VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR NEUERE GESCHICHTE ÖSTERREICHS Band 113 Kommission für Neuere Geschichte Österreichs Vorsitzende: em. Univ.-Prof. Dr. Brigitte Mazohl Stellvertretender Vorsitzender: Univ.-Prof. Dr. Reinhard Stauber Mitglieder: Dr. Franz Adlgasser Univ.-Prof. Dr. Peter Becker Univ.-Prof. i. R. Dr. Ernst Bruckmüller Univ.-Prof. Dr. Laurence Cole Univ.-Prof. Dr. Margret Friedrich Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Garms-Cornides Univ.-Prof. Dr. Michael Gehler Univ.-Doz. Mag. Dr. Andreas Gottsmann Univ.-Prof. Dr. Margarete Grandner em. Univ.-Prof. Dr. Hanns Haas Univ.-Prof. i. R. Dr. Wolfgang Häusler Univ.-Prof. i. R. Dr. Ernst Hanisch Univ.-Prof. Dr. Gabriele Haug-Moritz Dr. Michael Hochedlinger Univ.-Prof. Dr. Lothar Höbelt Mag. Thomas Just Univ.-Prof. i. R. Dr. Grete Klingenstein em. Univ.-Prof. Dr. Alfred Kohler Univ.-Prof. Dr. Christopher Laferl Gen. Dir. Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Maderthaner Dr. Stefan Malfèr Gen. Dir. i. R. H.-Prof. Dr. Lorenz Mikoletzky Dr. Gernot Obersteiner Dr. Hans Petschar em. Univ.-Prof. Dr. Helmut Rumpler Univ.-Prof. Mag. Dr. Martin Scheutz em. Univ.-Prof. Dr. Gerald Stourzh Univ.-Prof. Dr. Arno Strohmeyer Univ.-Prof. i. R. Dr. Arnold Suppan Univ.-Doz. Dr. Werner Telesko Univ.-Prof. Dr. Thomas Winkelbauer Sekretär: Dr. Christof Aichner Erika Kustatscher „Berufsstand“ oder „Stand“? Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit 2016 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund ( FWF ): PUB 340-G28 Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0; siehe http://creativecommons.org/licenses/ by/4.0/ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Ambrogio Lorenzetti: Die Wirkungen der guten und der schlechten Regierung, Freskenzyklus, Rathaus von Siena © 2016 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com Satz: Bettina Waringer, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Druck und Bindung: General Druckerei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20341-4 Die in den Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs gemachten Aussagen sind die der jeweiligen Verfasser, nicht die der Kommission. Gewidmet meiner Großmutter Maria Trabold (1886–1975) und meiner Mutter Helene Kortleitner (1928–2013) mit Dank für die von ihnen vermittelten Werte INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Das Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Die geltende Meistererzählung – und was sie offen lässt . . . . 20 1.2 Stand: Der begriffliche Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . 33 1.3 Das Arbeitsvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Zur Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.1 Der diskursanalytische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2 Literarische und autobiographische Texte . . . . . . . . . . . . . 52 2.3 Das Textcorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1 Österreich 1918–1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi . . . . . 84 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage . . 90 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien . . . . . . . . . . 105 3.6 Berufsständische Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3.7 Die Verfassung vom 1. Mai 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung . . . 165 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen . . 170 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 4.1 Das „Erbe“ von 1789: Die Französische Revolution als „Urgrund“ von Individualismus, Liberalismus, Kapitalismus und Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.2 Kritik an der parlamentarischen Demokratie . . . . . . . . . . 193 5. Der Mensch ist Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5.1 Für Freiheit und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5.2 Individualität versus Individualismus . . . . . . . . . . . . . . 213 5.3 Freiheit und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 8 5.4 Leben und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5.5 Persönlichkeit und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 5.6 Kultivierung personaler Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 5.7 Legitimität versus Legalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 6. Standesbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.1 Semantische Unschärfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.2 Exkurs: „Stand“ bei Othmar Spann . . . . . . . . . . . . . . . 303 6.3 Der Stand und das Standesgemäße . . . . . . . . . . . . . . . . 306 6.4 Adel in der Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 6.5 Bauerntum als Ideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 6.6 Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 6.7 Heimatbewusstsein versus Nationalismus . . . . . . . . . . . 375 6.8 Österreichbewusstsein versus Nationalsozialismus . . . . . . 396 7. Die berufsständische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 7.1 Vorläufige Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 7.2 Die christlich-soziale „Gesellschaftsreform“ aus der Sicht der Mandatare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 7.3 Exkurs: Das Genossenschaftswesen . . . . . . . . . . . . . . . 439 7.4 Aspekte der berufsständischen Ordnung . . . . . . . . . . . . 442 7.5 Probleme der berufsständischen Ordnung . . . . . . . . . . . . 458 7.6 Stände jenseits der Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 8. Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person . . . . . . . 488 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 8.4 Föderalismus versus Zentralismus . . . . . . . . . . . . . . . . 498 8.5 Das Autoritäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 7.6 Schul- und Volksbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand . . . 518 9. Resümee: status ist ordo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 10. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 10.1 Mandatare, die für die Fragestellung der vorliegenden Studie relevante Schriften hinterließen . . . . . 541 10.2 Mandatare, die mit eigenen Beiträgen in den genannten Periodika vertreten waren . . . . . . . . . . 545 9 10.3 Ständetheoretiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 10.4 Verfasser ergänzend herangezogener Texte . . . . . . . . . . 553 11. Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 11.1 Quellen zur politischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 580 11.2 Zeitgenössische Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 11.3 Monographische Arbeiten und vermischte Beiträge der Mandatare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 11.4 Ständetheoretische und ähnliche Arbeiten . . . . . . . . . . 601 11.5 Ergänzende Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 11.6 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 11.7 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 „Dies ist der Sinn von allem, was einst war: Daß es nicht bleibt mit seiner ganzen Schwere, Daß es in unserm Herzen wiederkehre, In uns verwoben, tief und wunderbar.“ R. M. Rilke, Buch der Bilder VORWORT Die vorliegende Studie ist nicht das Ergebnis eines institutionell veranker- ten Forschungsprojekts, sondern entspringt rein persönlichem Interesse, das – ohne jede Förderung – neben einer vollen Berufstätigkeit befriedigt wurde. Sie versteht sich als Versuch, am Beispiel Österreichs in den Jah- ren 1933–1938 bisher nicht beachtete Aspekte des Ständediskurses der Zwischenkriegszeit freizulegen. Den Anstoß dazu gab das Befremden über die Diskrepanz zwischen dem großen Aufwand, mit dem die Errichtung der berufsständischen Ordnung betrieben wurde, und dem bescheidenen Ergeb- nis, das am Ende aller Bemühungen stand. Was außerdem zu denken gab, war die Divergenz zwischen der zeitgenössischen Selbstbezeichnung „Stän- destaat“ und der Nomenklatur der heute geltenden Meistererzählung, für die die autoritären Züge des Systems alles andere überlagern (häufige Be- zeichnungen sind „Austrofaschismus“ bzw. „Diktatur“). Dagegen wird die Rolle der Vertreter des Ständestaats als Widerstandskämpfer gegen den Na- tionalsozialismus eher unterschätzt, jedenfalls relativiert. Die Spur, die es zu verfolgen galt, führte rasch von der Zeitgeschichte im engeren Sinn weg, zurück in ältere Epochen, vor allem aber von den Ereig- nissen zu den Ideen und Mentalitäten. Während die Ordnung der mittelal- terlichen Zünfte auch erklärtermaßen ein Vorbild darstellte, wirkten andere Elemente ständischen Denkens, wie sie in der Frühen Neuzeit zum Tra- gen kamen, eher unsichtbar, aber nicht minder mächtig. Von hier kamen Anstöße, die nicht an den Anachronismen einer längst – und irreversibel – überholten Arbeitsverfassung scheitern mussten, sondern zeigten, dass etwas am ständischen Denken tatsächlich „bleibend“ ist (W. Höfler). Daher konnten nicht jene Aspekte desselben in den Mittelpunkt rücken, die in der berufsständischen Ordnung eine politische Alternative zur parlamentari- schen Demokratie erkennen ließen, sondern solche, die das Thema „Stand“ im Spannungsfeld zwischen traditionaler und rationaler Herrschaft (M. Weber) ansiedeln. Daher bleibe ich bei der Bezeichnung „Ständestaat“, und zwar ohne sie in Anführungszeichen zu setzen. Als besonders wichtige Zeit erwies sich das 19. Jahrhundert: Durch die Französische Revolution wurde der sogenannte dritte Stand zum politi- schen Faktor. Durch die Zivilrechtskodifikationen der Jahre um 1800 hörte der Stand dann aber auf, eine rechtliche Kategorie zu sein. Andererseits er- lebte er gerade in dieser Zeit eine regelrechte Renaissance: Es war freilich nicht mehr das „alt“-ständische, sondern ein sich bewusst davon absetzendes „neu“-ständisches Denken, das bisher nicht bzw. wenig repräsentierte Grup- pen die politische Bühne betreten ließ. Die verfassungsrechtlichen Mög- lichkeiten boten dafür keinen geeigneten Rahmen. Die in der Zeit des Kon- stitutionalismus geführten Debatten um die Erweiterung des Wahlrechts brachten zutage, dass ständisches Denken nicht nur dem Gleichheitspostu- lat, sondern auch dem Konzept repräsentativer Demokratie widersprach. Das 20. Jahrhundert begann mit einer „Urkatastrophe“ (George F. Ken- nan). Der Erste Weltkrieg stand am Ende einer Zeit, die die Forderungen der Französischen Revolution umzusetzen versucht bzw. ihre Folgen zu tragen gehabt hatte: Für die Idee der Freiheit war ein hoher Preis zu zahlen gewe- sen, vor allem der Verlust von Bindungen, der durch übersteigerte nationale Gefühle kompensiert wurde. Von Gleichheit war man weiter entfernt denn je, und auch von Brüderlichkeit konnte keine Rede sein, gerade nicht in den jungen Republiken, in denen nach 1918 aus der Sicht vieler Zeitgenossen die Demokratie die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllte. Daher verwundert es nicht, dass in manchen Kreisen die Bereitschaft ent- stand, sich wieder älterer Strukturen zu entsinnen – und damit auch der Stände. Ein Idealbild derselben vor Augen, akzentuierte man daran aber nicht mehr die rechtlichen Aspekte, sondern sah in ihnen Gruppen, die nicht, wie die Klassen, egoistisch, sondern solidarisch wirken, nicht auf ver- tragliche Pflichten, sondern auf Ehre und Dienst drängen, natürliche Ge- meinschaften nicht zerreißen, sondern stärken, die stilbildend wirken und ein spezifisches Bewusstsein schaffen. In diesem Zusammenhang gewinnt Max Webers Klassifizierung ständischer Herrschaft als „konventional“ an Aktualität. Nicht zuletzt ist der Begriff „Stand“ die deutsche Entsprechung zum lateinischen ordo , der Bezeichnung für jene metaphysische, auch mit christlichem Geist gut vereinbare Ordnung, die sich menschlichem Zugriff entzieht, ja vielleicht überhaupt mit rationaler Herrschaft schwer in Ein- klang zu bringen ist. Mit dem ordo -Denken ist aber gleichsam per se ein hohes Wertbewusstsein verbunden, das – ein im realen Leben freilich nie er- reichbares Ideal – rationale Normen nicht nötig hat. Seine Verfechter fühlen sich strengen ethischen Maßstäben verpflichtet. Gleichwohl ist es heute geradezu verpönt, Standesbewusstsein zu zeigen oder gar zu kultivieren, weil dies als Zementierung sozialer Ungleichheit verstanden und mit dem Wunsch nach Privilegien in Verbindung gebracht wird. Wer solche Standpunkte vertritt, übersieht aber eine Grundbefindlich- keit des Menschen, nämlich das durch Institutionen rationaler Herrschaft VORWORT 12 allein nicht zu befriedigende Bedürfnis nach Anerkennung, Schutz und Ge- borgenheit im Kreis Gleichgesinnter, eben „unter seinesgleichen“. Von die- sem „Vorurteil“ (in der positiven Bedeutung des Begriffs im Sinne Hans-Ge- org Gadamers) geht die vorliegende Studie aus, in der, mitunter implizit, immer wieder Facetten traditionaler Herrschaft zum Thema werden. Der Ständegedanke eignet sich hervorragend, neben den Brüchen im ge- schichtlichen Verlauf auch Kontinuitäten sichtbar zu machen. Die Arbeit entspringt der Überzeugung, dass es Aufgabe der Historiker ist, auch Ge- danken zu ihrem Recht kommen zu lassen, aus denen sich die jeweils aner- kannte Meistererzählung gerade nicht speist. Eine Fülle bislang völlig un- berücksichtigt gebliebener Äußerungen wichtiger Personengruppen machte dies zu einem lohnenden Unternehmen: Möge das Ergebnis auch jenen Ver- tretern der österreichischen Zeitgeschichtsforschung, die mit den Jahren 1933–1938 hart ins Gericht gehen, eine Auseinandersetzung wert sein! Freilich leben auch Historiker in einer Zeit, er-leben diese, mitunter im Bewusstsein der eigenen Ohnmacht, sie in dem Maße mitzugestalten, wie sie es möchten. „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr“, stellte Gadamer bescheiden fest. Damit meinte er, dass unser persönlicher Erfahrungshorizont zu einem Teil der Deutung werden muss, es gar nicht nicht werden kann. Gegenwärtig findet ein politisch-gesell- schaftlicher Umbruch statt, der sich in Gestalt wachsender Beschleunigung, angeblicher Offenheit (recte: Beliebigkeit), abhanden kommender Wertmaß- stäbe und durch eine Reihe von „quasitotalitären Erscheinungen in Gesell- schaft, Staat und Kirche“ bzw. in einem „demokratischen Relativismus“ (Ch. Noser) äußert, also wiederum als Krise der Demokratie. Dazu kommt das durch den Verfall ethischer Standards vorangetriebene Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, die – neben der schwer angegriffenen Umwelt – mittelfristig wohl größte Gefahr für die Welt. Beides konnte weder durch diktatorische noch durch vermeintlich demokratische, auf die Aufklä- rung sich berufende politische Systeme, die den Menschen nach 1945 die Freiheit wiederzugeben versprachen und in deren Namen agierten, verhin- dert werden. Max Horkheimer und Theodor Adorno beschrieben schon 1944 das drohende Szenario jener Aufklärung, die ob ihrer Sympathien für so- zialen Zwang zu „Verstrickung in blinder Herrschaft“ mutieren kann, und warnten vor der „Selbstzerstörung der Aufklärung“. Nicht anders Reinhart Kosellecks 1954 ausgesprochene und auch zwei Jahrzehnte später nicht zu- rückgenommene Beobachtung, Aufklärung könne absoluter auftreten als jeder Absolutismus, weil sie die Politik moralisiere und zum Zweck der Sta- bilisierung von Herrschaft instrumentalisiert werde. Lässt man diese Ent- wicklung eskalieren, wird der neuerliche Verlust von Freiheit und Demokra- tie im Zeichen eines grausamen Materialismus die unweigerliche Folge sein. VORWORT 13 In dieser Situation scheint es eine sinnvolle Option zu sein, dem homo politicus den Menschen selbst entgegenzustellen, den Träger der humanitas , das mit hohem Verantwortungsbewusstsein seine Bestimmung erfüllende Geschöpf, das den Platz, den es in Welt und Gesellschaft einnimmt, so gut wie möglich zu besetzen bestrebt ist, so, wie es dem ordo , nicht politischem Kalkül entspricht: Die Quellen, aus denen sich die vorliegende Studie speist, erlauben dies in hohem Maße – und ohne Preisgabe wissenschaftsethischer Ansprüche, die mit Betroffenheit durchaus vereinbar sind. In der Ausein- andersetzung mit totalitären Systemen ist es besonders wichtig, sich nicht von den eindeutig klingenden Ergebnissen der „terrible simplificateurs“ (J. Burckhardt) aus dem vermeintlich streng rationalen Lager blenden zu las- sen. Thema der Arbeit sind nicht die äußeren Merkmale einer bestimmten Form von Demokratie bzw. einer Diktatur (oder wie immer man das politi- sche System in Österreich in den Jahren 1933–1938 benennen kann), son- dern ein Verständnis von Politik, das über das Tages-, wenn nicht sogar das Zeitgeschehen hinausgehende Weltsichten und Werthaltungen der Akteure in den Blick nimmt. Die vielen Personen, denen ich innigen Dank schulde, an dieser Stelle zu nennen, ist nicht möglich. Eine Ausnahme muss ich für Brigitte Mazohl, Innsbruck, machen, die mich, wiewohl nicht meine Lehrerin im eigentlichen Sinn des Wortes, als Mentorin und Förderin schon seit vielen Jahren beglei- tet und mir Mut machte, die Studie in Innsbruck als Habilitationsschrift einzureichen: Was nunmehr zum Druck kommt, ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung dieser 2013 approbierten Arbeit. Ähnliches gilt für Helmut Alexander, Innsbruck, der mir durch sein breites Wissen und sein entsagungsvolles Arbeiten seit jeher Vorbild ist: Er war einer der Ersten, denen ich das Manuskript anvertraute. Als weitere Leser, deren Urteil mir viel bedeutete, muss ich Marjan Cescutti, Bozen, und Eleonore de Felip, Innsbruck, nennen. Anregende Kritik kam von Ernst Hanisch und Laurence Cole, beide Salzburg, Karl Vocelka, Wien, und Margret Friedrich, Innsbruck. Wichtige Sachinformationen aus schwer zugänglichen Quellen und Lite- raturhinweise gaben mir mit größter Bereitwilligkeit Franz Adlgasser und Georg Pawlik, Wien, Hansjörg Hager und Margit Oberhammer, Bozen, sowie Wilhelm Wadl, Klagenfurt. Mein wärmster Dank gebührt indes Hans Heiss, Brixen: Obwohl er nie ein Hehl daraus machte, dass ihm das Thema „Stände“ persönlich kein Her- zensanliegen ist, anerkannte er dessen Wichtigkeit und sprach mir beharr- lich Mut zu, daran weiterzuarbeiten. Die „ja, aber ...“, die er bei der Lektüre des Manuskripts immer wieder an den Rand schrieb, waren zwar mitunter ernüchternd, aber viele von ihnen glaubte ich ernst nehmen zu müssen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er bei allen Vorbehalten stets zwischen welt- VORWORT 14 anschaulicher Bedingtheit und wissenschaftlicher Qualität zu unterschei- den wusste und das Bemühen um Objektivität und Sauberkeit der Methode anerkannte – ein Liberaler im besten und echtesten Sinn, für den Pluralis- mus und Toleranz nicht Lippenbekenntnisse, sondern Lebensmaximen sind. Groß ist schließlich meine Verbundenheit gegenüber Michael Gehler, Hildes- heim, der mir in schwerer Zeit vorbehaltlosen Rückhalt gab. Der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs danke ich für die Auf- nahme der Arbeit in ihre Reihe, dem Böhlau Verlag für gute Zusammenar- beit. Bozen, im März 2016 Erika Kustatscher VORWORT 15 ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN ADB Allgemeine Deutsche Biographie ADÖ Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918–1938* BBKL Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon BKR Bundeskulturrat BT Bundestag BWR Bundeswirtschaftsrat CS Der Christliche Ständestaat CSP Christlichsoziale Partei CV Cartellverband katholischer deutscher Studentenverbindungen, far- bentragend DBE/I Deutsche Biographische Enzyklopädie, 1. Auflage DBE/II Deutsche Biographische Enzyklopädie, 2. Auflage GG Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck KA Katholische Aktion KLA Kärntner Landesarchiv KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KV Kartellverband katholischer deutscher Studentenvereine, nicht farben- tragend KVK Karlsruher virtueller Katalog LK Lexikon des Konservatismus LR Länderrat LThK/I Lexikon für Theologie und Kirche, 1. Auflage LThK/III Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage MIÖG Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung MSchKP Monatsschrift für Kultur und Politik NDB Neue Deutsche Biographie NR Das Neue Reich NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ÖBL Österreichisches Biographisches Lexikon ÖZG Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften OFM Ordo fratrum minorum (Franziskaner) OP Ordo praedicatorum (Dominikaner) PMR Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik 1918–1938 PNF Partito nazionale fascista Prot. Protokoll QA Quadragesimo anno (Enzyklika) RN Rerum novarum (Enzyklika) sc. scilicet: natürlich, versteht sich SGL Partei aller Schwarzgelben Legitimisten SJ Societas Jesu (Jesuiten) SR Staatsrat StL Ständisches Leben SVD Societas Verbi Divini (Gesellschaft der Steyler Missionare) SZ Schönere Zukunft VF Vaterländische Front ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN 18 „In unserem Verhalten zur Vergangenheit, das wir ständig betätigen, ist jedenfalls nicht Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten das eigentliche Anliegen.“ Hans-Georg Gadamer 1 1. DAS ERKENNTNISINTERESSE Revolution sei immer nur der exzessive Ausklang einer Evolution, stellte Leopold Kunschak 1936, zwei Jahre nach der Proklamation der berufsstän- dischen Verfassung in Österreich, fest: „Solcher Bewertung unterliegt auch die Tatsetzung, die vor allem uns Österreicher ganz in ihrem Banne hält, die Erhebung der ständischen Idee zum Grundgesetz für Staat und Gesell- schaft.“ 2 Was die Leitfigur der christlichen Arbeiterbewegung Österreichs hiermit aussprach, ist nichts weniger als das Faktum, dass am 1. Mai 1934 mit der genannten Verfassung ein politisches Modell sanktioniert wurde, das die parlamentarische Demokratie in ihren Grundfesten erschütterte. Eine realpolitische Bedeutung der in der Maiverfassung niedergelegten ständischen Ideen war freilich kaum gegeben, weil das Konzept, eine „pseu- do-mittelalterliche(n) Konstruktion“ (O. Rathkolb) 3 , völlig anachronistisch war: Die Bildung der Berufsstände „blieb eine Chimäre“ (P. Berger). 4 Es sollte in einer Zeit umgesetzt werden, in der Österreich in Erfüllung der Friedensbedingungen von Saint-Germain und anfänglich unterstützt vom (seit 1922) faschistischen Italien um seine Unabhängigkeit vom (seit 1933) nationalsozialistischen Deutschen Reich zu kämpfen hatte. In dieser äußerst angespannten Situation, in der es überdies eine schwere Wirtschaftskrise zu überwinden galt, etablierte sich unter den Bundeskanzlern Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg ein autoritäres politisches System, das die Macht vom Parlament zur Regierung verschob. Durch den sogenannten „An- schluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 wurde das ständestaatlich-autoritäre Experiment kurzerhand abgebrochen. Österreich stellte in den Jahren 1933–1938 mit seinem Ständestaat 5 keine Ausnahme dar: Auch in Italien, Spanien, Portugal und vielen weite- 1 G adamer , Hermeneutik 1, 286. 2 K unschaK , Werden, 3. 3 r athKolb , Erste Republik, 504. 4 P. b erGer , Kurze Geschichte, 170. 5 Begriffliche Varianten: „faschistischer Korporativstaat“, „sozial-konservatives Konzept“, „leistungsgemeinschaftliche Gesellschaft auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips“; LThK/ III 9 (2000), 929 f. (V. Z sifKovits ); vgl. auch b otZ , Gewalt, 234–244.