Anna Wolff-Pow ̨ eska / Piotr Forecki (Hrsg.) Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften GEscHIcHTE ERINNERuNG PoLITIk Posener studien zur Geschichts-, kultur- und Politikwissenschaft Herausgegeben von Anna Wolff-Powe ̨ska und Piotr Forecki Anna Wolff-Pow ̨ eska, Historikerin und Politologin, ist Professorin an der Fakultät für Politische Wissenschaften und Journalismus der Universität Pozna ́ n. Ihre Publikationen umfassen Bereiche der Ideengeschichte und der Erinnerungskultur in den deutsch-polnischen Beziehungen. Piotr Forecki, Politologe, ist an der Fakultät für Politische Wissenschaften und Journalismus der Universität Pozna ́ n tätig. Er ist spezialisiert auf die polnische Erinnerung an die Shoah und die Darstellung der Shoah in den Visualmedien. Dieses Buch ist ein Versuch des Entgegenkommens und der Aufnahme eines Dialogs der Erinnerungen. Es geht dabei um die Menschen, die seit Jahr- hunderten auf polnischem Boden gelebt hatten, die zur Schatzkammer der polnischen Kultur einen gewaltigen Beitrag geleistet hatten und die die deut- sche Besatzungsmacht vernichtet hatte. Es ist eine kritische Abrechnung mit der Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Ende, mit der polnischen Politik gegenüber dem Holocaust und mit der Erinnerung an diesen. Die Autoren vertreten ver- schiedene wissenschaftliche Disziplinen; sie stellen die Evolution der Erin- nerungskultur der Polen dar und führen die Leser durch die Zeit der Existenz der Volksrepublik Polen (1945-1989) sowie des demokratischen Polen seit 1990. In diesem Buch begegnen sich erfahrene Autoren und Vertreter der jungen Generation, die sich mit dem Problem der Schuld, ihrer Verdrängung und der Ausfüllung der weißen Flecken der Geschichte auseinandersetzen und eine eigene Sprache für die Interpretation der Vergangenheit suchen. Sie analysieren die verschiedenen Träger der Erinnerung an die Juden (u. a. Museen, Filme und die schöne Literatur). Das Buch setzt ein Zeichen für eine neue Empfindsamkeit für die Vergangenheit und deren Bedeutung für das Verständnis der Gegenwart. www.peterlang.de Anna Wolff-Pow ̨ eska / Piotr Forecki (Hrsg.) · Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur 2 PET Intern Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur PETER LANG Frankfurt am Main · Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien GEschichTE ERiNNERuNG POLiTik Posener studien zur Geschichts-, kultur- und Politikwissenschaft herausgegeben von Anna Wolff-Powe ̨ska und Piotr Forecki Fakultät der politischen Wissenschaften und des Journalismus der Adam Mickiewicz universität Posen Band 2 PETER LANG internationaler Verlag der Wissenschaften Anna Wolff-Pow ̨ eska / Piotr Forecki (hrsg.) Der holocaust in der polnischen Erinnerungskultur Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: © Olaf Gloeckler, Atelier Platen, Friedberg Die Publikation wurde dank der finanziellen Förderung durch die Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und die Adam-Mickiewicz-Universität in Pozna ́ n ermöglicht. ISSN 2191-3528 ISBN 978-3-631-60787-9 © Anna Wolff-Pow ę ska / Piotr Forecki (Hrsg.), 2012 www.peterlang.de Open Access: Dieses Werk ist lizensiert unter der Creative Commons Lizenz Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0). Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de Inhalt Einführung .......................................................................................................... 7 Anna Wolff-Pow ę ska Polen, Deutsche und Juden. Gemeinsame Geschichte, geteilte Erinnerung...... 9 Erinnerung und Verantwortung ..................................................................... 25 Zygmunt Bauman Categorial murder or: How to remember the Holocaust .............................. 27 Jerzy Jedlicki Das Problem von Schuld und Verantwortung .............................................. 41 Joanna Tokarska-Bakir Jedwabne: History as a Fetish ...................................................................... 50 Micha ł G ł owi ń ski Die Besonderheiten des antisemitischen Diskurses ..................................... 70 Erinnerung und Politik in der Volksrepublik Polen ..................................... 85 Józef Tych Umfang und Quellen des Wissens über den Holocaust in Polen ................. 87 Alina Ca ł a Die Genese des polnischen und des jüdischen Märtyrermythos nach dem Zweiten Weltkrieg ..................................................................... 112 Zofia Wóycicka Zur Internationalität der Gedenkkultur....................................................... 127 Marcin Zaremba Das organisierte Vergessen des Holocaust in der Ära Gierek: Kontinuität und Wandel ............................................................................. 161 Jacek Leociak Die Instrumentalisierung des Holocaust während des Märzdiskurses ....... 175 Die öffentliche Debatte im demokratischen Polen ....................................... 193 Bart ł omiej Krupa Die Intensivierung der Holocaust-Diskussion. Der Streit um Die dunklen Seiten des Aufstands von Micha ł Cichy. ......... 195 6 Annna Wolff-Pow ę ska Piotr Forecki Polens symbolische Eliten und die „Auschwitzlüge“ ................................ 214 El ż bieta Janicka Der Ritualmord nach dem Arierparagraphen. Über das Buch Die Angst von Jan Tomasz Gross ...................................... 236 Literatur, Filme, Museen. Die Repräsentation der Erinnerung ................. 267 Józef Wróbel Blätter der Erinnerung. Die polnisch-jüdische Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg ..................................................................... 269 Przemys ł aw Czapli ń ski Holocaust und Profanierung ....................................................................... 289 Dorota Krawczy ń ska Holocaust-Literatur in den Augen der Literaturwissenschaft .................... 314 Bogumi ł a Kaniewska The Space of Every Day life in the literary representations of the Holocaust ................................................................ 325 S ł awomir Bury ł a Die Prosa Tadeusz Borowskis und der Holocaust...................................... 335 Aleksandra Ubertowska Der Holocaust , eine Verlagerung der Diskurse. Über die Dichtung Adam Zagajewskis ...................................................... 357 Tomasz Ł ysak Das posthume Leben der Nazipropaganda. Dokumentarfilme der Nachkriegszeit über das Warschauer Ghetto ....................................... 375 Ma ł gorzata Pakier Scripting ‘the Jew’ in German and Polish Holocaust Melodrama ............. 391 Anna Zi ę bi ń ska-Witek Die Ästhetik des Todes – Der Holocaust in Museumsausstellungen ......... 405 Autorenverzeichnis..................................................................................... 419 Einführung Die Wende zur Demokratie in Polen bewirkte außer fundamentalen Verände- rungen in allen Lebensbereichen auch eine Demokratisierung und Privatisierung der Erinnerung. Mit der Befreiung von der Zensur begannen öffentliche Debat- ten, die von wissenschaftlicher Literatur, Memoiren und Publizistik ausgelöst wurden. Die Polen, die sich jahrzehntelang auf ihr Kriegstrauma und die Erinne- rung an Heldentum und Leid konzentriert hatten, gingen nun daran, ihre Erinne- rung an ihre früheren jüdischen Nachbarn wiederzubeleben. Eine Reihe von Intellektuellen nahm im Bewusstsein der Verantwortung für die Zukunft die Auseinandersetzung mit den Juden über die gemeinsame Ver- gangenheit auf. Ein Dialog verlangt aber, die Schwelle des eigenen Ich zu über- schreiten, verlangt die Fähigkeit, sich in die Überlegungen der anderen Seite hineinzuversetzen, verlangt eine sachliche Sprache, die Überwindung von Vor- urteilen und die Besiegung des Misstrauens. Das Buch, das wir hiermit in die Hände der Leser legen, ist ein Versuch des Entgegenkommens und der Aufnah- me eines Dialogs der Erinnerungen. Es geht dabei um die Menschen, die seit Jahrhunderten auf polnischem Boden gelebt hatten, die zur Schatzkammer der polnischen Kultur einen gewaltigen Beitrag geleistet hatten und die die deutsche Besatzungsmacht vernichtet hatte. Es ist eine kritische Abrechnung mit der Ge- schichte der polnisch-jüdischen Beziehungen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Ende, mit der polnischen Politik gegenüber dem Holokaust und mit der Erinnerung an diesen. Die Autoren vertreten verschiedene wissenschaft- liche Disziplinen; sie stellen die Evolution der Erinnerungskultur der Polen dar und führen die Leser durch die Zeit der Existenz der Volksrepublik Polen (1945 – 1989) sowie des demokratischen Polen seit 1990. In diesem Buch begegnen sich erfahrene Autoren und Vertreter der jungen Generation, die sich mit dem Problem der Schuld, ihrer Verdrängung und der Ausfüllung der weißen Flecken der Geschichte auseinandersetzen und eine eigene Sprache für die Interpretation der Vergangenheit suchen; sie analysieren die verschiedenen Träger der Erinne- rung an die Juden (u. a. Museen, Filme und die schöne Literatur). Das Buch setzt ein Zeichen für eine neue Empfindsamkeit für die Vergangenheit und deren Bedeutung für das Verständnis der Gegenwart. Polen, Deutsche und Juden. Gemeinsame Geschichte, geteilte Erinnerung Annna Wolff-Pow ę ska Das Wiederaufleben des Interesses für die Erinnerung an die Verbrechen Hitler- Deutschlands hat verschiedene Gründe. Der demokratische Umbruch in Mittel- osteuropa in den Jahren 1989/1990 hat die jahrzehntelang stabile Rollenvertei- lung in Europa durcheinander gebracht. Die Demokratisierung hat auch eine Pluralisierung der Bilder von der Vergangenheit herbeigeführt. Nicht nur die Nationen, auch verschiedene Gruppen von Kriegsveteranen, institutionalisierte Erinnerungszentren und Einzelpersonen verlangen, dass an ihr Schicksal erin- nert wird, konkurrieren um die Vorherrschaft bei der Darstellung der Geschich- te. Sie wollen nicht als „Opfer zweiter Klasse“ angesehen werden. Die vielbe- schworene "Rückkehr der Geschichte" hat sich unter dem Druck der im Laufe der Jahrhunderte angehäuften Konflikte, Gewaltakte und Massenvertreibungen in Europa und auf anderen Kontinenten in der Suche nach Analogien und Bezü- gen zur Gegenwart vollzogen. Die Entwicklung neuer zwischenmenschlicher Kommunikationstechniken bereichert die Kultur der Erinnerung um neue For- men der Kommemoration, was wieder neue Streitfragen aufwirft. Wir leben schließlich in einer Zeit, in der die Maßstäbe der Erinnerung und des Vergessens einer Revision von Grund auf unterliegen. Unzufriedenheit mit den politischen Veränderungen und eine ungewisse Zu- kunft veranlassen viele zum Rückblick in die Vergangenheit. Im früheren Helden- tum und Leid sucht man nach Hebeln für die Stärkung des geschwächten persönli- chen und nationalen Eigenwertes. Nicht ohne Bedeutung sind die Auswirkungen der Globalisierung und die Konkurrenz der Medien, die es leichter machen, die persönlichen Erlebnisse nicht nur auf den öffentlichen Markt zu tragen, sondern sie auch mit dem Schicksal der Verfolgten in anderen Teilen der Welt zu vergleichen. Die wichtigste Antriebskraft für die Beschleunigung der Geschichte jedoch bleibt der Generationenwechsel. Für die unmittelbar am Zweiten Weltkrieg Beteiligten und die Menschen, die auf verschiedene Weise von seinen Auswirkungen erfasst worden waren, hat ein Wettlauf mit der Zeit begonnen. Das menschliche Leid und der eigene Mut drängen nach Mitteilung an die Öffentlichkeit, Schuld möchte ge- rechtfertigt, das erlittene Opfer gewürdigt werden. Jeder möchte der Welt auf seine Weise seine persönliche Wahrheit mitteilen. Die dramatische Schicksalsgemeinschaft der Deutschen, Polen und Juden schafft für diese drei Nationen eine besondere - wenn auch gewiss unterschiedli- che - Verpflichtung zur Erinnerung und zur Verantwortung. Sie ergibt sich aus 10 Annna Wolff-Pow ę ska mehreren Umständen: Juden, das Volk mit der längsten Geschichte und der kür- zesten Existenz eines eigenen Staates, haben seit Jahrhunderten im deutsch- und polnischsprachigen Raum gewohnt und die Kultur dieser beiden Nationen mit geschaffen. Die Schicksalsverflechtung äußert sich im jahrhundertealten jüdi- schen Kulturerbe auf dem Alten Kontinent, ohne das Europa nicht das wäre, was es ist. Der Antijudaismus und der Antisemitismus als Ideen und Ideologien, die im Verlauf des vergangenen Jahrtausends das Bewusstsein der Bewohner unse- res Kontinents umgepflügt haben, stehen im Gegensatz zu den wertvollsten Idealen des Humanismus. In Europa, in dem die christliche Kultur dominiert, hat die Vorstellung von einer angeblichen Bedrohung durch die Juden bei der Bil- dung antijüdischer Stereotype eine fundamentale Rolle gespielt und zur Grund- lage einer Feindschaft geführt. Den schlimmsten Völkermord hat sich das deut- sche Hitler-Reich zuschulden kommen lassen; auf dem Gebiet des besetzten Po- len haben Deutsche die größten Tötungsfabriken für die Juden errichtet. Diese Tatsache verbindet die drei Nationen in einer besonders dramatischen Schick- salsgemeinschaft. Das verpflichtet uns zu außerordentlicher Empfindsamkeit und Reflexion. Die Pflicht zur Erinnerung an den Holocaust ergibt sich aus verschiedenen Umständen, die man stark verkürzt und verallgemeinernd als allgemein mensch- liche, gesellschaftliche und europäische bezeichnen kann. Die Schwierigkeit, das Durchlittene zu beschreiben, die angemessene Form für die Erinnerung und für die Weitergabe an künftige Generationen zu finden, beruht vor allem auf der Tatsache, dass Auschwitz zu einem Symbol für Demütigung und Verletzung der Menschenwürde geworden ist, zum Symbol für Schmach und Empfindungen, die die tiefsten Geheimnisse der menschlichen Psyche berühren, aber gleich- zeitig den wichtigsten Bereich des öffentlichen Lebens betreffen. Stolz als Ge- fühl des eigenen Wertes verbindet sich mit Würde, Ehre und Freiheit. Würde kann man nicht dekretieren, niemandem verleihen oder wegnehmen. Scham ist ihrer innersten Natur nach eher kompliziert. Sie kann sich negativ auswirken, den Menschen paralysieren und unfrei machen; andererseits gibt sie aber auch ein Gefühl der Reinigung, der Befreiung. Sie verbindet sich mit Angst, mit dem Gefühl der Herabsetzung des eigenen Selbstwertes, mit dem Gefühl von Schuld, Demütigung, Vertrauensverlust und öffentlicher Verachtung. Auf der Ebene der Nation haben Stolz und Scham eine sehr komplizierte Natur. Jede Nation möchte nach außen ein positives Bild abgeben. In schwieri- gen Abschnitten der Geschichte ist es ein Leichtes, die Bevölkerung mit einer Vision der Geschichte zu verführen, die eine Kontinuität heldenhaften Verhal- tens suggeriert. Stolz bringen wir gern lautstark und deutlich zum Ausdruck. Dagegen ist es ungemein schwierig, Scham kollektiv zu artikulieren. Dafür steht uns nur ein bescheidenes Arsenal von Mitteln zur Verfügung. Überall auf der Polen, Deutsche und Juden. Gemeinsame Geschichte, geteilte Erinnerung 11 Welt stehen Denkmäler für Siege und nationalen Ruhm - aber welche Nation mag sich an Schande und Niederlage erinnern? Es ist nicht leicht, in der Ge- schichte der Nationen Beispiele für kollektive Erinnerung an eigene Schande zu finden. Wenn in Deutschland an die Kristallnacht erinnert worden ist, an die Be- freiung von Auschwitz und anderen Lagern oder in Polen an den Judenpogrom in Jedwabne, um nur einige Beispiele zu nennen, haben sich hauptsächlich offi- zielle Gäste versammelt, die im Namen der Deutschen beziehungsweise der Po- len ihr Bedauern öffentlich zum Ausdruck gebracht haben. Nationale Schande äußern wir schamhaft zur Seite hin, ohne Jupiterlampen. Die Hitler-Diktatur nahm dem einzelnen seine Würde, verwies die Men- schen der verstoßenen Rasse aus der menschlichen Gesellschaft. Die Brandmar- kung traf den Menschen in seinem Stolz. Der deutsche Philologe Viktor Klem- perer, der der Vernichtung dank seiner nichtjüdischen Ehefrau entging, fragte sich, welcher Tag in den zwölf Jahren der Nazihölle für ihn wohl der schwerste gewesen sei und welche Instrumente der Diskriminierung seine Menschenwürde am meisten verletzt hätten. Er kam zu dem Ergebnis: "Nie habe ich von mir, nie von anderen eine andere Antwort erhalten als diese: der 19. September 1941. Von da an war der Judenstern zu tragen, der sechszackige Davidsstern, der Lap- pen in der gelben Farbe, die heute noch Pest und Quarantäne bedeutet und die im Mittelalter die Kennfarbe der Juden war, die Farbe des Neides und der ins Blut getretenen Galle, die Farbe des zu meidenden Bösen; der gelbe Lappen mit dem schwarzen Aufdruck: »Jude«” 1 Das Gefühl des Stolzes und der Würde half, das Gesicht zu wahren, gab Kraft unter extremen Bedingungen. Die SS-Leute in den Lagern behandelten die frommen Juden mit besonderer Grausamkeit; denn sie spürten instinktiv, dass dieser kleine, glattrasierte Jude in seiner Blöße stärker war als die Repräsen- tanten des Übermenschen. Jean Amery kam zu dem Ergebnis, dass der Glaube den Juden eine unschätzbare Hilfe gewesen sei. Zitat: "Die Juden mochten kämpferische Marxisten sein oder der Sekte der ernsten Bibelforscher an- gehören, praktizierende Katholiken, gebildete Ökonomen oder Theologen oder einfache Arbeiter oder Bauern -, ihr Glaube oder ihre Ideologie gab ihnen einen starken Halt (...) Sie hielten besser durch und starben mit mehr Würde als ihre unendlich besser gebildeten und im Denken geübten ungläubigen, unpolitischen und intellektuellen Genossen." 2 In einer Zeit, in der die individuellen Werte unter den Druck kollektiver Ideologien gerieten, die den Menschen ihre Würde nahmen, hatte der einzelne 1 V. Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen , Berlin 1947, s. 176. 2 J. Amery, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten , München 1966, S. 27. 12 Annna Wolff-Pow ę ska geringe Chancen zu überleben, ohne, selbst gegen seinen Willen, Kompromisse einzugehen. Wenn die menschlichen Grundwerte auf die Probe gestellt werden und der Mensch weder durch angesammelten Reichtum noch durch seine Her- kunft oder die von ihm erreichte berufliche Position geschützt wird, bleibt ihm nur das Alleinsein mit seinem eigenen Gewissen und, wie Etty Hillesum sagte, "das letzte Hemd des Menschseins", sein Stolz. Wenn man ihm auch diesen nimmt, bleibt nur noch Nacktheit und Schmach. Wenn der Stolz weg ist, sind wir allein der Macht unserer Natur überlassen. Auf die Frage, worauf die Nationen stolz sind, denkt die Mehrheit der Be- fragten in der Regel an ihre nächste Umgebung, an ihre engere Heimat. Die Be- fragungen bestätigen die Auffassung, dass es nicht viele Gruppen gibt, die stolz sind auf ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität. Dagegen gibt es keine Nation, die nicht auf ihre eigene Geschichte stolz sein möchte. Der Drang nach Ruhm und Sieg, nach Kontinuität ihrer positiven Geschichte, lebt in jeder Nation. Unsere Helden und unsere Opfer sollen uns ein Gefühl der Zugehörig- keit zu einer Gemeinschaft vermitteln, auf die wir stolz sind. In der andauernden Diskussion über die Erinnerungskultur kommen immer wieder auch Zweifel und die Frage auf, wie man die Erinnerung gestalten sollte, um den Opfern ihre Würde zurückzugeben, diese den anderen aber nicht zu nehmen. Denn das Gefühl etwas wert zu sein, ist der Kern jeder Persönlichkeit. Karl Bruno Leder hat treffend festgestellt (Rückübersetzung aus dem Po- lnischen): "Zur Wahrung des eigenen Wertes - und nur dazu - lebt der Mensch; dafür arbeitet er, müht sich ab, leidet und kämpft - und wenn es unvermeidlich ist, stirbt er dafür. ... Demütigt ihr ein Volk, so weckt ihr in ihm einen kämpferi- schen Nationalismus, dem kein Preis zu hoch ist, das Gefühl der eigenen Würde, der 'nationalen Würde' oder etwas Ähnlichen mit vielleicht etwas weniger an- spruchsvoller Bezeichnung, zurückzugewinnen. Versprecht einem Volk, sein eigenes Wertbewusstsein in übermenschliche, himmlische Höhen zu heben, so könnt ihr von ihm immer übermenschliche Taten und übermenschliches Leiden verlangen ... Das Hauptmotiv aller Befreiungsbewegungen ist die Suche nach Anerkennung für sich selbst, nach Selbstbewusstsein und dem Gefühl eines ei- genen Wertes." 3 Die Menschheit kennt nicht die Kategorie der historischen Dankbarkeit. Das Gefühl der Verantwortung für die Zukunft verpflichtet jedoch, in der nationalen wie in der europäischen Schatzkammer das jüdische kulturelle Erbe zu bewah- ren. Denn die Juden haben zum kulturellen Reichtum Europas einen wirklich unschätzbaren Beitrag geleistet. Die deutsche Kultur verdankt den Juden beson- 3 K. B. Leder, Nie wieder Krieg? Über die Friedensfähigkeit des Menschen , München 1982, S. 97,70. Polen, Deutsche und Juden. Gemeinsame Geschichte, geteilte Erinnerung 13 ders viel. Bis 1933 haben Juden jeden dritten Nobelpreis für Deutsche errungen, im Fach Medizin sogar jeden zweiten. Im Gegensatz zu den Juden in Polen, die ihre Eigenart weitgehend bewahrt hatten, haben sich die deutschen Juden voll- kommen mit ihrem Gastland identifiziert. Deutschland gehörte zu den Staaten, die in bezug auf den Bildungsstand und die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit weltweit den höchsten Standard erreicht hatten. Die gebildeten Juden fühlten sich dort sicher. Sie teilten mit den Deutschen die Verehrung der Wissenschaft, rühmten die deutsche Kultur und schätzten die Werte, die von den Deutschen gepflegt wurden. Hier fanden sie wirklich dank der Aufklärung und ihrer Eman- zipation die besten Bedingungen für die Ausbildung ihrer Fähigkeiten. Die Ju- den beteiligten sich uneingeschränkt an der Hebung der Größe des deutschen Staates. Sie hatten das Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem Staate aufgrund der Ideen des Rechtsstaates und der Gleichberechtigung. Als im Dritten Reich die Judenverfolgungen in großem Stil einsetzten, brachte der Religionsphilosoph Franz Rosenzweig das jüdische Dilemma zum Ausdruck: "Mein Judentum hat mich nicht zu einem schlechteren, sondern zu einem besseren Deutschen ge- macht... Unsere Leistung wird uns von den Deutschen zuerkannt und geschätzt werden - spätestens nach unserem Tode. Aber wir werden sie so lange erbrin- gen, wie wir das für die Deutschen tun können ... Was mich angeht, so fürchte ich nicht, dass ich durch das Singen hebräischer Lieder oder durch den Verzicht auf Schweinefleisch mein Deutschtum verliere ... Wenn das Leben mich jedoch zum Leiden verurteilen und mich in zwei Teile zerreißen sollte, so wüsste ich natürlich, auf welcher Seite sich mein Herz befände, und ich wüsste auch, dass ich eine solche Operation nicht überlebte." 4 Für die Juden in aller Welt war es so gut wie selbstverständlich, dass Deutschland nach der Katastrophe ein Land sein werde, in dem kein Jude mehr zu leben wagte. Man erinnerte sich, dass nach der großen Judenvertreibung aus Spanien im Jahre 1492 400 Jahre vergehen mussten, bevor sich Juden wieder auf spanischem Boden niederließen. Man meinte, nach Auschwitz könnten jüdi- sche Gemeinden in Deutschland nur etwas Widernatürliches sein. Robert Weltsch schrieb 1946: "Wir können nicht annehmen, dass sich noch einmal Ju- den finden werden, die sich nach Deutschland begeben wollen. Hier den Geruch der Leichen, der Gaskammern und der Folterzellen einzuatmen ... Deutschland ist kein Boden mehr für Juden." Der Rabbiner Leo Baeck stellte nach seiner Be- freiung aus dem Lager Theresienstadt 1945 fest: "Für uns Juden aus Deutsch- land ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wann immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe ge- tragen werden muss. Unser Glaube war es, dass deutscher und jüdischer Geist 4 F. Rosenzweig, Briefe , hrsg. von E. Rosenzweig, Berlin 1995, S. 474. 14 Annna Wolff-Pow ę ska auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen wer- den könnten. Dies war eine Illusion - die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei." 5 Die Verdrängung der Erinnerung an den Völkermord an den Juden im Nachkriegsdeutschland und die Verwischung der Spuren der Juden auf polni- schem Boden nach 1945 hatten verschiedene Ursachen und Beweggründe, die an dieser Stelle nicht im einzelnen erörtert werden können. Die Schwierigkeiten des Umgangs mit der Vergangenheit der Beziehungen zwischen Polen und Ju- den gehen auf tiefe Gegensätze und Spannungen zurück, die aus der den Polen auferlegten Ideologie, der Abreagierung eigener Verwicklung und aus Gleich- gültigkeit hervorgegangen sind. Beispiele für die Manipulation mit den Jahresta- gen des Aufstandes im Warschauer Ghetto und der Befreiung des Vernichtungs- lagers Auschwitz-Birkenau zu aktuellen politischen Zwecken durch die Behör- den der Volksrepublik Polen liefert die Geschichte der ersten Nachkriegsjahre. In feierlichen Veranstaltungen wurde vor allem die Gemeinschaft des Schicksals der Polen und der Juden hervorgehoben sowie die "geistige Überein- stimmung des polnischen Bauern mit dem jüdischen Partisanen". In den alljähr- lichen Gedenkreden wurde der Klassencharakter des Arbeiteraufstandes im Warschauer Ghetto unterstrichen. Als Repräsentant der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei gedachte Zenon Kliszko während einer Feierstunde in Warschau "der jüdischen Arbeiter, die die Arbeitermassen organisierten". 6 In vielen Reden ging es nicht so sehr um die Heldentaten der Juden als um die Brandmarkung der Feinde der Volksrepublik Polen: "Den Kerlen vom NSZ und von der AK führten sie ihre Todesverachtung vor Augen, indem sie in aussichtsloser Unter- legenheit den Kampf aufnahmen." Für die Erinnerung an die Juden in der Volksrepublik Polen lässt sich schwer ein gemeinsamer Nenner finden. Denn wie sollte man die Erinnerung an die Polen und die Juden, die den Krieg unter ganz verschiedenen Umständen überlebt hatten, miteinander vereinbaren: die Erinnerung an die polnischen Op- fer der Hitlerschen Okkupation, die mit den Verteidigern des Ghettos zusam- mengearbeitet hatten, mit der Erinnerung an die Denunzianten - die Erinnerung an die Verachtung mit der Erinnerung an das Mitgefühl? Was ergibt sich aus dem Zusammenprall der Erinnerung und der Nichterinnerung? Die Konzentrati- on der Aufmerksamkeit auf die genannten beiden Punkte in den ersten Nach- kriegsjahrzehnten führte zu einer Institutionalisierung des Gedenkens in Form 5 Nach T. Gidal, Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik , Gütersloh 1988, S.426. 6 B. Szaynok, Konteksty polityczne obchodów powstania w Getcie Warszawskim w latach 40. i w pierwszej po ł owie lat 50 . "Kwartalnik Historii Ż ydów" marzec 2004, nr 2, S. 206. Polen, Deutsche und Juden. Gemeinsame Geschichte, geteilte Erinnerung 15 des Denkmals für die Ghetto-Helden in Warschau im Jahre 1948 und des Staat- lichen Museums in Auschwitz 1947. Die Zentralisierung und das Parteimonopol für das Gedenken an den Holocaust begünstigten eine Polonisierung der jüdi- schen Erfahrungen, vor allem im Ghetto-Aufstand. Auf Beschluss des Sekretari- ats des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei wurde 1947 eine Instruktion verfasst unter dem Titel "Die Arbeit und die Aufgaben der Par- tei gegenüber der jüdischen Bevölkerung", in der bestimmt wurde, dass die Ge- schichte der Juden in marxistischem Geiste zu behandeln sei mit besonderer Be- rücksichtigung des Anteils der Juden am Befreiungskampf des polnischen Vol- kes. Das damit geschaffene Bild der Erinnerung an die Judenvernichtung ging auf das Drama der Juden nur minimal ein. Sein Auftrag war nicht, die Juden als Hauptopfer des Hitler-Regimes darzustellen, sondern die eigenen polnischen Opfer hervorzuheben. Als es so weit gekommen war, dass die überlebenden Opfer des Holocaust redeten und andere Nationen ihnen zuhören wollten, ergab sich das Problem, wie man mit Worten der Welt das erklären sollte, was sich einfach nicht fassen ließ, wie man die Vorstellung durch das Unvorstellbare anregen, wie man mit dem Verstand das Unverständliche ausdrücken sollte. Wie sollte man das un- terschiedliche ästhetische, moralische, ethische und religiöse Empfinden be- dienen? Jonathan Weber sagt dazu: "Auschwitz ist kein Museum, obwohl es dafür durchaus die Voraussetzungen aufbrächte. Es ist auch kein Touri- smusziel, obwohl es von Massen von Menschen besucht wird. Es ist alles in einem ... Es gibt in unserer Sprache keinen Begriff, der Auschwitz voll abdec- ken könnte." Es taten sich Gegensätze auf zwischen der individuellen Erinne- rung und dem allgemeinen Bild, auch bei der Kommunikation zwischen den Generationen, zwischen den Deutschen der neuen und denen der alten Bundes- länder, zwischen Polen und Deutschen, Deutschen und Juden, Juden und Po- len, schließlich Unterschiede in der Erinnerungskultur im Rahmen der eigenen nationalen Erinnerung. Jede Geschichte ist eine besondere. Wenn auch jede einzelne Stimme er- kennbar ist, so bleibt doch für die Leser der beschriebenen Erlebnisse der aus dem Lager Geretteten auch nach Jahren nur der allgemeine Eindruck des Echos von Schmerz und Empörung. Die von ihren Eltern getrennten jüdischen Kin- der, die sich im späteren Leben nie recht zu Hause fühlten, blieben, wie Irit Amiel schreibt, gezeichnet für ihr ganzes Leben. Wie soll man aber die Tatsa- che dieses unabwaschbaren Gezeichnetseins beschreiben? Das literarische Zeugnis, das seine Existenz denen verdankt, die überlebt haben, ist in stetem Konflikt mit seinen Ausdrucksweisen, auf der Suche nach einer geeigneten Form der Vermittlung. Der Warschauer Historiker Dr. Ignacy Schipper, der später in Majdanek ums Leben kam, sprach im Lager mit Aleksander Donat. 16 Annna Wolff-Pow ę ska Die von ihm überlieferten Worte zeigen das ganze Drama der literarischen Überlieferung. Denn alles hängt doch davon ab, wer die erlebte Geschichte be- schreibt: ein Sieger oder ein Verlierer. Wenn Juden die Überlieferer dieser "Geschichte von Blut und Tränen sind, wer wird uns dann glauben? Dann er- wartet uns die undankbare Aufgabe, der Welt beweisen zu müssen, dass wir Abel, der ermordete Bruder, sind." Die Erinnerung muss man pflegen nicht nur, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, sondern vor allem als eine große Gelegenheit für die Frage nach den Wurzeln des Bösen und nach den Möglichkeiten rechtzeitiger Vorwarnung vor allen Tsunamen der Zivilisation. Die Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen ist ein Prozess ohne Ende; denn auf existenzielle Fragen gibt es keine fertigen Antworten. "Wer die absolute Gerechtigkeit sucht, sucht nicht das Le- ben, sondern den Tod", sagt Amos Oz in seinem Essayband "Czarownik swoje- go plemienia". Deswegen ist es so schwer Agnes Heller zuzustimmen, für die nur aus unüberbrückbarem Schmerz Erinnerung wächst: "Ohne Buße gibt es keine Erinnerung." Sollten wirklich alle verarbeiteten Formen der Erinnerung nichts zum Wissen über uns selbst beitragen? Solange der Mensch lebt, braucht er einen Sinn, und er wird nie aufhören danach zu suchen. Wenn man also die Erinnerung an den Holocaust aus dem Gefängnis des Nichts befreien will, müs- sen die Erinnerung an das Böse von der Erinnerung an das Gute und der Schmerz der Sinnlosigkeit von der Gewissheit begleitet werden, dass die menschliche Existenz einen Sinn hat - mit allem, was dazugehört. 7 Den Schmerz der Erinnerung an den Holocaust kann man interpretieren als den Schmerz über das verletzte Gute. Das Gute lässt sich leichter erklären; das Böse bleibt unver- ständlich. Man kann es weder definieren noch erklären. In der jüdischen Debatte über die Rolle des Holocaust bei der Ausbildung einer kollektiven Identität und der Legitimierung der israelischen Staatlichkeit stehen einander verschiedene Optionen gegenüber. Im Laufe der Zeit scheint sich eine Akzeptanz der Auffassung des zeitgenössischen jüdischen Denkers Michael Wyschogrod durchgesetzt zu haben, der argumentiert, die Erinnerung an die Shoah dürfe nicht den wichtigsten Platz im jüdischen Bewusstsein ein- nehmen. "Wenn der Holocaust aufhörte, ein peripheres Phänomen für den Glauben Israels zu sein, wenn er zum höchsten Heiligtum aufstiege und zu der dominierenden Stimme würde, auf die Israel hört, dann wäre das nichts ande- res als die durch ihn vernommene dämonische Stimme ... Wenn sich nach dem Holocaust die Hoffnung erhalten hat, so deswegen, weil durch ihn die Stimmen der Propheten deutlicher hervordringen als die Stimme Hitlers und weil die 7 Siehe die Diskussion von K. Dorosz mit A. Heller, Pami ęć ż ycia, pami ęć ś mierci, in: Przegl ą d Polityczny 52/53 von 2001, S. 28 - 33. Polen, Deutsche und Juden. Gemeinsame Geschichte, geteilte Erinnerung 17 Verheißung Gottes über das Krematorium hinaus gilt und die Stimme von Au- schwitz erstickt." 8 Dieses Leuchten des Lichtes in der Finsternis, das Lob des Lebens und sei- nes Sinnes ergibt sich einfach aus dem menschlichen Bedürfnis nach Hoffnung. Die Shoah wird nicht nur auf der jüdisch-deutschen Ebene behandelt, sondern auch im Hinblick auf den Menschen und auf Gott. Die Hitleristen verfolgten auch das Volk des Glaubens. "Der Verlust der Wahrheit bei den einen", stellt Elie Wiesel fest, "bedeutete für andere die Entdeckung Gottes. Das ergab sich aus demselben Bedürfnis, Stellung zu beziehen, aus demselben Ausbruch des Widerstandes. In beiden Fällen handelte es sich um eine Anklage. Denn irgend- wann kann man vielleicht erklären, auf welche Weise Auschwitz von seiten der Menschen möglich wurde; aber in bezug auf Gott wird es weiterhin ein beunru- higendes Geheimnis bleiben." Eine gute Erinnerung gebiert Hoffnung; eine Erinnerung, die bedrückt, weckt nur Angst. Die Shoah kann man als ein Symbol des letzten, universalen Bösen betrachten. Die Erinnerung an sie kann jedoch die Erinnerung an die schlimmen Erfahrungen anderer nicht ausschließen. Angesichts der zunehmen- den Konflikte und ihrer Opfer kann man heute denen recht geben, die fordern, dass man den Holocaust als eine ethische Lehre für die ganze Menschheit be- handeln sollte. Der Sinn der Geschichte wird aus dem Vergleich deutlich. Des- wegen nimmt es nichts von der Außerordentlichkeit des Holocaust, wenn man Auschwitz zum Bezugspunkt für die Leiden anderer ethnischer und nationaler Gruppen nimmt. Die Ausgliederung des Leidens der Juden und seine Erhebung auf den Altar des Außerordentlichen würde nur neue Grenzzäune zwischen den Erfahrungen der Völker aufrichten. An die Verantwortung der Menschen zu er- innern ohne eine manichäische Teilung der Welt in die Abels und die Kains ist der einzige Ausgangspunkt außer einem ethnischen und nationalen Monolog über das menschliche Drama. Die Vereinigung Deutschlands, die Demokratisierung Polens und die Erwei- terung der Europäischen Union sind neue Umstände, die zu der Frage Anlass geben, ob das Zusammentreffen des Osten mit dem europäischen Westen mit einer Vertiefung des Wissens über die beiderseitigen historischen Erfahrungen Früchte getragen hat. Die Praxis der vergangenen Jahre lehrt, dass dieser Pro- zess auf verschiedene Hindernisse stößt. Meinungsverschiedenheiten über die Deutung und Interpretation der Geschichte zeigen sich überall dort, wo Unter- schiede im Selbstverständnis und in der Definition der Gruppen auftreten. Die Konkurrenz der Bilder von der Geschichte der einzelnen Gruppen, Na- tionen, Religionen und Regionen dauert an. Die Integration der Institutionen be- 8 Nach J. Sachs, Cienista dolina. Holocaust w kontekscie judaizmu, Znak, August 1997, S. 18. 18 Annna Wolff-Pow ę ska deutet noch lange nicht eine Vereinheitlichung der historischen Erinnerung. So könnte man etwa den Eindruck gewinnen, dass alle Täter seit langem ver- schwunden und nur noch Opfer übrig geblieben seien. Wir leben in einer Zeit, da sich tagtäglich neue Gruppierungen in die internationale Gemeinschaft der Opfer einreihen. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich die Konfrontation der Erinnerungen zwischen Deutschen und Polen. Während die Polen vor den Augen der Welt auf einer Welle der Demokratisierung ihre eigene Verwicklung in Verbrechen an Juden und Deutschen (Jedwabne und die Pogrome gegen deutsche Zivilbe- völkerung) enthüllen, die sie lange aus Scham verschwiegen oder unter dem Panzer der Ideologie und der kommunistischen Diktatur mit ihrem Monopol auf Erinnerung verhüllt hatten, konzentrieren sich die Deutschen auf die Schlussakkorde des Krieges. Die Betonung der moralisch-ethischen Dimension des Krieges und die Flut von Publikationen über die Bombardierung deutscher Städte, über Gewalttaten von Rotarmisten, vor allem aber über die Zwangsaus- siedlung der Deutschen - alles das zielt darauf ab, die Welt daran zu erinnern, dass die Deutschen auch Opfer Hitlers gewesen seien. Das alles würde wenig Resonanz finden, wäre da nicht der Umstand, dass die letztgenannten Fakten meist absichtlich ohne Berücksichtigung der Quellen des Übels behandelt wer- den. Sie vertauschen Ursache und Wirkung und dienen als Instrument für in- nenpolitische Profilierung. Die Ungleichzeitigkeit der Erinnerung führt zur Formulierung falscher Schlussfolgerungen. Das Schuldeingeständnis an dem Verbrechen von Jed- wabne hat bei einigen in Deutschland und in Westeuropa zur Bekräftigung der These vom polnischen Antisemitismus beigetragen. Mangelnde Kenntnis des Wesens der Okkupation in Osteuropa bei Deutschen und anderen Westeuropä- ern begünstigt eine Relativierung der Hitler-Verbrechen in Polen und eine Verbreitung der Meinung, ganz Polen verdiene die ursprünglich auf die Be- wohner von Jedwabne gemünzte Einschätzung als barbarische "Nachbarn". Die falsche Botschaft wurde in die Welt getragen. Das über Jahrzehnte zusammen- getragene Wissen lässt keinen Zweifel an der Tatsache zu, dass die Hitlerschen Behörden bei ihrem verbrecherischen Vorgehen in allen besetzten Ländern Helfershelfer gefunden haben, was allerdings keine Entlastung der Deutschen von ihrer Verantwortung bedeutet. An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert hat sich gezeigt, dass weder der wissenschaftliche Erkenntnisstand noch Wissen und moralische Empfindsamkeit eine ausreichende Gewähr dafür abgeben, dass wir der Versuchung des Ver- drängens, der Manipulation des Gedächtnisses und der Flucht vor der Verant- wortung entgehen können. Es fällt uns auch schwer, uns mit objektiven Prozes- sen und Phänomenen anzufreunden, die man nicht beliebig steuern kann. Alle