MARTIN INGENFELD Fortschritt und Verfall Zur Diskussion von Religion und Moderne im Ausgang von Joachim Ritter Martin Ingenfeld · Fortschritt und Verfall Herausgegeben von Modern Academic Publishing (MAP) 2016 MAP (Modern Academic Publishing) ist eine Initiative an der Universität zu Köln, die auf dem Feld des elektronischen Publizierens zum digitalen Wandel in den Geisteswissenschaften beiträgt. MAP ist angesiedelt am Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit von Prof. Dr. Gudrun Gersmann. Die MAP-Partner Universität zu Köln (UzK) und Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) fördern die Open-Access-Publikation von Dissertationen forschungsstarker junger Geisteswissenschaftler beider Universitäten und verbinden dadurch wissenschaftliche Nachwuchsförderung mit dem Transfer in eine neue digitale Publikationskultur. www.humanities-map.net Martin Ingenfeld Fortschritt und Verfall Zur Diskussion von Religion und Moderne im Ausgang von Joachim Ritter Herausgegeben von Modern Academic Publishing Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln Gefördert von der Ludwig-Maximilians-Universität München Text © Martin Ingenfeld 2016 Erstveröffentlichung 2016 Zugleich Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München 2015 Umschlagbild: Franz Marc, Kämpfende Formen, 1914, Pinakothek der Moderne, München, Wikimedia Commons, PD-Art (Yorck Project), CC-PDM. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/dnb.dnb.de abrufbar. ISBN (Hardcover): 978-3-946198-12-3 ISBN (EPUB): 978-3-946198-13-0 ISBN (Mobi): 978-3-946198-14-7 ISBN (PDF): 978-3-946198-15-4 DOI: http://dx.doi.org/10.16994/bae Diese Arbeit ist veröffentlicht unter Creative Commons Licence BY 4.0. Eine Erläuterung zu dieser Lizenz findet sich unter http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/. Diese Lizenz erlaubt die Weitergabe aus der Publikation unter gleichen Bedingungen für privaten oder kommerziellen Gebrauch bei ausreichender Namensnennung des Autors. Herstellung & technische Infrastruktur: Ubiquity Press Ltd, 6 Windmill Street, London W1T 2JB, United Kingdom Open Access-Version dieser Publikation verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.16994/bae oder Einlesen des folgenden QR-Codes mit einem mobilen Gerät: Der Kopf optiert fürs Profane, wenn dem Menschen theologisch zugemutet wird, vor Gott auch den Kopf abzunehmen. — Odo Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant Inhalt Danksagungen IX English Summary XI 1 Einleitung: Eine melancholische Moderne? 1 2 Joachim Ritter und das Collegium Philosophicum in Münster 11 2 1 Joachim Ritter und seine akademischen Schüler 18 2 2 Zur Diskussion um die sogenannte ›Ritter-Schule‹ 26 2 3 Der Kreis um Joachim Ritter als Schule und als Konstellation 46 2 4 Vorläufige Zusammenfassung und Forschungsüberblick 57 3 Zur Philosophie Joachim Ritters und zu seinen Ansätzen zu einer Theorie der Religion 69 3 1 Zur Entwicklung der Nachkriegsphilosophie Joachim Ritters 70 3 1 1 Die moderne Welt im Spiegel von Fortschritts- und Verfallstheorien 72 3 1 2 Entzweiung und Versöhnung: Hegels Philosophie als Philosophie der Revolution 83 3 1 3 Subjekt und Gesellschaft: Konturen des Freiheitsbegriffs bei Joachim Ritter 97 3 1 4 Joachim Ritter über bürgerliches Leben und politisches Gemeinwesen bei Aristoteles 104 3 1 5 Den aristotelischen Begriff des Politischen zurückrufen: Joachim Ritters Begriff des modernen Staates 110 3 1 6 Substanz, Subjekt, Gesellschaft: Joachim Ritter zwischen Neoaristotelismus und Neohegelianismus 119 3 2 Religion und Moderne in der Philosophie Joachim Ritters 133 3 2 1 T.S. Eliot: Die Idee einer christlichen Gesellschaft 136 3 2 2 Zur Genese des religionsphilosophischen Denkens bei Ritter: Kulturpessimismus in den Nachkriegsjahren 144 3 2 3 Die Bedeutung des Türkei-Aufenthalts für Ritters Theorie der Moderne 155 3 2 4 Politik und Religion in der Gesellschaft der Entzweiung 168 3 2 5 Moderne und Religion bei Joachim Ritter – ein erstes Resümee 180 4 Aspekte religionstheoretischer Differenzierung im Ausgang von Joachim Ritter 185 4 1 Eine Geschichtsphilosophie der säkularisierten Moderne 188 4 1 1 Der Säkularisierungsbegriff bei Joachim Ritter in Auseinandersetzung mit Karl Löwith und Friedrich Gogarten 190 VIII Inhalt 4 1 2 Zum Funktionswandel der Säkularisierungstheorie bei Lübbe und Blumenberg 198 4 1 3 Die Legitimität der Neuzeit: Substanz und Funktion moderner Gesellschaft 206 4 1 4 Die Geschichtsphilosophie als Gegenneuzeit: Odo Marquards Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie 214 4 1 5 Zur politischen Theologie eines aufgeklärten Polytheismus: Odo Marquards Positivierung moderner Gewaltenteilungen 229 4 1 6 Odo Marquards Kritik der Geschichtsphilosophie im Ausgang von Joachim Ritter 242 4 2 Zwischen »Tyrannei der Werte« und »Politischer Theologie«: Carl Schmitt im Kreis um Joachim Ritter 247 4 2 1 Die »Tyrannei der Werte«: Zur Kritik der Wertphilosophie bei Joachim Ritter und Carl Schmitt 252 4 2 2 Die Neuzeit und ihre Legitimitäten: Blumenberg, Schmitt und die politische Theologie 264 4 2 3 Das »Zeitalter der Neutralisierungen«: Ausgangspunkte einer liberalisierenden Schmitt-Rezeption im Umfeld Joachim Ritters 276 4 2 4 Carl Schmitt im Ritter-Kreis: Dezisionismus und politische Theologie 284 4 3 Zur Auseinandersetzung um Substanz und Funktion von Religion im Kreis um Joachim Ritter 301 4 3 1 Religion als Kontingenzbewältigungspraxis – Hermann Lübbes Religionstheorie 306 4 3 2 Zum Begriff der Zivilreligion bei Hermann Lübbe 315 4 3 3 Robert Spaemanns Kritik des Funktionalismus 328 4 3 4 Gegen eine hypothetische Zivilisation: Robert Spaemanns Kritik der Moderne mit und gegen Joachim Ritter 345 4 3 5 Religion als Garant oder als Fundament der freiheitlichen Demokratie? 351 4 4 Über die Unverfügbarkeit der freiheitlichen Demokratie 363 4 4 1 Der freiheitliche Staat als sittlicher Staat: Das sogenannte Böckenförde-Diktum 368 4 4 2 Die unverfügbaren Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie: Eine Zusammenfassung der differenzierten Sichtweisen im Kreis um Joachim Ritter 379 5 Zum Schluss: Die Ambivalenzen und Differenzierungen der Entzweiungsphilosophie 395 Quellen- und Literaturverzeichnis 405 Verzeichnis verwendeter Materialien aus dem Nachlass Joachim Ritters 405 Literaturverzeichnis 406 Personenregister 453 Danksagungen Wie jede Dissertation war auch die vorliegende in ihrem Gelingen auf die Unterstützung zahlreicher Personen angewiesen, denen im Folgenden gedankt sei. Anfang des Jahres 2015 wurde diese Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München zur Promotion angenommen; für die Veröffentlichung wurde sie ge- ringfügig überarbeitet und in einigen Passagen gekürzt. So wenig ich hoffen kann, allen jenen, die hier Erwähnung verdienten, an dieser Stelle gebührend danken zu können, so sehr gilt zugleich, dass alle trotz Rat und Tat von anderer Seite noch bestehenden Mängel der Arbeit allein meiner Verantwortung zuzurechnen sind. Zuallererst gilt mein besonderer Dank meinem Betreuer PD Dr. Christian Schwaabe sowie Prof. Dr. Karsten Fischer vom Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft. Ihre Unterstützung und ihre beständige Hilfsbereitschaft machten die Abfassung dieser Arbeit erst möglich. Dies gilt zudem auch für Rat und Kritik, wie sie mir in den jeweiligen Doktorandenkolloquien zuteilwurden. Darüber hinaus gilt mein Dank für empfangene Unterstützung in der Zeit der Entstehung dieser Arbeit auch Prof. Dr. Jürgen Gebhardt, Prof. Dr. Elif Özmen und Prof. Dr. Dietmar Süß sowie nicht zuletzt Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, der überdies bereit war, als Prüfer für das philosophische Nebenfach zu fungieren. Diese Arbeit entstand mithilfe der Graduiertenförderung der Friedrich-Ebert- Stiftung, Bonn. Der Stiftung, ihren Gutachtern und Auswahlgremien sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, insbesondere Dr. Ursula Bitzegeio als zustän- diger Referentin, bin ich dafür sehr dankbar. Diese Unterstützung verhalf zu der für die Anfertigung der Dissertation notwendigen produktiven Ruhe und finan- ziellen Sicherheit. Gleiches gilt für ein Jahresstipendium, das mir vonseiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft bzw. ihrem inzwischen nicht mehr bestehen- den Sonderforschungsbereich 804, »Transzendenz und Gemeinsinn«, der an der Technischen Universität Dresden angesiedelt war, gewährt wurde. Hier bin ich insbesondere Prof. Dr. Hans Vorländer und Prof. Dr. Thomas Rentsch sowie mei- nen Kolleginnen und Kollegen vom Integrierten Graduiertenkolleg, insbesondere PD Dr. Gernot Kamecke und Dr. Steffen Herrmann, zu Dank verpflichtet. Die mit der Arbeit verbundenen Archivrecherchen wurden in Bezug auf die Bestände des Deutschen Literaturarchivs Marbach dankenswerterweise gefördert durch ein Udo-Keller-Stipendium für Gegenwartsforschung: Religion und Mo- derne der Udo-Keller-Stiftung Forum Humanum. Für ihre Unterstützung in Mar- bach danke ich darüber hinaus insbesondere PD Dr. Marcel Lepper, Dr. Ulrich von Bülow, Silke Becker-Kamzelak, Dr. Nicolai Riedel sowie dem stets hilfsbe- reiten Team des Handschriftenlesesaals um Hildegard Diecke, Heidrun Fink und Thomas Kemme. Ferner danke ich in Bezug auf meine Recherchen auch dem Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München und dem Lan- desarchiv Nordrhein-Westfalen in Duisburg. X Danksagungen Schließlich gilt mein Dank zahlreichen Personen, die meine Arbeit mit Kom- mentaren und Hinweisen unterstützten. Posthum sei er zunächst insbesondere an Prof. Dr. Odo Marquard und Dr. Henning Ritter gerichtet. Für ihre auskunfts- freudige Hilfe danke ich zudem Dr. Ulrich Dierse, Prof. Dr. Hermann Lübbe, Prof. Dr. Reinhart Maurer, Prof. Dr. Henning Ottmann und Prof. Dr. Berthold Wald. PD Dr. Mark Schweda und Dr. Jens Hacke standen mir nicht nur durch ihre For- schungsbeiträge, sondern auch persönlich zu Gespräch und Kritik zur Verfügung. Durch Mark Schweda und Ulrich von Bülow hatte ich überdies die Gelegenheit, einen Teilaspekt meiner Arbeit bei einer Tagung im Dezember 2013 in Marbach vorzustellen. Auch den übrigen Teilnehmern dieser Tagung gelte an dieser Stelle für ihre anregenden Kommentare mein Dank. Anna Ritter gab freundlicherweise ihre Zustimmung zur Verwendung des Nachlasses von Joachim Ritter im Rahmen dieser Arbeit; auch dafür mein herzlicher Dank. Für die Aufnahme in das Programm von Modern Academic Publishing (MAP) und die damit verbundene Möglichkeit, diese Arbeit in hybrider Form, sowohl gedruckt als auch digital Open Access zu publizieren, danke ich Prof. Dr. Gudrun Gersmann und Prof. Dr. Hubertus Kohle. Für die geduldige und hilfsbereite Auf- bereitung der Arbeit und die Begleitung des Publikationsprozesses gebührt mein Dank Dr. Claudie Paye sowie, für ihr umsichtiges Lektorat, Ann Catrin Bolton. Dr. Stefan Daltrop, Wolf Seiler und Viktoria Walter danke ich für ihre Mithilfe bei der Vorbereitung dieser Veröffentlichung. Nicht zuletzt jedoch gilt mein Dank der geduldigen Unterstützung durch meine Familie, insbesondere durch meine Eltern und meine Großeltern, die mein Studium und meine Promotion stets mit ihrem Wohlwollen, ihrem Interesse und ihrer wertvollen Unterstützung begleitet haben, sowie Dr. Kay Wolfinger, in des- sen Schuld ich über allen Dank hinaus stehe. München, Januar 2016 Martin Ingenfeld English Summary Progress and Decay On the Discussion of Religion and Modernity following the Philosophy of Joachim Ritter In recent years, a growing interest has emerged in the history of ideas and intellec- tual discourses of post-war Germany. One of the scholars getting increased atten- tion is the philosopher Joachim Ritter (1903–1974), who taught at the University of Münster from 1946 to 1968. This book examines several aspects of the develop- ments in his philosophic thought and its relation to the theories of some of his students. The notable fact that a number of students that attended Ritter’s Colle- gium Philosophicum became prominent in philosophy, law and politics themsel- ves facilitated debates concerning the importance of this so-called Ritter school (›Ritter-Schule‹). But indeed significant philosophical differences appear, not only when comparing the thought of the different participants of Ritter’s Collegium Philosophicum but also in Ritter’s own philosophical considerations from the ni- neteen-forties to the nineteen-fifties, which may have influenced his students of that time. Considering these developments and Ritter’s former students’ different ap- proaches to adopting his thought, this book focuses on two main aspects. On the one hand it analyzes considerations concerning the relation of religion and modern society on the part of the respective scholars, and on the other hand it puts emphasis on authors like Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hermann Lübbe, Odo Marquard, and Robert Spaemann. They were, among others, participants of Ritter’s Collegium Philosophicum and involved in public debates on politics and religion, to some extent up to the present time. The differences among their phi- losophical positions question the supposed homogeneity of the so-called Ritter school and its common ground. Thus these differences reveal ambivalent modes of reception of Ritter’s philosophy, while at the same time indicating ambivalences inherent in Ritter’s own philosophy. Following the introduction and a section that presents the history of Ritter’s Collegium Philosophicum at Münster and the discussion concerning the so-called Ritter school in general, chapters 3 and 4 attend to the main issues of this study. At the beginning of Ritter’s philosophic involvement with modern society, in the late forties, there is a questioning perspective towards his time, a critique of moder- nity reflecting the disastrous consequences of the war and the Nazi regime as well as the precarious prospects of the beginning cold war. Section 3.1 takes a closer look at how it was possible for Ritter to come up with an affirmative approach to- wards the modern world. Mainly in accordance with Hegel’s ideas, Ritter reaches a theory of diremption (Entzweiung) that marks the mature form of his philoso- phy. There is a moment of ambivalence inherent in this theory that not only re- XII English Summary gards its evolvement but contends within the concept itself. Section 3.2 examines Ritter’s philosophy with special attention to his philosophy of religion. According to his general philosophical development, Ritter’s critical stance towards modern society – e.g. following T.S. Eliot’s reasoning concerning a ›Christian Society‹ – takes a characteristic turn coinciding with his stay in Turkey from 1953 to 1955. Chapter 4 deals with the contribution of this philosophical ambivalence, in particular with regard to religion, to the different ways his students like Böcken- förde, Lübbe, Marquard, and Spaemann follow his thought. Section 4.1 traces Ritter’s historico-philosophical thought concerning religion and modernity up to his critique of the contemporary use of the concept of secularization as sup- ported by, for example, Karl Löwith and Friedrich Gogarten. On the grounds of this critique Hermann Lübbe and Hans Blumenberg assessed the concept of se- cularization differently in the sixties, and Odo Marquard’s then firmly anti-histo- rico-philosophical approach represents the first distinctive differentiation and va- riation of Ritter’s thought and must thus be examined in this study. Subsequently, section 4.2 analyzes Ritter’s involvement in debates concerning the concept of value as contested in particular by Carl Schmitt. Ritter supports the critique of the value concept philosophically but does not follow the political and politico-theo- logical implications of Schmitt. Accordingly, authors like Lübbe and Böckenförde refer to the thought of Carl Schmitt in an explicitly liberalizing way. Aside from the discussion of the philosophy of value, this requires a closer look at the concept of Political Theology as it is subject of the debate of Schmitt and Hans Blumenberg. Section 4.3 eventually concentrates on the controversies concerning the concept of religion and its philosophical importance. Functionalism and substantialism are keywords in this discussion that within the group of Ritter’s former students is particularly associated with Robert Spaemann. His reasoning concerning Lübbe’s concept of religion indicates a farther-reaching critique of Ritter’s approach and modernity in general. All these aspects show that there are different ways of answering the tasks and questions Ritter formulated concerning philosophy, either positively in adoption of or negatively in distinction to his own approach. His theoretical ambivalences led the former students of his Collegium Philosophicum to develop various meth- ods of differentiating his positions. Section 4.4 finally resumes aforementioned aspects in reference to post-war German debates on the question of religious pre- suppositions of liberal-democratic politics, particularly concerning Böckenförde’s notable insight that the liberal and secular state for its own sake relies on presup- positions it cannot guarantee. 1. Einleitung: Eine melancholische Moderne? [...] and the rest Is prayer, observance, discipline, thought and action; [...] We content at the last If our temporal reversion nourish (Not too far from the yew tree) The life of significant soil. — Thomas Stearns Eliot 1 Mit diesen Versen aus dem Gedicht »The Dry Salvages« des wenige Monate zu- vor mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Thomas Stearns Eliot be- schließt Joachim Ritter Anfang des Jahres 1949 seine Vorlesung zur Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert.2 Daraus spricht ein skeptisch gestimmter, wenn nicht pessimistischer Geist: Nur wenige Jahre nach dem Ende des Krieges und dem Zu- sammenbruch des Nationalsozialismus sind deren Verheerungen für die meisten Deutschen weiterhin unmittelbar präsent und so auch für den zu diesem Zeit- punkt 45-jährigen Philosophen und seine Studenten im westfälischen Münster. Doch die Möglichkeit eines Lebens im Sinne des von Eliot in seinem immerhin bereits 1941 veröffentlichten Gedicht angesprochenen »life of significant soil« ist nicht allein aufgrund dieser Nachkriegsumstände fraglich geworden. Dass der Zu- sammenhang des Lebens mit einem ihn tragenden »Sinngrund«, wie Eva Hesse es übersetzt hat, infrage steht, ist bei Joachim Ritter vielmehr Erkenntnis einer philosophischen Zeitdiagnostik weiteren Horizonts, der es um die moderne Welt insgesamt geht. »Es gibt die oberflächliche und kurzsichtige Gewohnheit, aus den Stürmen der Weltkriege, Revolutionen und Völkerwanderungen dieses Jahrhun- derts auf das 19. Jahrhundert als auf ein vergangenes historisches, sicher-behag- liches Zeitalter zurückzusehen«, mahnte Joachim Ritter bereits zu Beginn der Se- mestervorlesung, jedoch: »Diese Perspektive täuscht.«3 1 Es handelt sich um zwei Passagen aus dem fünften Abschnitt der »Dry Salvages« von T.S. Eliot, im Zusammenhang der Four Quartets erstmals erschienen und von Eva Hesse für eine aktuelle deutschsprachige Ausgabe wie folgt übersetzt: »[...]; alles Weitere aber / Ist Gebet, Ehrerbietung, Selbstzucht, Denken und Tun. / [...] Wir, schließlich zufrieden, / Wenn unsere zeitliche Umkehr / (Nicht allzu fern von der Eibe) / Das Leben des Sinngrunds ernährt.« Thomas Stearns Eliot, Four Quartets, The Dry Salvages, V, 30f. und 47–50, in: Ders., Gesammelte Gedichte. Englisch und deutsch. 1909–1962, hg. und mit einem Nachwort versehen von Eva Hesse, Frankfurt a.M. 1988, 316–319. 2 Vgl. Joachim Ritter, Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert«, Wintersemester 1948/1949 (DLA: Nachlass Ritter), 81. Der Nachlass Joachim Ritters befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Marbach am Neckar. In diesem Fall handelt es sich um ein im Nachlass unter der Ordnungsnummer III, 16 verwahrtes 81-seitiges Typoskript einer studentischen Vor- lesungsnachschrift. 3 Ders., Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« (wie Kap. 1, Anm. 2), 2. 2 1. Einleitung: Eine melancholische Moderne? Was Joachim Ritter selbst philosophisch beschäftigt – und in seinem Verständ- nis auch den Autor T.S. Eliot in dessen Dichtung –, ist nicht in erster Linie die konkrete Gegenwart. Vielmehr wird diese als Ausdruck einer Problemstruktur wahrgenommen, mit welcher die moderne Welt für den Menschen allgemein verbunden ist. Die in diesem Zusammenhang maßgebliche »Zeitwende« datiert Ritter bereits auf das Jahr 1789. Mit dem Ereignis der Französischen Revolution wird etwas politisch verwirklicht, das zwar zuvor, etwa in der Philosophie der Aufklärung, bereits gedacht worden ist, mit dem vollendeten politischen Umsturz aber erst in die Lebenswirklichkeit des Menschen eintritt. Es konstituiert sich in Europa eine Epoche der Menschheitsgeschichte, die ganz auf die Autonomie des einzelnen Subjekts setzt und die sich zu diesem Zweck aus der Gesamtheit historisch überkommener Bindungen befreit, die dem Menschen ehedem frag- los vorausgesetzt waren, allen voran von der Monarchie als politischer Ordnung und der christlichen Religion als tragendem Fundament. An deren Stelle tritt einerseits der einzelne Mensch, der sich als handelndes Subjekt Zwecke und Ziele selbst bestimmt, zur legitimierenden Wurzel des politischen Gemeinwesens wird und – ungeachtet seiner nichtsdestoweniger zumeist fortbestehenden Einbindung in überlieferte Institutionen wie die Kirchen – auch seinem religiösen Bekennt- nis oder Nicht-Bekenntnis gegenüber prinzipiell Freiheit erlangt. Andererseits aber werden auch Technik, Ökonomie und Wissenschaft aus ihrer Bindung an die tragenden Weltbilder vormoderner Gesellschaften befreit. Mit dieser Entbindung gewinnen sie ein Maß an Dynamik, das die Gesellschaften der modernen Welt ebenso prägt, wie es die lebensweltliche Orientierung des einzelnen Menschen in einer »Umwälzung der Lebensverhältnisse« zu erschweren scheint.4 Für Joachim Ritter trägt das 20. Jahrhundert, in dessen Mitte er steht, Spannun- gen aus, welche ihm das 19. Jahrhundert in der Folge der Revolution hinterlassen hat. In der Wahrnehmung der nachrevolutionären Epoche habe das 19. Jahrhun- dert nicht zuletzt philosophisch eine Antithetik vorformuliert, die das 20. Jahr- hundert gewissermaßen auf die Spitze treibe: Fortschritt und Untergang wurden gleichermaßen in die Emanzipation von Individuum und Gesellschaft hineinge- lesen, eine Verschärfung beider Bewegungen wurde ebenso gefordert wie auch ihre Umkehrung. Für die Gegenwart, in der dem Menschen nun auch die Mittel zur weitgehenden Auslöschung seiner selbst in die Hand gegeben sind, bedeute dies: »Alles ist offen, Katastrophen und Sicherheit und Wohlstand sind auf eine durchaus unentschiedene Weise gleich möglich; nichts ist gelöst. Diese Antithetik, in unserem Jahrhundert voll sichtbar, hat ihre Wurzeln im Grunde des 19. Jahr- hunderts.«5 Joachim Ritter geht es in seiner Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahr- hundert« um eine zureichende Beschreibung der Situation des Menschen der modernen Welt und seiner Entfremdung, für die er insbesondere auf Hegel 4 Ders., Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« (wie Kap. 1, Anm. 2), 3. 5 Ders., Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« (wie Kap. 1, Anm. 2), 5. 1. Einleitung: Eine melancholische Moderne? 3 zurückgreift.6 Aber – und der Begriff der Entfremdung indiziert es bereits – es handelt sich um einen durchaus melancholischen Begriff von Moderne,7 den Joa- chim Ritter mit T.S. Eliot akzentuiert. Die eigene Zeit und Gegenwart ist von tief- greifenden Spannungen durchzogen: Es gibt vielleicht kein Zeitalter, in dem in Europa die Summe der Untergänge, des Absinkens in die Vergangenheit und der Umwälzung der Lebensverhält- nisse so gross ist wie in diesem. Sie bilden den Grund und den Hintergrund seiner geistigen Probleme, als das unaufhaltsame Versinken religiöser, sitt- licher, ständischer und persönlicher Ordnungen. 8 Dementsprechend erscheint es als sehr zweifelhaft, ob der Mensch noch der zu sein vermag, der zu sein er bestimmt ist. Denn wo sich der Einzelne aus diesen ihn um- fassenden Ordnungen politischer und religiöser Art emanzipiert, die ihn bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch getragen haben, da emanzipiert er sich zugleich von der Substanz, von der Wahrheit, die in diesen Ordnungen zum Ausdruck kam. Seine Freiheit ist daher zunächst auch Entfernung vom Leben aus dem »Sinngrund«, von dem Eliot spricht. Dies macht zwar das »life of significant soil« als solches nicht unmöglich – es wird im Gegenteil, auf Grundlage freier Entscheidung, individuell sogar in besonders qualifizierter Weise möglich. Jedoch stellt dies höchste Ansprü- che: nicht allein »prayer, observance, discipline, thought and action«, sondern es verlangt Umkehr (»reversion«), eine Änderung der geistigen Haltung jedes einzel- nen Menschen. Die moderne, bürgerliche Gesellschaft hingegen, die sich aus den Voraussetzungen der Tradition befreit hat und von ihnen verselbständigt, sich nun gleichsam aus sich selbst heraus begründet, indem sie sich allein an den gegebenen materiellen Bedürfnissen des Menschen und ihrer Befriedigung orientiert, vermag es nicht länger, »die Fülle des Daseins zu deuten und in sich zu halten. Ihr ist nur zugänglich das, was die Dinge gesellschaftlich sind und bedeuten.«9 Etwas anderes ist ihrer von umfassenden ethischen und religiös-weltanschaulichen Orientierun- gen freien Begründung nicht mehr gegenwärtig. Für die Fülle des menschlichen Seins habe diese Moderne keinen Sinn und keine Sprache. Das erkennt Joachim Ritter, und doch gehe es dem Menschen um mehr als das, um das Gute, Wahre und Schöne insbesondere – dies zu bewahren bedürfe es von der modernen Gesellschaft unabhängiger Kräfte, Kräfte der Erinnerung und der Vergegenwärtigung: Das Ethische, das Religiöse, das Ästhetische sind als sie selbst von der Ge- sellschaft aus nicht deutbar. Was Ehe ist, geht in ihren gesellschaftlichen und juristischen Begriff nicht ein. Überall enthält das persönliche Dasein Tiefen, Voraussetzungen, Zusammenhänge, für die die Gesellschaft kein Zeichen 6 Hegel sind die §§ 4–7 der Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« gewidmet (wie Kap. 1, Anm. 2, dort 23–39). 7 Vgl. Jan-Werner Müller, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa, Darmstadt 2007, 128. 8 Ritter, Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« (wie Kap. 1, Anm. 2), 3. 9 Ders., Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« (wie Kap. 1, Anm. 2), 80. 4 1. Einleitung: Eine melancholische Moderne? und keine Sprache anbietet. So bleibt auf dem Boden der Geschichte selbst die bewahrende und fortpflanzende Tradition das einzige Organ, in dem diese aussagbar und deutbar ist. 10 Und daraus folgt als Konsequenz: Niemand vermag den Gang der Weltgeschichte vorauszusehen. Aber die bleibende Wahrheit kann nur gewußt werden, solange die Tradition und die bewahrende Erinnerung der Philosophie in der Geschichte bleibt. Ihre Notwendigkeit ist durch die Geschichte selbst gesetzt. Jemehr [sic!] die Ge- sellschaft den Menschen formen wird, und jemehr die Entfremdung wächst, desto mehr ist die Erinnerung daran, daß das Sein das Haus des Menschen ist (Heidegger), auch die Bedingung für den Einzelnen, die es ihm möglich macht, die seinem Dasein an sich zugehörige Fülle des Reichtums und die Tiefe der Welt zu begreifen und zu bewahren. 11 Man wird Joachim Ritter nicht nachsagen können, dass er zur Zeit dieser Worte eine rundheraus antimoderne Haltung vertreten hätte. Denn zweifellos akzeptiert er die moderne Welt, so wie er sie beschreibt, als unverrückbar gegeben. Aller- dings erhofft er sich wenig von ihr. Die Fortentwicklung der modernen Gesell- schaft bedeutet für ihn ein stetes Ringen um die andauernde Bewussterhaltung einer in der Tiefe der Menschheitsgeschichte, in der Tradition verankerten »blei- bende[n] Wahrheit«. Das ist Aufgabe der Dichtung,12 und nicht minder ist es auch Aufgabe der Philosophie. Es bleibt hier – hinter dem zeitgemäßen Pathos seiner Worte – allerdings einigermaßen undeutlich, worin jene von Ritter dem Dasein des einzelnen Menschen zugemessene, diesem »zugehörige Fülle des Reichtums und die Tiefe der Welt« genau bestehen mag. Jedenfalls aber steht sie inhaltlich im Gegensatz zu ebenjener Moderne, die gesellschaftliche Prozesse in den Bereichen von Technik, Ökonomie und Wissenschaft bürokratisch organisiert und rationali- siert mit dem Ziel einer möglichst optimalen Befriedigung menschlicher Bedürf- nisse. Dieser Funktionalismus markiert das gerade Gegenteil der in der Tradition verbürgten Substanz menschlicher Existenz, des »life of significant soil«; mittel- bare Konsequenz dessen ist nichts anderes als die Entfremdung, deren Früchte Ritter wiederum mit Eliot dystopisch analysiert: And the wind shall say: »Here were decent godless people: Their only monument the asphalt road And a thousand lost golf balls«. 13 10 Ders., Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« (wie Kap. 1, Anm. 2), 80. 11 Ders., Vorlesung »Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« (wie Kap. 1, Anm. 2), 81. 12 Ders., Dichtung und Gedanke. Bemerkungen zur Dichtung T.S. Eliots, zuerst erschienen in: »Arbeit am Aufbau«. Stimmen aus dem Lager 13, Shap Wells, 30. Oktober 1945; sodann wiederab- gedruckt in: Ritter, Subjektivität. Aufsätze, Frankfurt a.M. 1974, 93–104. 13 T.S. Eliot, Choruses from ›The Rock‹, III, 36–38; in Joachim Ritters eigener Übersetzung: »Und der Wind wird sagen: Hier lebten einst ehrsam gottlose Leute: / Ihr einziges Denkmal: die Asphalt- 1. Einleitung: Eine melancholische Moderne? 5 Was von der sich nur mehr funktional verstehenden, gottlosen Kultur der Moderne bleiben wird, sind Asphaltstraßen und verlorene Golfbälle: Es mag irritieren, in diesen kulturpessimistischen Perspektiven jenen Joachim Ritter wiederzuerken- nen, der in den Erinnerungen seiner akademischen Schüler später als Philosoph einer positivierten Entzweiung der bürgerlichen Welt vorgestellt wird,14 der der jungen Bundesrepublik in den 1950er Jahren den Sinn für die Versöhnbarkeit von Tradition und Moderne mitgegeben habe – »Herkunft kann zusammenstehen / mit der Zukunft ohne Krach«15 –, der so schließlich in der jüngeren Forschung gar als Protagonist einer »liberalkonservativen Begründung« der Bundesrepublik auftreten konnte.16 Handelt es sich stattdessen nicht lediglich um eine Reprise für sich genommen keineswegs neuer kulturkritischer Bestände? Untypisch wäre das im Kontext der späten 1940er Jahre nicht.17 Dieser Eindruck aber, der Jürgen Habermas’ späterem Vorwurf durchaus ent- spräche, bei Joachim Ritter liege doch allenfalls eine »halbherzig« akzeptierte Moderne vor,18 täuscht. Er wäre verkürzt. Zugestandenermaßen sind die von Ha- bermas einerseits und die von Ritter ab Mitte der 1950er Jahre sowie später auch von einigen seiner Schüler andererseits verteidigten Konzepte von Moderne nicht deckungsgleich. Dennoch ist es derselbe Autor, der sich im Jahr der Gründung der Bundesrepublik noch so denkbar wenig von der Zukunft erhofft – und dabei politische Institutionen, jedenfalls, was die eigene Gegenwart betrifft, gar nicht erst erwähnt –, der dann durch seine philosophischen Interpretationen zu Aristo- teles und Hegel, durch sein an der Universität Münster über gut zwei Jahrzehnte geleitetes Collegium Philosophicum, durch sein hochschul- und wissenschafts- politisches Engagement in mannigfachen Zusammenhängen sowie schließlich durch das mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmende Großprojekt des Histori- straße / Und tausend verlorene Golfbälle.« Joachim Ritter, Übersetzungen von T.S. Eliot: Gedichte (DLA: Nachlass Ritter), 6; vgl. auch Eliot, Gesammelte Gedichte (wie Kap. 1, Anm. 1), 252. 14 Vgl. Odo Marquard, Positivierte Entzweiung. Joachim Ritters Philosophie der bürgerlichen Welt, in: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Erweiterte Neuaus- gabe, Frankfurt a.M. 2003, 442–456. 15 So mit dem ironisierenden Wortlaut der 1957 anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Colle- gium Philosophicum vorgetragenen »Fundamentalkantate«, deren Text auf Odo Marquard zu- rückgeht: Odo Marquard [u.a.], Fundamentalkantate für Solostimme und Chor mit gemisch- ten Gefühlen zum zehnjährigen Bestehen des Collegium Philosophicum Münster, in: Ulrich Dierse (Hg.), Joachim Ritter zum Gedenken, Mainz/Stuttgart 2004, 175–184, hier 182, URL: http://books.google.de/books?id=pMgnAQAAIAAJ (Zugriff vom 01.12.2015). 16 Vgl. Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundes- republik, Göttingen 2006, URL: http://books.google.de/books?id=cx_DVXvgR4IC (Zugriff vom 01.12.2015). 17 Von der bei Philosophen verschiedenster Orientierungen in den unmittelbaren Nachkriegs- jahren unisono anzutreffenden Kritik an Subjektivismus und Modernismus als den vermeintli- chen geistigen Ursachen des Nationalsozialismus berichtet u.a. Martina Plümacher, Philosophie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1996, insb. 23–30, URL: http://books.google.de/books?id=ApggAQAAMAAJ (Zugriff vom 01.12.2015). 18 Vgl. Jürgen Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und der Bundesrepub- lik, in: Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985, 30–56, hier 40, URL: http://books.google.de/books?id=OMoUAQAAIAAJ (Zugriff vom 01.12.2015). 6 1. Einleitung: Eine melancholische Moderne? schen Wörterbuchs der Philosophie zu einem der wirkungsreichsten Philosophen der Nachkriegsbundesrepublik werden sollte. – Diese Feststellung gilt ungeachtet der Tatsache, dass Joachim Ritter, was seine philosophische Wirkungsgeschichte angeht, bis heute nicht nur im Schatten etwa der Vertreter der kritischen Theorie und ihrer Nachfolger steht, zu deren Antipoden man Ritter und seine Münstera- ner Schüler gerne stilisiert hat, sondern auch dieser Schüler selbst. Autoren wie Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann, aber auch Ernst-Wolf- gang Böckenförde, Günter Rohrmoser oder Martin Kriele haben in je eigener Weise Anregungen Ritters aufgenommen und darauf aufbauend – freilich die Grenzen eines intellektuellen Befruchtungsverhältnisses auch jeweils überschrei- tend – eigene Prominenz im akademischen Bereich und darüber hinaus gewon- nen. Kaum ein Forschungsbeitrag kommt ohne den allfälligen Hinweis auf eine nicht zu vernachlässigende Heterogenität des Kreises um Joachim Ritter aus, des- sen Mitglieder sich hinsichtlich ihrer persönlichen und akademischen Entwick- lungen ebenso deutlich voneinander unterscheiden wie in Bezug auf ihre später vertretenen Positionen; und dies betrifft nicht zuletzt die Frage nach dem Verhält- nis von Religion und Moderne. Odo Marquard etwa redet einer Pluralisierung und Fragmentierung normati- ver Orientierungen in der modernen Welt im Sinne einer polytheistischen politi- schen Theologie das Wort; Robert Spaemann bringt hingegen eine Verwiesenheit derselben liberalen Gesellschaft auf religiöse Wahrheitsansprüche – und deren Wahrheit – wieder ins Spiel, sodass im Zweifel die Anforderungen von Liberalität angesichts einer Vielfalt individueller Lebensentwürfe und religiöser Überzeu- gungen zugunsten der politischen-rechtlichen Verteidigung dieser letzten Wahr- heit zurückstecken müssen. In Anbetracht dessen erscheint das diesen Autoren auf Grundlage gesellschaftspolitischer Konfliktlinien der 1970er und 1980er Jahre zusammenfassend beigesellte Etikett einer (vermeintlich neokonservativ ge- sinnten) ›Ritter-Schule‹ kaum mehr überzeugend. Der Dekonstruktion dieses Homogenitätspostulats wird sich diese Arbeit widmen, zugleich aber die Frage stellen, wie gerade der gemeinsame Bezug dieser so unterschiedlichen Autoren auf Joachim Ritter die Grundlage für ihre inhaltliche Diffusion legen konnte. Denn ein pragmatisches Argument mit Verweis auf den geistesgeschichtlichen Phänomenbestand vermag den komparativen Blick auf die Vorgenannten zu rechtfertigen: Es handelt sich um die schlichte Tatsache, dass es von den 1940er bis hinein in die 1960er Jahre, zeit der Lehrtätigkeit Joachim Ritters an der Uni- versität Münster, jenen differenzierten Kreis des Collegium Philosophicum gab. Diese Gruppe von akademischen Schülern Ritters und mit ihm in anderer, formal loser Weise verbundenen Studenten und Wissenschaftler fand sich regelmäßig zu Diskussionen in seinem philosophischen Oberseminar zusammen, auch weit über die Zeit des jeweiligen Studiums hinaus. Diese Tatsache gewinnt retrospek- tiv dadurch besonderes Gewicht, dass jenseits aller Heterogenitäten und jenseits der ungezwungenen Atmosphäre dieses Kreises Joachim Ritter insoweit inte- grative und gar geistige Biographien prägende Kraft zuwachsen konnte, als sich 1. Einleitung: Eine melancholische Moderne? 7 zahlreiche der Teilnehmenden ihm noch Jahrzehnte später zurechneten und bis heute zurechnen. Die 1949 neu gegründete westdeutsche Bundesrepublik, die sich durch ihr Grundgesetz einerseits fundamental von der vorausgegangenen nationalsozialis- tischen Herrschaft abgrenzen und deren politische und rechtliche Möglichkeits- bedingungen ein für allemal beseitigen wollte, andererseits aber im zeitgeschicht- lichen Kontext zugleich zum Gegenentwurf der unter sowjetischer Hegemonie im Osten Deutschlands errichteten Diktatur einer sozialistischen Einheitspartei wurde, war seit Anbeginn ihres Bestehens Gegenstand vielschichtiger Ausein- andersetzungen um ihre adäquate Selbstdeutung. Das im Grundgesetz als frei- heitliche Demokratie entworfene, doch im Gegensatz zur gescheiterten Wei- marer Republik dezidiert wehrhafte und auf einem für unverrückbar erklärten normativen Fundament gründende Staatswesen bedeutete nicht nur für jene eine Enttäuschung, die sich weitergehende Schritte hin zu einer sozialistischen Gesell- schaft gewünscht hätten. Zugleich begegnete die neue Republik der Ablehnung jener Konservativen, die in Liberalismus und Demokratie eher die Wurzeln des Übels erkannten denn dessen wirksame Therapie, sowie der Skepsis einer nicht zuletzt von den Kirchen getragenen Strömung, die sich – gerade im Kontrast zur NS-Herrschaft – lieber eine dezidiert christliche Gesellschaftsordnung gewünscht hätten. Das Grundgesetz etablierte stattdessen eine die Trennung von Staat und Kirche festschreibende, die Freiheit der Religion formal garantierende Ordnung im Anschluss an die Weimarer Reichsverfassung. Nichtsdestoweniger gewannen beide christlichen Großkirchen im Schatten des nationalsozialistischen Zivilisa- tionsbruchs in erheblichem Maße an gesellschaftlichem und politischem Einfluss, vermittelt auch durch den parteipolitischen Erfolg der überkonfessionell angeleg- ten Christdemokratie. Insbesondere durch die christlichen Gesellschaftskonzepte T.S. Eliots, später dann – allerdings ex negativo – auch durch die Distanzierung von den restaurativen Vorstellungen der Abendlandbewegung schlagen sich letz- tere Debatten auch im Denken Joachim Ritters nieder. Die nähere Untersuchung seiner Schriften und seines Nachlasses wird dies aufzeigen. Wie konnte sich unter diesen Voraussetzungen und angesichts der Belastun- gen durch die eigene Vergangenheit in der Nachkriegszeit in Westdeutschland ein trotz fortbestehender politischer Differenzen im Grunde nicht ernstlich infrage stehender Konsens im Hinblick auf Demokratie und politischen Liberalismus einstellen? In der Tat spiegeln sich entsprechende Prozesse der Ausbildung eines liberalkonservativ die bundesrepublikanische Ordnung affirmierenden Bewusst- seins in der geistigen Entwicklung Joachim Ritters in bemerkenswerter Weise wi- der, im Kontrast zu seiner eingangs bemerkten verfallstheoretischen Kulturkritik. Das Grundinteresse der vorliegenden Arbeit betrifft so zum einen die Position und die intellektuelle Entwicklung Joachim Ritters in den theoretischen Selbstver- sicherungsdebatten seiner Zeit, zumal in der Diskussion um das Verhältnis von Religion und Moderne, wie sie gerad