Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Christopher Dell, Holger Schmidhuber (Hg.) Improvisation und Organisation Kultur und soziale Praxis Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Christopher Dell, Holger Schmidhuber (Hg.) Improvisation und Organisation Muster zur Innovation sozialer Systeme Teile dieser Publikation basieren auf Ergebnissen des Forschungsverbundpro- jekts MICC (FKZ 01FM08040-4) aus dem BMBF-Forschungsschwerpunkt ›In- novationsstrategien jenseits traditionellen Managements‹. Die Publikation wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), des Europäischen Sozialfonds (ESF) der Europäischen Union und der Fuenfwerken Design AG gefördert. Erschienen im transcript Verlag 2017 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bear- beitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Me- dium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative Commons Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfor- dert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Christopher Dell, Holger Schmidhu- ber (Hg.) Umschlaggestaltung: Urheber: Fuenfwerken Design AG, © Fuenfwerken Design AG, Wiesbaden 2015 Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2611-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2611-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@transcript-verlag.de Inhalt Vorwort Wolfgang Stark | 9 T eil 1 T heoreTische und konzepTionelle z ugänge Innovationsmuster und Improvisation in Organisationen Musikalische Muster als Schlüssel für innovative Prozesse Wolfgang Stark | 17 Organisation musikalisch denken Christopher Dell | 31 Reflexivität und Kreativität Konträre Quellen kompetenter Improvisation Manfred Moldaschl | 47 Improvisation durch objektivierendes und subjektivierendes Handeln Fritz Böhle | 73 Rhythm, Time and Improvisation Pedro Teixeira Santos and Miguel Pina e Cunha | 93 Organisationskultur revisited Sechs transdisziplinäre Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst beim Versuch, das Ungenannte und Unerwartete in Organisationen zu erfassen Wolfgang Stark und Christopher Dell | 109 Technologie der Improvisation Christopher Dell | 131 From a Pattern Language to a Field of Centers and Beyond Patterns and Centers, Innovation, Improvisation, and Creativity Hajo Neis | 143 The Shape of Tacitness to Come Erweiterte Zugänge zum Impliziten in Organisationen durch musikalisches Denken David Vossebrecher | 167 Ein Muster für die Zukunft Vom künstlerischen Denken in außerkünstlerischen Feldern Ursula Bertram | 193 T eil 2 F orschung , A nwendung und p rAxis Organisationspartituren Die implizite Dimension des Organisierens erforschen David Vossebrecher | 207 Phoenix aus der Asche Muster industrieller Transformation auf Zollverein Oliver Bluszcz, Anne Suchalla und Katrin Heymann | 225 Innovation und kreatives Denken als Produkt Organisationskultur als Managementinstrument in Designprozessen David Vossebrecher und Thorsten Kamin | 253 Musik und Markenentwicklung Holger Schmidhuber und Rolf Mehnert | 291 Organisationspatterns entdecken und in der Praxis nutzen Monika Bobzien | 307 Eine Mustersprache für die Didaktik Service Learning Patterns auf Grundlage der Mustertheorie Jörg Miller und Nadine Ruda | 325 Wenn das die Lösung ist, will ich mein Problem zurück Angewandte Improvisation als Werkzeug für resiliente Führung Gabriele Amann und Martin Ciesielski | 341 Silence, Patterns, Structures Music and Improvisation within the Context of Organisational Praxis Michael Spencer | 355 Erfolgsmuster, künstlerische Zugänge und Improvisation – ein Glossar Wolfgang Stark, Christopher Dell, Holger Schmidhuber | 379 Die AutorInnen | 389 Vorwort Wolfgang Stark Finanzkrise, Klimawandel, Flüchtlingskrise, globales Management, innovative Arbeits- und Technikgestaltung – bereits heute merken wir, dass formalisierte Arbeitsabläufe und geronnene Organisations-Strukturen oft nicht mehr hilfreich sind, um komplexe und dynamische Umwelten aktiv gestalten zu können. Er- folgreichen Organisationen und gesellschaftlichen Strukturen gelingt es, flexibel, kreativ und oft überraschend innovativ auf Herausforderungen zu reagieren, die häufig nicht vorhersehbar und unübersichtlich sind. Unternehmen, non-profit- Organisationen, Bildungs- und andere öffentliche Einrichtungen, aber auch die gesellschaftlichen Strukturen insgesamt, müssen sich in komplexer werdenden Umwelten orientieren und entsprechende Organisationskulturen gestalten. Der Umgang mit Ungewissheit ist trotz aller Bemühungen des Qualitäts- und Prozessmanagements eine alltägliche Herausforderung für Organisationen. Ge- plante Strategien und Abläufe – das wissen alle in der Praxis Tätigen – reichen dafür bei weitem nicht aus. Deshalb entwickeln Menschen in Organisationen im Laufe der Zeit ein Repertoire an informellen und impliziten Verfahrensweisen, die sich verfestigen, weil sie sich als viabel (gangbar) erweisen. Damit werden Strategien, Pläne und Arbeitsabläufe oft erst praktikabel. Die Herausforderung besteht jedoch darin, die geplanten und impliziten Prozesse, die für das Funk- tionieren einer Organisation verantwortlich sind, so zu gestalten, dass sie – trotz notwendiger Routinen – flexibel genug sind, sich ständig verändernden Rahmen- bedingungen anzupassen und kreativ nicht nur zu ›reagieren‹, sondern auch in- novativ agieren zu können. Um das im Rahmen verschiedener Formen der ›Selbstorganisation‹ zutage tretende Potential nutzen und einsetzen zu können, benötigen wir ein fließen- des Verständnis von Organisation, das nicht mehr nur auf rationaler Planung basiert: Das oft versteckte individuelle und kollektive Erfahrungswissen (implicit and tacit knowing) wird zur Grundlage der heute benötigten Kunst der Improvi- sation . Implizites und intuitives, vorausschauendes Wissen und Handeln sind die Grundlage für Innovation und Lernen in Organisationen und sozialen Sys- temen. Durch die Analyse von organizational patterns und musikalischem Denken Wolfgang Stark 10 entsteht ein neues Verständnis flexibler und dynamischer Organisationen für eine neue Zeit. Vergleichbares geschieht in der musikalischen Improvisation im Jazz (Bar- rett 1998; Dell 2002, 2012), in der theatralen Improvisation (Johnstone 1993) und beim modernen Tanz (Halprin 1993, Forsythe 2002), aber auch in anderen künst- lerischen Feldern (bildende Kunst, dreidimensionales Gestalten – Bertram 2010, Weirich 2002). Akteure (Musiker, Darsteller, Tänzer, Künstler) wirken und spie- len auf Basis erprobter musikalischer Muster zusammen. Sie variieren situative Muster vorhandener Erfahrungen im Sinne künstlerischer Tradition, zitieren, va- riieren und kombinieren sie in neuen Abfolgen und legen damit gleichzeitig neue Muster an. In einem prozessualen Verständnis werden Organisationen und sozia- le Systeme ›performativ‹ immer neu hervorgebracht und können auch anders sein bzw. agieren. Die von Christopher Dell (in diesem Band) als ›Technologie der Im- provisation‹ bezeichneten Verfahrensweisen für eine Innovationskultur fordern von Organisationen, sozialen Systemen und den in ihnen beteiligten Menschen eine neue Perspektive und gleichzeitig verändertes Handeln. Sprunginnovatio- nen (oder: radikale Innovationen) – wie etwa in der Musik oder in anderen Kunst- sparten – entstehen aus sich selbst heraus, sind performativ und entwickeln sich in einem Klima des spielerisch-experimentellen Umgangs mit dem Material und der Aufgabe. Diese performativ-spielerische Haltung ist jedoch in einer Welt der Ergebnisorientierung und Rationalität keineswegs selbstverständlich: Da Sprung- innovationen oft außerhalb von Routinen entstehen, glauben viele Führungs- kräfte in Organisationen und gesellschaftliche Akteure, dass Freiräume oder event-ähnliche Situationen bereits genügen, und sind enttäuscht, wenn allenfalls Mittelmaß entsteht. Daher ist die Entdeckung und Fähigkeit zur Neu-Verschal- tung (Re-Design) erfolgreicher Muster gemeinsamen Handelns (tacit knowing) für innovativer Prozesse zentral. Da performativ, muss sich zum (impliziten) Wis- sen das Handeln, Einüben und erfahrende Lernen gesellen – eine Technologie der Improvisation, die zusätzlich zum kognitiven-rationalen Kanal erst über ande- re Wahrnehmungs- und Handlungsformen einen performativ-experimentellen Umgang mit dem Material und damit Innovationen erst zulässt. In fast allen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Innovationsprozessen und bei einer wachsenden Zahl von Managementsituationen ist die Kunst der Im- provisation entscheidend für das Gelingen rationaler Prozesse und für den Um- gang mit Unsicherheit in komplexen Situationen. Als Teil eines neu entstehenden Verständnisses des Managements von Innovationsprozessen geht dies weit über die wirtschaftliche Verwertung von neuen Ideen und Konzepten und die Effek- tivierung von Planungsheuristiken hinaus. Wir nennen diese Ansätze › Formen strategischer Improvisation‹, weil sie in der Lage sind, flexibel und kreativ auf wech- selnde, unklare und unsichere Situationen zu reagieren und diese aktiv zu gestal- ten. Das in strategischen Improvisationsprozessen versteckte gemeinschaftliche implizite Wissen (›tacit knowing‹) ist von entscheidender Bedeutung für die heute dringlich geforderte Fähigkeit sozialer Systeme, sich immer wieder neu zu erfin- Vor wor t 11 den und damit nicht nur sich verändernden und komplexen Herausforderungen zu stellen, sondern auch neue, oft überraschende Wege bei technischen oder ge- sellschaftlichen Herausforderungen zu finden. Bisher übliche Organisationsana- lysen arbeiten weitgehend mit kognitiven Modellen und haben den rationalen Teil von Organisationen hervorragend erfasst. Sie beziehen sich vor allem auf direkt erkennbare Parameter und auf Zähl- und Messbares. Das funktioniert sehr gut bei hierarchischen Organisationen. Je flacher jedoch Hierarchien werden und je komplexer damit die Organisation, umso mehr werden jene weichen Faktoren der Vergemeinschaftung bedeutend, die Tiefe haben. Deshalb wollen wir in diesem Band nach der Tiefendimension des Organisierens (Weick 1987) fragen, die über rationale Modelle hinausgeht. Für moderne Unternehmensstrukturen sind oft verschiedene Service- u. Pro- duktionsstandorte, unterschiedliche Herkünfte von MitarbeiterInnen und ›Di- versity‹, sehr unterschiedliche Aufgaben und Arbeitsplätze, und damit auch ver- schiedene Denkweisen und Problemlösungsstrategien kennzeichnend. Für eine erfolgreiche, effektive und innovative Weiterentwicklung der Organisation und ihrer Innovationsfähigkeit spielen deshalb Aspekte der Zusammengehörigkeit, der geteilten Ziele und Werte ( Vergemeinschaftung) eine herausragende Rolle. Die Bedeutung von Organisationskultur für Veränderungsprozesse und In- novationen ist in der Organisationsforschung und -praxis heute unbestritten. Aber Abläufe und Strukturen in Unternehmen und Organisationen werden meist durch Grafiken, Schrift und Sprache dargestellt. Dabei werden wichtige Elemente zur Erschließung persönlicher Ressourcen nicht abgebildet: z.B. Einstellungen, Ansichten, Emotionen und damit wichtige Grundlagen für die Handlungsleiten- den mentalen Modelle der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Analyse und Vermittlung von Organisationskultur durch vor allem durch Zeichen und kog- nitiv-visuelles Material (Grafiken, Sprache) bedeutet also eine Beschränkung, die vor allem die wichtigen nicht-kognitiven Elemente von innovativer Organisations- kultur ausblendet. Könnten die Kulturen, in denen die Organisationsmitglieder leben bzw. arbei- ten, aber klanglich bzw. musikalisch hörbar gemacht werden, wäre dies eine Mög- lichkeit, das im Arbeitsalltag fast ausschließlich genutzte Kommunikationsme- dium ›Sprache‹ sensorisch-emotional zu ergänzen, d.h. über den Kanal der Musik wahrnehmbar zu machen und gleichzeitig als Feedback an die Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück zu spiegeln. Notwendige Lern- und Ver- änderungsprozesse in der Organisation könnten über diesen Weg besonders ange- regt und unterstützt werden. Die Energie, die in einer lebendigen Organisationskul- tur ›schlummert‹, könnte für Veränderungsprozesse und Innovationen, aber auch für die gerade heute notwendigen stabilisierenden Vergemeinschaftungsprozesse (Zusammengehörigkeit, geteilte Werte und geteiltes Wissen) flexibler und effekti- ver genutzt werden. Dieser Band ist im Zusammenhang mit einem Forschungsvorhaben ent- standen (www.micc-project.org), in dem die Sprache der Musik als Medium zur Wolfgang Stark 12 Analyse von Organisationsmustern genutzt und entsprechend anwendbare Ins- trumente und Methoden für die Förderung einer innovationsfördernden und lebendigen Unternehmens- bzw. Organisationskultur zu entwickelt wurden. Gemeinsam mit den beteiligten Organisationen wurden im Rahmen praxisorien- tierter Fallanalysen Elemente sichtbarer und verdeckter Organisationsmuster in ihrer Bedeutung und Wirkung für das Unternehmen/die Organisation analysiert und in die Sprache der Musik übersetzt. Dabei wurden relevante und wiederkeh- rende Erfolgsmuster identifiziert und für die Weiterentwicklung organisations- spezifischer Organisationskulturen genutzt. Die Ergebnisse des Projektes können Unternehmen, Organisationen helfen, • die vorhandenen (verborgenen) Muster der Organisationsskultur über den Ka- nal der Musik zu erkennen, • den Nährboden für diese Muster zu deuten und kritisch zu überprüfen, • innovative Orientierung bei gleichzeitiger Flexibilität zu ermöglichen, und • stabilisierende Erfahrungen der Zusammengehörigkeit und geteilter Werte zu erzeugen und zu steuern, um damit einen neuen Zugang für die Entwick- lung von Innovationen zu entwickeln. Die Analyse der jeweiligen Unternehmenskultur und die Übersetzung in die Sprache der Musik lassen Aussagen darüber zu, inwiefern die in Leitbild und Verhaltenscodes verkündeten Werte mit den tatsächlich gelebten Werten in Unternehmen einhergehen. Über diesen Weg ließen sich Maßnahmen der Per- sonal- und Organisationsentwicklung entwickeln, die zum ›Alignment‹ (Verge- meinschaftung) der MitarbeiterInnen beitragen können. Der thematische Schwerpunkt in diesem Projekt lag dabei auf Prozessen der Innovation und der Improvisation: • Wie können sich Menschen in hochkomplexen Systemen erfolgreich orientieren und zielgerichtet sowie ergebnisorientiert agieren? • Wie kann dabei die Innovationskraft bzw. Innovationsfähigkeit in modernen Orga- nisationen gesteigert werden? Das Buch versammelt in einzigartiger Weise WissenschaftlerInnen, DenkerIn- nen und PraktikerInnen aus Architektur, Kunst, Musik, Organisationswissen- schaften, Psychologie, Pädagogik, Sozialwissenschaften und Soziologie. Die Beiträge von Wolfgang Stark – Christopher Dell – David Vossebrecher – Oli- ver Bluszcz, Anne Suchalla & Katrin Heymann – David Vossebrecher & Thorsten Ka- min – Holger Schmidhuber & Rolf Mehnert beziehen sich direkt auf die Ergebnisse dieses ungewöhnlichen Forschungsprojekts. Darüber hinaus spiegelt sich in den Beiträgen des Buches der aktuelle inter- nationale Diskurs zur Rolle der Improvisation in Organisation und sozialen Syste- men. Konzeptionell nähern sich die Aufsätze von Fritz Böhle – Manfred Moldaschl Vor wor t 13 – Pedro Texeiro Santos & Miguel Pina e Cunha – Wolfgang Stark & Christopher Dell – Christopher Dell dem Verständnis von Improvisation als Kunst und Technolo- gie für Organisationen und soziale Systeme aus der Perspektive der Arbeits- und Organisationssoziologie, der Betriebswirtschaft, der Organisationspsychologie und der Musikwissenschaft. Aus dem Blickwinkel der Praxis betrachten Gabrie- le Amann & Martin Ciesielski als Organisationsberater und Coaches und Michael Spencer als Musiker und Berater Improvisationsprozesse als künstlerische Metho- de für den professionellen Einsatz in Organisationen. Erfahrungswissen, Intuition und ›tacit knowing‹ spielt beim Konzept der Handlungsmuster in Organisationen und sozialen Systemen, der dazugehörigen Mustersprache und bei strategischer Improvisation eine entscheidende Rolle. Wolf- gang Stark – Hajo Neis – David Vossebrecher – Ursula Bertram – Monika Bobzien – Nadine Ruda & Jörg Miller analysieren aus den Blickwinkeln von Organisations- und Gemeindepsychologie, Architektur und Stadtplanung, Kunst und Kunsttrans- fer und den Bildungswissenschaften die in unserer rationalisierten Welt oft zu wenig beachteten, für die Improvisationsfähigkeit aber enorm bedeutsamen Bau- steine der Intuition und des ›impliziten Wissens‹. Ein kleines Glossar, in dem die wichtigsten Begriffe der in diesem Band reprä- sentierten Perspektiven der Improvisation – Muster und Mustersprache – künstleri- sche Forschung beschrieben werden, schließt diesen Band ab. Der mit dem Projekt und mit dem Buch gestartete Versuch, individuelles und kollektives Erfahrungs- wissen und künstlerische Verfahren für die Gestaltung und die Abläufe von Or- ganisationen und sozialen Systemen fruchtbar zu machen, erfordert den Mut, über die Grenzen der eigenen Disziplin und Fachlichkeit zu springen und sich auf Unbekanntes und Unerwartetes systematisch einzulassen. Für diese inspi- rierende Offenheit und das oft notwendige Durchhaltevermögen danke ich allen Beteiligten sehr herzlich. l iTer ATur Barrett, F. J. (1998): Creativity and Improvisation in Jazz and Organizations: Impli- cations for Organizational Learning. In: Organization Science, 9 (5), 605-622. Bertram, U. (2010): Kunst fördert Wirtschaft. Zur Innovationskraft des künstleri- schen Denkens. Bielefeld, transcript. Dell, C. (2002): Prinzip Improvisation (Principles of Improvisation). Köln, Walter König. Dell, C. (2012): Die improvisierende Organisation. Management nach dem Ende der Planbarkeit. Bielefeld, transcript. Forsythe, W. (2003): Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye. Berlin, Hatje Cantz Verlag. Halprin, D. (2003): The Expressive Body in Life, Art and Therapy. Working with Movement, Metaphor and Meaning. London and New York, Jessica Kingsley. Wolfgang Stark 14 Weick, K. (1987): Der Prozess des Organisierens. Frankfurt a.M., Suhrkamp. Weirich, S. (2002): Stories: Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst. Haus der Kunst, München. München, 2002. Teil 1 Theoretische und konzeptionelle Zugänge Innovationsmuster und Improvisation in Organisationen Musikalische Muster als Schlüssel für innovative Prozesse Wolfgang Stark Die Frage, weshalb manche Organisationen und sozialen Systeme erfolgreich, innovativ und kreativ mit aktuellen Herausforderungen umgehen können und andere nicht, hat Organisationswissenschaftler, Soziologen, Psychologen und Philosophen genauso beschäftigt wie Politiker und Manager im profit- und non- profit-Sektor. Experten in Forschung und Praxis waren noch vor 10 Jahren über- zeugt, Innovationsmanagement sei ein rational planbarer Prozess, weil die Um- gebungsfaktoren vorhersagbar und damit auch beherrschbar seien. Ausgefeilte Technologien und Algorithmen für Planung und Management von Innovationen wurden entwickelt. Heute haben wir es – nicht nur bei Innovationen – immer mehr mit Herausforderungen zu tun, die nicht nur komplex, sondern kaum vorhersagbar und grossenteils überraschend auftauchen und bewältigt werden wollen. Der Grund dafür liegt weitgehend in einer verdichteten Komplexität von Strukturen und Prozessen, die nicht nur parallel laufen, sondern auch mit einer hohen Geschwindigkeit ablaufen, die menschliche Wahrnehmungs- und Ana- lysemöglichkeiten übersteigen und nur noch maschinell beherrschbar zu sein scheinen. Das Mantra der ›Komplexitätsreduzierung‹ und immer ausgefeiltere Algorithmen helfen hier nur beschränkt weiter. Um den hier benötigten kreativen Wissens- und Handlungstypen auf die Spur zu kommen, haben wir uns im Forschungsprojekt »Music_Innovation_Corporate Culture« (www.micc-project.org) damit auseinandergesetzt, eine neue Sprache der Innovation zu entwickeln, die einerseits weniger auf theoretischen Modellen und rationalen Abläufen, sondern auf dem oft versteckten und intuitiven Erfah- rungswissen ( tacit knowing oder implicit knowledge ) vieler beruht, und die gleich- zeitig einen kreativen und erfinderischen Umgang mit aktuellen und zukünfti- gen Herausforderungen unterstützt. Wie bereits Karl Weick (1987) lassen wir uns dabei von der Sprache der Musik als Metapher inspirieren, gehen jedoch über die metaphorische Verwendung hinaus und begeben uns – in enger Kooperation mit Wolfgang Stark 18 professionellen Jazz-Musikern – auf die Suche nach dem Geheimnis innovativer Organisationskulturen, indem mit Hilfe musikalischen Denkens und der Muster der Improvisation die Grundelemente (Dell 2012) einer Sprache der Innovation erarbeiten, die die kreative Kraft künstlerischer Herangehensweisen und künst- lerischer Forschung nutzen kann. V om m y Thos und Vom e nde der p l AnbArkeiT Menschen in Organisationen oder anderen sozialen Systemen handeln entweder auf der Basis rationaler Analyse und Planung, auf Grundlage ihrer Erfahrung oder Intuition, oder sie improvisieren und finden so neue Lösungen für bislang noch nicht gekannte Problemstellungen und Herausforderungen. Dabei basiert der weitaus grösste Anteil realer organisatorischer Veränderungen und Innova- tionen auf nur einer der drei Möglichkeiten: Innovationen werden allgemein als planbarer, rationaler Prozess angesehen. Innovationsmanagement in westlich orientierten Volkswirtschaften – dies gilt für wirtschaftliche Unternehmungen genauso wie für non-profit-Organisationen – beruht auf rational kognitiven Mo- dellen der Organisationstheorie der Moderne: Die Logik industrieller Produktion und vermeintlich ›moderner‹ Managementmodelle hat dazu geführt, dass alle Handlungen dem Primat der Zahlen, der Messbarkeit, der Effektivierung und dem quantitativen Wachstum untergeordnet werden. Diese eher einseitige Denk- weise ist in den letzten 20-30 Jahren in viele Lebensbereiche übernommen wor- den und wird manchmal – in einer erstaunlich ahistorischen Weise – als ›alter- nativlos‹ bezeichnet. Diese Praxis funktioniert bis zu einem gewissen Grad in traditionell und hie- rarchisch strukturierten Organisationen und Gemeinschaften, die auf rationaler Planung und top-down-Entscheidungsprozessen auf bauen können. In einer im- mer komplexer werdenden und sich schnell verändernden Wissensgesellschaft lassen sich industriell geprägte Logiken jedoch immer weniger anwenden. Sozial- wissenschaften, Psychologie, Philosophie und Kunst, mehr aber noch viele Prak- tiker in Unternehmen, non-profit-Organisationen und gesellschaftlichen Institu- tionen, wissen, dass mit dieser Denkweise nur ein kleiner Teil der Möglichkeiten und und Prozesse abgebildet werden kann, die die Dynamik von Unternehmen, Organisationen und sozialen Gemeinschaften ausmachen. Heute benötigen wir agile technische und soziale Systeme und Organisationsformen, die auf dem Netzwerkprinzip basieren und ›weiche‹ Faktoren und Werte wie Gemeinschafts- bildung und Unternehmenskultur betonen, um in einer unsicheren und sich ständig und schnell verändernden Umwelt bestehen zu können. Unternehmen, Kommunen, non-profit-Einrichtungen und auch politische Strukturen können sich heute und in Zukunft nicht mehr ausschliesslich auf klar definierte Ziele und zentral vorgegebene Startegien verlassen. Selbst Unternehmen, die sich in einem System befinden, in dem quantitativ messbare ›key performance indica- Innovationsmuster und Improvisation in Organisationen 19 tors‹ (KPI) die vermeintliche Wirklichkeit bestimmen, müssen mit unerwarteten Dynamiken des Marktes und gesellschaftlicher Entwicklungen umgehen und entdecken mehr und mehr den Wert ›weicher‹ Faktoren der Organisationskultur, die eine Kultur des Vertrauens und der Kreativität erzeugen können. Die Fähig- keit, die innovativen Potentiale in den Unwägbarkeiten sich schnell verändernder Welten zu erkennnen und kreativ zu nutzen, gehört wahrscheinlich zu den zen- tralen Überlebensfaktoren moderner Organisationen, die zunehmend mit hoch- komplexen und unplanbaren Situationen und Umeltfaktoren konfrontiert sind. In dieser Situation ist weniger die Reduzierung von Komplexität durch die Eliminierung oder Externalisierung von Störfaktoren gefordert, sondern – im Gegenteil – die systemische Fähigkeit, Potentiale der Komplexität zu erkennen und Emergenzen zu nutzen (vgl. Looss 2002). PraktikerInnen in Organisation und Gesellschaft ist dies meist ›gefühlt‹ klar; dennoch verdeckt nach wie vor das Diktat der Zahlen und Rationalität die komplexe Dynamik und das Beziehungs- management, das zu nachhaltig funktionierenden Organisationen und sozialen Netzwerken nötig wäre (Weick 1989). Die tatsächlich relevanten (und nicht nur die jeweilige Gewinnmarge erhö- henden) gesellschaftlichen Innovationen der letzten Jahrzehnte haben wir kaum den rational-geplanten Modellen eines tradionellen Verständnisses von Innova- tionsmanangement zu verdanken, eher kreativen transdisziplinären Grenzüber- schreitungen, dem (oft zufälligen) Erkennen neuer Möglichkeiten (›serendipity‹) oder dem Brechen alter Muster. Wir entdecken immer mehr, dass die wahren organisatorischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der heutigen Welt von Unsicherheiten, Ambiguitäten und unerwarteten Situationen geprägt sind. Die Fähigkeit, darauf nicht nur schnell und angemessen zu reagieren, sondern Ambiguität als kreatives Gestaltungselement und Möglichkeitsraum unserer mo- dernen Welt zu begreifen, ist die Kunst der Improvisation, die sich als Schlüs- selfaktor für den Erfolg von Unternehmen, Organisationen und soziale Gemein- schaften, aber auch für die nachhaltige Gestaltung unseres Gemeinwesens und unserer Gesellschaft erweist. Das Problem: In einer vermeintlich rationalen und nur auf Effizienz ausgerichteten Welt wird die Kunst der Improvisation als Schlüssel-Kompetenz weder erkannt noch wertgeschätzt; die Fähigkeit und das zugehörige Wissen ist oft versteckt und informell (›tacit knowing‹). i mpliziTes w issen und improVisATionAle F elder in o rgAnisATionen Komplexe Zusammenhänge in sich schnell ändernden Umgebungen lassen sich mit hierarchischen oder rationalen Begrifflichkeiten oder Strukturen weder vollständig beschreiben noch beherrschen; daher ist eine Orientierung an den klassischen Managementinstrumenten der Zielvereinbarungen, des Controlling und der mittel- und langfristigen Strategien in dieser Situation nur noch teilwei-