Europäische Erinnerungsorte 1 Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis, Wolfgang Schmale (Hrsg.) Europäische Erinnerungsorte 1 Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses Oldenbourg Verlag München 2012 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ü ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Oldenbourg Wissenschasverlag GmbH, M ü nchen Rosenheimer Straße 145, D-81671 M ü nchen Internet: oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich gesch ü tzt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul ä ssig und strafbar. Dies gilt insbesondere f ü r Vervielf ä ltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Be- arbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: hauser lacour Umschlagbild: Curt Stenvert, Europa-Vision 3000 – Ein Kontinent ohne Grenzen, © VG Bild-Kunst 2011 Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Dieses Papier ist alterungsbest ä ndig nach DIN/ISO 9706 ISBN 978-3-486-70418-1 Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Mythen Wolfgang Schmale Mythos ,,Europa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Elisabeth Oy-Marra Der Mythos ,,Europa“ in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Jan Papiór Der Mythos ,,Europa“ in der europ ä ischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Gemeinsames Erbe Pim den Boer Konzept Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Miroslav Hroch Zwischen nationaler und europ ä ischer Identit ä t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Alexander Demandt Das Erbe der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Nikolaus Lobkowicz Das Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Moshe Zimmermann Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Stephan Conermann Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Markus V ö lkel Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Jean Mondot Aufkl ä rung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Grundfreiheiten Eike Wolgast Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Johannes W. Pichler und Otto Fraydenegg-Monzello Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Dietmar Herz und Julie Boekhoff Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 André Brodocz und Hannes Schramm Teilhabe am Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4. Raum Europa Georg Kreis Himmelsrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Achim Landwehr Zeitrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Jan Kusber Die Erschließung des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Petra Deger Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 J ü rgen Trabant Sprachenvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5. Kriegserfahrung und Friedenssehnsucht Dieter Langewiesche Das Europa der Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 J ö rg Fisch Friedensherstellung und Friedenswahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Hans-Martin Kaulbach Friedensvisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 6. Wirtschasraum Europa Johannes Burkhardt Europas Wirtschasbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 6 Einleitung Nationale Erinnerungsorte, transnationale, binational-bilaterale (,,geteilte“), regionale, loka- le, epochenspezifische, geistlich-religi ö se beherrschen seit Jahren nicht nur die Forschungs- landscha, sondern treffen zugleich auf ein ausgepr ä gtes Publikumsinteresse. Eine große deutsche Partei ü berlegt, ein Programm f ü r Sozialdemokratische Erinnerungsorte aufzule- gen, die Erinnerungsorte untergegangener Staaten wie der DDR sind untersucht worden, das Konzept wird auch auf koloniale und postkoloniale Kontexte und auf asiatische Gesellschaf- ten ohne kolonialen Hintergrund ü bertragen, kaum ein Sammelband erscheint mehr ohne einen Abschnitt ,,Erinnerungsorte“ – die lawinenartig anwachsende Erinnerungsforschung ist zu dem Bestseller schlechthin in der f ü r breitere Kreise ausgelegten publizistisch-popu- l ä rwissenschalichen Buchproduktion geworden. Denn es war und ist eine Lawine, die Pierre Nora Mitte der 1980er Jahre mit seinem dann auf sieben B ä nde angeschwollenen Werk Lieux de mémoire lostrat. F ü r ihre Dimension war das Zusammentreffen gleich mehrerer turns in den Geisteswissenschaen verantwortlich: die generelle Hinwendung zu kulturalistischen Fragestellungen, das neue Gewicht, das die Ged ä chtnisforschung in genere gewann, nicht zuletzt die – schon etwas ä ltere – Mentalit ä ts- geschichte, vor allem in ihrer Variante, wie Gesellschaen ü ber ihr eigenes Werden und ihre Signaturen nachdenken. W ä hrend die anderen turns in der Geschichtswissenscha in den letzten Jahrzehnten doch meist nur eine begrenzte Wirkung und Ausstrahlung und o eine noch mehr begrenzte Halb- wertzeit hatten, ist die Erinnerungsforschung – um nur auf sie kurz einzugehen – offensicht- lich ein Ph ä nomen, dessen Dauer und Lebendigkeit nicht absehbar ist. Es hat auf der einen Seite etwas damit zu tun, dass die Naturwissenschaen und die Medizin sich seit geraumer Zeit mit dem Vorgang und dem Selektieren des Erinnerns besch ä igen, aber zum anderen auch damit, dass hier ein Forschungsfeld erschlossen wurde, das auf Identit ä tsbildungen und Mentalit ä tswandlungen zielt, also auf Ph ä nomene, die jenseits der herk ö mmlichen, mehr oder weniger subtilen Erforschung historischer Vorg ä nge liegen. Es mag hinzukommen, dass Erinnerungsforschung in der Regel den m ü hsamen Weg in die Archive ü berfl ü ssig macht, weil hier auf andere Quellen als Protokolle, Korrespondenzen oder ungedruckte Memoran- den zur ü ckgegriffen werden kann. Am Institut f ü r Europ ä ische Geschichte ist seit den ausgehenden 1990er Jahren inten- siv ü ber eine Fruchtbarmachung des Nora’schen Grundgedankens auch f ü r die europ ä ische Ebene nachgedacht worden – Überlegungen, die im Jahr 2000 zu einer internationalen Kon- ferenz in der Villa Vigoni f ü hrten, deren Ergebnisse im Jahrbuch f ü r Europ ä ische Geschichte von 2002 dokumentiert wurden. Sie f ü hrte zu ersten Bem ü hungen, eine ü ber die Bordmittel des Mainzer Instituts hinausgehende Basis f ü r ein umfassendes Unternehmen zu schaffen. Anderer Projekte wegen trat das Vorhaben danach eine Zeitlang zur ü ck, um seit 2007 erneut aufgegriffen zu werden und nun einer der Schwerpunkte der Institutspolitik zu werden. Dabei war es allen Beteiligten von der ersten Stunde an klar, auf welch d ü nnes Eis man sich begab. Schon das Konzept Noras war ja auf zum Teil sehr grunds ä tzliche Kritik gestoßen, die sich unter anderem an seiner begrifflichen Unsch ä rfe, seiner Tendenz zur Vereinheitli- chung und Kanonisierung und seinen national orientierten mythenbildenden Nebenwirkun- gen entz ü ndet hatte. Und dann auch noch seine Ausdehnung auf ein europ ä isches Terrain, was Fragen geradezu provozieren musste: Ist es ein Vorhaben, um dem Europ ä isierungspro- zess eine ex-post-historische Legitimit ä t zu verleihen? Ein Unternehmen, um die von Br ü ssel immer wieder beklagte unzureichende Identifizierung der B ü rger mit der EU zu beheben? 7 Ein Projekt, das sich in die Br ü sseler Bem ü hungen einordnet, mittels der verschiedenen Rah- menprogramme das Zusammengeh ö rigkeitsgef ü hl der Europ ä er zu bef ö rdern? Von alledem ist das vorliegende Referenzwerk weit entfernt – erkennbar nicht zuletzt daran, dass kein einziger Euro der europ ä ischen Rahmenprogramme zu seiner Realisierung geflossen ist. Die gr ö ßtm ö gliche wissenschaliche Freiheit war das Credo , unter dem die Ver- antwortlichen antraten und dem sie sich bis zum Ende verpflichtet f ü hlten. Über europ ä ische Gemeinsamkeiten und symbolische Orte, an und in denen sich Europa konstituiert, wird seit den Zeiten nachgedacht, als die Formel ,,Europa“ in den Mittelpunkt von Reflexionen von Intellektuellen und politischer Bestrebungen ger ü ckt ist. Und entschei- dend war von der ersten Stunde an das Bedauern, dass es daran in eklatanter Weise mangele. Wolfgang Schmale hat 1997 die Frage aufgeworfen, ob ,,Europa“ – im Sinn des politischen Europa – am Ende an seinem Mythendefizit scheitern werde, aber ä hnliche Stimmen las- sen sich bis weit in die Geschichte zur ü ckverfolgen. So hat etwa Johann Gottfried Herder in seinem Essay Über Denkmale der Vorwelt aus dem Jahr 1792 den Mangel an europ ä ischen Gr ü ndungsmythen und kollektiver ,,Erinnerungsorte“ beklagt und ge ä ußert: ,,Kein Europ ä i- sches Band vermag die V ö lker zu binden, wie z. B. die Indier an ihren Ganga, an ihre heiligen Örter und Pagoden gebunden sind“. Die Kleinteiligkeit des Kontinents, das enge Nebenein- ander von Kulturen und Gesellschaen sehr unterschiedlicher Art, die Beobachtung, dass ein Charakteristikum dieses Kontinents der Wettbewerb und die Konkurrenz waren, m ö gen Gr ü nde gewesen sein, die es zu breit akzeptierten symbolischen Orten – wenigstens auf den ersten Blick – nicht kommen ließen. Der zweite Blick freilich belehrt eines Besseren. Es gibt durchaus so etwas wie Ged ä chtnis- orte mit einer europ ä ischen Relevanz, also symbolische Orte, die f ü r den ganzen Kontinent oder doch große Teile von ihm von Belang waren in dem Sinn, dass man in ihnen etwas Gemeinsam-Verbindendes sah, etwas, das f ü r das Konstrukt einer europ ä ischen Identit ä t als wesentlich angesehen wurde. Allerdings war das fast immer eine Frage der sozialen Stellung, also der Schichtenzugeh ö rigkeit: Dass die Universit ä t etwas spezifisch Europ ä isches ist, ist in der Regel allenfalls den Absolventen dieser Einrichtung bekannt; dass bestimmte literari- sche Werke eine europ ä ische Resonanz und eine europ ä ische Ausstrahlung hatten, weiß nur derjenige, der ü berhaupt eine Beziehung zur Literatur hat. Denn die Rezeption spielt bei der Konstruktion europ ä ischer Erinnerungsorte eine maß- gebliche Rolle. Man kann viele theoretische Entw ü rfe, die in den zur ü ckliegenden Jahren in H ü lle und F ü lle das Licht des Tages erblickt haben, gegeneinander stellen und gegenein- ander abw ä gen: am Ende hat bei einem europ ä ischen Zugriff die (europ ä ische) Rezeption den Ausschlag zu geben. Man kann diese Rezeption auch mit g ä ngigeren Schlagworten fassen, etwa dem Transfer oder der kulturellen Interferenz – gemeint ist aber immer das Gleiche: an dem Raum geht kein Weg vorbei, einem tats ä chlichen oder imaginierten oder imagin ä ren Raum, in dem Erinnerung aus der Geschichte heraus produziert wird. Und man wird noch einen Schritt weiter gehen k ö nnen: Symbolische Orte in einem bestimmten Raum konstituieren Bezugspunkte in der Raumvorstellung einer Gemeinscha. Insofern sagt ein symbolischer Ort in der Raumeinheit Europa auch immer zugleich etwas ü ber das Selbstverst ä ndnis Europas und der Europ ä er aus, und insofern kann ein Referenzwerk zu ,,Europ ä ischen Erinnerungsorten“ dann am Ende wirklich einen Beitrag zu einem spezifi- schen Zusammengeh ö rigkeitsgef ü hl der ,,Europ ä er“ leisten – oder zumindest dazu anregen, dar ü ber weiter nachzudenken, was diesen Kontinent und seine Einzelteile miteinander verbindet. Die Aktualit ä t diktiert zwar nicht die großen Linien der historischen Forschung, aber es spricht auch nichts dagegen, dass sich Historiker in ihren Fragestellungen von aktuellen 8 Entwicklungen beeinflussen, vielleicht gar inspirieren lassen. Nach den Kr ä en zu fragen, die dem Kontinent wenigstens tendenziell ein gewisses – gegen ü ber anderen Kontinenten distinktes – Maß an Gemeinsamkeit verliehen, ist weder abwegig noch diskriminierend. Die zahlreichen im Verlauf der letzten zwei Dekaden erschienenen ,,Europ ä ischen Ge- schichten“ oder Europ ä ischen Rechts-, Kultur- oder Sozialgeschichten, m ö gen sie auch in manchen F ä llen noch unbefriedigend bleiben und sich im Additiven ersch ö pfen, beleuch- ten das ebenso wie die vielen juristischen Untersuchungen, die auf die Vereinbarkeit von Gemeinschas- und nationalem Recht abheben. Insofern war auch der Gedanke keineswegs obsolet, nach den symbolischen ,,Orten“ – immer in einem weiten Verst ä ndnis gemeint – zu fragen, die in Europa oder doch in weiten Teilen des Kontinents gemeinsam, obschon h ä ufig mit unterschiedlichen Akzentuierungen, erinnert wurden bzw. werden. Die ematik liegt insofern seit L ä ngerem sozusagen in der Lu, und es war an der Zeit, fr ü here Bedenken ü ber Bord zu werfen, die u. a. in der vermeintlichen Inhomogenit ä t des Kontinents und in einer noch nicht ausgereien eorie gr ü ndeten. Ein Kenner der Mate- rie und einer der Herausgeber der Deutschen Erinnerungsorte , Etienne Fran ç ois, hat noch vor kurzem in seinem Beitrag zur Kocka-Festschri ( Transnationale Geschichte , 2006) den Bedenken gegen eine Inangriffnahme eines ,,europ ä ischen“ Projekts so viel Gewicht beige- messen, dass bis heute alle Experten die H ä nde davon gelassen haben. Am Beginn des ganzen Vorhabens stand – selbstverst ä ndlich – die Frage einer pr ä zisen De- finition von ,,Erinnerungsort“, auch im Sinn einer m ö glichen Übertragbarkeit jener Um- schreibungen, die Nora und andere geliefert hatten, auf das Vorhaben der ,,Europ ä ischen Erinnerungsorte“. Am Ende erwies sich, dass sie nur h ö chst bedingt zu nutzen waren. An- ders formuliert: Es musste ein eigener Zugang gefunden werden. Es erwies sich zudem im Verlauf dieser Vor ü berlegungen, dass eine Umschreibung vonn ö ten war, die nicht zu abstrakt war und manches verstellte, die aber praktikabel war. Es bestand rasch Einm ü tigkeit, dass europ ä ische Erinnerungsorte solche Ph ä nomene sein sollten, denen bereits in der Zeit ihrer Genese das Bewusstsein der Zeitgenossen innewohnte, europ ä isch dimensioniert zu sein. Die Beteiligten und die Zeitgenossen der Kahlenberg- schlacht 1683 wussten genau, dass dies eine europ ä ische Schicksalsstunde gewesen war, und dies ganz unabh ä ngig davon, ob sie in den habsburgischen Erblanden, in Sachsen, in Polen oder in Frankreich zuhause waren. Die Menschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts emp- fanden und erlebten die ,,Europ ä izit ä t“ der Aufkl ä rung oder des Klassizismus, was ihr Gef ü hl evozierte oder verst ä rkte, ein und derselben Kultur und Kulturgemeinscha anzugeh ö ren. Zweites Kriterium war, dass ein solches Ph ä nomen europ ä isch vermittelt worden war. Goethes ,,Faust“ war ein literarisches Ereignis, das rasch auch in die anderen europ ä ischen Nationen und Kulturen ausstrahlte, also ü ber Rezensionen, Übersetzungen und sonstige Ad- aptionen, auch in anderen kulturellen Bereichen, zu einem Gemeingut der intellektuellen Elite Europas wurde. Es mussten also europ ä ische – transnationale – Vermittler und Ver- mittlungswege gegeben sein, um aus einem mehr oder weniger spektakul ä ren Ereignis einen ,,europ ä ischen“ Erinnerungsort zu machen. Anders als bei den Werken zu nationalen Erin- nerungsorten kam dem Moment der Kommunikation und der Rezeption – nun aber im Sinn von europ ä ischer Rezeption verstanden – somit eine Schl ü sselstellung zu. Das war auch eine der entscheidenden Vorgaben f ü r die Autoren. Ein drittes Kriterium war, solche Erinnerungsorte zu finden, die nicht nur f ü r die westli- che H ä le des Kontinents von Belang waren, sondern auch in den ö stlichen Teil ausstrahlten. Hier galt es, nach wie vor bestehende Einseitigkeiten der historischen Forschung zu korrigie- ren. Um bei dem eben genannten Beispiel aus dem literarischen Bereich zu bleiben, so wurde bewusst neben Goethe und Shakespeare auch noch ein russischer Schristeller ausgew ä hlt, 9 dem eine europ ä ische Ausstrahlung eignete. Oder es wurde mit dem Lemma ,,Antemurale christianitatis“ ein Schlagwort ausgew ä hlt, das vor allem f ü r den ostmitteleurop ä isch-s ü d- osteurop ä ischen Raum von Relevanz war – und vielleicht noch ist. Europ ä ische Erinnerungsorte, das wurde aus diesen Vor ü berlegungen rasch evident, sind nur als Konstrukte vorstellbar, die einen breiten rezeptionsgeschichtlichen Ansatz mit dem verbinden, was das Wesen dieses Konstrukts ausmacht: ein Punkt im Ablauf der Geschichte, an dem sich positiv oder negativ besetzte Erinnerung breiterer, nicht nur elit ä rer Schichten kristallin verfestigt und eine Idee von etwas Gemeinsamem – einem gemeinsamen Erbe – entstehen l ä sst. Das rezeptionsgeschichtliche Potential kann unterschiedlich sein, das Erin- nerungs-Potential kann unterschiedlich sein – sich vor diesem Hintergrund f ü r die ,, ü ber- zeugenden“ Lemmata zu entscheiden, war die eigentliche Herausforderung. Aus diesen methodischen Vor ü berlegungen erwuchs das Konzept eines dreib ä ndigen Refe- renzwerks, von einem europ ä ischen Herausgeberkollektiv verantwortet, und wird mit einer Zahl von rd. 140 Essays wohl die verlegerische Grenze eines Buchprojekts streifen. In ei- nem ersten Band werden, in der Regel ausgehend von den meist sehr pauschalen Aussagen in den europ ä ischen Grunddokumenten von der Menschenrechtskonvention von 1950 bis zum Verfassungsvertrag von 2009, jene Kr ä e behandelt, die in den Augen der Politiker die Physiognomie Europas ausmachten. Sie wurden systematisiert und in drei thematische Zu- sammenh ä nge aufgeteilt, von denen dem des ,,gemeinsamen Erbes“ sicher die zentrale Rolle zukommt. Hier werden die großen geistigen Kr ä e behandelt, die Europa zu dem machten, was es heute ist, also etwa die Antike, das Christentum, das Judentum, nicht zu vergessen die arabisch-islamischen Einfl ü sse, aber auch geistige Bewegungen europ ä ischen Charakters wie der Humanismus und die Aufkl ä rung. In anderen Abschnitten werden die Grundfrei- heiten, die Kriegserfahrung und die damit einhergehende Friedenssehnsucht sowie generell der Raum Europa behandelt. Am ,,spannendsten“ unter der Fragestellung ,,europ ä ischer“ Erinnerungsorte ist der zwei- te Band, der in seiner Gliederung den ersten dupliziert und dessen abstrakte Lemmata nun mit Fallbeispielen illustriert – Fallbeispiele, bei denen das Moment europ ä ischer Z ä surhaf- tigkeit, europ ä ischer Ausstrahlung und Kommunikation und europ ä ischen Erinnerns in be- sonderer Weise gegeben sein sollten. Angesichts der F ü lle denkbarer Fallbeispiele musste hier das Moment der repr ä sentativen Auswahl zum Zuge kommen. Wir wollen das an den im Ab- schnitt ,,Kriegserfahrung/Friedenssehnsucht“ versammelten Lemmata demonstrieren. Die Kriege gegen Minderheiten werden anhand der Stichworte ,,1348“ und ,,Bartho- lom ä usnacht“ exemplifiziert, beides Ereignisse von europ ä ischer Relevanz (1348 und die Pest mit der Konsequenz der Flucht der mitteleurop ä ischen Juden nach Ostmitteleuro- pa) und Ausstrahlung, im Fall der Bartholom ä usnacht zudem ein wahrha europ ä isches Kommunikations- und Medienereignis. Die beiden Stichworte finden ihre Erg ä nzung in dem Lemma ,,Auschwitz“, in dem die gesamte Shoa als zentrales Ereignis des 20. Jahrhunderts geb ü ndelt wird. Von den Schlachten mit einer gesamteurop ä ischen Relevanz und einer europ ä ischen Erinnerungsdimension wurden die Kahlenbergschlacht, die Leipziger V ö lker- schlacht 1813 und Mesolunghi ausgew ä hlt, zudem Verdun und Coventry als zwei Chiffren, die f ü r die neue Dimension des Krieges und f ü r eine weit ü ber die beteiligten Nationen hinausgehende ,,Betroffenheitskultur“ stehen. ,,Soldatenfriedh ö fe“ symbolisieren die Instru- mentalisierung des Krieges als gewollte – nicht spontan entstandene – Erinnerungsorte. Als große Versuche, den Frieden dauerha zu organisieren, wurden der Westf ä lische Friede, die Pariser Vorortvertr ä ge und die KSZE herausgegriffen, Versuche, die einhergingen mit einer intensiven philosophisch-theoretischen Diskussion ü ber den Frieden – hierf ü r steht Kants ,,Ewiger Friede“. Wie sehr die Kriege des 20. Jahrhunderts auch zu einer Herausforderung 10 f ü r K ü nstler im weitesten Sinn wurden, wird durch eine Analyse des Erinnerungsort- Charakters von Picassos ,,Guernica“-Gem ä lde veranschaulicht. Schon diese Auflistung mag erkennen lassen, dass auch ganz andere Lemmata h ä tten ausgew ä hlt werden k ö nnen – etwa der Wiener Kongress oder die Schlacht von Lepan- to, die Kreuzz ü ge oder Hugo Grotius, Romain Rollands Antikriegsschrien oder die Haager Schiedskonferenzen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Hier waren Entscheidungen zu treffen, weil das Gesamtspektrum aller Konstrukte von europ ä ischen Erinnerungsorten ohnehin nicht erfasst werden konnte. Insofern – aber dieses Risiko geht jedes Unternehmen dieser Art ein – wird mit Bestimmtheit jeder Rezensent, der das Werk zu besprechen hat, auf Lemmata verweisen, die leider unber ü cksichtigt geblieben seien. Das Werk wird abgeschlossen durch einen dritten Band, der dem emenkreis ,,Europa und die Welt“ gewidmet ist. In ihm geht es freilich nicht prim ä r um die ,,Exporte“ von Euro- p ä ischem nach Außereuropa – ein Bereich, in dem die Gefahr der Negierung der ,,schwarzen Seiten“ dieses Vorgangs besonders groß sind –, sondern im Sinn des modernen Forschungs- ansatzes des ,,entanglement“ eher um Ph ä nomene, die in dieser oder jener Form nach Europa ,,zur ü ckgekehrt“ sind. Europa exportierte, um den Ansatz nur in einem Beispiel zu verdeut- lichen, im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur seine Musik in die anderen Kontinente, sondern erlebt jetzt, wie diese Musik – durch chinesische Musiker, durch japanische Dirigenten, durch interpretatorische Ans ä tze, die in den jeweiligen fremden Musikkulturen gr ü nden – wieder modifiziert nach Europa zur ü ckkehrt. Zwischen dem nach vielen Vor ü berlegungen und etlichen Workshops mit einem ad-hoc- Beirat – in unterschiedlicher Dauer waren das Pim den Boer (Amsterdam), Heinz Duch- hardt (Mainz), Peter Funke (M ü nster), Andreas Gotzmann (Erfurt), Beatrice Heuser (heute Reading, GB), Georg Kreis (Basel), Jan Kusber (Mainz), Malgorzata Morawiec (Mainz), Eli- sabeth Oy-Marra (Mainz), Susanne Popp (Augsburg), Wolfgang Schmale (Wien), Bernd Schneidm ü ller (Heidelberg), Martin Zierold (Gießen) – entworfenen Konzept der ersten bei- den B ä nde und seiner Umsetzung kla eine L ü cke, die sich der Tatsache schuldet, dass trotz eines langen Vorlaufs und etlicher Erinnerungen nicht alle Autoren ihre Manuskripte einge- liefert haben. Die meisten Autoren haben Gr ü nde ins Feld gef ü hrt, die einen termingem ä ßen Abschluss verhinderten. Da die Erfahrung lehrt, dass auch ein l ä ngeres Zuwarten die Situa- tion nicht entscheidend ver ä ndert, haben die Herausgeber einen Schlussstrich gezogen und die Redaktionsarbeiten f ü r beendet erkl ä rt. Das verlangten auch die Verlagsplanungen und letztlich auch die Fairness gegen ü ber jenen Autorinnen und Autoren, die p ü nktlich, viele sogar ü berp ü nktlich geliefert hatten. Unter den nicht gelieferten Manuskripten befinden sich einige, deren Fehlen besonders schmerzlich ist, etwa ein erbetener Beitrag zum Lemma ,,Souver ä nit ä t“ und ein Beitrag zum Jus Publicum Europaeum im ersten Band oder Beitr ä ge zur Donau als einem europ ä ischen Fluss oder zu den Vereinen und der Versammlungsfreiheit im zweiten Band. Diese L ü cken sind bedauerlich, aber da es in den ,,Europ ä ischen Erinnerungsorten“ nicht darum geht, ei- nen verbindlichen ,,Kanon“ zu entwerfen und der Konstruktion von Band 2 ohnehin etwas Spielerisches innewohnt, wird man das vertreten k ö nnen. Es ist jedenfalls – anders als bei den franz ö sischen Lieux de mémoire Pierre Noras, die sich am Ende auf sieben B ä nde aus- wuchsen – nicht daran gedacht, Folgeb ä nde nachzuschieben und im Licht des ö ffentlichen Diskurses die Palette der ,,Erinnerungsorte“ st ä ndig zu erweitern. Die drei B ä nde unseres Unternehmens pr ä sentieren nicht etwas, was abgeschlossen und in Stein gemeißelt ist, sie wollen vielmehr anregen, ü ber weitere Lemmata nachzudenken, denen die Dignit ä t eines europ ä ischen Erinnerungsorts eignen k ö nnte. 11 Dem Werk liegt ein weiter ,,Orts“-Begriff zugrunde, weil zwar versucht wird, viele Ph ä no- mene und Entwicklungen von einem Punkt her zu verstehen, aber kein Weg daran vorbei f ü hrte, auch die Spezifika Europas in seinem eigenen Selbstverst ä ndnis im Vergleich zu an- deren Kontinenten herauszuarbeiten, die eine gewisse Systematik erfordern und deswegen das Konzept von ,,Erinnerungsorten“ etwas modifizieren. Ein solches Unternehmen, um es zu wiederholen, ist ein Wagnis, und auch die Tatsache, dass ein sehr internationaler Kreis von Mitarbeitern – aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien, aus Österreich, Italien, der Schweiz und Griechenland, aus Polen, Tschechien und den Niederlanden, nicht zuletzt aus den USA und Israel – gewonnen wurde, ist kein Garant daf ü r, dass die ö ffentliche Resonanz uneingeschr ä nkt positiv ausf ä llt. Erho wird, und dies abseits allen politischen Kalk ü ls, dass das Werk auf seine Weise dazu beitr ä gt, das Bewusstsein von der relativen kulturellen Einheit des Kontinents zu st ä rken und davon, dass der Europ ä isierungsprozess nicht etwas k ü nstlich Aufoktroyiertes ist, sondern ein gewachsenes Konstrukt, das in den gemeinsamen ,,Erinne- rungsorten“ gut gegr ü ndet ist. Es ist den Herausgebern ein Bed ü rfnis, am Ende eines langen Vorbereitungsprozesses Dank auszusprechen: Dem eben genannten ad-hoc-Beirat, den vielen Dutzenden Autoren, die sich in den meisten F ä llen an die (terminlichen und umfangm ä ßigen) Vorgaben gehalten und sich um viel Originalit ä t bem ü ht haben, den Übersetzerinnen, den Mainzer Mitarbeiterinnen, die die eigentliche Last der Manuskriptvorbereitung trugen, nicht zuletzt dem Oldenbourg Verlag, der von den ersten Gespr ä chen an das Vorhaben begeistert aufgriff und mit viel Enga- gement betreute; die Herren Christian Kreuzer und Martin Rethmeier sowie Sabine Walther und Cordula Hubert, die die Last der Endredaktion trugen, sollen hier namentlich erw ä hnt werden. Wir ü bergeben die ersten beiden B ä nde – und in absehbarer Zeit dann auch den dritten – dem Publikum und damit auch der Kritik in der Hoffnung, der historischen For- schung einen Dienst erwiesen und zugleich einen Beitrag zur europ ä ischen Identit ä tssuche und -pflege geleistet zu haben. Pim den Boer Heinz Duchhardt Georg Kreis Wolfgang Schmale 12 1. Mythen Wolfgang Schmale Mythos „Europa“ Aphrodite schickte Europa, Tochter des ph ö nizischen K ö nigs Agenor, einen Traum: Asien und der ,,gegen ü berliegende fremde Erdteil“ stritten sich in Gestalt von zwei Frauen um Europa. Die den fremden Erdteil darstellende Frau zog Europa ,,mit der Gewalt ihrer star- ken H ä nde zu sich“ und ,,sagte, nach dem Willen des Zeus sei ihr Europa als Ehrengabe bestimmt“. Am n ä chsten Morgen spielte Europa wie immer mit ihren Freundinnen am Mee- resgestade, wo Zeus sie entdeckte und sich sofort in sie verliebte. Er verwandelte sich in einen zahm wirkenden Stier, ,,dessen ambrosischer Du auch von ferne den s ü ßen Du der Wiese ü bertraf “. Die M ä dchen waren also zutraulich. ,,Er blieb vor den F ü ßen der untadligen Euro- pa stehen, leckte ihr den Hals und versetzte das M ä dchen in Zauber“. Der sich so menschlich- zutraulich verhaltende Stier legte sich hin, wie eine Einladung an die M ä dchen, auf ihm zu reiten; Europa setzte sich als erste auf seinen R ü cken, da sprang er auf und lief zum Meer. Eu- ropa blickte sich etwas erschrocken nach ihren Freundinnen um, aber es war zu sp ä t, schon lief der Stier ü ber das Wasser, Delphine, anderes Meeresgetier, Nereiden, begleiteten das Paar, Tritonen bliesen mit ihren Muscheltrompeten Hochzeitsmusik. Europa war sofort klar, dass sie es mit einem Gott zu tun hatte, und Zeus offenbarte sich ihr. Er k ü ndigte ihr an, dass er sie nach Kreta f ü hre, wo er mit ihr mehrere S ö hne [Rhadamanthys, Minos und Sarpedon] zeu- gen werde, ,,die alle Herrscher ü ber die Menschen sein werden“ (nach Moschos von Syrakus, um 150 v. Chr.). Wie in Bezug auf die meisten Mythen, verliert sich der Ursprung des Europamythos in den Zeiten. Homer kannte ihn schon, und seitdem wurde er in vielen, weit mehr als hun- dert Varianten immer wieder erz ä hlt. Am h ä ufigsten erw ä hnt wird die Version aus Ovids ,,Metamorphosen“, aber sie stellt letztlich nur eine unter vielen dar, selbst wenn sich mittel- alterliche Poeten und fr ü hneuzeitliche K ü nstler am ehesten von Ovid f ü r ihre Darstellungen antiker Mythen anleiten ließen. Die oben zusammengefasste Version des Moschos von Sy- rakus geh ö rt zu den sch ö nsten antiken Überlieferungen des Mythos, die in vielem genaue Bildvorlagen f ü r die zahllosen ikonographischen Umsetzungen des Mythos beinhalteten. Seit 28 Jahrhunderten geh ö rt der Mythos zu Europa. Es gab Zeiten, in denen er fast in Verges- senheit geraten war, aber eben nur fast. Im Grunde ist auf eine nie wirklich unterbrochene Tradierung zu verweisen, die sowohl die Erz ä hlvarianten wie die bildliche oder gar szeni- sche Umsetzung bis heute betri . Schrumpfversionen des Mythos werden gern eingesetzt, um Reden zu Europa zu schm ü cken. Es ist offensichtlich, dass eine weit verbreitete Kennt- nis des Mythos (in seiner Schrumpfversion) als kollektiver Ankn ü pfungspunkt vorausgesetzt wird. ,,Vom Mythos zur Wirklichkeit“, so lautete 1962 daher der deutsche Titel einer ber ü hm- ten Anthologie des Schweizer Publizisten Denis de Rougemont, doch k ö nnte mit ebenso viel Recht vom Mythos als dem Realsten an Europa gesprochen werden. ,,Mythos Europa“ ver- steht sich mindestens doppeldeutig – einerseits als Verweis auf den Mythos von der Europa und dem Stier, andererseits als allgemeine Charakterisierung Europas ü berhaupt. Alle Versuche, Europa zu definieren, enden mit der Feststellung, dass dies entweder kaum m ö glich sei oder dass die Definition nicht der Willk ü r entbehre. So sind weder ,,Europ ä i- sche Kultur“ noch ,,Kontinent Europa“ unangreifbare Definitionen; Europa stellt im Bereich politischer Bestimmungen zudem mehr dar als ,nur‘ die Europ ä ische Union (EU), obwohl letztere im Vergleich zum Europa des Europarats oder der Organisation f ü r Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein verdichtetes und ausgedehntes Zentrum Europas 15 definiert. Mythen besitzen die Eigenscha des Vieldeutigen und der Vieldeutbarkeit, ihre Urspr ü nge sind dunkel, Definitionen entziehen sie sich; sie sind wandelbar, anpassbar. Alles das scheint auf Europa zuzutreffen, sobald es auf irgendeine Weise festgehalten werden soll – in einer Definition, in einem Bild, in einer historischen Darstellung, im Begriff der europ ä i- schen Identit ä t, der europ ä ischen Kultur. Immer ist es m ö glich, das Gesagte oder Dargestellte zu dekonstruieren, als Mythos zu entlarven. ,,Mythos Europa“ umgrei das Nichtdefinierba- re, das nicht Festhaltbare an Europa. ,,Mythos Europa“ bedeutet freilich zuerst den antiken Mythos von der K ö nigstochter Eu- ropa und Zeus, der sich in einen lieblichen Stier verwandelt. Der reale und o prosaische Charakter der Europ ä ischen Union verdr ä ngt den antiken Europamythos auff ä lligerweise nicht, sondern ermuntert eher dazu, sich auf diese ,h ü bsche‘ Geschichte – denn als solche wird sie meistens angesehen – zur Einleitung oder Ausschm ü ckung einer Europarede zu beziehen. Der Europamythos r ü hrt an Emotionen. Das Gef ü hl, die europ ä ischen Institu- tionen seien ein wenig gef ü hl- und seelenlos, ist weit verbreitet; der antike Europamythos verspricht Abhilfe, solange er als Liebesgeschichte und Erkl ä rung f ü r den Namen Europas verstanden wird. Beides l ä sst sich wiederum leicht als Mythos rund um den Mythos entlar- ven, denn weder l ä sst sich belegen, dass der Kontinent seinen Namen infolge der Europa aus dem Mythos erhielt, noch ist die Lesart des Mythos als Liebesgeschichte wissenscha- lich haltbar. Faktisch wird sie vergewaltigt, und nicht ohne Grund bringt Fran ç oise Gange den Mythos – auch chronologisch – mit der Etablierung m ä nnlich-hegemonialer sozialer wie politischer Herrschasstrukturen in Verbindung. Nach Gange stellt der Europamythos den Ged ä chtnisspeicher f ü r eben diesen fundamentalen historischen Vorgang dar. Das nun ist weder ,h ü bsch‘ – noch nett in einer Europarede als Aufh ä nger verwendbar. Das ä ndert nichts daran, dass der Mythos aufgrund seines erotischen Gehalts von jeher ein Geschenk an die bildenden K ü nste war, und so eifrig, wie sich Karikaturisten seit dem 19. Jahrhundert – allen voran der das Genre pr ä gende Honoré Daumier – des Mythos bedien- ten, um auf europ ä ische Missst ä nde hinzuweisen, muss man sich Sorgen machen, wie sich diese Berufsgruppe den Europa- emen widmen k ö nnte, verf ü gte sie nicht ü ber den endlos variierbaren und verst ü mmelbaren Mythos und k ö nnte sie sich nicht darauf verlassen, dass niemand den wirklichen Gehalt des Mythos wissen m ö chte. Die auch heutzutage eifrige Erw ä hnung des antiken Mythos als rhetorische, bildliche und literarische Figur beruht auf dem Mythos, dass der antike Europamythos eine Liebes- geschichte erz ä hle, die mit den Urspr ü ngen Europas zusammenh ä nge. Nolens volens wird dieser Mythos somit zum Erinnerungsort des Ursprungs Europas; ob das stimmt oder nicht, hat im Grunde keine Bedeutung, weil durch Ursprungsgeschichten eine Gemeinsamkeit, ein gemeinsamer Ursprung belegt wird, der dem Streben nach Einheit und Identit ä t f ö rderlich erscheint. In der Antike erf ü llte der Mythos Europa allerdings kaum diese Funktion, eine Ursprungs- geschichte Europas wurde aus vielerlei Gr ü nden nicht ben ö tigt. Im Vordergrund stand das famili ä r verstandene ema von Liebe, Hochzeit, Nachkommenscha. Im Mittelalter er- wies sich wegen des biblischen Ursprungs die Geschichte von Noah und seinen S ö hnen viel geeigneter als europ ä ische Ursprungsgeschichte im Vergleich zum Europamythos, der heidnisch und unmoralisch war. Die christliche Anverwandlung des Europamythos in die Geschichte von der Seele (Europa), die von Jesus (Stier) gef ü hrt wird, ä nderte den Charakter der Geschichte. Nicht so im Fall von Noah und seinen S ö hnen – Gott teilte die Welt un- ter den S ö hnen Noahs auf; Ham erhielt Afrika, Sem Asien und Jafet Europa, l ä sst sich die Sache vereinfachen (Gen 1, 10,2: V ö lkertafel). Es war nicht schwierig, Jafet zum Stammva- ter der Christen, insbesondere der europ ä ischen Christenheit zu machen. Die Kirchenv ä ter Hieronymus und Ambrosius nahmen sich in der zweiten H ä le des 4. beziehungsweise im 16 fr ü hen 5. Jahrhundert dieser Aufgabe an, Augustinus f ü hrte sie fort. Das ergab eine solide Grundlage f ü r die Nachwelt. Diese Geschichte oder Legende – Mythos w ä re als Bezeichnung nicht ganz korrekt – wurde in Mittelalter und Fr ü her Neuzeit unabl ä ssig verbreitet. Ernst- hae Versuche, Europa zur Stammmutter Europas zu machen, gab es wenige, auch wenn Boccaccio die Europa in seine Galerie ,,De claris mulieribus“ – Galerie der ber ü hmten Frau- en – einreihte und den Namen des Kontinents ausdr ü cklich von ihr ableitete. Einen gewissen politischen Reiz ü bte der Europamythos in der Fr ü hen Neuzeit gleich- wohl aus. Er konnte als Metapher etwas ausdr ü cken, was als klare politische Formulierung viel zu viel Widerstand hervorgerufen h ä tte. Wie es die eingangs zitierte Version des My- thos bei Moschus von Syrakus besagt, hielt Zeus auf Kreta Hochzeit mit Europa, er nahm sie sich zur Braut. Dieses Bild – Europa zur Braut nehmen – war gut einsetzbar. Im 16. und 17. Jahrhundert war die ,,europ ä ische Universalmonarchie“ ein ema f ü r die Herrscher. Vertraut ist es den meisten in der Gestalt Kaiser Karls V., aber viele andere nach ihm bis zu dem franz ö sischen K ö nig Ludwig XIV. und Wilhelm III., der den Titel ,,K ö nig von England, Schottland, Frankreich und Irland“ f ü hrte, verfolgten diesbez ü gliche Ideen. Hintergrund der meisten solcher Ideen war die Vorstellung von Europa als Christlicher Republik, die sich aus den Monarchien und Republiken als Gliedern zusammensetzte. Die Christliche Republik war eine vorausgesetzte Einheit Europas; sie verlangte nach einem gekr ö nten Haupt, ohne dass dies die Abschaffung der vorhandenen Staaten bedeutet h ä tte. Das Schwert erschien in diesen Zusammenh ä ngen keineswegs als die vorrangige oder einzige M ö glichkeit, vielmehr war Heiraten und Erben die sehr viel angesehenere Strategie, die gerne mit dem Haus Öster- reich – Tu, felix Austria, nube – in Verbindung gebracht wird, die aber f ü r alle europ ä ischen Herrscherh ä user die erste Wahl darstellte. Zus ä tzlich er ö ffnete sich in bestimmten F ä llen die Wahl zum K ö nig beziehungsweise Kaiser als Option, was bekanntermaßen zu einer Reihe von Doppelmonarchien mit europ ä ischem Anspruch f ü hrte. ,,Europa zur Braut nehmen“ wurde als Metapher bei Hochzeiten und anderen Festen vorgef ü hrt. Es gibt im 16. und 17. Jahrhundert habsburgische, pf ä lzische, franz ö sische oder oranische Beispiele hierf ü r. Meistens handelte es sich um Hochzeiten, aber auch Triumph- z ü ge boten Anlass, diese Brautnahme mit szenischen und bildlichen Mitteln auszudr ü cken. Frauenraub als Weg zur Eheschließung war zwar ungesetzlich, aber sozial unter ganz be- stimmten Bedingungen toleriert. Anders ausgedr ü ckt: F ü r die Zeitgenossen insbesondere des 17. Jahrhunderts stellte die metaphorische Verwendung des Europamythos, in dem eine Frau, wenn auch von einem Gott, geraubt wurde, keine H ü rde dar, die allzu starke Verrenkungen erforderlich gemacht h ä tte. Mit dem ema Frauenraub zum Zweck der Eheschließung konnte man wunderbar spielen – und hatten nicht die R ö mer, diese großen Vorbilder, dasselbe getan, als sie die Sabinerinnen raubten, hatte ihnen die Geschichte nicht Recht gegeben? Also, Schwert und Eheschließung zu kombinieren, war eine legitime Vorstellung. Mit Macht ausgestattete Frauen der Fr ü hen Neuzeit ließen sich mitunter als Europa (mit oder ohne Stier) portr ä tieren. So hielt es Anna von Österreich – Anne d’Autriche –, die Mut- ter Ludwigs XIV. Das zumindest kunsthistorisch vielleicht sch ö nste Beispiel hierf ü r kann in der Europa auf dem Stier von Fran ç ois Boucher gesehen werden, ein Bild, das Madame de Pompadour 1747 portr ä tiert, deren politischer Einfluss am Hof Ludwigs XV. gut bekannt ist. Der Rationalismus der Aufkl ä rung, aber noch mehr der sich zum Beherrschenden auf- schwingende Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, ließen derartige Geschichten vom Ursprung der Europ ä er obsolet werden. Die nationalen Mythen erf ü llten die einheits- und identit ä tsstiende Funktion, die von einem Mythos erwartet werden konnte, viel besser. Eu- ropa war dar ü ber nicht vergessen, aber im Gegensatz zu den Nationen ging es weniger um gemeinsame Urspr ü nge als um ein Projekt Europa, um ein Zukunsprojekt. Dass Europa 17 eine Kultur im Singular darstelle und sich darin eine gegebene Einheit begr ü nde, war ein Gemeinplatz. Die Diskussionen drehten sich um ein politisches Europa, das auf der An- nahme sich br ü derlich zueinander verhaltender Nationen aufbaute und sich im Begriff der ,,Vereinigten Staaten von Europa“ herauskristallisierte. Da war etwas zu schaffen, zu gr ü n- den, nichts, wa