Generationengerechtigkeit – Diese jungen Leute müssen exakt gar nich... https://www.sueddeutsche.de/kultur/genz-junge-leute-richtig-leben-1... Generationengerechtigkeit Diese jungen Leute müssen exakt gar nichts 11. August 2022, 13:46 Uhr | Lesezeit: 5 min Mehr arbeiten, weniger �iegen, sozialer sein: Ständig sollen junge Menschen irgendwas besser machen. Das ist anmaßend - und es kehrt die Verhältnisse grotesk um. Von Cornelius Pollmer Alles wird teurer derzeit, nur gute Ratschläge gibt es für junge Menschen weiterhin umsonst. Die drei bislang besten in diesem Jahr waren der zur Einführung einer allgemeinen Dienst- pflicht, jener zu einer längeren Wochenarbeitszeit und ein grotesker Generalanschiss jüngerer Menschen dafür, dass die Welt leider verbrennt und alle bald elend sterben werden, was ja wirk- lich superschade ist. Der Gedanke einer allgemeinen Dienstpflicht war von Bundespräsident Frank-Walter Steinmei- er in die Bild am Sonntag hineingeatmet worden, nota bene ohne diese dabei exklusiv auf junge Menschen anzuwenden. In der Debatte führte dieser Gedanke zu Sätzen wie dem folgenden von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer: "Wir brauchen mehr junge Menschen, die sich für ihr Land engagieren", nämlich im Sozialen, in der Kultur, in Sachen Umwelt, auch im Zivil- schutz sowie in der Bundeswehr. Den Weg zu Wehr- und Dienstpflicht, so Kretschmer müsse man "jetzt diskutieren und ihn dann auch gehen". Noch toller hervor tat sich Roland Mack, der Chef des Europaparks Rust. Über die Bewerberlage für sein Rutsch-dreh-ahhhhh-Unternehmen, das übrigens davon lebt, dass Menschen auch mal frei haben, sagte Mack der Basler Zeitung: "Da kommen 25-Jährige und wollen nur drei Tage ar- beiten" - obwohl sie doch "hier etwas werden, Verantwortung übernehmen, Karriere machen" könnten. Im Übrigen, so Mack, mache ihm "das Wort Work-Life-Balance" Sorgen. Ja, Sorgen, hat er wirklich so gesagt. Diese jungen Leute wollen zu viel Freizeit. Sagt der Freizeitparkchef 1 von 4 11.08.2022, 21:32 Generationengerechtigkeit – Diese jungen Leute müssen exakt gar nich... https://www.sueddeutsche.de/kultur/genz-junge-leute-richtig-leben-1... Neulich stand außerdem bei den Kollegen des Frankfurter Allgemeinen Zeterns ein etwas errati- scher Riesenaufschlag, geschrieben - wer weiß - an einem elenden Hitzetag im Home-Office, da wird es ja schon mal ziemlich warm unterm Dach. Jedenfalls erscheint in diesem Text erst ein nicht näher benanntes Neugeborenes, dann wird sein unmittelbares Ächzen unter der Klimaka- tastrophe gruselig insinuiert. Später steht dann klipp und klar, wer für dieses Gesamtschlamas- sel haftbar zu machen sei: "Aber zurück zur Schuldfrage und dem Kind. Die heute Dreißigjähri- gen haben ihr Leben auf seine Kosten geführt." So, erst mal durchatmen. Und dann zugestehen, dass die drei genannten Autoritäten natürlich alle, wie sagt man neuerdings: einen Punkt haben. Der Ministerpräsident hat einen Punkt, wenn er darauf hinweist, von welcher Notwendigkeit es ist und welchen biografischen Wert es hat, sich zu engagieren über den eigenen Vorgarten und die Optimierung des Aktiendepots hinaus. Wer die Bastionen der Gesellschaft in dienender Weise kennenlernt, versteht viel besser, was ein funktionierendes Gemeinwesen ausmacht und warum es wichtig ist. Sie oder er versteht auch, dass es dieses gewaltige Glück einer funktionierenden öffentlichen Infrastruktur in allen Le- bensbereichen nur geben kann, wenn hinreichend viele sich dafür einbringen, zuweilen: aufop- fern. Der Freizeitparkchef hat einen Punkt, falls er mit seiner Polemik auf die Gefahr eines allgemei- nen Wohlstandsverlusts hinweisen wollte und den bereits jetzt akut werdenden Clusterfuck am Arbeitsmarkt. Dieser Markt verliert mit den in Rente gehenden Babyboomern fortan netto viele hunderttausend Menschen jedes Jahr - bei gleichzeitig festgefahrenen Diskussionen um Le- bensarbeitszeit und Renteneintrittsalter sowie sich eben verschiebenden Vorstellungen von Ar- beit bei jüngeren Menschen. Das daraus resultierende Problem ist vielschichtig und geht alle an. Natürlich hat auch die FAZ einen Punkt, wenn sie bei der heute mittleren Generation ab 30 auf- wärts eine besondere gesellschaftliche Verantwortung festzumachen versucht. Irre viele Kipp- punkte, Zeitenwenden, Disruptionen sind erreicht oder stehen unmittelbar bevor - sie werden, Freiwillige vor, besonders von jenen Menschen zu bearbeiten sein, die nicht das biografische Exit haben, sich wahlweise nicht mehr oder noch nicht zuständig zu fühlen. Bis hierhin ist ja alles klar. Was diese Ratschläge aber so ärgerlich macht und was sie gemein ha- ben, ist die wahnhafte Anmaßung, sich in der Position zu befinden, den jüngeren Teil der Gesell- schaft belehren zu dürfen. Sei es mit der leicht cholerischen "Solange du deine Füße unter mei- nen Tisch stellst"-Note bei Kretschmer oder der "Weil ich viel gearbeitet habe, müsst ihr das auch machen"-Scheinlogik von Mack. Diese jungen Leute, sie müssen nämlich exakt gar nichts. Und das galt übrigens auch schon für viele junge Leute vor ihnen, nur dass diese dafür nicht ganz so schlagende Argumente hatten, wie es sie heute - leider - gibt. 2 von 4 11.08.2022, 21:32 Generationengerechtigkeit – Diese jungen Leute müssen exakt gar nich... https://www.sueddeutsche.de/kultur/genz-junge-leute-richtig-leben-1... Nämlich folgende. Relativen Wohlstandsverlust kann nur erleiden, wer relativ wohlständig ist. Und hart arbeiten, ein Dienstjahr ableisten, dem Klimawandel Rechnung tragen auch mit sei- nem individuellen Verhalten - all dies sind vor allem Vorleistungen. Und wie bei Vorleistungen üblich werden sie nur erbracht, wenn einem im Gegenzug auch etwas glaubhaft in Aus- sicht steht. Es wird keine Leistungsgerechtigkeit geben, und das hat vor allem mit Erbschaften zu tun Nur vibet leider nicht richtig, was heute jungen Menschen in Deutschland glaubhaft in Aussicht steht, um sich wenigstens an einer Stelle auch sprachlich mal an diese Gruppe ranzuwanzen (an die ganz jungen unter ihnen: Na, Kids, alles cool bei euch?). Was in Aussicht steht, ist nicht weni- ger als die Zerrüttung all dessen, was gerade noch ein Versprechen gewesen zu sein schien. Das Rentensystem ist längst kaputt und wer sich auch nur fünf Minuten damit befasst, dem darf angst und bange werden bei der Extrapolation seines Fortgangs. Warum sollte man als junger Mensch in dieses System einzahlen wollen? Eine Drei-Tage-Woche klingt entspannt - und war- um sollte man fünf Tage wegscheuern, wenn man sich vom zusätzlichen Verdienst vielleicht noch das ein oder andere Eis kaufen kann, ganz sicher aber nicht Wohneigentum in einer größe- ren Stadt? Und wie viele Gedanken sollte man überhaupt noch an das verschwenden, was mal das Auf- stiegsversprechen war? Es wird keine Leistungsgerechtigkeit geben in diesem Land, solange der Staat echte Arbeit oft deutlich stärker belastet als Geld, das weiteres Geld verdient. Wer dieses Prinzip verteidigt, hat meist selber Geld oder ist bei einer überholten Idee von Liberalismus hän- gengeblieben, an die selbst in der FDP niemand wirklich glaubt. Richtig wäre, Kapitalerträge oder große Erbschaften höher zu besteuern, auch um damit die Sozialsysteme einer alternden Gesellschaft mitzufinanzieren. Unterbleibt dies, werden die Sozialsysteme weiter ächzen - und die Demografie sagt jetzt schon eine auf absehbare Zeit weiter steigende Belastung für jüngere Kohorten vorher. Man wird sie von dieser zusätzlichen Belastung nicht allein mit neuen Schulden freikaufen kön- nen, weil Geld - anders als durch eine zunehmend hilflose Politik zuweilen suggeriert - natürlich immer nur eine Lösung von Problemen ermöglichen kann, jedoch als solches nie die Lösung selbst ist. Der so vermessene Gesamtschaden liegt vor einer Generation, die in zweieinhalb pandemischen Jahren vieler Chancen ihrer Jugend teilweise unwiederbringlich beraubt worden ist, die ins Le- ben nicht nur mit unbeschwerten Festivals und wilden Interrail-Abenteuern startet, sondern 3 von 4 11.08.2022, 21:32 Generationengerechtigkeit – Diese jungen Leute müssen exakt gar nich... https://www.sueddeutsche.de/kultur/genz-junge-leute-richtig-leben-1... mit einer hammerharten Inflation, einer drohenden Rezession, einem manifesten Landkrieg in Europa. Einer Generation, der noch dazu täglich vor Augen geführt wird, wie plötzlich rundher- um alles abfackeln kann, weil die Leute in den letzten Jahrzehnten sich lieber kollektiv immer wieder einbimsten, wie viel wichtiger es ist, sein persönliches Vorankommen zu organisieren und 1000 legale Steuertricks zu kennen, als gemeinsam die ökologischen und sozialen Lebens- grundlagen der Gesellschaft zu ertüchtigen. Und der, dies als vorläufig letztes kantiges Geschoss aus der Zwille, viele weitere Jahre bevorstehen, in denen sie wegen der bereits skizzierten Über- alterung der Gesellschaft keine demokratische Mehrheit für ihre Interessen und die folgender Generationen werden ausbilden können. Ja, es ließe sich darauf jetzt alles mögliche erwidern. Welch Privileg es sei, in diesem Land über- haupt aufwachsen zu dürfen. Wie schwer es auch früher war, und die Leute haben trotzdem ge- macht, nach dem Krieg oder nach der Wende. Alles richtig - alles aber auch unerheblich. Es geht letztlich nur um den Punkt, dass eine Kombination aus multiplen Weltkrisen, von denen die des Klimas nur die mit Abstand allerschlimmste ist, und einem gewiss auf höchstem Niveau herab- gewirtschafteten Gesellschaftssystem viele jüngere Menschen verständlicher Weise nicht sofort denken lässt, prima hier, ich hau' jetzt erst mal voll rein und dann schauen wir mal, was später für mich drin ist. Dass diese Jungen - wer wollte es ihnen verübeln - vielleicht eher denken: Ich kann gerade nicht, aber ihr könnt mich mal. Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen URL: www.sz.de/1.5637825 Copyright: Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH Quelle: SZ Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an [email protected]. 4 von 4 11.08.2022, 21:32
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