Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek Herausgegeben von Helmut Konrad Band 40 Bernhard Thonhofer Graz 1914 Der Volkskrieg auf der Straße Böhlau Verlag Wien Köln Weimar | 2018 Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund ( FWF ): PUB 455-G28 Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative- Commons-Lizenz Namensnennung 4.0; siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Korrektorat: Ute Wielandt, Baar-Ebenhausen Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz : Bettina Waringer, Wien ISBN 978-3-205-20854-9 | Inhalt Leitperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Fragenhorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Erkenntnisbarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Mikrohistorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Vier Leitpanoramen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Argumentationsstrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Sarajevoer Attentat und Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Vom „Balkanbrand“ 1912/13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache . . . . . . . . . . . 76 Grazer Gemeinderatswahlkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Intensive Julipolemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Der „Demarche-Rummel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Fallende Börsenkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Ultimatum an Serbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Lokalisierungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Verregnete Grazer Straßen im Juli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Zur Trauerstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Innenstadt und Bahnhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Kein Telefonnetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Abbruch der diplomatischen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Die „patriotischen“ Straßenumzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Offengelegte Zeitungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Unklare Mobilisierungsplakate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Antisozialdemokratischer Demonstrationszug . . . . . . . . . . . . . . 162 Grazer „Feldlager“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Die letzten Tage im Juli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 | Inhalt 6 Großbritannien und Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Verspätete Zeitungen in der Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Nach dem Truppenabmarsch am 11. August . . . . . . . . . . . . . . . 187 Abschiedsszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Kaiserfeiern rund um den 18. August . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Ein „Denkmalfrevel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie . . . . . . . . . . . . 214 Erste „Entscheidungsschlachten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Präventivzensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Erste „Soldatenerzählungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Grazer Frauenhilfskomitee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Transportkolonne am Bahnhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Alltag und Einheitsprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Andrang auf die Geldinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Ausstattungsfrage und Postämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Hamsterkäufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Mietzins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Kirchen und Friedhöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Verlustlisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Infiltrierendes „Spinnennetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Ausschreitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Demonstrationen vor Geschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Über die „Sprachbereinigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Modeboykott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Soldaten abseits der Truppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Neue Wachposten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Pfadfinder und Wandervogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Die „Soldatenspiele“ der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Diebstahl und Betrug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Verbliebene „Kriegsfreizeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Stadtlandschaft im „Volkskrieg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Grazer Einheitsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Einheitsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Inhalt | 7 Inhalt | Notwendige „Heimatfront“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Einheitsbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Einheitsprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Entscheidungshilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Tafelteil: Orte des Geschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Leitperspektive Am 28. Juni 1914 wurde nicht nur gestorben. Genau an diesem Tag kam nämlich im steirischen Bad Radkersburg (slowenisch: Radgona) ein Säugling zur Welt. Sein Zwillingsbruder starb bei der Geburt. Über seine Eltern ist nur wenig bekannt. Die Mutter war Hausfrau. Sein Vater war Gendarmerie-Bezirksinspektor. In Radkers- burg wird das Kind, das die Eltern Anna und Josef Heim auf den Namen Aribert Ferdinand taufen, auch in die Volksschule gehen. Die anschließende Mittelschule wird Aribert in Graz besuchen. Seine Reifeprüfung wird er zu einer Zeit ablegen, als Vinzenz Muchitsch Grazer Bürgermeister ist. Der gelernte Bäcker Muchitsch bekleidete dieses Amt ab 1919 und er sollte es noch bis zum 12. Februar 1934 in- nehaben. Zu dieser Zeit lebte Aribert aber bereits in Wien, das – wie Graz – von einem sozialdemokratischen Bürgermeister regiert wurde. 1 Neben seinem Medi- zinstudium gab er Nachhilfeunterricht und spielte Eishockey im Wiener Eisho- ckeyverein „EK Engelmann“ sowie in der österreichischen Eishockey-Staatsmann- schaft. 1939 holte er sich mit dem „EK Engelmann“ den deutschen Meistertitel. 2 Im alles entscheidenden Titelfinale besiegte sein Team nämlich den siebzehnfachen Meister „Berliner Schlittschuhclub“ mit 1:0. Es war das einzige Mal, dass ein Wie- ner Verein deutscher Eishockey-Meister wurde. Ein Jahr nach dem Meistertitel – im Jahr 1940 – promovierte der Eishockey- spieler aus Bad Radkersburg (Radgona) und meldete sich freiwillig zur Waffen- SS. Bereits seit 1935 war er Mitglied in der vom Dollfuß/Schuschnigg-Regime (1933–1938) verbotenen SA und NSDAP. Sein Eintritt in die SS erfolgte ein halbes Jahr nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Aribert konnte dadurch auf die SS-Ärztliche Akademie, die damals noch nicht in Graz, sondern in Berlin untergebracht war, gehen. 3 1941 arbeitete er im KZ Sach- senhausen, dann im KZ Buchenwald und für einige Monate arbeitete der Eisho- ckey-Spieler Aribert Heim als Lagerarzt im KZ Mauthausen. Nach 1941 kämpfte Heim an verschiedenen Fronten. Am 20. April 1944 wurde er zum SS-Haupt- sturmführer ernannt. Im letzten Kriegsjahr zog er mit der SS-Division in die Ar- 1 Das „Rote Graz“ hatte mit dem „Roten Wien“ aber nur wenig gemein. 2 Vgl. zwei Artikel, die in nationalsozialistischen Zeitungen gedruckt wurden: VK. Engelmann wurde deutscher Eishockeymeister, in: Fußball-Sonntag, 16.4.1939, [ohne Seitenangabe, d. h. in der Sparte „Volkssport in bunten Bildern“]; Festlicher Empfang der „Engelmänner“, in: Volks- Zeitung, 12.4.1939, 9. 3 Im Herbst 1940 wurde die SS-Ärztliche Akademie nach Graz verlegt. 10 | Leitperspektive dennen. Kurz vor Kriegsende geriet er in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. 1947 fiel er in die „Weihnachtsamnestie“ und kam frei. Ein Jahr später wurde auch sein nachsichtig geführtes Entnazifizierungsverfahren eingestellt. In den „langen“ 1950er Jahren ließ er sich als Arzt nieder (zunächst in Mannheim, dann in Baden- Baden). Für eine Saison spielte er noch für den Eishockey-Verein „VfL Bad-Nau- heim“ (1948/49) und wurde mit diesem Verein sogar deutscher Vizemeister. 1949 heiratete er Friedl Bechtold und es begannen erneute Ermittlungsverfahren wegen seiner Vergangenheit. 1962 tauchte er unter – er wurde international gesucht. Ari- bert Heim änderte seinen Namen in Tarek Hussein Farid und konvertierte zum Islam. Allem Anschein nach starb er 1992 in Kairo an Darmkrebs. 4 Jahrzehnte zuvor, am 28. Juni 1919, feierte Aribert Heim seinen fünften Ge- burtstag. Ob es angesichts der Folgen des Weltkriegs ein schöner Geburtstag war, weiß man nicht. Bekannt hingegen ist die Tatsache, dass am selben Tag die deut- sche Delegation in der Spiegelgalerie des Schlosses Versailles nach ultimativer Aufforderung den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnete. Wenige Monate später unterschrieb die österreichische Delegation den Friedensvertrag von Saint- Germain-en-Laye. Im Zuge dessen wurde die „Untersteiermark“ (Štajerska) des (nun) ehemaligen Herzogtums Steiermark dem S. H. S.-Staat (genauer gesagt Slo- wenien) zugesprochen. Die neu gezogene Staatsgrenze verlief quer durch Bad Rad- kersburg (Radgona), Aribert Heims Geburtsort. Im Nachhinein wäre es sicherlich anmaßend, zu glauben, dass der Erste Welt- krieg keine Spuren in Aribert Heims Leben hinterlassen hat. Inwiefern sich der Krieg auf die Familie Heim auswirkte, steht hier aber nicht im Zentrum. Die Art und Weise, wie man sich an diese Frage annähern könnte, dagegen sehr wohl. Aus meiner Sicht erscheint es wenig ergiebig, wenn man die Geschichte nur von ihrem jeweiligen Ende ausgehend versucht zu verstehen und zu erklären. Ein derartiges Unterfangen würde – zumindest mich – dazu verleiten, die Geschichte als natür- lich gegebene Einbahnstraße zu betrachten. Und für einen, der Mitte der 1980er Jahre in Österreich geboren ist, ist sie das vermutlich nicht mehr (jedenfalls nicht für mich). Wenn man hingegen in einer Zeit sozialisiert wurde, als in Österreich die feste Überzeugung vorherrschte, dass die Welt Jahr für Jahr „naturgesetzlich“ besser würde (weil es nach dem Zweiten Weltkrieg nur besser werden konnte), dann kann einem mein Ansatz ein wenig fremd bzw. wenig zielführend erschei- nen. Für mich ist aber der Glaube an die prinzipielle, gleichwohl nicht völlig will- kürliche Offenheit der Geschichte deswegen so wichtig, weil ich der Meinung bin, dass man so die Vielfalt möglicher Geschichtsverläufe und der ihnen zugrunde 4 Die Notizen zu Aribert Heim stammen aus: Kulish/Mekhennet (2015); Klemp (2010). 11 Leitperspektive | liegenden Handlungsspielräume leichter ausloten kann. Nicht alle Menschen gin- gen beispielsweise aus dem Ersten Weltkrieg autoritär gesinnt und „brutalisiert“ hervor. 5 Auf den ersten Blick erscheint dies ein wenig anders. Hermann Göring war im Ersten Weltkrieg. Erwin Rommel war im Ersten Weltkrieg. Adolf Hitler war im Ersten Weltkrieg. Mussolini war im Ersten Weltkrieg. Ebenso Henri Phil- ippe Petain und Charles Maurras. Selbiges gilt für Ernst Rüdiger von Starhemberg und Emil Fey. Auch diese beiden Männer waren – bevor sie zu Proponenten des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes wurden – Soldaten. Es steht außer Frage, dass diese Männer in vielerlei Hinsicht unterschiedlich waren. Autoritär und hierarchisch respektive antidemokratisch waren sie dennoch alle (wenn auch in unterschiedli- chen Graden). Weniger schnell lässt sich hingegen die aus meiner Sicht vermeintliche Mono- kausalkette „Krieg>Gewalt>Brutalität>Diktatur“ bei anderen Menschen erken- nen. 6 René Cassin kämpfte im Ersten Weltkrieg und er ging wie die Mehrheit der französischen Kriegsveteranen pazifistisch und demokratisch aus dem Krieg her- vor. 7 Der (später berühmte) österreichische Volksschauspieler Hans Moser war an der Isonzofront. Jahre später sollte er sich weigern, sich von seiner jüdischen Ehe- frau zu scheiden. Der heutzutage weniger bekannte Constantin von Economo, ein Psychologe und Neurologe griechischer Herkunft, war im Ersten Weltkrieg sowohl an der Russlandfront als auch an der Karst- und Dolomitenfront. An der Nordost- front fuhr er für das k. k. Motorfahrerkorps. In „Südtirol“ war er Pilot und kämpfte gegen Italien. Danach war er (wieder) Arzt und beschrieb 1917 erstmals die „Eu- ropäische Schlafkrankheit“ („Encephalitis Lethargica“). 1976 gab man in Öster- reich eine Briefmarke mit seinem Konterfei heraus. 8 Hans Rothfels, Leutnant der Reserve, fiel im November 1914 vom Kriegspferd und verletzte sich folgenschwer. Jahre später wurde er im Zuge der Novemberpogrome (1938) verhaftet. Und wie- der einige Jahre später sollte man von ihm als Wegbereiter für die neue deutsche Zeitgeschichtsforschung sprechen, dessen zeitgeschichtliche Neuansätze unter an- derem die Schrift „Das Studium der Zeitgeschichte“ 9 (1915) von Justus Hashagen obsolet werden ließ. Neben Hans Rothfels erlebte Anton Karas den Krieg. 1906 wurde er in Wien geboren und 1950 belegte er mit seinem „Harry-Lime-Theme“ 5 Allgemeines zum Kontinuum der Gewalt rund um den Ersten Weltkrieg in: Gerwarth (2014). 6 Die folgenden Lebenswege entnahm ich einschlägigen Handbüchern, vgl. „Deutsche Biogra- phie“, „Neue Deutsche Biographie“, „Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender“ und „Österrei- chisches Biographisches Lexikon“ [Nicht im Quellen- oder Literaturverzeichnis angeführt]. 7 Winter/Prost (2013), 25 f. 8 Die Briefmarke ziert das Buch-Cover von: Bogaert/Théodoridès (1979). 9 Hashagen (1915). 12 | Leitperspektive aus Carol Reeds „Der dritte Mann“ (1949) elf Wochen lang Platz Eins der US- amerikanischen Charts. Nicht minder beeindruckend sind die Filme „Sodom und Gomorrha“ (1922) und „Casablanca“ (1942) von Michael Curtiz, der damals – als er in der k. u. k. Armee kämpfte – noch Mihály Kertész Kaminer hieß. Carl Mayer aus Graz und Hans Janowitz aus Poděbrady erlebten ebenso wie (der spätere Präsi- dent der Tschechoslowakischen Republik) Thomáš Masaryk den Ersten Weltkrieg. 1919 schrieben Mayer und Janowitz das Drehbuch „Das Cabinett des Dr. Caligari“, das ein Jahr später von Robert Wiene verfilmt wurde. Siegfried Kracauer sollte später einmal in seinem Buch „From Caligari to Hitler“ 10 (1947) den Film – nicht das Drehbuch – aufs Schärfste kritisieren. Kracauer wurde 1889 geboren – wie Adolf Hitler, Otto Friedländer, Koloman Wallisch und Charlie Chaplin. Was sie während des (Ersten) Weltkriegs taten, ist bekannt. Ganz anders verhielt es sich mit dem Wiener Juden Erik Jan Hanussen. Damals hieß er noch Hermann Chaim Steinschneider, aber auch er wurde im Jahr 1889 geboren. Über das, was er im Krieg tat, weiß man heute nur sehr wenig. Angeblich brachte er der k. u. k. Armee das Wünschelrutengehen bei. Jahre später arbeitete Hanussen mit einigen Natio- nalsozialisten zusammen. 1933 wurde er von Nationalsozialisten getötet. Die Aufzählung ließe sich so lange weiterführen, bis man alle Menschen, die den „Volkskrieg“ erlebten, aufgezählt hätte. Kurzum: auf dieser Liste würden mehr Frauen und Mädchen als Männer und Buben stehen. Und die Geschichten hinter diesen Namen würden nicht zwangsläufig und bedingungslos zu Auschwitz-Birke- nau oder Hiroshima hinführen. Denn es lässt sich nicht schlüssig argumentieren, dass der Erste Weltkrieg die Menschen, Männer wie Frauen, Deutsche wie Briten, Arme wie Reiche, Juden wie Muslime, Städter wie Bauern, Junge wie Alte, Krämer wie Senner, Zivilisten wie Soldaten, Akademiker wie Industriearbeiter allgemein „brutalisierte“ oder generell autoritärer werden ließ. Vielmehr kann das gesamte Alltagshandeln inklusive der Gewaltfrage entlang mehrerer Aufrisse aufgebrochen werden. 11 Dieser Schritt benötigt aber eine Perspektive, die nicht ausschließlich jedes historische Ereignis von seinem jeweiligen Ende her liest. Und diesem An- satz folgt auch die vorliegende Arbeit. Ihr Großthema umfasst die Geschichte der steirischen Landeshauptstadt Graz im Kriegsjahr 1914. Das engere Thema widmet sich dem Alltagsleben „auf der Straße“. 12 Aus diesem engeren Thema griff ich wie- derum zwei mir wichtig erscheinende Bereiche heraus. Es ist dies zum einen die Frage nach der Art und Weise, wie sich der Burgfrieden in Graz „auf der Straße“ 10 Nicht im Quellen- oder Literaturverzeichnis angeführt. 11 Erneut sei verwiesen auf: Gerwarth (2014). 12 Zur „Straße“ im Ersten Weltkrieg vgl. Cronier (2007); Lawrence (2007). 13 Leitperspektive | (nicht in den Wohnungen oder Fabriken) formierte, und zum anderen beleuchte ich, wie man auf der Straße auf den Krieg und seine Folgen reagierte (Der brüchig- ambivalente Burgfriedensprozess stellt eine dieser Reaktionen dar). Auf diese Fra- gen werde ich noch zurückkommen, aber meine Leitperspektive sei bereits jetzt offengelegt. Mir ging es in dieser Arbeit primär um die Sichtweisen der Grazerinnen und Grazer zu Kriegsbeginn 1914 und weniger darum, wie ihre Sichtweisen von 1914 mit denen von 1918, 1919, 1934, 1938, 1939 oder sonst einem Jahr korrelieren. Ebenso wenig ging es mir darum, wie sich Grazerinnen und Grazer nach dem Krieg an den Kriegsbeginn erinnerten. Vielmehr ließ ich scheinperspektivisch für die damaligen Zeitgenossen, die im Sommer 1914 ja nur in eine offene Zukunft blicken konnten, „selbst“ die unterschiedlichen Formen des Kriegsbeginns entfal- ten. Die Nachwelt kennt die Folgen des Kriegs, aber es wäre schlicht und ergreifend anmaßend, wenn man die Grazer Bevölkerung von 1914 ausschließlich nach die- sem Wissen der Spätgeborenen bewerten würde. 13 Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Septem- ber 2016 von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz angenommen wurde. Mein erster Dank gilt der wissenschaftlichen Quadriga der Abteilung für Zeitgeschichte am Grazer Institut für Geschichte: Helmut Kon- rad, Karin Schmidlechner, Eduard Staudinger und Werner Suppanz. Die Licht- blicke meiner Dissertation sind zum einen auf deren Lehr- und Forschungsarbeit und zum anderen auf deren Umgang mit den Studierenden zurückzuführen. Der Rest der vorliegenden Mikrohistorie ist das Ergebnis meiner Beratungsresistenz. Zu besonderem Dank bin ich auch Patrick Lengauer, Melanie Mattersberger, Lukas Pletz, Elmar Schübl, Jana Schumann und Georg Wolfmayr verpflichtet, die mir mit Rat und Tat beiseite gestanden sind. Aus den Gesprächen mit ihnen ließ sich fort- laufend etwas Handfestes für meine Arbeit schöpfen. Ferner wäre die Dissertation ohne das Dekanatsstipendium der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl- Franzens-Universität Graz nicht möglich gewesen. Ein recht herzliches Danke- schön ergeht daher an das Dekanat unter Lukas Meyer. Zweifelsohne trugen auch Ursula Huber und Margarete Titz mit ihrem raschen Engagement zur Realisierung dieses Buchs bei. Nicht minder freut es mich, dass das vom FWF finanzierte Buch in die Reihe „Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek“ aufgenommen wurde. Ab- schließend gilt es, meiner Familie zu danken. Und ich glaube, sie weiß warum. 13 Instruktiv dazu: Hanisch (2007), 84; Demandt ( 3 2001), 25 f. Rahmenbedingungen Forschungsgeschichte Wenn wir an den Beginn des Ersten Weltkriegs denken, fallen uns – zumindest in der Geschichtswissenschaft – in der Regel das Sarajevoer Attentat, die diplomati- sche Julikrise, die Kriegsbegeisterung, die Bahnhofsbilder, der Burgfrieden sowie das Hochziehen der einzelnen Fronten ein. Verweilt man kurz bei der allgemeinen Kriegsbegeisterung, so verstand man darunter in Deutschland lange Zeit eine par- tei-, milieu-, geschlechter-, konfessionell- und generationsübergreifende Kriegs- begeisterung. Nachdem in Österreich-Ungarn mehrere „Nationen“ bzw. „Völker“ lebten, sprach die Forschung in diesem Fall auch von einer nationsübergreifen- den Kriegsbegeisterung. Das einzementierte Bild von einer allgemeinen Kriegsbe- geisterung hielt sich laut dem im Gedenkjahr 1914–2014 verstorbenen Historiker Hans-Ulrich Wehler selbst in der Geschichtswissenschaft „mit verblüffender Zäh- lebigkeit über 80 Jahre hinweg“. 1 Der Topos von einem ungetrübten Kriegsenthu- siasmus, der sich heute noch in einigen wenngleich universitär verankerten, so doch forschungsresistenten Geschichtsbüchern und in vielen Bildbänden sowie in einigen Schulbüchern niederschlägt, wurde bereits seit den 1990er Jahren von mehreren Regionalstudien plausibel in Frage gestellt. Den Kern ihrer Thesen fasst Jay Winter folgendermaßen zusammen: „In fact, that ‚enthusiasm‘ was strictly lim- ited to a few days and a narrow part of the population.“ 2 Die erste breit angelegte Forschungsambition zum Thema „Kriegsbegeisterung“ markiert gewissermaßen der Anfang der 1990er-Jahre aus einer Tagung hervorge- gangene Sammelband „Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung“. 3 Die Mehrheit der Beiträge dieses Tagungsbands kam zu der Einschätzung, dass das Ausmaß der Kriegsbegeisterung in mehrfacher Hinsicht begrenzt werden kann, was nicht bedeutet, dass dort, wo kein Kriegsenthusiasmus vorherrschte, der Krieg 1 Wehler (2003), 16. 2 Winter (2006), 146. Allgemeines zur Historisierung des Ersten Weltkriegs in: Meteling (2011); Winter/Prost (2005). Zu Österreich-Ungarn: Überegger (2004). Einen Einstieg in die Forschun- gen über die Steiermark im Ersten Weltkrieg bietet: Moll (2004b). Vgl. zudem die „deutschspra- chige“ Bibliografie zur Geschichte des Ersten Weltkriegs von: Regulski (2005). 3 In diesem Sammelband befanden sich bereits die wegweisenden Aufsätze von: Kruse (1991); Winter (1991). | Rahmenbedingungen 16 generell abgelehnt wurde oder gegen diesen permanent (!) opponiert wurde. 4 Rück- blickend lässt sich hinsichtlich der Studien über die Aufnahme des Kriegsbeginns, die vielfach auf diesen Sammelband aufbauen, von sogenannten Auguststudien oder von einer Augustforschung sprechen. 5 Ihre Thesen schlagen sich bereits in mehreren Gesamtdarstellungen, Lexika, Enzyklopädien und Spezialhandbüchern über den Ersten Weltkrieg nieder. 6 Ebenso finden sich die neuen Forschungsergeb- nisse zur zeitlich, lokal und sozial begrenzten Kriegsbegeisterung in Studien, die fernab der eigentlichen Juli/August-Thematik stehen. 7 Die seit den 1990er-Jahren bestehende Augustforschung griff aufgrund der politisch im weiteren Sinne grun- dierten Literatur aus der „Zwischenkriegszeit“ 8 vorrangig auf die Überlieferung der Juli-, August- und Septembertage von 1914 zurück. Diese ist zwar wie die Li- teratur der 1920er und 1930er für die Nachwelt nur bruchstückhaft zugänglich, sie hat aber gewissermaßen den Vorteil, dass sie frei(er) von späteren Einschüben/ Verzerrungen 9 ist. Den Quellen von 1914 fehlt die Erfahrung eines langjährigen 4 In Deutschland kam es zwischen dem 26. und 31. Juli in rund 163 Städten und Gemeinden zu mindestens 288 Antikriegsversammlungen und -demonstrationen. Für weitere 42 Friedensver- sammlungen liegen zumindest Versammlungsappelle vor, vgl. Kruse (1993), 30–36. 5 Hierbei stechen die Arbeiten von Michael Stöcker, Wolfgang Kruse, Christian Geinitz, Benjamin Ziemann, Thomas Raithel, Adrian Gregory, Bernhard Rosenberger und Jeffrey Verhey hervor, siehe Literaturverzeichnis. Einen Einstieg in die Augustforschung (Ansätze und Thesen) bieten: Konrad (2015); Herzig (2010), 9–21; Wietschorke (2008), 225–228; Chickering (2007); Wir- sching (2004), 188–194; Mai (2004); Leonhard (2001); Nonn (2000); Raithel (1997). Die z. B. von Christian Geinitz geäußerte Ansicht, dass es sich bei den Auguststudien sogar um eine „August- Schule“ handelt, ist meines Erachtens ein wenig übertrieben, vgl. Geinitz (1998), 19. Helmut Fries (1994) schrieb das letzte große Buch über die allgemeine Kriegsbegeisterung. 6 Die folgende Auflistung enthält solide weltkriegsbezogene Einführungen, Handbücher und Ge- samtdarstellungen, die die Thesen der neueren Augustforschung aufgriffen. Diese Bücher bildeten gewissermaßen den Grundstock meiner Arbeit: Gregory (2014), 17–28; Janz (2013), 180 f.; Leon- hard (2014), 127–146; Bruendel (2014), 285 f.; Überegger (2014), 41–46; Eckart (2014), 88–90; Hirschfeld (2011); Horne (2010), 280; Gregory (2010); Hirschfeld/Krumeich (2010); Beckett ( 2 2007), 39–43; Blasius (2006); Winter/Prost (2005), 159, 170 f. Ferner verweise ich auf die Lexi- konartikel „Augusterlebnis“ (Jeffrey Verhey), „Kriegsbegeisterung“ (Volker Ullrich) und „Burg- frieden“ (Jeffrey Verhey) in: Hirschfeld/Krumeich/Renz ( 2 2014), 357–360, 630–631, 400–402. 7 Bezüglich der Monografien, die sich eigentlich nicht mit der Kriegsbegeisterung von 1914 an sich beschäftigen, aber dennoch die Thesen der neuen Auguststudien in ihr Themenfeld integrierten, sei v. a. auf das militärsoziologische Buch „Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion“ von Ulrich Bröckling verwiesen, vgl. Bröckling (1997), 196. 8 Wie z. B. die Kriegsmemoiren, die Regimentsgeschichten, die Belletristik (darunter auch die Anti-Kriegsliteratur) oder die wissenschaftliche Literatur. 9 Wie z. B. die Einfügung von Textpassagen oder Fehldatierungen, Streichungen, Hervorhebungen, Einfärbungen, Illustrierungen sowie das Einkleben von Fotografien und anderen Erinnerungsge- genständen. Die nachträgliche Verzerrung begann bereits während des Kriegs. Forschungsgeschichte | 17 Weltkriegs. Die Literatur der 1920er- und 1930er-Jahre, so unterschiedlich gut und schlecht ihre Formen und Erzeugnisse auch sein mögen, kennt den Krieg mit all seinen Verläufen, Auswirkungen und Ausgängen. Und dieses Wissen bzw. diese am eigenen Körper erfahrenen Kriegsfolgen führten dazu, dass sich der Kriegsbe- ginn im Nachhinein umso freudiger, gelassener und heller darstellte. 10 Schließlich sind die Erinnerungen nie identisch mit dem eigentlichen Erlebnis – „die Erinne- rung arbeitet“. 11 Das ist erinnerungspolitisch verständlich, aber es ist für die Er- forschung der unmittelbaren Reaktionen der Bevölkerung auf den Kriegsbeginn wenig geeignet. Denn was in der Nachkriegszeit von (zu meist männlichen) Poli- tikern, Militärs und Schriftstellern über die Reaktionen der Bevölkerung auf den Kriegsbeginn geschildert wurde, war zumeist Teil einer in einem Guss gefertigten Kriegsverarbeitung. Und diese formte sich im deutschsprachigen Raum primär aus diversen Ansichten hinsichtlich des variantenreichen „Dolchstoßes“, der „Kriegs- unschuld“, der „Schützengrabengemeinschaft“, der „Frontkämpfer“, des „Kriegser- lebnisses“, des „Im-Felde-Unbesiegt-Seins“ oder der „undankbaren Heimat“. Dadurch entstanden (wissenschaftlich ernstzunehmende) Kriegsverzerrungen, die aber aus heutiger Sicht nicht länger als Referenzpunkt für den Kriegsbeginn 1914 dienen können. 12 Stattdessen sind diese Kriegserinnerungen Ausdruck einer schwerfallenden Kriegsverarbeitung: Man versuchte, das Unbegreifliche, wie die Niederlage oder den Hunger, begreiflich zu machen. Man versuchte, das Unsag- bare sagbar zu machen. Und man versuchte, die Welt, die nun eine andere war, zu ordnen: politisch, sozial, ökonomisch, juristisch und verwaltungstechnisch. 13 Und durch diesen Verarbeitungsprozess entstanden Ansichten über den (Ersten) Welt- krieg, die nicht als naiv-schmuddelige „Kriegstümelei“ diskreditiert werden dür- fen. Der mehrmals in den nachkriegszeitlichen Überlieferungen zum Ausdruck kommende Glaube an eine allumfassende Kriegsbegeisterung war wirkmächtig. Er begann bereits während des Kriegs und setzte sich in den Nachkriegsjahren fort: 10 Leonhard (2014), 129. 11 Demandt ( 3 2001), 77. 12 Das Gleiche gilt für die Methode der Oral History. Peter Knoch (1990) und Michael Stöcker ( 2 2014) griffen als einzige, der mir untergekommenen Forscher und Forscherinnen, explizit auf die Methode der Oral History zurück. Peter Knoch zeigt in seinem Kurzbeitrag anhand zweier Frauen, dass zwischen ihren (im Ersten Weltkrieg verfassten) Kinder-Kriegstagebüchern und ih- ren erzählten Erinnerungen in den 1980er Jahren Diskrepanzen bestehen. Michael Stöcker ließ in seiner Anfang der 1990er Jahre erstmals publizierten Studie (seine Magisterarbeit) gleich meh- rere Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu Wort kommen. Die Art und Weise, wie in diesen beiden Studien die Methode der Oral History eingesetzt wurde, erweist sich (lediglich) aus heutiger Sicht als problematisch. 13 Zu diesen Neuordnungsprozessen in Österreich vgl. Konrad/Maderthaner (2008). | Rahmenbedingungen 18 er machte letztendlich Geschichte. 14 Allerdings muss man sich bewusst sein, dass die Kriegsdarstellungen der 1920er- und-1930er Jahre letztendlich mehr über die Nachkriegszeit aussagen als über die eigentliche Kriegszeit. Betrachtet man daher diese nach gesellschaftlicher Ordnung strebenden Kriegserinnerungen (aus Papier, aus Stein, auf Film), gewinnt man einen Einblick in nachkriegszeitliche Formen des Verstehens und Erklärens. Ordnung mittels Diskreditierungen, Weglassungen und Negationen spielte dabei ebenso eine große Rolle wie das Trauern. Wie diese geforderte sinn- und identitätsstiftende Ordnung – beispielsweise die Ordnung zwischen den Geschlechtern, zwischen den Parteien oder zwischen den Genera- tionen – auszusehen habe, lag im Auge des Betrachters. 15 Liest man sich zum Bei- spiel die Textstellen über die Kriegsbegeisterung von 1914 in Adolf Hitlers „Mein Kampf “ (1925) durch, so unterscheiden sie sich von Leo Trotzkis Darstellung von der Kriegsbegeisterung, die er in seiner Autobiografie „Mein Leben. Versuch ei- ner Autobiographie“ (1930) schilderte. 16 Beide Männer lieferten aus meiner Sicht mit ihren zielgerichteten Büchern keine Antwort auf die Frage, wie es damals zu Kriegsbeginn 1914 auf der Straße gewesen ist. Sie bieten allenfalls ausgefeilte Versi- onen/Visionen, wie die Kriegsbegeisterung gemäß ihren (gesellschaftspolitischen) Vorstellungen nachträglich zu interpretieren sei. Und diese zeitfernen Großkon- zeptionen über die Kriegsbegeisterung sind wie Hitlers Darstellung seiner „Wiener Lehr- und Leidensjahre“ und auch Trotzkis Darstellung von der „Oktoberrevolu- tion“ 1917 keiner geschichtswissenschaftlichen Genauigkeit verpflichtet. Sie sind – wie viele andere Kriegsmemoiren – keine Geschichtsbücher mit ästhetischer Note. Ihre in Buchform vorliegenden Visionen dürfen daher nicht auf eine bloße histo- rische Tatsachenwiedergabe reduziert werden. 17 Der US-amerikanische Forscher und Veteran des Zweiten Weltkriegs Paul Fus- sel war einer der Ersten, der in seinem wegweisenden Buch „The Great War and Modern Memory“ 18 (1975) aufzeigte, dass in vielen Fällen die nachkriegszeitlichen Kriegserinnerungen mit den Tagebucheinträgen aus der Kriegszeit (von ein und derselben Person) nur wenig gemein haben. Das hängt nicht allein mit den sich verändernden, aber nicht willkürlich vonstattengehenden Erinnerungen zusam- 14 Hüppauf (2013), 234, ebenso: 142 f., 290, 392. Wenn ich hier auch auf das Buch „Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs“ von Bernd Hüppauf verweise, so schreibe ich keine Kulturgeschichte gemäß seinen erkenntnistheoretischen Prämissen. 15 Zu den nachkriegszeitlichen Sinn- und Identitätsstiftungen: Rohkrämer (2014). 16 Nicht im Quellenverzeichnis angeführt. 17 Prägnant dazu: Baberowski ( 2 2013), 11–30. Des Weiteren der Aufsatz „Kriegsliteratur“ von Bernd Hüppauf in: Hirschfeld/Krumeich/Renz ( 2 2014), 177–191. 18 Fussel (1975). Forschungsgeschichte | 19 men. Meistens kam dieser Bruch nur dadurch zustande, dass man eben nach dem Krieg anders über einzelne Kriegsmomente dachte. Wie unscharf und wie politisch grundiert die Nachkriegsliteratur in ihren Ausführungen über die Kriegsbegeis- terung von 1914 ist, konnte Oswald Überegger am Beispiel Tiroler Kriegserinne- rungen sorgfältig herausarbeiten. 19 Aus diesem Grund sollte man vorsichtig sein, wenn man nachkriegszeitliche Kriegsdarstellungen zur Erforschung des Kriegs- beginns 1914 heranzieht. Die neueren Augustforschungen sind sich dieser Quel- lenproblematik für gewöhnlich bewusst, weswegen sich in ihren Quellenverzeich- nissen nur sporadisch Zeugnisse aus der „Zwischenkriegszeit“ finden lassen. Erste Ansätze dieses Umdenkens lassen sich aber nicht erst seit Anfang der 1990er-Jahre greifen, sondern reichen mit Blick auf Paul Fussels Studie vereinzelt zurück bis in die 1970er-Jahre. Bezüglich der Erforschung der Kriegsbegeisterung nimmt auch Jean-Jacques Beckers jahrzehntealte Studie „Comment les Français sont entrés dans la guerre. Contribution à l’étude de l’opinion publique, printemps-été 1914“ 20 (1977) eine wichtige Rolle ein. Retrospektiv wurde sein Buch als Initialzündung für ein verstärktes Hervorheben von Alltagsmomenten zu Kriegsbeginn 1914 de- finiert. Becker konnte entlang eines einmaligen Quellenmaterials 21 den Nachweis erbringen, dass in vielen Regionen Südfrankreichs (sprich: in Gebieten fernab der klassischen militärischen Front) die Stimmung unmittelbar vor und nach dem (französischen) Kriegsausbruch sehr gedrückt war. Wenngleich Beckers Studie aus den 1970er Jahren stammt, wurde sie erst Anfang der 1990er Jahre verbreitet auf- gegriffen. Ein ähnliches Schicksal erlitten gewissermaßen die Juli- und Augustkapitel in den sozialgeschichtlichen Studien von Friedhelm Boll, Volker Ullrich und Klaus- Dieter Schwarz sowie der Aufsatz „Der Erste Weltkrieg und die Arbeiterschaft im rheinisch-westfälischen Industriegebiet“ von Jürgen Reulecke. 22 Ihre Arbeiten zeichneten zwar entlang ausgewählter deutscher Städte ein differenzierteres Bild von der Kriegsbegeisterung zu Kriegsbeginn, als man es gemeinhin in den 1950er- und 1960er-Jahren angenommen hatte. Gleichwohl wurden ihre konzisen August- thesen nur sporadisch aufgegriffen und akzeptiert. Warum man im deutsch- sprachigen Raum – fernab dieser Studien – so lange am Bild einer allgemeinen Kriegsbegeisterung festhielt, hat mehrere und bis zu einem gewissen Grad nach- 19 Überegger (2011) und (2004). In diesem Zusammenhang vgl. auch die Darstellung der Kriegsbe- geisterung in fünf ausgewählten österreichischen Kriegsmemoiren von: Bargehr (2012), 25–33. 20 Becker (1977). 21 Er griff auf minutiös erstellte Stimmungsberichte zurück, die von der französischen Regierung in Auftrag gegeben wurden und von Schuldirektoren angefertigt wurden. 22 Boll (1981); Ullrich (1976); Reulecke (1974); Schwarz (1971).