Göttinger Studien zur Kulturanthropologie / Europäischen Ethnologie Göttingen Studies in Cultural Anthropology / European Ethnology Universitätsverlag Göttingen Sulamith Hamra Projekt ‚Integration‘ Berliner Stadtteilmütterprojekte als Aushandlungsraum städtischer Integrationspolitik Sulamith Hamra Projekt ‚Integration‘ Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz erschienen als Band 6 in der Reihe „Göttinger Studien zur Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie“ im U niversitätsverlag Göttingen 201 8 Sulamith Hamra Projekt ‚Integration‘ Berliner Stadtteilmütterprojekte als Aushandlungsraum städtischer Integrationspolitik Göttinger Studien zur Kulturanthropologie /Europäischen Ethnologie, Band 6 Universitätsverlag Göttingen 20 1 8 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.d nb .de> abrufbar „Göttinger Studien zur Kulturanthropologie/Eur opäischen Ethnologie “ , herausgegeben von Prof. Dr. Regina Bendix E - Mail: rbendix@gwdg.de Prof. Dr. Moritz Ege E - Mail: mege@uni - goettingen.de Prof. Dr. Sabine Hess E - Mail: shess@uni - goettingen.de Prof. Dr. Carola Lipp E - Mail: Carola.Lipp@phil.uni - goettingen.de Georg - August - Universität Göttingen Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie Heinrich - Düker - Weg 14 37073 Göttingen Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den Göttinger Universitätskatalog (GUK) bei der Niedersächsischen Staats - und Universitätsbibliothek Göttingen (http://www.sub.uni - goettingen.de) erreichbar. Es gelten d ie Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Satz und Layout: Sascha Bühler Bildbearbeitung : Ilan Hamra Titelabbildung: Kristi Blokhin/shutterstock.com © 2018 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-86395-390-4 DOI: https://doi.org/10.17875/gup2018-1116 eISSN: 2512-7055 Inhalt Einleitung 11 Fragestellung der Fallstudie 14 Aufbau der Arbeit 15 1. Fachliche und empirische Verortungen: Stadtteilmütterprojekte als Forschungsfeld 19 1 1 Integrationspolitik in Deutschland 20 1 1 1 Begrifflichkeiten des integrationspolitischen Forschungsfeldes 21 1 1 2 Weichenstellungen deutscher Integrationspolitik 22 1 1 3 Integrationspolitik und der Diskurs um die „Spaltung der Städte“ 28 1 1 4 Umsetzungsbedingungen einer deutschen Integrationspolitik seit 1998 38 1 2 Der Ausbau staatlicher Familienförderungsangebote und das Programm der Berliner Stadtteilmütter 40 1 3 Integrationsdiskurs und Rassismustheorie in der Migrationsforschung 46 1 3 1 Rassismustheorie in der kritischen Migrationsforschung 52 1 3 2 Dimensionen des Rassismusbegriffs der kritischen Migrationsforschung 56 1 4 Theoretische und methodische Positionierungen 62 1 4 1 Die Machtanalytik Foucaults: Gouvernementalität, Diskurs, Subjekt, Genealogie 63 1 4 2 Dispositiv, Regime, Assemblage 66 1 4 3 Ethnografisches Forschen und die ethnografische Regimeanalyse 71 1 4 4 Umsetzung und Analysevorgehen der vorliegenden Untersuchung 73 Zwischenraum – vom Feld zur Fallstudie 76 2. Rahmenbedingungen und Umsetzungen von Stadtteilmütterprojekten in Berlin 79 2 1 Berliner Integrationspolitik 79 2 1 1 Integrationspolitik in Berlin zwischen 2003 und 2012 83 2 1 2 Der Fall Neukölln(s) 92 2 2 Stadtteilmütter in Neukölln 99 Inhalt 6 2 2 1 Entstehungsgeschichte der Neuköllner Stadtteilmütter: vom Mikroprojekt zum gesamtbezirklichen Großprojekt und Aushängeschild Neuköllns 99 2 2 2 Aufbau und räumliche Verortung der Stadtteilmütter in Neukölln 106 2 2 3 Die projektfinanzierenden Akteure 107 2 2 4 Laufphasen des Projekts „Stadtteilmütter in Neukölln“ 125 2 3 Stadtteilmütter in Kreuzberg 158 2 3 1 Aufbau und räumliche Verortung der Stadtteilmütter Kreuzberg 161 2 3 2 Projektfinanzierende Akteure 162 2 3 3 Projektverlauf 166 2 4 Stadtteilmütter in Steglitz und Charlottenburg 172 2 4 1 Aufbau und räumliche Verortung der Stadtteilmütter in Steglitz und Charlottenburg 173 2 4 2 (Finanzierende) Akteure im Projekt 173 2 4 3 Projektverlauf der Stadtteilmütter Steglitz (2008–2012) 182 2 4 4 Projektverlauf der Stadtteilmütter Charlottenburg (2009–2012) 186 2 5 Berliner Stadtteilmütterprojekte und die Entstehung des Integrationslotsenprogramms 191 2 5 1 Stadtteilmütter im Integrationslotsenprogramm 194 2 5 2 Aushandlungen im Kontext des Integrationslotsenprogramms 196 2 6 Zwischenbilanz und weiterführende Diskussion: Projektübergreifende (Finanzierungs)Dimensionen Berliner Stadtteilmütterarbeit 202 2 6 1 Effekte langjähriger Finanzierungsimprovisation und zunehmender Bestandsdauer der Stadtteilmütter 205 2 6 2 Strategien in einem unterfinanzierten Feld 207 2 6 3 Interne Trägerpolitiken 214 2 6 4 Interkulturelle Öffnung gesellschaftlicher Strukturen 215 2 6 5 Fehlende Anschlüsse: strukturelle Mängel und die interkulturelle Öffnung etablierter Einrichtungen 218 2 6 6 Berliner Stadtteilmütter nach Einrichtung des Berliner Rahmenprogramms für Integrationslotsinnen und Integrationslotsen 220 Inhalt 7 3. Aushandlungsfelder einer integrationspolitischen Assemblage 223 3 1 Kopftuch und Händedruck 224 3 1 1 Cultural Brokers? 252 3 1 2 Alltägliche Diskriminierungserfahrungen 253 3 1 3 Differenzielle Inklusion in rassifizierenden Gesellschaftsstrukturen 256 3 1 4 Das Stadtteilmütterprojekt als Ort der Vermittlung – Cultural Broker im Diskurs um interkulturelle Öffnung 269 3 2 Arbeit, Integration und Wissenshierarchien 275 3 2 1 Mütter am Arbeitsmarkt: Rollenbilder und gesellschaftliche Strukturen 275 3 2 2 Exklusionsfaktoren des Arbeitsmarkts und die Zielgruppe des Stadtteilmütterprojekts 277 3 2 3 Ansätze zur Öffnung des ersten Arbeitsmarkts im sozialpädagogischen Arbeitsfeld: Interkulturelle Familienbegleitung und mögliche Anschlüsse 282 3 2 4 Die Demonstration der Stadtteilmütter 291 3 3 Expertinnen der Repräsentation – Stadtteilmütterprojekte und die Medien 293 3 3 1 Öffentlichkeitsarbeit der Stadtteilmütterprojekte und ihre mediale Professionalisierung 298 3 3 2 Stadtteilmütter und Stadtteilmütterprojekte in den Medien 307 3 3 3 Repräsentation und Visualisierbarkeit 312 Fazit: Berliner Stadtteilmütterprojekte als Aushandlungsraum städtischer Integrationspolitik 317 Ausblick 331 Anhang 335 Literaturverzeichnis 335 Verzeichnis zitierter Zeitungsartikel 356 Verzeichnis zitierter Fernsehsendungen 360 Verzeichnis zitierter Websites 360 Verzeichnis zitierter Dokumente 362 Verzeichnis zitierter Interviews 368 Verzeichnis zitierter Feldnotizen (FN) und Arbeitstagebuch-Einträge 370 Verzeichnis zitierter Veranstaltungstranskripte 372 Abbildungsverzeichnis 373 Inhalt 8 Verzeichnis der Infokästen Infokasten 1: Die „Culture of Poverty“-Debatte 30 Infokasten 2: Wohlfahrtsverbände 39 Infokasten 3: Foucault in der Sozialpädagogik 44 Infokasten 4: Diversity 79 Infokasten 5: Berliner Schuldenkrise und Bankenskandal 80 Infokasten 6: Pluralistische Integrationspositionen 87 Infokasten 7: Gemeinschaftliche Integrationspositionen I 95 Infokasten 8: Gemeinschaftliche Integrationspositionen II 98 Infokasten 9: Jobcenter 114 Infokasten 10: Relevante Instrumente der Arbeitsförderung für Stadtteilmütterprojekte in Berlin 127 Infokasten 11: Das Landesrahmenprogramm Integrationslotsinnen und Integrationslotsen 194 Für Benjamin, Jael und Noah Dank Diese Arbeit wäre ohne die Hilfe und Unterstützung vieler Menschen und einiger Institutionen nicht möglich gewesen An erster Stelle danke ich dem Evangelischen Studienwerk Villigst und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttin- gen (GSGG), die dieses Dissertationsprojekt großzügig finanziell unterstützt haben Ohne meine Betreuerinnen Prof Dr Sabine Hess und Prof Dr Michi Knecht sowie Prof Dr Stefan Beck (†) hätte ich mich nicht an dieses Projekt gewagt; alle drei haben mich in unterschiedlicher Weise dabei begleitet und immer konstruktiv unterstützt; dafür bin ich ihnen zu großem Dank verpflichtet Mein Dank gilt auch meinen Interview- und Gesprächspartner_innen im Feld und den Mitwirkenden des Labors „Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung“ am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Georg-August-Uni- versität Göttingen für die vielen anregenden Diskussionen Viele Menschen haben diese Arbeit mit kritischem und wohlwollendem Interesse begleitet Insbesondere be- danken möchte ich mich aber bei Jens Adam, Keziban Aydin, Bettina Barthel, Iris Bechtold, Jonas Bechtold, Prof Dr Beate Binder, Dr Mirjam Bitter, Dr Katharina Böcherer-Linder, Grischa Böhmer, Prof Dr Manuela Bojadzijev, Frederik Bombosch, Barbara Canton, Idil Efe, Ludger Frese, Dr Abdulmassih Hamra, Ilan Hamra, Valerie Hamra, Susanne Heiter, Claudia Hesse-Kresinsky, Dr Katja Jana, Ulrike Koch, Maria Macher, Hanadi Mourad, Muna Naddaf, Tim Opitz, Philipp Ratfisch, Alix Rehlinger, Dr Laura Stielike, Songül Süsem-Kessel, Dr Jakob Tröndle, Judith Tröndle, Christian Vater, Eva-Maria Wagner, Johannes Wagner, Julian Warner, Dr Holger Wilcke, Betul Yilmaz, Prof Norbert Zwölfer und ganz besonders bei Benedikt Zwölfer Einleitung „Berlin gewinnt den Metropolis Award 2008 – ‚Stadtteilmütter‘“ (PM SenStadt 08/2008), betitelt die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung am 22 Au- gust 2008 eine Pressemitteilung zur Verleihung des internationalen Metropolis Award an die Stadt Berlin „Einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität in den Metropolen dieser Welt“ habe „Berlin mit dem Projekt ‚Stadtteilmütter‘ gelei- stet“ (ebd ) Am 24 Oktober 2008 werde die Berliner Staatssekretärin für Verkehr und Stadtplanung die Ehrung offiziell entgegennehmen „Diese hochrangige inter- nationale Auszeichnung“ (ebd ), so der Mitteilungstext abschließend, „verspricht internationale Aufmerksamkeit und einen großen Gewinn für Berlin“ (ebd ) Erst ein gutes halbes Jahr später gibt der regierende Berliner Bürgermeister die Ehrung des Neuköllner Stadtteilmütterprojekts im Roten Rathaus bekannt (vgl PM des Landes Berlin 03/2009) Dazwischen liegen Monate intensiver Verhandlungen und strategischer Öffentlichkeitsarbeit unterschiedlicher politischer und sozialer Akteur_innen des Projekts, denn bis November 2008 steht ein Finanzierungsaus zum Jahresende im Raum Mit der repräsentativen Würdigung des Stadtteilmüt- terprojekts im März 2009 und der Veröffentlichung einer mit Porträts aufwändig illustrierten Broschüre der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im Juli 2009 mit dem Titel „Stadtteilmütter Ein Berliner Integrationsprojekt“ (SenStadt 2009) kommt diese Episode der Projekthistorie (vorerst) zum Abschluss Abb. 1: Pressemitteilung vom 11.03.2009 des Presse- und Infor- mationsamtes des Landes Berlin Einleitung 12 Berliner Stadtteilmütterprojekte, dies wird hier deutlich, sind ein stadtpolitisch umkämpftes Feld: Komplizierte Konstellationen zumeist befristeter Finanzierung und diverse Akteure auf bezirklicher, gesamtstädtischer, bundespolitischer, europä- ischer und – im Fall des Metropolis Awards – sogar globaler Ebene beeinflussen das Projekt in einem diskursiven Aushandlungsfeld, dessen Eckpunkte in den Pres- semitteilungen umschrieben werden, wenn es um „unterschiedliche religiöse und kulturelle Lebenswelten“ geht, um „Engagement“ und die Rolle des „Berliner Quar- tiersmanagement[programms]“, „Integrationsarbeit [...] in [...] Familien“ und „Frauen und Mütter mit Migrationshintergrund“ (PM des Landes Berlin 03/2009) Dass die Arbeit dieses Sozialprojekts Kerndimensionen städtischen Lebens, urbaner Planung und Berliner Stadtpolitik trifft, veranschaulicht schon die Pressemitteilung der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom August 2008: „Der Metropolis Award wird nur an Mitgliedsstädte von Metropolis verliehen, die herausragende Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Lebensqualität ergriffen haben, welche einer weltweiten Berücksichtigung würdig sind Bei der Wahl um diese besondere Auszeichnung wurden nur Projekte berück- sichtigt, die mindestens einen der folgenden Punkte fokussieren: Umwelt, Bildung, Gesundheit, Wohnbau, öffentlicher Nahverkehr und Arbeitsbe- schaffungsmaßnahmen Weitere, für die Allgemeinheit wichtige Einflüsse, können ebenfalls in die Bewertung einfließen Das Projekt ‚Stadtteilmütter‘ vereint soziale, ökonomische sowie ökologische Aspekte gleichermaßen “ (PM SenStadt 08/2008) Die Pressemitteilungen vom August 2008 und vom März 2009 machen deut- lich, dass Berliner Stadtteilmütterprojekte Teil der Repräsentationspolitiken einer Vielzahl städtischer Akteur_innen sind Gleichzeitig entsteht das Projektkonzept in einem Zeitraum, in dem sich die bundesdeutsche Integrationspolitik vor dem Hintergrund eines erstmaligen nationalen Selbstbekenntnisses als Einwanderungs- land (neu) formiert (vgl Kap 1 1) Die konkreten Umsetzungen unterschiedlicher Stadtteilmütterprojekte sind sowohl Produkte dieser integrationspolitischen Ent- wicklungen als auch Auslöser für neue Aushandlungsprozesse, die von ihnen und ihren Akteur_innen geprägt werden Meine erste Begegnung mit dem Projekt fällt in den November 2008, als ich mich auf eine finanzierungsbedingt kurzfristig ausgeschriebene Stelle als Mitarbeiterin bei den Stadtteilmüttern in Neukölln bewarb Ohne mir der hier skizzierten Hin- tergründe und Zusammenhänge bewusst zu sein, startete ich im Januar 2009 als Koordinatorin des Stadtteilmütter-Teams in den Nord-Neuköllner Quartiersma- nagementgebieten Richardplatz und Ganghofer Straße Angesichts der Aufgaben- fülle, die ich als Projektneuling zu bewältigen versuchte, fragte ich die Projektlei- terin nach einigen Wochen, warum wir denn zusätzlich noch jede der nicht enden wollenden Interviewanfragen von Medienvertretern zusagen müssten? „Weil es das Projekt sonst nicht mehr gäbe“, war die Antwort, die als eines von vielen Schlüssel- Einleitung 13 erlebnissen meines Arbeitsalltags zu dem Wunsch führte, das „Phänomen Stadtteil- mütter“ in seiner Komplexität zu untersuchen Auf persönlicher Ebene ging es mir darum, die Konflikte des eigenen Arbeitsalltags zu verstehen Vor dem Hintergrund der vielen Irritationen, die die Projektarbeit mir und vielen anderen Akteur_innen des Feldes bescherte, erschien es mir jedoch vor allem wichtig, diese Erfahrungen sozialpolitischer Praxisarbeit auf der Grundlage des wissenschaftlichen Forschungs- stands zu analysieren und mit Blick auf ihre gesellschaftspolitischen Implikationen und Konsequenzen zu diskutieren Die vorliegende Fallstudie beruht auf meiner Begleitung und Beobachtung Ber- liner Stadtteilmütterprojekte über sieben Jahre hinweg: zunächst für 13 Monate als Projektkoordinatorin und später als Ethnografin im Rahmen eines Dissertationspro- jekts 1 Interviews, Projektdokumente und mediale Berichte stellen den Materialkor- pus der Forschung, der einen Untersuchungszeitraum von über zwölf Jahren abdeckt In meinem Beobachtungsfokus liegen die Aushandlungsprozesse um die prak- tische Realisierung des Stadtteilmütterprojekts und ihre integrationspolitische und repräsentative Bedeutung 2 Konzeptionell stütze ich mich dabei auf theoretische Überlegungen der kritischen Migrationsforschung zum Machtbegriff Michel Fou- caults und die daran anschließenden Begrifflichkeiten der Assemblage und des Re- gimes Diese theoretische Ausrichtung ermöglicht es, Dynamiken und Wandlungs- prozesse gesellschaftlicher Machtgefüge in den Blick zu nehmen Die Assemblage erfasst dabei tendenziell entstehende Konstellationen und ermöglicht es, „Einhei- ten zu bestimmen, die für eine gewisse Zeitspanne eine strukturelle Kohärenz und Konsistenz haben“ (Hess/Kasparek/Schwertl 2015a:12), während ich auf den Regi- mebegriff zurückgreife, um das gesamte Machtgefüge in den Blick zu nehmen In diesem Sinne verstehe ich die Umsetzung des Stadtteilmütterprojekts unter den ge- gebenen Berliner Rahmenbedingungen und durch die Beteiligung diverser Akteure, ihrer Arbeitspraxen und Aushandlungsprozesse als eine Assemblage, die Teil eines Migrationsregimes der Bundesrepublik Deutschland ist Wie viele seit den 1990er-Jahren entstandene Forschungsarbeiten ist auch die- se Untersuchung keine reine Ethnografie, sondern lässt sich mit Gisela Welz eher als „multimethodische Feldforschung“ (Welz 1996: 94) bezeichnen Um den For- 1 Ohne die familienfreundliche Unterstützung des Evangelischen Studienwerks Villigst im Rahmen eines Promotionsstipendiums und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) der Georg-August-Universität mit einem unbürokratischen Abschlussstipendium wäre die Verwirklichung dieses Dissertationsprojekts nicht möglich gewesen 2 Meine Untersuchung fokussiert damit auf einen Handlungsrahmen im institutionellen Projekt- kontext Die Stadtteilmütter selbst sind als „Projektteilnehmerinnen“ nur eine (sehr heterogene) Akteur_innengruppe von vielen – und darüber hinaus mit wenig „institutioneller Macht“ aus- gestattet Um sie oder die von ihnen untersuchten Familien in den Mittelpunkt meiner Forschung zu rücken, hätte es einer anderen Fragestellung bedurft Es liegen jedoch Untersuchungen vor, die dies tun, siehe beispielsweise die erziehungswissenschaftliche Dissertationsforschung Liv-Berit Kochs zur Bedeutung des Stadtteilmütterprojekts für (ehemalige) Stadtteilmütter und ihre in- dividuellen Verwirklichungschancen (Koch 2017; vgl Koch 2015) Einleitung 14 schungsgegenstand in seiner Komplexität erfassen zu können, greife ich in der Daten- erhebung auf ein Repertoire anthropologischer Forschungsmethoden zurück, das Sabine Hess und Vassilis Tsianos (2010) mit ihrem theoriegeleiteten methodischen Konzept der ethnografischen Regimeanalyse für die praxeologische Untersuchung von Machtgefügen systematisiert haben Berlin – dies wird an den eingangs wiedergegebenen Pressemitteilungen deutlich – ist als „sozialer Raum“ (Knecht/Niedermüller 1998: 6) und „symbolische[s] Pro- dukt“ (ebd ) konstitutiver Bestandteil der hier untersuchten Assemblage im Kon- text Berliner Stadtteilmütterprojekte Im Untersuchungsfokus der vorliegenden Forschung sind die daran geknüpften Aushandlungsprozesse (post)migrantischer Stadtpolitiken, die sich in den Umsetzungen der Berliner Stadtteilmütterprojekte manifestieren Die vorliegende Analyse steht damit in der Tradition sozialanthropo- logischer Forschung im Schnittfeld von Stadt, Migration und Armut Fachtheore- tisch schließt sie an Debatten der kritischen Migrations- und Rassismusforschung um den Begriff der Integration an Fragestellung der Fallstudie Infolge einer enormen medialen Präsenz wurde die Idee des Stadtteilmütterpro- jekts vielfach weitergetragen und in andere Projekte übernommen In Berlin selbst wurde das Projektkonzept von drei verschiedenen Sozialen Trägern der Diakonie in vier Projekten systematisch umgesetzt Jedes dieser Projekte in den Bezirken Neu- kölln, Kreuzberg, Steglitz und Charlottenburg arbeitet(e) auf der Basis verschiede- ner räumlicher und politischer Konstellationen und differierender Finanzierungs- modelle Am Beispiel dieser Projekte untersuche ich, inwiefern sich verschiedene Finanzierungsbedingungen und gesellschaftliche, politische und administrative Konstellationen auf die Umsetzung der ursprünglichen Projektidee auswirken Ich gehe der Frage nach, wie dabei entstehende Handlungsspielräume durch die betei- ligten Akteur_innen genutzt werden und welche Arbeitspraxen sich im Projektall- tag im Umgang damit entwickeln Im Kontext städtischer Integrationspolitiken in Deutschland untersuche ich darüber hinaus, wofür die Berliner Stadtteilmütterpro- jekte repräsentativ stehen und welche Aushandlungsprozesse daran geknüpft sind Berücksichtigt werden dabei sowohl die institutionellen Projektkontexte als auch die Rolle einzelner Persönlichkeiten und von ihnen beeinflusste Dynamiken inner- halb dieser Strukturen Einleitung 15 Aufbau der Arbeit In Annäherung an den Forschungsgegenstand bestimme ich im ersten Teil der vor- liegenden Arbeit zunächst das Forschungsfeld, indem ich seine empirischen und theoretischen Bestandteile herausarbeite Erst im Anschluss daran stelle ich mein eigenes theoretisches und methodisches Vorgehen im Rahmen der vorliegenden Fallstudie dar, da dieses sich aus der wissenschaftlichen Positionierung innerhalb der Gegebenheiten des Forschungsfeldes ableitet Im zweiten Teil stelle ich meine Fallstudie vor: die untersuchten Berliner Stadtteilmütterprojekte Der Fokus liegt dabei auf ihren Entwicklungen und Umsetzungsbedingungen sowie den Aushand- lungen und Dynamiken, die sich daraus für den Bereich integrationspolitischer Maßnahmen ergeben Während ich mich hier an institutionellen und finanziellen Rahmenbedingungen der Projektarbeit orientiere, konzentriere ich mich im dritten Teil der Arbeit auf drei konkrete Aushandlungsfelder der Projektpraxis, die mit inte- grationspolitischen Zielsetzungen der Projektakteur_innen verknüpft sind 3 Der erste Teil dient einer fachlichen und empirischen Verortung der vorliegen- den Fallstudie In Kapitel 1 1 werde ich zunächst kurz auf meinen Umgang mit den Begrifflichkeiten des Feldes integrationspolitischer Maßnahmen eingehen, dann skizziere ich die Entstehung des Politikfelds der Integrationspolitik in Deutschland, wobei ich auf dessen Verknüpfung mit dem Feld der Stadtentwicklung eingehe Zum besseren Verständnis des Forschungsfeldes werde ich danach das Stadtteilmütter- Programm selbst als staatliches Familienförderungsangebot vorstellen und dessen Verknüpfung mit den Bereichen der Sozial- bzw Interkulturellen Pädagogik, den Erziehungswissenschaften und dem Bereich der Sozialen Arbeit skizzieren (Kap 1 2) Zentral im untersuchten Forschungsfeld sind gesellschaftliche und wissenschaft- liche Debatten um die Integration von Migrant_innen Aus einer Perspektive der kritischen Migrationsforschung gehe ich darum in Kapitel 1 3 genauer auf den ge- sellschaftspolitischen Diskurs um „Integration“ ein Da dieser Integrationsdiskurs nicht angemessen analysiert werden kann, ohne damit verknüpfte Rassismen zu benennen, diskutiere ich in Kapitel 1 3 2 verschiedene Dimensionen gesellschaftli- cher Rassismen, wobei ich auf Überlegungen der rassismustheoretisch orientierten kritischen Migrationsforschung fokussiere Unter Rückgriff auf soziologische Be- grifflichkeiten kann die Arbeit der Berliner Stadtteilmütterprojekte als Teil eines Institutionalisierungsprozesses von integrationspolitischen Maßnahmen begriffen werden In diesem Zusammenhang gehe ich darum auf den Begriff der institutio- nellen Diskriminierung etwas ausführlicher ein (Kap 1 3) Der so herausgearbei - tete Rassismusbegriff entsteht in intensiver Auseinandersetzung mit machtanalyti- 3 Neben dem regulären Kapitelaufbau habe ich im Verschriftlichungsprozess meiner Untersuchungs- ergebnisse auf das Format von Informationskästen zurückgegriffen, die parallel zur Erzählstruktur des Haupttextes verlaufen Diese elf Infokästen dienen der Vertiefung von Hintergrundwissen, das für die Vollständigkeit des jeweils verfolgten Arguments nicht unmittelbar notwendig ist, aber dessen Einordnung erleichtert oder seine Tragweite verdeutlicht Um das Auffinden zu erleichtern, befindet sich ein Verzeichnis der Infokästen am Ende des Inhaltsverzeichnisses Einleitung 16 schen Ansätzen Michel Foucaults Bevor ich am Ende des ersten Teils mein eigenes Vorgehen bei der Umsetzung und Analyse der vorliegenden Untersuchung einer Assemblage innerhalb eines Migrationsregimes skizziere, gehe ich darum kurz auf die Abgrenzung der von Foucault inspirierten Begrifflichkeiten der Assemblage, des Dispositivs und des Regimes ein Mit der ethnografischen Regimeanalyse stelle ich in diesem Zusammenhang ein methodisches Konzept vor, das versucht, komplexe Forschungsgegenstände empirisch und analytisch greifbar zu machen (Kap 1 4) Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit konzentriere ich mich auf die konkre- ten Umsetzungen der untersuchten Stadtteilmütterprojekte in Berlin Den Auftakt bildet dabei eine Darstellung der konkreten Rahmenbedingungen vor dem Hin- tergrund kommunaler integrationspolitischer Konstellationen (Kap 2 1) Daran anschließend erläutere ich die Entstehung des ersten Berliner Stadtteilmütterpro- jekts, der Stadtteilmütter in Neukölln, und arbeite in diesem Zusammenhang die integrationspolitischen Positionen darin involvierter Akteure heraus Mit Blick auf die konkreten Auswirkungen gegebener finanzieller, politischer administrativer und geografischer Rahmenbedingungen zeichne ich vier Phasen der Projektumsetzung über einen Zeitraum von zehn Jahren nach (Kap 2 2) Danach stelle ich Akteurs- konstellationen und Projektumsetzungen der anderen Berliner Stadtteilmütterpro- jekte dar (Kap 2 3 und 2 4) – auch hier mit Blick auf integrationspolitische Posi- tionen der involvierten Akteure, Finanzierungsbedingungen und im Vergleich zur Projektsituation in Neukölln Die Stadtteilmütterprojekte in Steglitz und Charlot- tenburg werden dabei in einem Kapitel vorgestellt, da beide vom gleichen Sozialen Träger, dem Diakonischen Werk Steglitz-Teltow-Zehlendorf (DWSTZ), umgesetzt werden Kapitel 2 5 schließt chronologisch an die Darstellungen der Projektverläufe in Neukölln, Kreuzberg, Steglitz und Charlottenburg an und skizziert die Fortführung der Stadtteilmütterprojekte im neu entstehenden Landesrahmenprogramm Berliner Integrationslotsen Gestartet 2013, ist das Programm selbst Ergebnis eines politi- schen Aushandlungsprozesses für mehr Finanzierungssicherheit, an dem die Stadt- teilmütterprojekte maßgeblich beteiligt sind Bezüglich der Vorstellung des Lan- desrahmenprogramms konzentriere ich mich auf Aushandlungsprozesse, die dessen strategische Ausrichtung bezüglich der Stadtteilmütterprojekte betreffen Aufbau- end auf der vorangegangenen Analyse der unterschiedlichen Projektkonstellationen diskutiere ich am Ende des zweiten Teils zentrale projektübergreifende Dimensio- nen der Stadtteilmütterarbeit als Ergebnis integrationspolitischer Voraussetzungen in Berlin (Kap 2 6) Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit gehe ich auf drei zentrale Problemkon- stellationen ein, die sich vom Forschungsmaterial ausgehend über den gesamten Forschungszeitraum hinweg als Schlüsselthemen der Arbeit Berliner Stadtteilmüt- terprojekte herauskristallisieren und wichtige integrationspolitische Aushandlungs- felder darstellen: Am Neuköllner Beispiel arbeite ich einen langjährigen Konflikt um muslimisch konnotiertes Auftreten von Stadtteilmüttern heraus und diskutiere Einleitung 17 darauf aufbauend Formen und Auswirkungen rassifizierender Gesellschaftsstruk- turen im Kontext der Stadtteilmütterprojekte (Kap 3 1) Damit verknüpft ist die Problematik fehlender Zugänge zum Arbeitsmarkt für Stadtteilmütter Vor dem Hintergrund von Kriterien der Projektteilnahme, die intersektionale (rassifzieren- de und anders diskriminierende) Exklusionsfaktoren darstellen, beschreibe ich in diesem Zusammenhang die Aushandlungsprozesse um Ansätze zur Öffnung sozi- alpädagogischer Arbeitsbereiche für Stadtteilmütter (Kap 3 2) Mit Blick auf die beeindruckende mediale Präsenz vor allem der Stadtteilmütter in Neukölln arbeite ich am Ende des dritten Teils Dynamiken medialer Repräsentation von Stadtteil- müttern bzw Stadtteilmütterprojekten heraus Zunächst zeige ich dabei, wie ein Teil der Projekte im Laufe der Jahre einen sehr professionellen Umgang mit den Medien entwickelt hat, dann gehe ich auf die gesellschaftspolitischen Implikationen der Darstellungen von Stadtteilmütterprojekten durch die Medien ein (Kap 3 3) Im Fazit schließlich führe ich die Ergebnisse aller analysierten Projektdimensionen mit Blick auf darin manifestierte Aushandlungsprozesse städtischer Integrationspo- litiken und ihre gesellschaftspolitischen Implikationen zusammen