bei Platon in seinem Werk Politeia (Der Staat) um etwa 370 v.Chr., in welchem er sich mit der Aushandlung von Gerechtigkeit auseinandersetzt.29 In einem Gespräch zwischen Glaukon und Sokrates definiert Sokrates Gerechtigkeit wie folgt: „[…] Gerechtigkeit sei, daß jeder das Eigene und das Seinige hat und tut“ (PLATON 2016:155/433e). Nach BRUNNSEN (2010:295) bedeutet das, dass jeder „die seinen Fähigkeiten und Lebensumständen gemäße Rolle im Staat spielt.“ Schon in dieser Definition zeigt sich die individuelle Auslegungsmöglichkeit der Phrase, da HÄRLE (2011:56) anmerkt, dass während Gerechtigkeit „in der Philosophie vor und nach Platon […] definiert worden war als die Tugend, durch die jedem zuteilwird, was 28 Zur Funktion von Phraseologismen im Allgemeinen siehe Kapitel 5.2.2. 14 ihm zusteht („suum cuique“), sagt Platon, Gerechtigkeit bestehe darin, dass jeder das Seinige tut“. Jeder soll also das tun, „wozu er von Natur besonders veranlagt sei“ (PLATON 2016:154/433a). Platon definiert somit konträr zu anderen Gerechtigkeitsdefinitionen eine aktive Rolle des Menschen, in welcher er sich auch selbst verwirklichen kann. Obwohl die lateinische Phrase suum cuique freilich nicht in der griechischen Antike verwendet wurde, zeigt sich doch, dass die bei Platon definierte Gerechtigkeitsinterpretation Grundlage für nachfolgende Auslegungen war. So konkretisierte Cicero in seiner Schrift De Officiis (von den Pflichten) die Aushandlung von Gerechtigkeit mit den Worten suum cuique, um zu beschreiben, was moralisches Handeln ist. „Mit dem Einsatz für die menschliche Gemeinschaft, der Bereitschaft, jedem Einzelnen das zuzuteilen, was ihm zukommt […]“ (CICERO 2008:21/1, 15).30 Cicero beschreibt somit außerdem die aktive Rolle des Staates, welcher es sich zur Aufgabe machen solle, jedem etwas zuzuteilen. Fälschlicherweise verweisen sowohl LAUTERBACH (2002:385) als auch BRUNNSEN (2010:296) auf Kapitel 2431 des ersten Buches (Liber primus) von Cicero mit dem Wortlaut: „iustitiam, suum cuique tribuit, alienum non vindicat, utilitatem propriam negle(i)git ut communem aequitatem custodiat“ (AMBROSE 2002:184). Dieser Satz stammt jedoch von Ambrosius, einem Bischof aus Mailand, und ist in seinem gleichnamigen Werk erschienen, welches jedoch lediglich eine Nachahmung von Ciceros Schriften ist. Basierend auf Ciceros Definition verfasste der oströmische Kaiser Justinian I. 533 n. Chr. in seiner Sammlung bürgerlichen Rechts (Corpus Iuris Civilis) den Satz „iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens“32 (JUSTINIAN I. 1997:1/ Inst. 1,1,0). Gerechtigkeit ist demnach „der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren.“ Die Gebote des Rechts sind nach Justinian I. folgende: „Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren“ (JUSTINIAN I. 1997:1/Inst. 30 Übersetzung: „in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide“ (CICERO 2008:20/1, 15). 31 In Kapitel 24 ist jedoch folgendes vermerkt: „Atque illae quidem iniuriae, quae nocendi causa de industria inferuntur, saepe a metu proficiscuntur, cum is, qui nocere alteri cogitat, timet, ne, nisi id fecerit, ipse aliquo afficiatur incommodo. Maximam autem partem ad iniuriam faciendam aggrediuntur, ut adipsicantur ea, quae concupiverunt; in quo vitio latissime patet avaritia“ (CICERO 2008:26). 32 KLENNER (2002:328) weist die Formel suum cuique Ulpian zu. HÄRLE (2011:369) stellt fest, dass „die vielerorts zu lesende Behauptung, die Formel „suum cuique“ stamme von Ulpian, falsch ist“. 15 1,1,3)33. Konträr zu Cicero und Platon werden bei Justinian I. die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat definiert (BRUNNSEN 2010:296). Gerade auch deshalb beschreibt VON DER PFORDTEN (2013:25) die Texte Justinians I. als „einflussreichste Rechtssammlung des Abendlandes.“ KLENNER (2002:327) geht so weit, dass suum cuique lediglich zum „Schlagwort“ geworden ist, weil Justinian I. die Phrase als „Rechts- und Gerechtigkeitsprinzip zu Grunde legen ließ.“ HÄRLE (2011:125) verweist sogar darauf, dass suum cuique in der stoisch-ciceronischen Tradition eines der fünf klassischen Grundprinzipien des Naturrechts darstellte.34 Während durch die in diesem Kapitel beschriebenen Belege die Bedeutsamkeit von suum cuique schon in der Antike nicht zu bestreiten ist, lassen sich doch kritische Anmerkungen zur Aushandlung von Gerechtigkeit durch die Phrase finden. So stellt SCHOPENHAUER (2007:116) fest, dass sich „die Negativität der Gerechtigkeit […], dem Anschein entgegen, selbst in der trivialen Definition [bewährt]: >>Jedem das Seine geben.<< Ist es das Seinige, braucht man es ihm nicht zu geben: bedeutet also >>Keinem das Seinige nehmen<<.“ Darauf basierend formuliert PETERSEN (2017:45), dass es „seit jeher ein Einwand gegen die Gerechtigkeitsdefinition des suum quique (sic!) gewesen [ist], dass sie sich in einem nichtssagenden, tautologischen Inhalt erschöpft“. Auch KELSEN (1985:378) bezeichnet die Phrase als „inhaltslose Formel“. Trotz dieser zum Teil berechtigten Kritik wurde die lateinische Phrase auch in der Neuzeit vielfach verwendet und unterschiedlich interpretiert. 4.2 Suum cuique in der Neuzeit „Justinians Gesetzgebungswerk erwies sich als die folgenreichste Kodifikation der Weltgeschichte: Ihre Regelungen wurden in ganz Europa rezipiert“ (KLENNER 2002:327). Zurückführend auf das römische Gerechtigkeitsprinzip lässt auch Shakespeare Marcus Andronicus in dem Werk Titus Andronicus den Satz „Suum cuique is our Roman Justice“ sagen (SHAKESPEARE 1979:211). HEYL (1998:2) stellt daher zutreffend fest, dass „dieser 33 Vgl. in Latein: „Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“ (JUSTINIAN I. 1997:1/ Inst. 1,1,3). 34 Hierzu zählten außerdem: neminem laedere (niemanden verletzen); honeste vivere (ehrenhaft leben); deum colere (Gott verehren); pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten), HÄRLE (2011:125). 16 Grundsatz […] neben der Rechtsphilosophie und Moraltheologie seit langem die Literatur, Musik und Kunst“ beschäftigt.35 Im deutschsprachigen Raum erfährt die lateinische Phrase ihre Berühmtheit insbesondere durch den Schwarzen Adlerorden, dem höchsten preußischen Orden und der Verwendung als „Wahlspruch“ Preußens (ZEDLITZ-NEUKIRCH 1836:73). „Der Endzweck Unseres Reiches und Ordens […] nemlich Recht und Gerechtigkeit zu üben, und jedweden das Seine zu geben“ ist nach ZEDLITZ-NEUKIRCH (1836:73) einer der Hauptgründe dafür, dass die Phrase suum cuique das Wappen schmückt. Ein Weiterer ist die Intention, die „allgemeine Unpartheilichkeit anzudeuten, nach welcher nicht nur dem einen und dem andern; sondern allen durchgehends und einem jedweden nach Verdiensten das Seine geleistet werden sollte.“ Der deutsche Historiker Leopold von Ranke versichert in seinem Buch Preussische Geschichte unter Berufung auf eine Person namens Lamberty dass sich „jenes „Suum cuique“ in den Insignien desselben […] auf die Definition einer guten Regierung [bezieht], in der den Guten sowohl wie den Bösen nach ihrem Verdienst geschehe“ (VON RANKE 1957:369). Beschrieben werden hier somit konträr zu allen anderen bisherigen Bedeutungsaspekten, die Pflichten des Königtums.36 Seit der Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 tragen auch die Feldjäger ein Abzeichen mit dem preußischen Gardestern und der Inschrift suum cuique. Somit „dürfte die Benutzung der lateinischen Vorlage kaum als illegitim anzusehen sein, da es sich bei jenem ‘suum cuique’ um einen in relativ niedriger Frequenz gebrauchten Ausdruck handelt, der seit 1945 weder von Überlebenden des SS-Terrors noch von Sprachkritikern direkt mit den NS-Verbrechen assoziiert worden ist“ (BRUNNSEN 2010:309). 35 Hierzu ausführlicher im Kapitel 4.3. 36 HAFFNER (1978:113) interpretiert die Phrase jedoch anders: „Der Staat stellte jedem Bürger, vom König bis zum letzten Untertanen eine Aufgabe, auf deren Erfüllung er ihn streng verpflichtete, und zwar jedem Stand eine andere“. 17 4.3 Jedem das Seine im deutschsprachigen Raum Erste Aufzeichnungen der deutschen Phrase Jedem das Seine finden sich „in den Künsten und auch in akademischen37 Texten“ (BRUNNSEN 2010:297). So unter anderem bei Immanuel Kants Werk Metaphysik der Sitten, in welchem er nach Ulpians Rechtslehre definiert: „Tritt in eine Gesellschaft mit Andern, in welcher Jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue)“ (KANT 1838:41). In der Literatur wird die Phrase von Eduard Mörike als Titel eines Gedichts von 1861 verwendet, in welchem er eine Liebesgeschichte beschreibt (MÖRIKE 2015:54). Auch in der Musik kommt Jedem das Seine durch die Benennung einer Kantate von Johann Sebastian Bach zum Tragen (HEYL 1998:2). Festzuhalten ist jedoch, dass gerade die deutsche Phrase keine geschichtsträchtige Vergangenheit aufweist und vielmehr „Symbol für ein System [ist], in dem sadistische Scharfrichter die Macht hatten, jedem zuzuweisen, was sie für das Seine hielten“ (NEUES DEUTSCHLAND, 12.11.1988).38 Die aus dieser zynischen Definition resultierenden Konsequenzen werden im nachfolgenden Kapitel erörtert. 4.3.1 Jedem das Seine im Nationalsozialismus Obwohl die Phrase in den jeweiligen Epochen unterschiedliche Bedeutungsdefinitionen innehatte, erfährt der eigentliche Rechtsgrundsatz im Nationalsozialismus eine eindeutige Zäsur. Die Phrase wird im 1937 eröffneten Konzentrationslager Buchenwald an der Innenseite des Eingangstors angebracht.39 Ziel dessen war es, die Insassen während ihrer gesamten Aufenthaltszeit zu demütigen (BRUNNSEN 2010:295), denn „die auf dem Appellplatz stehenden Häftlinge hatten sie ständig vor Augen“ (STEIN 1999:34). Im auf dem Ettersberg in Weimar errichteten KZ Buchenwald wurden bis 1945 nahezu 240.000 Menschen inhaftiert. Etwa 56.000 fielen den Gräueltaten der Nationalsozialisten zum Opfer. Gefertigt wurde die Inschrift vom ehemaligen Meisterschüler des Bauhauses Dessau, Franz Ehrlich, welcher selbst im KZ Buchenwald inhaftiert war. „Ehrlich entwirft die Buchstaben in Anlehnung an Meister des Bauhauses und an seinen Lehrer Joost Schmidt. Die Typografie wird so zur subtilen Intervention 37 BRUNNSEN (2010:297) nennt hier auch Verwendungen von Nietzsche, Hegel und Marx. 38 Die Staatsbibliothek Berlin stellt auf ihrer Internetseite sämtliche Exemplare von drei DDR- Tageszeitungen (BERLINER ZEITUNG, NEUES DEUTSCHLAND, NEUE ZEIT) von 1945-1994 zur Verfügung. Die Definition von NEUES DEUTSCHLAND als sozialistische Tageszeitung wurde berücksichtigt. 39 Die Arbeiten am gesamten KZ Buchenwald gingen jedoch bis spät in das Jahr 1939. (KIRSTEN 2002:15) 18 gegen den Geist der Inschrift.“40 1932 verfasste der Nationalsozialist Hans Schwarz van Berk eine Rechtfertigungsschrift mit dem Titel Preußentum und Nationalsozialismus. 7 Briefe an einen preußischen Junker, in welchem er schreibt: „Der Nationalsozialismus setzt an die Stelle der utopistischen Parole “Alles allen!” den preußisch-sozialistischen Wahlspruch “Jedem das Seine!”“ (VAN BERK 1932:17). BRUNNSEN (2010:295) interpretiert diese Zeilen als möglichen Grund für die Verwendung der Phrase Jedem das Seine am KZ Buchenwald anstatt der üblichen Phrase Arbeit macht frei. Die Bedeutung von Jedem das Seine wandelte sich somit von einer jahrtausendealten Gerechtigkeitsformel zu einem „Synonym für Massenmord“ (STERN 20.08.1998:17). Der ehemalige Ministerpräsident von Thüringen, Bernhard Vogel, fasst die Absurdität zwischen Gerechtigkeit und Jedem das Seine im KZ in einer Gedenkveranstaltung von 1995 sehr treffend zusammen: „Buchenwald war der Ort, an dem das Grauen in menschenverachtender und demütigender Weise seinen Ausdruck fand, eingeschmiedet in das Tor des Lagers: ›Jedem das Seine‹. Dieses zynische Motto mit seinem bösen, inhumanen Sinn sprach dem klassischen lateinischen Gerechtigkeitsideal eines ›suum cuique‹ (Cicero) Hohn“ (HEYL 1998:3). KLENNER (2002:332) definiert diese hohe Diskrepanz als „Skandalon in der Verwendungsgeschichte“ und auch BRUNNSEN (2010:298) stellt fest, dass nicht Recht und Gerechtigkeit den Insassen zuteilwurde, sondern die Willkür und Grausamkeit der SS. 4.3.2 Jedem das Seine von 1945-1998 Nach Ende des 2. Weltkriegs wurde die Phrase zunächst als ein „durch keinen spezifischen geschichtlichen Kontext determinierte[n] Ausdruck“ weiterverwendet (BRUNNSEN 2010:300). Das wird insbesondere durch Zeitungsbelege der Zeitung NEUES DEUTSCHLAND deutlich. So äußert sich beispielsweise Johannes Stroux (ehemaliger Rektor der Berliner Universität) über die Grundrechte des Volkes.41 (I) NEUES DEUTSCHLAND, 08.10.1946 Der eine lehrt, daß alle Rechte, ohne Rücksicht auf äußere und erworbene Lebensumstände wie Geburtsadel, Reichtum und ähnliche Eigenschaften Privilegierter, aus der allgemeinen und gleichen Menschennatur abgeleitet werden 40 https://www.buchenwald.de/602/ (zuletzt eingesehen am 16.03.2017). 41 Alle in diesem Kapitel aufgeführten Belege wurden nicht in die Korpusanalyse miteinbezogen. Deshalb sind diese auch anders gesondert und mit römischen Ziffern aufgeführt. 19 müssen. Aus ihr geht die Bestimmung der einzelnen menschlichen Persönlichkeit ebenso hervor, wie die Bestimmung der menschlichen Gesellschaft und damit auch des Staates. Der zweite Grundsatz aber verlangt, daß die soziale Gerechtigkeit bestehen und „Jedem das Seine" zugeteilt werde. Das Ist die Grundlage des sozialen Friedens. Jedem das Seine steht hier stellvertretend für die Schaffung des sozialen Friedens in Deutschland. Bereits ein Jahr nach Ende des Nationalsozialismus wird die Phrase verwendet, um Grundrechte des Volkes und Gerechtigkeit darzustellen. Der nationalsozialistische Missbrauch wird somit nicht thematisiert. Die Verwendung erfolgt auf Basis der antiken Gerechtigkeitsdefinition. Auch in einem Beleg der Zeitung NEUE ZEIT vom 07.11.1950 wird die wirtschaftliche Gerechtigkeit der Sowjetunion durch die Phrase definiert und dem Grundsatz „Allen das Gleiche“ gegenübergestellt. (II) NEUE ZEIT, 07.11.1950 Aber die menschliche Ungleichheit, die Rangordnung der Individuen zu leugnen, kommt auch dem Bolschewismus nicht in den Sinn, und auch ihm heißt Gerechtigkeit, selbst im Wirtschaftlichen, nicht „Allen das Gleiche", sondern „Jedem das Seine". Die mediale „Unbekümmertheit“ wird auch in einem vom SPIEGEL veröffentlichten Artikel deutlich, in welchem über die Oscars berichtet wird und der Film To Each His Own mit den Worten Jedem das Seine übersetzt, obgleich der eigentliche Titel Mutterherz war. (III) SPIEGEL, 22.03.1947 Den "weiblichen Oscar" bekam Olivia de Havilland, eine gebürtige Engländerin. In ihrer leidensvollen Rolle in dem Film "Jedem das Seine" hat sie, so sagt man, das schlechthin Weibliche so prägnant dargestellt, daß selbst hartgesottene Männer ihr den Oscar auf keinen Fall versagen konnten. Ein Grund dafür, „dass sich bis weit in die 1950er Jahre kein öffentliches Bewusstsein von der Bedeutung der Buchenwalder Torinschrift herausbildet“ (BRUNNSEN 2010:302), könnte der Dokumentarfilm Die Todesmühlen sein, welcher nach Kriegsende eine Woche lang ausnahmslos in allen Kinos der US-Zone gezeigt wurde. Während im Film das KZ Auschwitz mit seiner Inschrift Arbeit macht frei gezeigt wird, verpassen es die Filmemacher, auch die Inschrift des KZ Buchenwald eindeutig darzustellen.42 Erste 42 Vgl. Die Todesmühlen 1945.WILDER, B./BURGER, H. (Regie). Produktion: Office of Military Government for Germany United States. 20 Anzeichen für einen reflektierten Gebrauch entstehen durch den Bau der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald im Jahr 1954. Dieser Bau wird in den DDR-Zeitungen thematisiert und wirkt sich ebenfalls auf die Berichterstattung in Westdeutschland aus.43 (IV ) N E U E Z E I T , 1 1 .0 4 .1 954 Eine Stätte des Grauens soll Mahnmal des Friedens werden Nicht minder zynisch kennzeichnend wirkt die jetzt noch erhaltene Inschrift an dem schmiedeeisernen Tor: Jedem das Seine! Hinter dem Eingang dehnt sich die Weite des sogenannten „Appellplatzes", auf dem allmorgendlich die Häftlinge zum Abzählen angetreten waren und der jetzt den Versammlungsort für die großen offiziellen Feiern zum Internationalen Befreiungstag bildet. Während HEYL (1998:5) darauf verweist, dass „in Ostdeutschland, wo zu Zeiten der ehemaligen DDR der Gedenkstätte Buchenwald besondere Bedeutung zukam (fast alle Jugendlichen in der DDR […] das ehemalige Lager in Vorbereitung ihrer Jugendweihe, mit der Schule oder der FDJ besucht [haben], manche gleich mehrfach)“44 und die Phrase in Ostdeutschland somit präsenter sei, spricht BOCHMANN (1994:86) bezogen auf die DDR von der „Geschichte eines Defizits“. In den 1960er Jahren werden Jedem das Seine wie auch andere Lexeme der NS-Zeit instrumentalisiert, um jeweilige Kontrahenten zur Zeit des Ost-West-Konflikts zu diffamieren (EITZ/STÖTZEL 2007:489ff./STÖTZEL 1995²:369). So beschreibt der ehemalige SED-Chef Walter Ulbricht das von der BRD erlassene Sozialpaket mit den Worten „Also ganz wie bei den Nazis: Jedem das Seine!“ (NEUES DEUTSCHLAND, 13.03.1963). Das von Ulbricht realisierte Tertium Comparationis, also die relevante Teilmenge der beiden verglichenen Entitäten, wird ebenfalls von ihm formuliert: „Die Bilanz des Sozialpakets bedeutet also Milliarden mehr in die Taschen der Unternehmer, Milliarden mehr aus den Taschen der Arbeiter, Angestellten und Rentner.“ Selbst wenn das die Folge des Sozialpakets wäre, so wird hierdurch lediglich eine irrelevante Teilmenge beschrieben, die einen Vergleich mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten als indiskutabel erscheinen lässt. 1969 vergleicht Horst Salomon den Springer-Verlag ebenfalls mit einem Konzentrationslager. 43 So berichtet u.a. auch DIE ZEIT vom KZ-Buchenwald und der Inschrift (04.12.1959). 44 Auch zum zehnjährigen Bestehen der Gedenkstätte schreibt NEUES DEUTSCHLAND über die Taten im KZ (NEUES DEUTSCHLAND, 08.02.1964). 21 (V) NEUES DEUTSCHLAND, 24.02.1969 So ist der Teil der Welt, in dem die Springer walten und schalten, zu einem KZ für Geist und Gefühl geworden, über dessen Pforte nach wie vor „Jedem das Seine" steht. Für die einen das klägliche Gewinsel von der Nichtigkeit des Lebens, das wehmütige, weinselige Ausbreiten belangloser Gefühlchen, für den anderen die Vergötzung animalischer Gier, Skrupellosigkeit und Sadismus. Spätestens ab den 1980er Jahren wurden solche Vergleiche allerdings als „unangemessen“ angesehen, weil sich in der Öffentlichkeit die Einsicht durchsetzte, dass sie die „Verbrechen der Nazis relativieren und verharmlosen“ (EITZ/STÖTZEL 2007:399). Dass diese Einsicht jedoch keine großen Auswirkungen auf den historisch- unkritischen Gebrauch der Phrase Jedem das Seine hatte, zeigt die Tatsache, dass im für diese Arbeit angelegten Korpus lediglich 16,2 Prozent der Zeitungsartikel bis zum 13.06.1998 über die nationalsozialistische Vergangenheit aufklären. Nach dieser Zeit setzt eine eindeutige Zäsur ein, da es „eine historisch-politisch sensibilisierte Öffentlichkeit als obszön [empfand], daß für Kapitalistenkommerz mit einem Text geworben werde, den die Nazibarbaren in das Eingangstor ihres Konzentrationslagers Buchenwald hatten einschmieden lassen, um ihre Opfer auch noch zu verhöhnen“ (KLENNER 2002:329). Diese Proteste, die „von einer ausführlichen Medienberichterstattung begleitet worden sind“ (BRUNNSEN 2010:307), sollen nachfolgend im Kapitel 5.1.5.1 thematisiert werden. Zuvor wird das angesprochene Korpus und die auf darauf basierende Methodik vorgestellt. 5 Korpusanalyse 5.1 Korpus Die Korpusbelege dieser Arbeit zu Jedem das Seine stammen aus dem Deutschen Referenzkorpus (kurz DeReKo) des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim. Das DeReKo ist mit über 29 Milliarden Wörtern (Stand 31.03.2016) das größte deutschsprachige Korpus der Welt. Mit Hilfe des Abfragesystems COSMAS II kann man das DeReKo nach individuellen Suchanfragen durchsuchen. Durch die Auswahl der einzelnen Archive (W-W4 Archiv der geschriebenen Sprache) und der Selektion der benutzerdefinierten Korpora (beispielsweise Frr – Frankfurter Rundschau, 2000-2015) können genau die Quellen ausgewählt werden, die für die Untersuchung zielführend 22 sind. So wurden bei dieser Untersuchung unter anderem keine Wikipedia-Artikel und Diskussionen, Belege aus Belletristik sowie Dichtungen berücksichtigt. Weiterhin existieren in den einzelnen Archiven teilweise Dopplungen, sodass die Zahl der Belege durch COSMAS II von der Zahl der hier angegebenen Belege abweicht. Mit Hilfe der Suchanfrage „Jedem /+w1 das /+w1 Seine“ und der oben definierten Selektion wurden 1242 Belege der Phrase Jedem das Seine eingehend analysiert. Abbildung 3 zeigt die Verteilung der Belege nach Jahren, bezogen auf das erstellte Korpus. Aus dieser Abbildung können keine Schlüsse bezüglich der absoluten oder relativen Häufigkeit der analysierten Zeitungen gezogen werden, da viele Zeitungen in das DeReKo lediglich für gewisse Zeitabschnitte (beispielsweise 2002-2009) eingespeist wurden und die Korpusgröße der Zeitungen nicht berücksichtigt wurde. 180 171 160 140 120 Anzahl Belege 100 89 79 83 79 80 65 66 62 65 57 61 55 60 50 54 45 40 40 33 33 27 28 20 0 Jahre Abbildung 3: Anzahl der Belege nach Jahren 5.1.1 Methodik Bei der Analyse wurden die einzelnen Belege nach neun unterschiedlichen Merkmalen klassifiziert. In Tabelle 1 sind diese Merkmale aufgeführt. Das Merkmal Überschrift wurde für die weiterführende Untersuchung nicht berücksichtigt und ist demnach hier nicht aufgeführt. 23 Tabelle 1: Analysierte Merkmale der Belege Zeitung Datum Land Beleg nsH45 Domäne Zitat Umgebung Mit Hilfe dieser Merkmale soll nicht nur eine eindeutige Klassifizierung der Belege möglich sein, sondern ebenfalls eine statistische Auswertung der Anteile eines Merkmals. Daher wurden für einige Merkmale die Auswahlmöglichkeiten beschränkt. So definiert die Spalte nsH lediglich, ob der analysierte Beleg über den nationalsozialistischen Hintergrund der Phrase aufklärt oder nicht. Die Auswahlmöglichkeit ist somit binär auf ja/nein beschränkt. In der Spalte Domäne wird festgelegt, welcher thematischen Domäne46 der Beleg zugewiesen wird (beispielsweise Politik, Sport, Sprachkritik etc.). Das Korpus enthält insgesamt 70 verschiedene Domänen. Die Spalte Zitat besitzt drei potenzielle Auswahlmöglichkeiten. So kann Jedem das Seine einerseits im Text mit oder ohne Anführungszeichen erscheinen, andererseits kann die Verwendung der Phrase eine Aussage einer dritten Person darstellen. Mit Hilfe dieser Spalte wird geklärt, wer Verfasser des Belegs ist (Verfasser des Texts oder Dritter) und ob die Phrase als zitierungswürdig erachtet wird oder nicht, was jedoch nur relevant ist, wenn der Verfasser der Autor ist. Insofern die Phrase mit Anführungszeichen versehen wird, gibt der Autor zu verstehen, dass er sie entweder als feststehenden Begriff betrachtet oder auf jemanden verweist (wie beispielsweise Plato hat gesagt). Der Bereich Umgebung gibt einerseits an, durch was die Phrase erweitert wird, (mir das meiste, allen das Gleiche etc.) andererseits als was die Phrase metasprachlich gedeutet wird (Parole, Motto, zynische Inschrift etc.). Da hier auch Signalwörter eingetragen sind, die im Satz potenziell weiter von der Phrase entfernt sind, als dass sie bei einer Kookkurrenzanalyse erfasst werden und somit ebenfalls Verknüpfungen zu den anderen Merkmalen möglich sind, wurde dies manuell für jeden Beleg verfasst. Abbildung 4 zeigt die vorgenommenen Einstellungen in COSMAS II. Als Beleg wurde jeweils der Teil in das Korpus eingespeist, der bei der Volltext-Anzeige mit diesen Einstellungen angezeigt wurde. Der weitere Kotext eines Belegs wurde lediglich fakultativ zur Analyse miteinbezogen. 45 nsH= nationalsozialistischer Hintergrund. 46 Eine Aufteilung nach thematischen Domänen nehmen u.a. auch STUMPF/KREUZ (2016) vor. 24 Abbildung 4: Vorgenommene Einstellungen bei COSMAS II 5.1.2 Zeitungen Das Korpus besteht aus 1242 Belegen aus 64 verschiedenen Zeitungen in vier Ländern. Abbildung 5 zeigt die Top-20 der Zeitungen mit den meisten Belegen. Der Mittelwert der Anzahl von Beispielen pro Zeitung beträgt 18,5. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG hat mit 99 Belegen den größten Umfang aller analysierten Zeitschriften. 25 Zeitungen haben im Korpus weniger als 10 Belege. 100 99 90 80 Anzahl Belege 70 60 55 52 48 50 42 39 39 40 34 34 33 33 32 31 31 31 29 28 28 26 30 24 20 10 0 Zeitungen Abbildung 5: Häufigste Zeitungen des Korpus Außerhalb deutscher Zeitungen wurden Zeitungen aus Österreich, der Schweiz und Luxemburg in die Analyse mit einbezogen. Der Anteil ausländischer Zeitungen beträgt 23,03 Prozent (286 Belege). Somit sind 76,97 Prozent der Belege aus deutschen Zeitungen (956). Die Analyse der ausländischen Zeitungen ist gerade deshalb so 25 interessant, da erörtert werden kann, ob die Weiterverwendungsproblematik nationalsozialistisch belasteter Sprache auch außerhalb Deutschlands (jedoch im deutschsprachigen Raum) diskutiert wird. Darauf aufbauend kann erschlossen werden, ob die Problematik um Jedem das Seine der deutschen Sprache inhärent ist, oder ob sie durch Landesgrenzen anders gedeutet wird. 5.1.3 Aufklärungsrate Betrachtet man die Statistiken zur medialen Aufklärung über den nationalsozialistischen Hintergrund der Phrase, so zeigt sich, dass sich weniger als ein Drittel der Zeitschriftenbelege damit auseinandersetzen. Gleichbedeutend damit ist, dass 849 der 1242 Belege die Phrase unbedarft verwenden (vgl. Abbildung 6). Jede Erwähnung des Nationalsozialismus im Allgemeinen oder der Verwendung im KZ Buchenwald im jeweiligen Text wurde als Aufklärung über den nationalsozialistischen Hintergrund gewertet. ja (393); 31,64% nein (849); 68,36% Abbildung 6: Aufklärungsrate gesamt Hierbei muss insbesondere beachtet werden, dass alle Belege ausländischer Zeitungen miteinbezogen wurden. Abbildung 7 zeigt das Verhältnis von deutschen zu ausländischen Zeitungen in Bezugnahme auf die Aufklärung des nationalsozialistischen Hintergrundes der Phrase. 26 1200 1000 Anzahl Belege 800 600 400 200 37,7% 12,1% 10,0% 11,2% 0 Deutschland Schweiz Österreich Ausland Länder ja (in Prozent) nein Abbildung 7: Aufklärungsrate nach Ländern Die Aufklärungsrate liegt bei deutschen Zeitungen somit um 6,06 Prozentpunkte höher als der Gesamtanteil. Das dargestellte prozentuale Verhältnis kann als Indiz dafür erachtet werden, dass die Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes im deutschsprachigen Raum unterschiedlich vorangetrieben wird. 5.1.4 Aufklärungsrate nach Zeitungen Dass kein öffentlicher Konsens darüber besteht, wie mit der geschichtlich belasteten Phrase umgegangen werden soll, zeigt sich statistisch in Abbildung 8 und Abbildung 9. Bei den Abbildungen werden lediglich die Zeitungen betrachtet, die mehr als zehn Belege im Korpus aufweisen konnten, da eine signifikante Tendenz sonst nicht auszumachen wäre. Auffällig ist, dass drei der Gedenkstätte Buchenwald geographisch naheliegende Zeitungen eine Aufklärungsrate von über 80 Prozent aufweisen und zugleich die drei Zeitungen mit den höchsten Aufklärungsraten sind. Demnach achten thüringische Zeitungen besonders darauf, den Missbrauch der Phrase zu erwähnen. Sechs weitere Zeitungen weisen eine Rate von über 50 Prozent auf (vgl. Abbildung 8). 27 100% 90% 89% 90% 82% 80% aufklärende Belege in Prozent 70% 64% 61% 60% 54% 53% 50% 50% 50% 39% 36% 35% 40% 34% 33% 33% 30% 20% 10% 0% Zeitungen Abbildung 8: Aufklärungsrate nach Zeitungen (1) Abbildung 9 zeigt, dass die Problematik der nationalsozialistischen Vergangenheit auch von renommierten Zeitungen wie der ZEIT, der RHEIN-ZEITUNG oder der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG hingegen anders betrachtet wird. Sie verwenden die Phrase öfter außerhalb des nationalsozialistischen Kontextes. Acht der zwölf Zeitungen mit einer Aufklärungsrate von unter 25 Prozent stammen jedoch aus dem Ausland. 35% 29% 29% 28% 30% 26% 25% 25% 23% 22% aufklärende Belege in Prozent 20% 18% 17% 16% 16% 16% 15% 12% 11% 10% 6% 4% 4% 5% 0% 0% Zeitungen Abbildung 9: Aufklärungsrate nach Zeitungen (2) 28 Interessanterweise weist die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG einen Beleg auf, in welchem gerade Journalisten für den unbedarften Gebrauch nationalsozialistisch belasteter Sprache kritisiert werden. Daraus kann geschlossen werden, dass sich selbst in den Redaktionen einzelner Zeitungen unterschiedliche Meinungen zum Umgang mit NS-Sprache finden lassen ((1)). (1) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 23.06.1998 Deutschland erwachte? Sollte das ein Wortspiel sein? Wußte der Reporter, womit er spielte? „Deutschland erwache!” – mit dieser Parole zogen einst die Nazis durch die Weimarer Republik, von Neonazis wird sie weiterhin benutzt. In der Sprache gibt es noch mehr Hinterlassenschaften des Dritten Reiches, die aber 50 Jahre danach vielen Menschen nicht mehr als Hinterlassenschaften bekannt sind. „Schreiberlinge” und „Journaille”, das sind Ausdrücke, die man immer wieder liest. Sie stammen aber von Goebbels. „Jedem das Seine”, hört man immer wieder mal. Es stand aber über dem Eingang von Buchenwald. Ein guter Journalist legt keinen Wert darauf, politisch korrekt zu denken. Damit würde er aufhören, zu denken. Er sollte aber bedenken, womit er spielt. 5.1.5 Aufklärungsrate nach Jahren 70% aufklärende Belege in Prozent 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Jahre Abbildung 10: Aufklärungsrate nach Jahren Abbildung 10 zeigt die Aufklärungsrate der analysierten Belege nach Jahren. Lediglich sieben der analysierten 59 Jahre übersteigen eine Rate von 30 Prozent. Anhand der Korpusbelege kann festgestellt werden, was zu der erhöhten Rate führte. Daher widmen sich die nachfolgenden Kapitel der Analyse einzelner Jahre. Festzuhalten ist jedoch bereits auf Grundlage der Abbildung 10, dass der mediale Gebrauch der Phrase auf keinem einheitlichen Konsens basiert. 29 5.1.5.1 Das Jahr 1998 Eine öffentliche Auseinandersetzung mit Jedem das Seine wurde insbesondere durch die Verwendung der Phrase in der Werbebranche vorangetrieben. So verwendeten zahlreiche Unternehmen Jedem das Seine als eine Art Slogan, welcher auf die individuelle Entfaltungsmöglichkeit des Kunden durch das jeweilige Produkt hinwies. Den Präzedenzfall erfolgte im Jahr 1998, in welchem NOKIA mit dem Slogan „Jedem das Seine. Mit Xpress-On Covers“ für die individuelle Gestaltung des Telefongehäuses warb. Da das Mobiltelefon in verschiedenen Farben erhältlich war, sollte jeder Kunde die Möglichkeit haben, sich sein Wunschgehäuse auszusuchen. Kritik kam insbesondere von politischer Seite sowie von Wendy Kloke, der Sprecherin vom Berliner Büro des American Jewish Committee. Kloke verwies auf die daraus resultierende Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus (TAZ.DE, 13.06.1998)47. Die in Kapitel 4.3.2 erwähnte „historisch-politisch sensibilisierte Öffentlichkeit“ (KLENNER 2002:329) wurde in diesem Fall ebenfalls aktiv. „Mehrere Anwohner aus Berlin haben angerufen und sich beschwert“ bestätigte die Sprecherin der Deutschland-Zentrale von NOKIA (TAZ.DE, 13.06.1998). Die Werbung wurde daraufhin zurückgezogen und durch den Slogan „Was ihr wollt“ (Shakespeare) ersetzt. Hieraus resultierte eine hohe mediale Aufmerksamkeit, welche durch zahlreiche Berichterstattungen in deutschen, wie auch in ausländischen Zeitungen48 erkennbar ist ((2)). (2) NÜRNBERGER NACHRICHTEN, 15.06.1998 Der finnische Telekommunikationskonzern Nokia hat nach Protesten des American Jewish Committee und von Bündnis 90/Die Grünen seine Werbekampagne für Mobiltelefone mit dem Slogan "Jedem das Seine" in Deutschland sofort gestoppt. Die jüdische Organisation und die Grünen hatten die Einstellung der Plakataktion gefordert, weil der Spruch über dem Eingang zum Konzentrationslager Buchenwald hing. Unternehmenssprecher Tapio Hedman sagte in Helsinki, der Entschluß sei "postwendend" gefaßt worden. Der "makabre Hintergrund" […] sei aber wohl auch der jungen Generation in Deutschland nicht mehr bekannt. 47 Die Belege der TAGESZEITUNG beginnen im Korpus erst 2001. Daher wurden diese Belege manuell gesucht. http://www.taz.de/1/archiv/?dig=1998/06/13/a0072 (zuletzt eingesehen am 13.03.2017). 48 Im Ressort: In Kürze (KLEINE ZEITUNG (AUT)) oder Nebenbei (ST. GALLER TAGBLATT). 30 Aufgrund dieses Vorfalls setzen sich verschiedene Zeitungen sprachkritisch mit der Frage auseinander, was mit historisch belasteten Wörtern und Wendungen geschehen soll ((3)).49 (3) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 16.06.1998 […] Die Kampagne wurde eingestellt, nicht aber die mit ihr verbundene alte Frage, was auf Dauer mit Wörtern oder Sätzen zu geschehen hat, die mit der nationalsozialistischen Hirnspaltung in Berührung kamen und seither quasi kontaminiert im Sprachraum herumstehen. Gibt es so etwas wie eine Halbwertszeit der Verderbtheit? Anders gefragt: Kann man das „Mädel” eines Tages wieder arglos im Munde führen, während der „Führer” oder das „Völkische” oder das vollends unselige „Arbeit macht frei” eine derart hohe Dosis ultrabrauner Strahlung abbekommen haben, daß sie definitiv ins Endlager abzuführen sind? […] Wenn die Panne von Nokia unserem Geschichtsbewußtsein in dem Punkt aufhalf, hatte sie ja auch ihren tieferen Sinn. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung wurde hierdurch gefördert. So merkt HEYL (1998:1) an, dass dieser Eklat „der erste Anlaß für die Hamburger Forschungs- und Arbeitsstelle »Erziehung nach/über Auschwitz« [war], dem historischen Hintergrund dieses Wortes weiter nachzugehen und diese kurze Dokumentation zu erstellen.“ Auch BRODER (1999) wurde durch diese Werbemaßnahme aktiv, indem er das Buch „Jedem das Seine“ veröffentlichte, in welchem er sich mit der Holocaustproblematik und dem Umgang von Deutschen mit Juden auseinandersetzte. Nur etwa einen Monat nach der Werbeaktion von NOKIA verwendete das Unternehmen REWE die Phrase Jedem das Seine ebenfalls als Werbeslogan, um für individuelle Grillmöglichkeiten zu werben. Initiator des Protests war in diesem Fall eine Privatperson, die die FRANKFURTER RUNDSCHAU kontaktierte, wie (4) zeigt. (4) FRANKFURTER RUNDSCHAU, 23.07.1998 Das Kölner Handelsunternehmen Rewe hat sich für einen Werbeslogan in einem Prospekt für seine Lebensmittelkette HL entschuldigt. Die FR hatte am Dienstag nach der Beschwerde einer Hanauer Kundin darüber berichtet. In dem mehrseitigen bunten Wurfzettel, der millionenfach an deutsche Haushalte ging, war für Ketchup und andere Zutaten mit dem Slogan "Grillen: Jedem das Seine" geworben worden. Die Übersetzung des Zitats von Cato dem Älteren ("suum cuique") war von den Nationalsozialisten mißbraucht worden; sie brachten es am Eingang zum Konzentrationslager Buchenwald an. 49 Für eine detaillierte Analyse der sprachkritischen Belege siehe Kapitel 5.3.3. 31 Die Empörung seitens der Medien fiel bei REWE jedoch wesentlich geringer aus als bei NOKIA. Das belegen die statistischen Werte des Korpus. So berichteten acht verschiedene Zeitungen über den Vorfall mit NOKIA. Bei REWE hingegen sind es nur zwei. Die Inszenierung oder Veröffentlichung eines Skandals mit derselben Thematik, innerhalb einer kurzen Zeitspanne scheint weniger medienwirksam zu sein. Im Jahr 1999 warb der Konzern BURGER KING in Erfurt ebenfalls mit der Phrase. Eine mediale Auseinandersetzung fand ebenso wie bei REWE nur bei zwei Zeitungen statt. 5.1.5.2 Das Jahr 2001 Das Jahr 2001 markiert mit 45,57 Prozent Aufklärungsrate das drittstärkste Jahr hinsichtlich dieses Parameters. Wie bereits für das Jahr 1998 beschrieben, beläuft sich die hohe Rate hier ebenfalls auf Verfehlungen verschiedener Unternehmen, sowie zeitungsinterne Kritik. Sowohl die TELEKOM als auch die MÜNCHENER MERKUR-BANK werben mit der Redewendung Jedem das Seine. Analog zu der Berichterstattung von 1998 bei NOKIA veröffentlichen alle größeren Zeitungen des Korpus einen Bericht zu den Werbemaßnahmen und geben einen groben geschichtlichen Kontext um die Phrase herum ((5) und (6)). (5) MANNHEIMER MORGEN, 05.01.2001 Kunden der Münchner Merkur-Bank haben unterdessen entsetzt auf einen Werbespruch der Bank mit dem Spruch "Jedem das Seine" reagiert. Die Nationalsozialisten hatten diese Worte am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar angebracht, um die Häftlinge zu verhöhnen. Thüringer Filialen der Bank in Weimar und Jena hätten die Werbeaktion gestoppt, bestätigte der Niederlassungsleiter in Weimar einen Bericht der "Thüringischen Landeszeitung". Bei der Münchner Zentrale der Bank hatte zunächst niemand die Problematik des Slogans registriert. (6) THÜRINGER ALLGEMEINE, 05.01.2001 Der Ausspruch stammt von Marcus Porcius Cato, der im zweiten Jahrhundert vor Christus den römischen Rechtsspruch prägte: Soweit es an mir liegt, soll jeder das Seine nutzen und genießen dürfen suum cuique. Auf Befehl des Kommandanten des KZ Buchenwald wurde der Spruch 1938 im Tor des Konzentrationslagers auf zynische Weise verewigt Jedem das Seine. 32 Die sprachkritische Auseinandersetzung wird auch im Jahr 2001 von verschiedenen Printmedien vorangetrieben. Eine Konsequenz oder Schlussfolgerung wird hier jedoch ebenfalls nicht erzielt. Die Problematik des Umgangs mit nationalsozialistisch belasteter Sprache wird somit erkannt und kontrovers diskutiert, doch wie auch BRUNNSEN (2010:290) feststellt, „ist es den Deutschen [bis heute] nicht überzeugend gelungen, einen verbindlichen gesellschaftlichen Konsens über den angemessenen Umgang mit nationalsozialistisch belasteten Wörtern und Wendungen herzustellen.“ In (7) wird ebenfalls festgestellt, dass die Verwendung der Phrase nicht verboten sei. Dieser Umstand macht einen potenziellen Konsens noch schwieriger. (7) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 26.02.2001 Was ging, fragte sich die Elite der Nachdenklichen, in Köpfen wie denen der Herren der Münchner Merkur-Bank vor, die eine Werbebroschüre mit „Jedem das Seine” verzieren wollten? Wer hat sie gezwungen? Die Polizei war es nicht, denn noch ist es nicht verboten, der Erinnerung unsensibel zu begegnen […]. In (8) wird die unbedarfte Verwendung mit der Unwissenheit zum NS-Kontext verknüpft. Mangelnde Kenntnis oder unzureichendes Geschichtsbewusstsein bezüglich der Phrase zeigt sich somit ebenfalls in den Redaktionen verschiedener Zeitungen. Weiterhin wird durch die wiederholte Verwendung der Phrase bewusst, dass die sprachkritische Auseinandersetzung mit Jedem das Seine zwar fördernd für die Kenntnis der Gesellschaft ist, jedoch kein kollektives Bewusstsein hieraus erschaffen werden kann. (8) FRANKFURTER RUNDSCHAU 22.02.2001 Die Deutsche Telekom AG hat in einer Broschüre mit dem von den Nationalsozialisten missbrauchten Spruch "Jedem das Seine" Werbung für ihre Telekommunikations-Angebote gemacht. Ein Sprecher des Unternehmens bestätigte dies am Mittwoch und bedauerte den Vorgang. Der Spruch sei offenbar aus Unwissenheit der Werbetexter verwendet worden. Die Broschüre sei in 15 Millionen Exemplaren deutschlandweit verteilt worden. Der auf die griechische und römische Philosophie zurückgehende Ausdruck "Jedem das Seine" sollte ursprünglich ein System der Gerechtigkeit beschreiben. Die Nationalsozialisten hatten ihn später zynisch am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht. Der Spruch ist schon mehrfach in Werbungen verwendet worden. Auch HEYL (1998:4) stellt fest, dass es zahlreiche Verwendungen der Phrase durch Personen oder Institutionen gibt, die sich der „historisch-politischen Aufladung“ nicht einmal bewusst sind. 33 5.1.5.3 Das Jahr 2009 Im Jahr 2009 wurden 63,74 Prozent der Belege von Jedem das Seine in Verbindung mit einem nationalsozialistischen Hintergrund gebracht. Anzumerken ist, dass das Jahr 2009 gleichzeitig das Jahr mit den meisten Belegen ist. Betrachtet man die einzelnen Belege des Jahres, so lassen sich verschiedene gesellschaftliche Aspekte festmachen, die zu der hohen Aufklärungsrate führen. So besuchten der amerikanische Präsident Barack Obama und die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Gedenkstätte Buchenwald am 05.06.2009, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Alleine 23 der 109 Belege, die über den nationalsozialistischen Hintergrund aufklärten, beziehen sich auf diese Domäne. So auch die NÜRNBERGER NACHRICHTEN in (9). (9) NÜRNBERGER NACHRICHTEN, 04.06.2009 Wenn morgen Nachmittag der amerikanische Präsident Barack Obama zusammen mit Kanzlerin Merkel von Dresden aus in Buchenwald eintreffen wird, lebt dieser Teil der deutschen und der amerikanischen Geschichte wieder auf. Aus dem Lager mit der zynischen Aufschrift „Jedem das Seine“ am Eingangstor ist eine Gedenkstätte geworden. Ebenfalls im Jahr 2009 feierte die Kunstschule Weimar ihr 90-jähriges Gründungsjubiläum. Da Franz Ehrlich das schmiedeeiserne Tor mit der Inschrift entwarf und die Gedenkstätte Buchenwald ihn mit einer Sonderausstellung würdigte, wurde auch diese Thematik, wie auch in (10) von verschiedenen Zeitungen aufgegriffen. (10) SAARBRÜCKER ZEITUNG, 03.08.2009 Die KZ-Gedenkstätte Buchenwald erinnert seit gestern an den Bauhaus- Architekten und Widerstandskämpfer Franz Ehrlich (1907-1984). Im Mittelpunkt der Sonderschau im Neuen Museum (bis 11. November) steht das schmiedeeiserne Lagertor des Konzentrationslagers mit der zynischen Inschrift "Jedem das Seine". Der KZ-Häftling Ehrlich hatte sie im Auftrag der SS gestaltet, jedoch im Bauhausstil. Für Gedenkstätten-Direktor Volkhardt Knigge ist dieser Rückgriff auf die von der NS verfemte moderne Kunst ein Akt des Nein-Sagens und des bewussten Widerstands. Weil das Tor des ehemaligen KZ-Buchenwalds für die oben beschriebene Sonderausstellung ebenfalls ausgebaut und nach Weimar gebracht wurde, finden sich hierzu ebenfalls zahlreiche Zeitungsartikel, von denen einer in (11) exemplarisch dargestellt wird. 34 (11) THÜRINGER ALLGEMEINE, 21.07.2009 Zum ersten Mal in der Geschichte der Gedenkstätte Buchenwald hat das Symbol gewordene Lagertor des einstigen KZ mit der Inschrift Jedem das Seine den Ettersberg verlassen. Es zog vorübergehend in das Neue Museum Weimar, wo es ab August in der Ausstellung Franz Ehrlich. Ein Bauhäusler in Widerstand und Konzentrationslager zu sehen ist. In der Gedenkstätte wurde eine Kopie eingesetzt. Dass sich im Jahr 2009 eine erhöhte Zahl an Belege findet, die über den nationalsozialistischen Hintergrund der Phrase aufklären, liegt nicht einzig und allein an Belegen, die sich auf die Gedenkstätte Buchenwald beziehen. So wurde ebenfalls eine Werbekampagne der Schüler-Union50 sowie der Unternehmen TCHIBO und ESSO veröffentlicht, die insbesondere medial kritisiert wurden. TCHIBO und ESSO warben gemeinsam mit dem Slogan „Jedem den Seinen“ für verschiedene Kaffeesorten an Raststätten. 23 der 109 Belege beziehen sich auf diese Thematik. Analog zu vorangegangenen Verfehlungen verschiedener Unternehmen wird der Gebrauch nationalsozialistisch belasteter Sprache auch diesmal wieder sprachkritisch erörtert. Die affektive Reaktion auf Verfehlungen bei Werbemaßnahmen ist also immer gegeben. Dass dies jedoch keine sonderlich hohe Wirkung hat, zeigt Kapitel 5.1.5.5. 5.1.5.4 Die Jahre 2014 und 2015 Im Jahr 2014 wurde das restaurierte Lagertor der Gedenkstätte Buchenwald wiedereingesetzt. Hierzu gibt es zahlreiche Pressemeldungen, die über das Ereignis selbst berichten, jedoch ebenfalls den Diskurs kontextualisieren und die Geschichte des KZ-Buchenwalds beschreiben. Auch wenn das Einsetzen des restaurierten Lagertors die Meldung erst bedingt, so wird durch Belege wie in (12) doch das gesellschaftliche Bewusstsein zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Phrase gestärkt. (12) TRIERISCHER VOLKSFREUND, 15.05.2014 Mit den Worten "Jedem das Seine" wollte die SS Neuankömmlingen ihre angebliche rassische Minderwertigkeit und politischen Gegnern ihren Ausschluss aus der "deutschen Volksgemeinschaft" bewusst machen. Mehr als 250 000 Menschen aus vielen Nationen mussten bis zur Befreiung 1945 das Tor passieren; 56 000 kehrten nie in ihre Heimat zurück. Mai fand heraus, dass die dem Lagerinneren zugewandte Seite der Buchstaben unter den Nationalsozialisten 50 Die Werbekampagne mit dem Slogan „Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine“ wurde durch den Jugendverband der SPD, den Jusos, kritisiert und dadurch medial rezipiert. Die mediale Reaktion wird eingehender in Kapitel 5.2.7 betrachtet. 35 achtmal überstrichen wurde, um sie lesbar zu halten - die Kehrseite aber nur ein einziges Mal. Im Jahr 2015 wurde in der Gedenkstätte Buchenwald das 70-jährige Ende des Nationalsozialismus gefeiert. Im Zuge der Feierlichkeiten werden zahlreiche persönliche Schicksale durch Zeitungen veröffentlicht. Die Phrase wird wie in (13) nahezu durchgehend als „zynische Inschrift“ gedeutet. (13) MANNHEIMER MORGEN, 13.04.2015 „Ich wollte Hitler überleben“, sagt er auf die Frage, was ihn angetrieben hat, nicht aufzugeben. „Am 11. April wusste ich, ich habe Hitler überlebt.“ Damals vor 70 Jahren ertönte gegen 15.15 Uhr über die Lautsprecher des Lagers der ebenso lang ersehnte wie unglaubliche Satz: „Kameraden, wir sind frei!“ Seit diesem Tag steht die Turmuhr über dem Lagertor mit der zynischen Inschrift „Jedem das Seine“ auf 15.15 Uhr – zum Gedenken und zur Mahnung, dass der Schwur der Buchenwalder, den Nazismus mit seinen Wurzeln auszurotten, noch nicht erfüllt ist. 5.1.5.5 Die kontrastiven Jahre Die Ergebnisse der Jahre 1997,2002, 2003, 2004 und 2013 (vgl. Abbildung 10) zeigen, dass aus der medialen Berichterstattung zu bestimmten Ereignissen, Verfehlungen oder sprachkritischen Anmerkungen keine längerfristige Wirkung erzielt werden konnte. Während sich DIE TAGESZEITUNG beispielsweise am 08.11.2001 für den Gebrauch der Phrase bei ihren Lesern entschuldigte (vgl. Kap. 5.3.2), verwendet sie sie in den darauffolgenden Jahren achtmal, ohne auf nationalsozialistische Verwendung hinzuweisen. Die Phrase wird bei diesen Belegen ebenfalls dreimal als Motto gedeutet. Betrachtet man die Belege zum Jahr 2013 (Aufklärungsrate 10,77 Prozent), so wird wiederholt deutlich, dass ein sprachlicher Konsens bezogen auf Jedem das Seine medial nicht erschaffen werden konnte. 36 5.2 Thematische Domänen In diesem Kapitel wird die hohe Variabilität der Phrase hinsichtlich ihrer Bedeutung, ihres Nutzens in verschiedenen Domänen sowie ihrer pragmatischen Funktionen dargestellt. Im Verlauf des Kapitels 5 wird zwischen zwei großen Verwendungsweisen der Phrase unterschieden. Kapitel 5.2.3 - 5.2.10 befasst sich mit Belegen, in denen die Phrase funktional in den Kotext miteingebunden ist. Kapitel 5.3 untersucht darauf aufbauend die metasprachlichen Belege. Alle Korpusbelege wurden einer Domäne zugewiesen. Aufgrund der Vielzahl der Domänen können sie jedoch potenziell zu Hyperonymen zusammengefasst werden. So ergeben die Domänen Film, Unterhaltung (Fernsehen), Journalismus und Internet das Hyperonym MEDIEN.51 Abbildung 11 zeigt die 20 häufigsten Domänen des Korpus. 250 220 200 150 Anzahl Belege 103 100 78 72 58 53 48 45 38 37 37 34 34 50 32 30 29 23 23 23 22 22 20 0 Thematische Domänen Abbildung 11: Thematische Domänen Hierbei muss beachtet werden, dass die Zuweisung der Domänen zu einzelnen Belegen nach keinem stringenten Muster verläuft. Während gewisse Domänen sehr vage und unbestimmt sind (Gesellschaft, Recht, Kultur) beziehen sich andere explizit auf einen Diskurs (Werbung TCHIBO/ESSO). Weiterhin gibt es Belege, die durchaus mehreren Domänen hätten zugewiesen werden können. Als weiteres zu differenzierendes Merkmal muss beachtet werden, dass sich manche Domänen fast ausschließlich metasprachlich auf die Phrase beziehen (Buchenwald, Sprachkritik), während andere 51 Diese Klassifikation ist jedoch für die vorliegende Arbeit von keiner Bedeutung und wurde lediglich für potenziell weiterführende Analysen angelegt.
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