Christian Ceconi Kirchliche Personalführung am Beispiel der Jahresgespräche Eine kirchentheoretische Reflexion Universitätsverlag Göttingen Christian Ceconi Kirchliche Personalführung am Beispiel der Jahresgespräche Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz. erschienen im Universitätsverlag Göttingen 2015 Christian Ceconi Kirchliche Personalführung am Beispiel der Jahresgespräche Eine kirchentheoretische Reflexion Universitätsverlag Göttingen 2015 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Anschrift des Autors Christian Ceconi E-Mail: christian@ceconi.de Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den Göttinger Universitätskatalog (GUK) bei der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar. Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Satz und Layout: Jan Kaluza Grafiken auf den Seiten 135, 138, 141 und 144: Arnd Rüttger, kobold-layout.de Umschlaggestaltung: Jutta Pabst Titelabbildung: Burger Mediendesign | Tobias Burger © 2015 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-86395-181-8 Dank Die vorliegende Studie wurde bei der Georg-August-Universität Göttingen im April 2013 eingereicht und als Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Theologischen Fakultät angenommen. Der Tag der mündlichen Prüfung war der 13. Juni 2013. Ich danke allen Mitgliedern der Fakultät, insbesondere denjenigen, die an der mündlichen Prüfung mitgewirkt haben. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Jan Hermelink, der die Studie betreut und den Entstehungsprozess über viele Jahre begleitet hat. Den erschließenden und motivierenden Diskussionen mit ihm, seiner beharrlichen Nachfrage und seiner wohlwollenden Ermutigung ist die Fertigstellung überhaupt erst zu verdanken. Außerdem danke ich Prof. Dr. Bernd Schröder für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie für seine interessierte Be- gleitung im Rahmen des Prüfungsprozesses. Danken möchte ich außerdem den Kolleginnen und Kollegen der praktisch- theologischen Sozietät, die über die Jahre einen produktiv-inspirierenden Reso- nanzraum boten und das Nachdenken über das Thema kirchliche Personalfüh- rung auf vielerlei Weise anregten. Die Gespräche in den Kaffeepausen boten die seelsorgliche Entlastung und Ermutigung, ohne die eine solche Arbeit vermutlich nicht erstellt werden kann. Die Treffen in der trinationalen Sozietät mit den Kol- leginnen und Kollegen aus Basel und Utrecht weiteten den Horizont über nationa- le Grenzen hinaus und stellten neue Zusammenhänge her. Auch dafür allen Betei- ligten herzlichen Dank! Danksagung vi Schließlich danke ich Prof. Dr. Ingrid Lukatis und Prof. Dr. Wolfgang Lukatis sowie Prof. Dr. Heinrich Grosse, die in der inspirierenden Atmosphäre des Pasto- ralsoziologischen Instituts der Evangelischen Fachhochschule Hannover den Ball ins Rollen brachten. Der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und der Evangeli- schen Kirche in Deutschland danke ich für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung. Es gibt mehr als eine Phase in der Entstehung einer Dissertationsschrift, die die Familie in ihrer Fähigkeit zu Empathie und Geduld in besonderer Weise for- dert. Das weiss jede und jeder, der an solchen Projekten teilhat. Darum kann der Dank an meine Frau Corinna und unsere Kinder gar nicht groß genug sein. Dass ich während der Erstellung der Arbeit in der Markusgemeinde Hildesheim und im Diakonischen Werk des Kirchenkreises Hildesheim-Sarstedt e.V. ein gleicherma- ßen inspirierendes wie praktisch-theologisch produktives berufliches Umfeld ge- nießen durfte, empfinde ich im Nachhinein als außerordentliches Privileg. Toronto, im November 2014 Christian Ceconi Inhaltsverzeichnis A Einleitung .................................................................................................................. 5 1 Thema ...................................................................................................................... 5 2 Fragestellung........................................................................................................... 7 3 Vorgehen und Aufbau der Arbeit ....................................................................... 8 4 Abgrenzung des Forschungsgegenstandes und Material............................... 11 5 Praktisch-theologische Einordnung der Rede von der Personalentwicklung............................................................................................ 13 B Erschließung der Grunddimensionen evangelischer Kirchenleitungspraxis am Beispiel der Visitation ............................................. 21 1 Visitationskonzepte als Konzepte evangelischer Kirchenleitung ................ 21 1.1 Die Kontroverse zwischen Hermann Diem und Hans Philipp Meyer: Die Visitation als Ort der Selbstevidenz des Wortes Gottes oder als Aufsicht mit Mitteln des Rechts? .................................. 24 1.2 Versuche der Integration und Neubegründung des Visitationsbegriffs durch Manfred Josuttis und Michael Plathow ....... 32 1.3 Visitation als seelsorgliche Beratung und Visitation als Gemeindeaufbau .......................................................................................... 40 2 Die neuen Visitationsordnungen: Entdeckung des Verhältnisses von Kirche und gesellschaftlicher Öffentlichkeit als Thema der Kirchenleitung ...................................................................................................... 48 2.1 Visitationsordnung Baden: Kirche im Horizont der Organisationsgesellschaft............................................................................ 49 2.2 Visitationsordnung Hannover: Erste Aufbrüche.................................... 52 2.3 Zusammenfassung zu den Visitationsordnungen ................................... 54 3 Systematisierung der Beobachtungen: Der dreischichtige Kirchenbegriff Hans-Richard Reuters als Erschließungsrahmen für die Konfliktdimensionen im Feld der Visitation ............................................ 55 3.1 Hans-Richard Reuters Konzept eines dreischichtigen Kirchenbegriffes........................................................................................... 56 3.2 Der dreischichtige Kirchenbegriff als erschließende Relecture der Visitationsentwürfe ...................................................................................... 59 2 Inhaltsverzeichnis 3.3 Zusammenfassung: Konfliktdimensionen kirchenleitenden Handelns........................................................................................................ 64 C Praktisch-theologischer Bezugsrahmen kirchlicher Personalführung ........... 69 1 Kirchliche Personalführung zwischen dogmatischer Tradition und praktischer Leitung .............................................................................................. 74 1.1 Kirchliche Personalführung im Horizont der Kirche als Glaubensgemeinschaft ................................................................................ 76 1.2 Kirchliche Personalführung im Horizont der Kirche als Handlungsgemeinschaft .............................................................................. 81 1.3 Kirchliche Personalführung im Horizont der Kirche als Rechtsgemeinschaft ..................................................................................... 86 1.4 Zusammenfassung ....................................................................................... 92 2 Kirchliche Personalführung und die gesellschaftstheoretische Selbstdeutung der Kirche ................................................................................... 95 2.1 Kirchliche Personalführung in der Perspektive der Kirche als Organisation.................................................................................................. 97 2.2 Kirchliche Personalführung in der Perspektive der Kirche als Institution .................................................................................................... 101 2.3 Kirchliche Personalführung in der Perspektive der Kirche als Interaktion ................................................................................................... 103 2.4 Kirchliche Personalführung in der Perspektive der Kirche als Inszenierung................................................................................................ 106 2.5 Zusammenfassung ..................................................................................... 109 3 Kirchliche Personalführung zwischen Einzelverantwortung und Partizipation ........................................................................................................ 111 3.1 Zur Tradition synodaler, episkopaler und konsistorialer Leitungsstrukturen ..................................................................................... 112 3.2 Grundprinzipien kirchlicher Leitung ...................................................... 123 3.3 Zusammenfassung ..................................................................................... 131 4 Zusammenfassung und Systematisierung: Die Deutung kirchlicher Personalführung als mehrdimensionales Spannungsfeld ............................ 134 4.1 Aspektdimension: Das Spannungsfeld von dogmatischer Tradition und praktischer Leitung als Entfaltung der ekklesiologischen Grundfrage .................................................................. 136 4.2 Sozialdimension: Das Spannungsfeld einer angemessenen Beschreibung der Kirche in soziologischer Perspektive ...................... 139 Inhalt sverzeichnis 3 4.3 Akteurdimension: Das Spannungsfeld der (teils) konkurrierenden Akteure kirchlicher Personalführung und der charakteristisch reformatorischen Vermittlungsmodelle.................................................. 142 D Praktisch-theologische Analyse: Jahresgespräche in der Evangelisch- lutherischen Landeskirche Hannovers.............................................................. 147 1 Jahresgespräche aus der Perspektive der landeskirchlichen Kirchenleitung .................................................................................................... 147 1.1 Jahresgespräche im Horizont der Aspektdimension ............................ 154 1.2 Jahresgespräche im Horizont der Sozialdimension .............................. 203 1.3 Jahresgespräche im Horizont der Akteurdimension ............................ 253 2 Jahresgespräche aus der Perspektive der Kirchenleitung vor Ort ............. 282 2.1 Vorbemerkungen zu Datenmaterial und Methodik ............................. 282 2.2 Personalentwicklungsgespräche im Horizont der Aspektdimension........................................................................................ 284 2.3 Personalentwicklungsgespräche im Horizont der Sozialdimension.......................................................................................... 295 2.4 Personalentwicklungsgespräche im Horizont der Akteurdimension ........................................................................................ 307 E Ergebnisse ............................................................................................................. 319 1 Aspektdimension ............................................................................................... 320 1.1 Wahrnehmung der Mitarbeiterrollen im Horizont eines dreischichtigen Kirchenbegriffs............................................................... 320 1.2 Chancen eines differenzierten Kirchenbegriffs im Kontext organisationsförmiger Personalführung ................................................. 321 1.3 Zielsysteme als aktuelle Spielart der Leitung durch das Wort? ........... 321 1.4 Allgemeines Priestertum und Jahresgespräche...................................... 322 1.5 Normativität der Ortsgemeinde und die Frage nach der theologischen Begründung anderer Gemeindeformen und Hierarchieebenen ....................................................................................... 322 1.6 Frage nach der kirchlichen Einheit ......................................................... 324 1.7 Frage nach der Rezeption neuer Steuerungsinstrumente .................... 325 2 Sozialdimension ................................................................................................. 325 2.1 Ökonomisch geprägter Organisationsbegriff und kirchliche Kommunikationsmuster ........................................................................... 326 2.2 Breite Verwendung organisationsförmiger Sprachmuster................... 327 4 Inhaltsverzeichnis 2.3 Jahresgespräche als Medium der Hoffnung auf Erfolg der Organisation................................................................................................ 328 2.4 Interaktion als prägnante Sozialform ...................................................... 328 2.5 Persönliche Gestaltungsfreiheit als Ausdruck institutioneller Freiheit ......................................................................................................... 329 2.6 Inszenierung gelungener Interaktion ...................................................... 329 2.7 Inzenierung als moderne und zukunftsfähige Organisation ............... 330 3 Akteurdimension................................................................................................ 330 3.1 Jahresgespräche als Personalisierung von Leitung................................ 330 3.2 Akzeptanz statt Konsens?......................................................................... 331 3.3 Verbindliche Kommunikation als neues Paradigma ............................ 331 3.4 Bleibt das ephorale Amt ungeklärt? ........................................................ 332 3.5 Kontraktmodelle als Steuerungsansatz für die Selbstdeutung von Kirche................................................................................................... 332 4 Schlussbemerkung ............................................................................................. 333 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 335 Quellen ....................................................................................................................... 335 Sekundärliteratur ...................................................................................................... 339 A Einleitung 1 Thema Die evangelischen Landeskirchen in Deutschland erleben seit Mitte der 1990er Jahre hinsichtlich ihrer Personalführungspraxis einen Wandel. Dieser Wandel ist Teil der bis heute andauernden Kirchenreformprozesse. Er wird deutlich erkenn- bar an der Übernahme von Personalführungsinstrumenten aus nicht-kirchlichen Bereichen, insbesondere der Einführung von Jahresgesprächen. In der Landessy- node der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers setzte ab 1996 ein Diskussionsprozess ein, der auch die ekklesiologischen Implikationen solcher Instrumente beleuchtet. Nach der Erprobung im Rahmen eines Pilotprojektes kam es zu einer flächendeckenden Einführung der Jahresgespräche. Heute sind die Jahresgespräche in dieser wie in zahlreichen anderen Landeskirchen fester Bestandteil der kirchlichen Personalführungspraxis. Dabei sind neben dem in Hannover üblichen Begriff Jahresgespräch auch die Bezeichungen Personalent- wicklungsgespräch, Mitarbeitendenjahresgespräch oder Orientierungsgespräch gebräuchlich. Die Grundstruktur der Gespräche ist in allen Fällen nahezu iden- tisch: Es handelt sich um ein regelmäßiges, meist jährliches Gespräch zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten, in dem nach einem definierten Gesprächsleit- faden die Arbeitssituation und das Aufgabenfeld des jeweiligen Mitarbeitenden systematisch reflektiert wird. Im Rahmen des Gespräches werden Vereinbarungen 6 Thema über Ziele und Entwicklungsanliegen geschlossen, die als verpflichtend angesehen und beim folgenden Gespräch auf ihre erfolgreiche Umsetzung hin reflektiert werden. Zu Beginn der Debatte und bis heute wird vielfach diskutiert, ob die Über- nahme eines solchen Instrumentes, das sein Herkommen im erwerbswirtschaftli- chen Bereich hat, nicht einen Kulturwechsel in der Personalführung, etwa im Sinne einer stärkeren Ökonomisierung der Kirche hervorruft. 1 Natürlich ist die Einführung von Jahresgesprächen wie jede andere Intervention in einem sozialen System nicht ohne Auswirkung. Um aber die Frage zu klären, inwiefern die Jah- resgespräche selbst Auslöser solcher Veränderungen waren, bedürfte es in den kommenden Jahren mehrerer vergleichender Untersuchungen. Zum gegenwärti- gen Zeitpunkt ist diese Frage nicht zu beantworten. Interessanter und zudem beantwortbar scheint mir vielmehr die Frage, inwie- fern in der Diskussion und Einführung der Jahresgespräche selbst eine Verände- rung zum Ausdruck kommt: Ist nicht die Einführung eines neuen Personalfüh- rungsinstrumentes, noch dazu eines, das originär aus nicht-kirchlichen Zusam- menhängen stammt, Ausdruck einer sich verändernden Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung der Kirche und ihrer Personalführung, zumindest bei denjenigen, die teilhaben am Leitungshandeln der Kirche? Oder konkreter: Welche Verände- rungen in der Selbstwahrnehmung zeichnen sich ab, wenn die vertrauten und eingeführten Instrumente kirchlicher Leitung wie etwa die Visitation zur Bewälti- gung der vielfachen Anforderungen und Erwartungen an die Kirche nicht mehr auszureichen scheinen? Während sich die bisherigen Studien und Veröffentlichungen zu dem Thema vor allem mit der Frage nach Nutzen, Legitimation und Funktionsfähigkeit von Jahresgesprächen im kirchlichen Kontext beschäftigen, nehme ich dieses Phäno- men aus der stärker grundsätzlichen Perspektive einer kirchentheoretischen Refle- xion kirchlicher Personalführung in Blick. Auf der Basis dieser Reflexion gehe ich der Frage nach: Wie lässt sich die Auf- gabe kirchlicher Personalführung modellhaft beschreiben? Welche Spannungsfel- der prägen diese Aufgabe aktuell? Das lässt sich an dem Diskurs um die Jahresge- spräche beispielhaft zeigen. 1 Exemplarisch: Karle 2010, 191ff. Einleitung 7 2 Fragestellung Die evangelische Kirche kann sich mangels eines zentralen Lehramtes nur »durch die immer erneute Auslegung ihrer eigenen Lehrgrundlage selbst steuern.« 2 Das ist die kybernetische Grundthese der Kirchentheorie, wie Reiner Preul sie entwirft. In der kirchlichen Personalführung geschieht genau diese Auslegung praktisch, weil jede Ausgestaltung von bewussten oder unbewussten Selbstdeutungen be- stimmt ist, die die einzelnen Akteure ihrem Handeln zugrunde legen. Als Akteure kommen dabei sowohl Personen als auch Personengruppen in Frage, die eine kirchenleitende Funktion ausüben. Zu unterscheiden sind die unterschiedlichen Ebenen dieser Leitungstätigkeit nach dem Bereich ihrer Zuständigkeit (z. B. Ge- meinde, Kirchenkreis, Landeskirche). Insbesondere die Diskussionen um die Angemessenheit der Jahresgespräche als Instrumente kirchlicher Personalführung legen die Frage nahe, inwieweit sich im Zusammenhang mit deren Diskussion und Einführung Veränderungen der Selbstdeutung von Kirche vollziehen. Welche Veränderungen in der Selbstdeu- tung der Kirche und der kirchlichen Personalführung können beobachtet werden, wenn seit Mitte der 1990-er Jahre Jahresgespräche aus kirchenleitender Sicht an Plausibilität gewinnen? Wie lassen sich diese Veränderungen beschreiben und wie kann der Referenzrahmen aussehen, der zur kirchentheoretischen Einordnung des Phänomens Jahresgespräche beiträgt? Aufgrund der strukturellen Parallelen wie einem definierten Ablauf, flächende- ckendem Einsatz, wechselseitigen Gesprächen, Regelmäßigkeit und abschließen- der Ergebnissicherung ist es naheliegend, die Visitation als Referenz zur Untersu- chung der Jahresgespräche heranzuziehen. Sie ist ein klassisches Instrument kirch- lichen Leitungshandelns, von dem aus sich typische Konfliktfelder kirchlichen Leitungshandelns rekonstruieren lassen. Nicht von ungefähr wird in der Debatte um die Jahresgespräche die Visitation immer wieder als Paradigma benannt und sowohl positiv anknüpfend wie auch kritisch abgrenzend als Vergleichspunkt herangezogen. 3 Es erscheint mir darum naheliegend, anhand der Visitation nach typischen Konfliktfeldern kirchlichen Leitungshandelns zu fragen, um diese dann im Hori- zont kirchentheoretischer Fragestellungen in einem Modell zu systematisieren. So entsteht ein Bezugsrahmen, der Spannungs- und Konfliktfelder kirchlicher Perso- nalführung beschreibt und in dessen Horizont diskutiert werden kann, wie diese im Diskurs und der Praxis der Jahresgespräche bearbeitet werden. So lässt sich im 2 Preul 1997, 43. 3 Positiv anknüpfend: Pohlmann 2004. Eine mangelnde Verknüpfung zwischen beiden beklagt: Lasogga und Hahn 2010, 26ff. 8 Vorgehen und Aufbau der Arbeit Horizont des zu entwickelnden Modells zeigen, welche Veränderungen oder Poin- tierungen kirchliche Personalführung durch die Jahresgespräche erfährt. Bezugnehmend auf die These Preuls gehe ich von der Annahme aus, dass in jeglicher Form von Ausgestaltung kirchlicher Personalführung – bewusst oder unbewusst – bestimmte Selbstdeutungen von Kirche zum Tragen kommen. Diese Deutungen bestimmen, welche kirchenrechtlichen, theologischen und soziologi- schen Konzepte bei der Reform kirchlicher Personalführung zum Tragen kom- men. Sie bestimmen wie diese Deutungsmuster miteinander verbunden werden und welche Funktion sie für die darauf bezogenen Konzepte kirchlicher Personal- führung haben. Schließlich beschreibt diese Arbeit modellhaft, wie im Zusammenhang der Diskussion und Einführung der Jahresgespräche die Frage nach der Selbstdeutung der Kirche – hier für den Bereich der hannoverschen Landeskirche – konkret beantwortet wird. Reflektiert wird, welche Spannungs- und Konfliktfelder den Diskurs um die Jahresgespräche bestimmen und wie diese Felder bearbeitet wer- den. Sofern sich das am Beispiel der Visitation entwickelte Modell auch im Blick auf die Jahresgespräche gleichermaßen funktionsfähig zeigt, bietet es eine Mög- lichkeit differierende Auffassungen und Konzepte kirchlicher Personalführung aufeinander zu beziehen und gegebenenfalls wechselseitig anschlussfähig zu ma- chen. Denn die Abwesenheit eines zentralen Lehramtes und die Pluralität der Selbstdeutungen von Kirche stellen die Frage nach dem integrierenden Moment in verschärfter Weise. Dass diese Frage nicht selten mit einem Verweis auf Schrift und Bekenntnis beantwortet wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass kirch- liche Leitung stets auf einer zeit- und ortsgebundenen Auslegung derselben beruht und insofern die Pluralität eine bleibende Herausforderung darstellt, die durch spezifische Spannungs- und Konfliktfelder bestimmt ist, die zum Teil in der Anla- ge evangelischer Ekklesiologie selbst begründet sind. Insofern versteht sich diese Arbeit als ein Beitrag zur kirchentheoretischen Deutung und Reflexion kirchlicher Personalführung am Beispiel der Jahresgesprä- che. 3 Vorgehen und Aufbau der Arbeit Der erste Teil dieser Arbeit (Kapitel B) gilt also der Visitation als klassischer Form evangelischer Kirchenleitung. Anhand einschlägiger theologischer Entwürfe aus jüngerer Zeit einschließlich zweier neuerer Visitationsordnungen rekonstruiere ich typische Konflikt- und Spannungsfelder kirchlichen Leitungshandelns und behandle dabei die einzelnen Entwürfe als exemplarische Modelle, die je auf ihre Weise den Visitationsvorgang interpretieren. Ich vergleiche also nicht die formale Struktur der einzelnen Einleitung 9 Visitationsmodelle, sondern die damit verbundenen Absichten und Deutungen des Visitationsgeschehens. Durch Vergleich und Zusammenschau wird deutlich, welche Spannungs- und Konfliktdimensionen die Diskussion prägen. Dabei wird sich zeigen, dass zunächst verschiedene dichotomische Modelle die Diskussion bestimmen. Ziel scheint dabei nicht selten, die vorhandenen Spannungen in unterschiedliche Richtungen und mit unterschiedlichen Interessen aufzulösen. Dies führt aber letztlich nicht zu einer befriedigenden Lösungen. In einem Zwischenschritt werden die verschiedenen Konzepte darum ins Gespräch gebracht mit dem Konzept eines dreischichtigen Kirchenbegriffes, wie Hans-Richard Reuter ihn vorschlägt. Durch eine Relecture der Visitationskonzepte mit dem Kirchenbegriff Reuters wird deutlich, dass diese Sichtweise nicht nur bestimmte Spannungen und Grundkonflikte schlüssig erklärt, sondern zudem das Potential birgt, die verschiedenen Deutungen der Visitation aufeinander zu beziehen, indem drei verschiedene Ebenen des Kirchenbegriffes unterschieden werden. Dieser grundlegende Neuansatz, der sich im Blick auf die Diskussionen um das Verständnis der Visitation als weiterführend und erklärungsfähig erweist, wird darum in einem weiteren Abschnitt (Kapitel C) zu einem Modell entfaltet, das drei Grunddimensionen kirchlicher Personalführung unterscheidet. Dabei ergeben sich in jeder Dimension unterschiedliche Muster, die Kirche und ihre Personalführung im Horizont der dogmatischen Tradition, im Horizont ihrer Sozialgestalt oder im Horizont der handelnden Akteure, ihres Rollenver- ständnisses und ihrer wechselseitigen Verständigungsformen zu deuten. Gebündelt werden die Erkenntnisse in einem Modell, das kirchliche Personal- führung als mehrdimensionales Konfliktfeld erschließt und damit einen Analyse- rahmen für die anschließende Untersuchung des empirischen Materials liefert. Diese Analyse wird in Kapitel D vorgelegt und umfasst neben einer Untersu- chung der synodalen Diskussion über die Einführung der Jahresgespräche in ei- nem zweiten Teil eine weitgehend qualitative Untersuchung der offenen Voten aus der Evaluationsstudie zum Pilotprojekt Personalentwicklungsgespräche. Dazu wende ich das in Kapitel C entwickelte Modell als strukturierendes Konzept an. Mit Hilfe dieses Modells werden die Diskussion und der Einsatz des Personal- führungsinstrumentes Jahresgespräche hinsichtlich der Grunddimensionen kirch- licher Personalführung analysiert und reflektiert. Das Modell vermittelt zugleich zwischen den verschiedenen Deutungen der Jahresgespräche und den damit ver- bundenen Selbstdeutungen von Kirche, indem unter Verweis auf die Grunddi- mensionen Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Konfliktfelder der jeweiligen Deutungsansätze herausgearbeitet werden. Im Sinne der Kirchentheorie wird durch eine wahrnehmende und vergleichende Beschreibung die Reflexion der einzelnen Deutungen ermöglicht. 10 Vorgehen und Aufbau der Arbeit Die Analysen verfolgen ein dreifaches Ziel: Zunächst geht es um eine Auswertung der empirischen Daten. Zugrundegelegt werden die Synodenprotokolle der Jahre 1996 bis 2004, sowie die Daten der Eva- lutionsstudie des Pilotprojektes Personalentwicklungsgespräche. Die darin er- kennbaren Deutungen der Jahresgespräche werden rekonstruiert und mit Hilfe des entwickelten Modells systematisiert und in Beziehung zueinander gesetzt. Auf diese Weise trägt die Analyse zur kirchentheoretischen Reflexion des Personalfüh- rungsinstrumentes Jahresgespräche bei. Durch die unterschiedlichen Quellen und die damit verbundene Perspektivdif- ferenz zwischen landeskirchlicher Kirchenleitung und Kirchenleitung vor Ort werden Unterschiede in den Selbstdeutungen im Feld der kirchlichen Personalfüh- rung sichtbar gemacht. Im Rückbezug auf die Beobachtungen im Feld der Visitation können schließ- lich auch größere Entwicklungslinien im Bezug auf die der Personalführung zu- grundeliegenden Selbstdeutungen skizziert werden. Schließlich wird – sofern das Modell sich in der Analyse der empirischen Da- ten als tragfähig erweist – am Ende ein Modell entstanden sein, das zum Einen anschaulich macht unter welchen Aspekten und in welchen Grunddimensionen das Gespräch über die Selbstdeutung der Kirche im Kontext der Jahresgespräche beschrieben und systematisiert werden kann. Zum anderen wird ein Modell zur Verfügung gestellt, dass die reflektierende Auseinandersetzung mit den zur Rede stehenden Selbstdeutungen im Sinne der Kirchentheorie befördert und so die Voraussetzungen für eine kritische Weiterentwicklung kirchlicher Personalführung und deren Praxis liefert. Gleichzeitig werden anhand der Jahresgespräche exemplarische Erkenntnisse über den Umgang der kirchlichen Organisation mit gegenwärtigen Gestaltungs- und Leitungserfordernissen evangelischer Kirche gewonnen werden. Insofern dient diese Arbeit auch dem Anliegen, einen Beitrag zur Weiterentwicklung einer empirisch gehaltvollen praktisch-theologischen Kirchentheorie zu leisten, die wie- derum zur differenzierenden Wahrnehmung kirchlicher Leitungspraxis dienen kann. Im abschließenden Kapitel E werden die Ergebnisse gebündelt. Dabei wird zum Einen erkennbar wie sich die Wahrnehmung und Deutung der Jahresgesprä- che aus Sicht der landeskirchenlichen Kirchenleitung und aus Sicht der Kirchenlei- tung vor Ort unterscheiden. Und darüber hinaus: Wo sich Veränderungen im Verständnis kirchlicher Personalführung gegenüber den an der Visitation gewon- nen Einsichten abzeichnen. Punktuell werden Hinweise gegeben, wo diese Ergebnisse Erkenntnisse aus anderen Arbeiten ergänzen oder bestätigen, die die gegenwärtige Kirchenreform ebenfalls unter dem Gesichtspunkt des Umgangs der kirchlichen Organisation und ihrer Akteure mit den gegenwärtigen Gestaltungserfordernissen evangelischer Kirche zu verstehen suchen. Einleitung 11 4 Abgrenzung des Forschungsgegenstandes und Material In der Auswahl des Quellenmaterials beschränke ich mich in meinen Untersu- chungen hinsichtlich der Jahresgespräche auf den Bereich der hannoverschen Landeskirche. Ausschlaggebend für diese Entscheidung ist vor allem die gute Quellenlage und Dokumentation der dortigen Entwicklungen. Ein Blick auf die Einführungskonzepte unterschiedlicher Landeskirchen zeigt 4 , dass überall nahezu strukturgleiche Modelle eingeführt werden. Bei allen bestehenden Übereinstim- mungen in der Form der Jahresgespräche sind dennoch die Kirchenordnungen und Rahmenbedingungen der Landeskirchen unterschiedlich. 5 Ein umfassender Vergleich würde deshalb den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zudem ist erwartbar, dass die zu beschreibenden Grundkonflikte und Span- nungsfelder in verschiedenen Landeskirchen in ähnlicher Weise, wenn auch in verschiedener Ausprägung vorkommen. Das bedeutet, auch wenn das angestrebte Modell am Beispiel der hannoverschen Landeskirche entwickelt wird, so bietet es doch zugleich das Potential, auf andere landeskirchliche Situationen und Rahmen angewendet werden zu können. Die zeitliche Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes ergibt sich durch die kirchenpolitischen Entwicklungen 6 : Zwar ist die Notwendigkeit von Einsparungsmaßnahmen und strukturellen Reformprozessen bereits Ende der 1980-er und Anfang der 1990-er Jahre Gegen- stand zahlreicher Diskussionsprozesse der hannoverschen Kirchenleitung und so auch der Landessynode. Der Beginn der Tagungsperiode der 22. Landessynode im Juni 1996 bringt jedoch insofern eine neue Qualität, als diese Synode stärker als ihre Vorgängerinnen versucht, die verschiedenen Ansätze der Diskussion zu sys- tematisieren und verbunden mit der Diskussion ekklesiologischer Grundfragen in konkrete Handlungskonzepte zu überführen. Erkennbar wird das Ende der 1990- 4 Literarisch am ehesten zu fassen sind die Modelle der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Bayern (Landeskirchenamt Bayern 2002), der Evangelischen Landeskirche Württembergs (Landeskirche Württemberg 1998) und der Evangelischen Landeskirche in Baden (Landeskirche Baden, Orientierungsgespräch 2012). Erstere hat die Einführung der Jahresgespräche mit deutlichem Aspekt auf die Genderfrage betrieben, letztere mit besonderem Blick auf die Fort- und Weiterbil- dung. 5 Die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Bayern kennt gegenüber der hannoverschen Landes- kirche beispielsweise eine hierarchische Abstufung innerhalb mehrstelliger Pfarrämter und führt regelmäßig Personalbeurteilungen durch. Die Evangelische Landeskirche in Baden verfügt über eine unierte Verfassung und entwickelt die Jahresgespräche (Orientierungsgespräche) zeitgleich mit einem sich von allen anderen Landeskirchen unterscheidenden Visitationsmodell. 6 Im Folgenden verweise ich jeweils nur kurz auf die verwendeten Quellen. Eine ausführliche Darstellung der Quellenlage erfolgt in Kapitel D. 12 Abgrenzung des Forschungsgegenstandes und Material er Jahre vor allem an einer Schärfung des Begriffes Personalentwicklung. Die Per- sonalentwicklungsgespräche (später umbenannt in Jahresgespräche) halten mit dem Wandel im Begriffsverständnis der Personalentwicklung Einzug in die Dis- kussion und werden zum Beispiel für eine erneuerte Personalführung. Für den gesamten Untersuchungszeitraum liegen Wortprotokolle der Syno- densitzungen vor, so dass entsprechende Textanalysen möglich sind. Bis 2001 sind diese Protokolle in Buchform veröffentlicht und wurden zuvor einem umfängli- chen Redaktionsprozess unterzogen, bei dem die jeweiligen Redner ihre Beiträge selbst redigierten. Ab 2002 liegen die Wortprotokolle in unredigierter Fassung als unveröffentlichte Manuskripte vor. Die Diskussionen der Synode münden ein in das Pilotprojekt Personalent- wicklungsgespräche, das in den Jahren 1999 bis 2002 durchgeführt und anschlie- ßend 2003 sozialwissenschaftlich evaluiert und dokumentiert wurde. Aus dieser Untersuchung stehen weitere empirische Daten zur Verfügung. 7 Parallel zu diesem Pilotprojekt fanden zum Thema Personalentwicklung in den Jahren 2001 und 2003 zwei Tagungen an der Evangelischen Akademie Loccum statt, die über die betreffenden Tagungsbände gut dokumentiert sind. 8 Auf der Grundlage eines Abschlussberichtes des Landeskirchenamtes erfolgt eine erneute Diskussion in der Synode. Im Januar 2005 wird schließlich durch eine Rechtsverordnung die flächendeckende Einführung der Jahresgespräche eingelei- tet. 9 Die Verordnung sieht vor, dass der Einführungspozess bis Ende 2008 abge- schlossen ist. Somit stellt das Jahr 2008 zugleich das Ende des Untersuchungszeit- raumes dar. 10 Damit kommt hinsichtlich der Jahresgespräche auch die Diskussion um eine erneuerte Personalführungspraxis der hannoverschen Landeskirche zu einem vorläufigen Abschluss. In den Jahren 2011 und 2012 fand zur weiteren Evaluation des Verlaufs eine Online-Befragung in der hannoverschen Landeskirche statt. 11 Diese Befragung zielt wie die frühere Evaluationsstudie vor allem auf Fragen der Effizienz und der Akzeptanz des Instruments. Da die Studie zudem vor allem quantitativ angelegt ist, ergeben sich keine neuen Gesichtspunkte für diese Arbeit. Sie bleibt darum unberücksichtigt. 7 Ceconi et al. 2007b. 8 Vögele 2002. Und: Vögele 2004. 9 RVO-JG. 10 Vgl. § 9 (2) RVO-JG. 11 Landeskirche Hannovers 2012.