Ernst Mohr Die Produktion der Konsumgesellschaft Edition transcript | Band 5 Ernst Mohr (Prof. PhD) ist Ordinarius für Volkswirtschaftslehre am Institut für Customer Insight an der Universität St. Gallen (ICI-HSG). Sein Forschungs- schwerpunkt liegt auf den Zusammenhängen zwischen Kultur und Konsum. Publikationen u.a. zum ökonomischen Zusammenspiel von Subkultur und Mainstream sowie zum Geschmack als Leitgröße in der postmodernen Wirt- schaft und im globalen Wettbewerb. Ernst Mohr Die Produktion der Konsumgesellschaft Eine kulturökonomische Grundlegung der feinen Unterschiede Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förde- rung der wissenschaftlichen Forschung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 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Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. wei- tere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Evelin Schultheiß, Kirchwalsede Korrektorat: Florian Kohl, Berlin Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4909-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4909-7 https://doi.org/10.14361/9783839449097 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau- download »Diesmal aber will ich bleiben. Warum soll ich mich entfernen?« Die Wahlverwandtschaften (Johann Wolfgang von Goethe) Hans-Christoph Binswanger (1929-2018) gewidmet Inhalt Vorwort ........................................................................... 13 TEIL 1: KULTUR DER DISSIMILARITÄT Kapitel 1 Das Material ............................................................ 17 Singletons: Piña ................................................................ 17 Null- und Positivmengenkonsum ............................................ 19 Identität, Qualität, Motivation ....................................................... 22 Ketten: Lila, Tizian, Uniform ......................................................... 24 Exkurs in die Natur ...................................................................... 28 Ausblick auf die Sonderbarkeiten der Kultur ...................................... 32 Kulturelle Bäume: Orientteppich, Tracht, archaischer Stil .................... 36 Zur Illusion einer kulturellen Gesamtordnung .................................... 39 Ausblick auf eine bunte Welt ........................................................... 41 Jenseits der Dingwelt.................................................................... 42 Wir und die anderen und wir unter uns............................................ 44 Fluide Gesellschaft ....................................................................... 46 Kapitel 2 Der Stil ............................................................................ 51 Schönheit versus Ästhetik............................................................... 53 Individuell versus gewöhnlich ......................................................... 54 Original versus Mutant .................................................................. 57 Signatur versus Expression............................................................ 58 Repräsentanz versus Exemplifikation ............................................... 59 Was versus Wie ........................................................................... 60 Materiales versus Persönliches ........................................................ 61 Materiales versus Soziales .............................................................. 63 Gesamtsicht................................................................................ 66 Die Mikro- und Makrokomposition des Stils ..................................... 68 Kapitel 3 Nah- und Fernsicht ............................................................. 73 Exkurs: Von der Natur in die Kultur ................................................. 74 Segmentierte Ordnung ................................................................. 83 Vergleichbarkeit .......................................................................... 85 Ornamentik ................................................................................ 86 Diversität auf Vergleichbarkeit ....................................................... 88 Unvergleichbare Ornamentik .......................................................... 91 Unvergleichbarkeit........................................................................ 93 Diversität auf Unvergleichbarkeit ................................................... 94 Take-away: Ontologie der Objektwelt und das Soziale ......................... 97 Psychologie der Nah- und Fernsicht ................................................ 99 Nähe in der kollektivistischen versus individualistischen Gesellschaft ... 101 Nah- und Fernsicht auf den Stil ..................................................... 104 TEIL 2: DER PRODUKTIVE KONSUMENT Kapitel 4 In der Sortierstation der Kultur ............................................. 111 Mustererkennung ........................................................................ 112 Unschärfen ................................................................................. 115 Zuordnung von Objekten zu Stilen .................................................. 117 Similarität von Objekten .............................................................. 120 Clusterung in der Natur ............................................................... 123 Clusterung in der Kultur .............................................................. 125 Stilführerschaft und Innovation .................................................... 128 Repertoire und strukturale Verflüssigung ........................................ 130 Stilistische Viskosität ................................................................... 131 Klassifikation von Menschen .......................................................... 133 Der Nukleus des Sozialen ............................................................. 135 Identifikation und Identität .......................................................... 136 Überdurchschnittstyp und -syndrom und Extremtyp und -syndrom ..... 137 New Age und Leistungskult............................................................ 141 Kapitel 5 Soziales Wollen und kulturelles Können .................................. 145 Nähe präzisiert........................................................................... 147 Dominanzordnungen in der Nähe ................................................... 151 Distanz präzisiert ........................................................................ 155 Stilistischer Kern und Peripherie im sozialen Ganzen ........................ 159 Zielfunktion im Sozialen ............................................................... 161 Psychologie der Zielfunktion ......................................................... 164 Egoismus-/Altruismus-Obsoleszenz............................................... 170 Poststrukturalismus der Zielfunktion .............................................. 173 Klub- und Kollektivgüterproduktion............................................... 176 Restriktionen der Stilgefolgschaft ................................................... 177 Restriktionen der Stilführerschaft.................................................. 178 Kultur als dynamische Institution .................................................. 180 Restriktion Lingua franca ............................................................... 181 Der kulturelle Trade-off ............................................................... 182 Kulturelle (In-)Effizienz ............................................................... 184 Kapitel 6 Kulturelle Selektion .......................................................... 189 Merkmalsinflation ...................................................................... 192 Aufstieg der Antiästhetik .............................................................. 194 Singletons adieu ......................................................................... 196 Phylomanie ............................................................................... 197 Qualitätsinflation ....................................................................... 198 Aktuell für immer ...................................................................... 200 Immer mehr Savants ................................................................... 202 Ausmusterung der Uniform .......................................................... 203 Polytomisierung ......................................................................... 204 Kernbildung .............................................................................. 206 Charisma der Stilführerschaft ....................................................... 207 Kapitel 7 Soziale Evolution ............................................................. 209 Öffnung der geschlossenen Gesellschaft .......................................... 210 Egalisierung von Individualität und Glück ....................................... 210 Destabilisierung von Wahlverwandtschaften .................................... 211 Soziale Zellteilung....................................................................... 213 Gesellschaftliche Strukturierung ................................................... 214 Altes beim Alten – Neues zum Neuen ............................................. 215 Ende der Geschichte .................................................................... 216 Utopie und Verwerfung ............................................................... 218 Buntheit der Welt und das Schweigen der Orthodoxie....................... 220 Buntheit in Natur und Kultur ........................................................ 221 Gen(etik), Mem(etik), (Bio-)Semiotik, Mensch .................................. 227 TEIL 3: STILVOLLE GEGENWART Kapitel 8 Kulturelles Nebeneinander und stilistische Befruchtung ............ 237 Distanztyp und -syndrom – Individualitätstyp und -syndrom ............. 238 Stilistische Formationen .............................................................. 241 Moderne in neuer Heimat ............................................................ 244 Sonderformationen ..................................................................... 246 Verfeinerung und Grenzen ........................................................... 250 Begegnungen ............................................................................. 251 Spirale ins Extreme ..................................................................... 255 Der Innovationskreislauf.............................................................. 256 Cool ......................................................................................... 258 Coolness und Viskosität des Mainstreamstils ................................... 261 Ästhetisches Gefallen und Interesse................................................ 264 Honeckers Erbe .......................................................................... 267 Haben oder Sein ......................................................................... 268 Glücklich mit Stil ........................................................................ 270 Kapitel 9 Identitätsindustrie ........................................................... 273 Industrielle Revolution ................................................................ 274 Einzigartigkeitsmassenproduktion ................................................ 276 Längenverlängerung................................................................... 280 Denkvereinfachung ..................................................................... 281 Massenmarkt und Konsumismuskritik ........................................... 283 Mode ........................................................................................ 284 Dialektik postmoderner Geschäftsmodelle....................................... 285 Die kulturdynamische Zeit ........................................................... 287 Der ökologische Fußabdruck ......................................................... 288 Marken(wert) und Ökologie .......................................................... 293 Kapitel 10 Wertschöpfung des Seins .................................................. 295 Signalling und Zeichentransformation............................................ 297 Semiotik von Sein und Haben ....................................................... 300 Schöpferisches versus konservierendes Signalling............................. 302 Stilistisches Engagement ............................................................. 302 Signaltypologie und Signalkaskade ................................................ 304 Industrieller Transfer und Skalierung .............................................. 315 Markenformationen .................................................................... 316 Kaskadenposition und Markenerosion ............................................ 321 Markenupgrade und stilistisches Scheitern...................................... 324 Die Größe des Mainstreams .......................................................... 325 Kundenkontaktpunktmanagement ................................................ 326 Mittler Marke............................................................................. 327 Signifikat »Marke per se« ............................................................. 328 Das kulturelle Fundament des Wirtschaftens ................................... 329 Literaturverzeichnis ...................................................................... 333 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ................................................ 345 Abbildungen .............................................................................. 345 Tabellen .................................................................................... 346 Stichwortverzeichnis .................................................................... 347 Namensverzeichnis ...................................................................... 365 Vorwort Die Volkswirtschaftslehre macht uns glauben, der Konsum von Mengen stifte uns den Nutzen – mehr von allem sei die Quelle unseres Glücks. Deshalb strebten wir nach immer mehr vom selben und immer mehr von allem Neuen. Und deshalb werden wir in ihr gedacht, als kauften wir, was das Zeug hält, um immer mehr zu haben und immer mehr zu konsumieren, wodurch wir immer zufriedener würden – absolut oder relativ. In keinem ihrer Teilgebiete irrt die Volkswirtschaftslehre mehr als in ihrer Konsumtheorie. Bleibt sie doch im Kern eine Theorie zum Zu- sammenhang zwischen Ding und Mensch (über den Zusammenhang zwischen Mengen und Preisen) und nicht zwischen Mensch und Mensch. Tatsächlich konsumieren wir auch Mengen: so und so viele Kalorien unserer Nahrung, Quadratmeter unserer Wohnstätten – so wie es schon die Menschen in den Sammler- und Jägerökonomien taten, deren Konsum bis heute die Blau- pause für die Volkswirtschaftslehre bleibt. Aber wir ziehen immer weniger Nut- zen aus konsumierten Mengen per se. Der Konsum sozialer Unterschiede – von Distanz und Nähe – stiftet uns stattdessen und immer stärker Nutzen. Wir stre- ben nach mehr vom selben, nur soweit es hilft, soziale Distanz und Nähe zu schaffen – so selten uns dies heute allein damit noch gelingt. Viel wirkungsvoller in unserer Nutzenstiftung ist der Konsum von Qualitäten : »von diesem ja, von je- nem nein!« Dies ist der Ausgangspunkt im vorliegenden Buch. Wir konsumieren, wie gewisse andere gerade nicht konsumieren, und konsu- mieren ungefähr so, wie nochmals andere genau konsumieren. So produzieren wir Distanz und Nähe, Distanz zu den einen und Nähe zu den anderen. Dies ist die Quelle unseres Glücks. Wir setzen Konsumgüter zu unserem Vorteil ein – damit stimme ich mit der volkswirtschaftlichen Orthodoxie überein. Aber wir erreichen unser Ziel nicht dadurch, dass wir Berge davon auftürmen, die wir sodann verspei- sen und anderweitig abbauen, sondern dadurch, dass wir mit ihnen Gräben auf- reißen zwischen Menschen und so Distanz zeigen wie auch Brücken bauen zu an- deren Menschen und so Nähe zu ihnen ausdrücken. Diese Produktionssicht sozialer Distanz und Nähe eröffnet eine Konsumtheorie, deren Kern nicht der Zusammen- 14 Die Produktion der Konsumgesellschaft hang zwischen Ding und Mensch, sondern zwischen Mensch und Mensch ist, eine Sichtweise, die hier erschlossen wird. Wie genau produzieren wir aber Distanz und Nähe mit unserem Konsumie- ren? Nichttriviale Antworten jenseits von »von diesem ja, von jenem nein!« liegen nicht auf der Hand. Die volkswirtschaftliche Orthodoxie schweigt dazu, abgese- hen vielleicht von der Aussage, dass »dieses ja und jenes nein!« davon abhängen würde, welche Güter welche vom Konsumenten gewünschte Information zu an- deren Konsumenten trügen. Was aber die gewünschte Information sein soll, bleibt unbestimmt oder ein kommunikatives Primitivum (wie »reich sein «, das einfach als mit hohen Konsumausgaben kommunizierbar verstanden wird). Die Soziologie reüssiert kaum besser. Dort wird »von diesem ja, von jenem nein!« verstanden als von interpersonell unterschiedlichen monetären und nichtmone- tären (Human-)Kapitalbeständen bestimmt. Diese gelten zwar als Ursache für soziale Distanz und Nähe, aber dazu, wie sie geschaffen werden, hat die Soziolo- gie wenig mehr als eine Tautologie anzubieten: Distanz und Nähe werden durch (die Produktion von) Distanz und Nähe geschaffen. Der Psychologie mangelt es am systematischen Einbezug des Materialen und der Forschung zur Materialkul- tur (»Material Culture« ) am Blick über das Spezielle hinaus. Die Semiotik befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Zeichen, aber umso wortkarger bleibt sie zum Zusammenhang von Distanz und Nähe, die selbst auch Zeichen sind. Und in der Folge bleibt sie auch stumm zum Zusammenhang zwischen Men- schen, die mit ihrem »dieses ja und jenes nein!« näher an die einen und weiter weg von anderen rücken. Diese Lücken ein Stück weit zu schließen ist Ziel der folgenden Ausführungen. Dargelegt wird, wie Distanz und Nähe konsumierend kommuniziert und durch Kommunikation produziert werden. Der hier verfolgte Ansatz kann als ein (material-)kulturökonomischer bezeichnet werden. Die Dingwelt (ergänzt um zu ihr passende Verhaltensweisen) bietet das Material, um zur einen Seite hin interpersonelle Gräben aufreißen und zur anderen Brücken bauen zu können. Die Kultur stellt das (partielle) Ordnungssystem zur Verfügung, das die Triage des »dieses ja und jenes nein!« zu einer kommunikativen Handlung macht, und die Ökonomie spannt den Handlungsraum für Konsumenten auf und hält ihnen die Konsequenzen ihrer Handlungsoptionen vor Augen. Konsum als Konsum von sozialer Distanz und Nähe statt von Gütermengen verstanden, schließt den Kreis von Produktion und Konsum. Aber nicht wie in der volkswirtschaftlichen Orthodoxie in einem selbstreferenziellen ökonomischen System, sondern über die Kultur. Sie ist kein Beiwerk im Wirtschaftskreislauf, sondern dessen Schlüs- selsystem. Teil 1: Kultur der Dissimilarität Kapitel 1 Das Material »Wir sprechen durch unsere Kleidung.« Umberto Eco 1 Singletons: Piña Piña ist ein textiler Stoff, der auf singuläre Weise für die Philippinen steht. 2 In einem komplizierten, zeitraubenden Verfahren werden Fasern aus Ananasblät- tern gewonnen und zu einem luftigen, halbtransparenten, sehr teuren weißli- chen Stoff verwoben. Piña wurde im 19. Jahrhundert von der philippinischen Il- lustrado -Klasse getragen. Illustrados – die Erleuchteten – waren auf den Philippi- nen geborene spanische Mestizen, die ihre höhere Bildung in Europa erhalten hatten und im Fernhandel ihren Wohlstand mehrten. Das Tragen von Piña war ein Synonym für die Beherrschung der spanischen Sprache, für Reichtum, ver- feinerte europäische Manieren und Urbanität. Noch vor der indigenen Bevölke- rung ( Indios) und trotz ihrer engen wirtschaftlichen und kulturellen Verbindung zu Spanien entwickelten die Illustrados die Idee einer von der spanischen Koloni- alherrschaft getrennten, eigenständigen (nationalen) Identität. Piña war die Tex- tilwahl des vermögenden männlichen Filipinos für seinen Barong Tagalog , dem über den Hosen getragenen langärmligen, weiten, bestickten Hemd. Später, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vom spanischen unter den kolonialen Einfluss Amerikas gelangt, zeigte die Elite des Landes den amerika- nischen Geschmack jener Zeit. Der westliche Anzug mit Hemd und Krawatte wurde zur Bekleidung des Manns von Welt und Piña war als Zeichen der spa- nisch-europäischen Vergangenheit passé. Die nationale philippinische Identität 1 Zitiert nach Kidder 2005, S. 345 (meine Übersetzung). 2 Roces 2013. 18 Teil 1: Die Kultur der Dissimilarität migrierte zugleich in tiefere Strata der Gesellschaft und als 1953 nach Erlangen der staatlichen Unabhängigkeit der Mann der Massen, Ramon Magsaysay, die Präsidentschaftswahl gegen seinen amerikanisch ausgerichteten Vorgänger, Manuel Quezon, gewann, stieg Piña durch einen symbolischen Akt des Wahlsie- gers zum Zeichen der neuen Nation auf: Magsaysay gab zu seiner Vereidigung einem Barong Tagalog im sündhaft teuren Piña den Vorzug vor dem westlichen Anzug. Piña wurde so vom Symbol der kultivierten Lebensart über das Symbol der spanisch-europäischen Vergangenheit zum Symbol der nationalen Identi- tät. 3 Seine Herstellungsweise in Kombination mit der Geschichte seiner Verwen- dung macht Piña zu einem Stoff unvergleichlicher Art. Er gehört in der Objekt- welt, in der Obermenge aller Objekte, in die von allen anderen Objekten ge- trennte Klasse von Einzelstücken – Piña ist ein Singleton, ein Objekt ohne ver- gleichbare Verwandte. 4 Im Folgenden wird ein Singleton durch das Symbol ᔀ re- präsentiert. 5 * 3 Heute gehört Piña zu den Filipiniana und ist das romantisierende Symbol einer verfeinerten ur- banen philippinischen Vergangenheit. 4 Ausgehend von Objekten mit gewöhnlich einer Mehrzahl von Merkmalen (Material, Farbe, Schnitt usw.) kann ein Singleton als ein Objekt definiert werden, das mit seinem einzigen Merk- mal (zum Beispiel dem textilen Material Piña ) identisch ist. Damit ist ein Singleton mathema- tisch eine Einermenge, eine Menge mit einem einzigen Element, dem Merkmal, denn die Menge seiner Merkmale ist per Definition (tautologisch) eine Einermenge. Als Singleton definiert, sind damit alle Bekleidungsstücke aus Piña identisch und die Menge aller Objekte dieses Merkmals ist eine Einermenge. Ein anderes Beispiel: Kitsch ist eines von verschiedenen Merkmalen man- cher Gemälde und deshalb gibt es viele unterschiedliche kitschige Bilder, sodass die Menge der kitschigen Bilder eine Vielzahl von Elementen enthält. Als malerische Kategorie »Kitsch« sind aber alle kitschigen Bilder identisch und die Objektmenge dieses Merkmals schrumpft zur Einer- menge. Es wird an diesen Beispielen bereits deutlich, dass im Folgenden die mathematischen Eigenschaften von Mengen von Objekten keine Exogenen sind, an denen sich die kultur- und so- zialwissenschaftliche Analyse wie an Fixpunkten orientieren könnte. Sie sind vielmehr kulturge- machte Variablen. Diese Komplikation wird uns im ganzen Buch immer wieder begegnen. Die Herleitung solcher Eigenschaften von Objektmengen ist im Folgenden die analytische Haupt- aufgabe. Die Verwendung der Mathematik als Sprache ist dabei wissenschaftlich so lange un- problematisch, wie sie als Mittel eines Autors verstanden wird – und der Autor ist die Kultur. 5 In den folgenden mit * gekennzeichneten Fußnoten werden im Haupttext verwendete generi- sche Begriffe und zentrale Zusammenhänge in die mathematische Sprache der Mengenlehre übersetzt. Soweit nicht explizit definiert, folgt die mathematische Notation hier jener in Basili und Vannucci (2013), weil auf diese Quelle in der weiteren Präzisierung der Begriffe Distanz und Das Material 19 Piña zeigt eindrucksvoll die nonverbale kommunikative Kraft von Objekten: Eine aus der Ananaspflanze gewonnene, zu einem textilen Stoff verwobene Faser vermittelt über einen langen Zeitraum Distanz und Nähe. Distanz der Illustrados zu den Indios wie zu den kolonialen Machthabern sowie Nähe untereinander. Piña zeigt exemplarisch für die gesamte Objektwelt zwei größere Zusammen- hänge. Erstens: Ein Objekt schafft nicht nur Distanz oder Nähe, sondern beides zugleich – es wirkt als Trennmittel und Kitt zugleich. Das eine lässt sich kaum vom anderen trennen, fast so als würde Distanz Nähe und Nähe Distanz schaf- fen. Zweitens: Distanz und Nähe wurden mit Piña nicht innerhalb einer Gruppe oder zwischen Gruppen geschaffen, sondern es entstand Distanz zu anderen Gruppen und zugleich Nähe innerhalb einer Gruppe. Die Objektwelt macht so den sozialen Raum sichtbar. Objekte sind soziale Unterscheidungsmerkmale nach außen und zugleich Identifikationsmittel und Identitätsmerkmal innen. Null- und Positivmengenkonsum Piña ist für das Verständnis des Konsumierens exemplarisch. Der Stoff ist als sol- cher zwar ein klassisches Konsumgut, stiftet aber Konsumentennutzen nicht durch positive konsumierte Mengen, ceteris paribus je mehr, desto besser, son- dern durch geordnetes »dieses ja und jenes nein!« mindestens zweier Konsumen- ten, die »was ja und was nein?« jeweils anders beantworten. Zum Verständnis dieser Aussage ist es hilfreich, zwischen Warenkorb und Waren typen korb des Konsumenten zu unterscheiden. Der in der Orthodoxie 6 als nutzenstiftend gedachte Warenkorb enthält positive Mengen eines jeden Güter- typs, den der Konsument nutzenstiftend einsetzt. Nicht konsumierte Güterty- pen sind in ihm nicht enthalten – nach dem bauernschlauen Motto: »Nichts kann auch keinen Nutzen stiften!« Diese Beschränkung der Quellen des Nutzens auf positive Gütermengen ist in der Orthodoxie zusätzlich durch die Irrelevanz von Nullmengen für die Einhaltung der Budgetrestriktion motiviert. Die konsu- mierte Menge null eines Gütertyps, zum Beispiel von Piña durch die spanischen Kolonialherren oder später die »Amerikanisten«, ist budgetneutral, egal wie teuer das Gut auch sein mag – genauso wie der Konsum positiver Mengen von Gütern budgetneutral ist, deren Marktpreis null ist. Einzig auf die Analyse von Knappheiten fokussiert, behandelt die Orthodoxie Güter mit einem positiven Nähe zurückgegriffen wird. Wen diese Grundlegung der späteren formalen Modellierung nicht interessiert, mag die einschlägigen *Fußnoten überspringen. 6 Mit Orthodoxie ist im Folgenden stets die volkswirtschaftliche neoklassische Theorie gemeint.