Die französisch-eidgenössischen Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert Verhandeln mit Republiken Andreas Affolter Verhandeln mit Republiken OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR EXTERNA Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven Herausgegeben von André Krischer, Barbara Stollberg-Rilinger, Hillard von Thiessen und Christian Windler Band 11 Andreas Affolter Verhandeln mit Republiken Die französisch-eidgenössischen Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert 2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Großer Rat der Stadt und Republik Bern (Ratssaal), Berner Regimentstafel von Johann Grimm, 1726-1735, Öl auf Holz (Ausschnitt), Burgerbibliothek Bern. © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Sara Zarzutzki, Düsseldorf Satz: büro mn, Bielefeld Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50717-6 Meinen Eltern OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR Inhalt Danksagung ................................................................................................................ 11 1 Einleitung ............................................................................................................ 13 1.1 Forschungskontext ...................................................................................... 15 1.2 Gegenstand der Studie und Stand der Forschung ............................. 20 1.3 Quellen und Gliederung ........................................................................... 31 2 Ungleiche Souveräne ........................................................................................ 35 2.1 Interaktionen im Medium des diplomatischen Zeremoniells ......... 37 2.1.1 Klarstes Zeichen der Souveränität? Entsenden und Empfangen von Botschaftern .......................... 38 2.1.2 Empfänge und Einritte: Die Präzedenz des Ambassadors in der Eidgenossenschaft ............................... 50 2.1.3 Umstrittene Ungleichheit: Bemühungen um eine Zeremoniellverbesserung ............................................... 59 2.1.4 Zusammenfassung: Republikanische Souveränität und diplomatisches Zeremoniell .................................................. 69 2.2 Konflikte um die Souveränität der Orte ............................................... 74 2.2.1 Das Freiburger Soldreglement und die Bestrafung der Solddienstoffiziere ..................................................................... 75 2.2.2 Der Stockschlaghandel in Basel ................................................... 81 2.2.3 Die Affäre La Chapelle in Solothurn .......................................... 88 2.2.4 Zusammenfassung: Souveränität, Autonomie und die Protektion fremder Untertanen ..................................... 92 2.3 Ein alternatives Beziehungsmodell: Der französische König als Patron der eidgenössischen Orte ...................................................... 97 3 Das Netzwerk des Ambassadors .................................................................... 105 3.1 Der französische Ambassador: Claude-Théophile de Bésiade, Marquis d’Avaray ............................... 107 3.2 Personale Beziehungen in den eidgenössischen Orten ..................... 112 3.2.1 Das eidgenös sische Korrespondenznetzwerk des Ambassadors ............................................................................... 114 3.2.2 Unterschiede in der Akzeptanz personaler Beziehungen zu fremden Gesandten .................................................................... 123 OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR 3.3 Praktiken partikularer Kommunikation ................................................ 136 3.3.1 Unterredungen .................................................................................. 137 3.3.2 Schreiben ............................................................................................ 142 3.3.3 Versenden ........................................................................................... 144 3.3.4 Sichern ................................................................................................ 151 3.3.5 Rezipieren ........................................................................................... 170 3.3.6 Archivieren ......................................................................................... 173 3.4 Die Weitergabe des Wissens um die personalen Beziehungen ....... 178 3.5 Die Übernahme der personalen Netzwerke ......................................... 187 3.6 Modelle personaler Beziehungen zwischen Ambassador und eidgenössischen Akteuren ..................... 193 4 Kanäle der Außenbeziehungen ...................................................................... 203 4.1 Der Ambassador als »canal ordinaire« ................................................... 204 4.2 Eidgenössische Solddienstoffiziere ........................................................ 215 4.2.1 Im Einsatz der eidgenössischen Orte .......................................... 219 4.2.2 Im Einsatz der Krone ...................................................................... 225 4.2.3 Im Einsatz des Generalobersts der Schweizer Truppen ......... 234 4.2.4 Zusammenfassung: Solddienstoffiziere zwischen Politik und Militär, Patrie und Dienstherr .............................................. 238 4.3 Eidgenössische Gesandte in fremden Diensten ................................. 243 4.4 Fazit: Die französische Ambassade und die eidgenössische Diplomatie ohne Diplomaten ...................... 251 5 Bündnisverhandlungen .................................................................................... 255 5.1 Bündnisverhandlungen – Überblick ...................................................... 256 5.1.1 Hintergründe ..................................................................................... 256 5.1.2 Verlauf der Verhandlungen ............................................................ 259 5.2 Auf dem Weg zur Ratsmehrheit ............................................................. 274 5.2.1 Die Anführer der Republik ............................................................ 275 5.2.2 Anwerben neuer Parteigänger ....................................................... 283 5.3 Hindernisse .................................................................................................. 299 5.3.1 Faktionenkämpfe .............................................................................. 300 5.3.2 Unmögliche Geheimverhandlungen ........................................... 315 5.3.3 Katholische Reaktionen auf die Bündnisverhandlungen ....... 321 8 5.4 Alternative Wege ........................................................................................ 333 5.4.1 Die Intrige eines Abenteurers ....................................................... 334 5.4.2 In eigener Mission: Ein Berner Großrat am französischen Hof ..................................................................... 350 5.4.3 Zwei »eng lische« Diplomaten im Dienst ihrer Patrie ............. 355 5.4.4 Solddienstoffiziere in politischer Mission .................................. 366 5.4.5 Der Genfer Kanal ............................................................................. 376 5.4.6 Fazit: Voraussetzungen, Kommunikationsmodi und Gefahren von Parallelverhandlungen .................................. 385 5.5 Bündnisverhandlungen – Fazit und Ausblick ..................................... 390 6 Ergebnisse ............................................................................................................ 395 Anhang ......................................................................................................................... 405 Quellen- und Literaturverzeichnis ....................................................................... 409 Abkürzungen ....................................................................................................... 409 Ungedruckte Quellen ........................................................................................ 410 Gedruckte Quellen ............................................................................................ 415 Sekundärliteratur ................................................................................................ 417 Register ......................................................................................................................... 447 Personen ................................................................................................................ 447 Orte ........................................................................................................................ 453 9 OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR Danksagung Die vorliegende Studie ist die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung der Dis- sertation, die ich 2015 an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern und der École Pratique des Hautes Études Paris eingereicht habe. Dass die Arbeit zu einem guten Ende geführt werden konnte und nun in Buchform vor- liegt, ist einer Vielzahl verschiedener Menschen und Institutionen geschuldet, denen zu danken mir ein großes Anliegen ist. Dank gebührt allen voran meinen beiden Doktorvätern Christian Windler und Jean-Claude Waquet. Christian Windler hat das Projekt von der ersten Ausarbeitungsphase bis zur Drucklegung begleitet und mich dabei in vielfältiger Weise unterstützt und gefördert. Er hat mir ermöglicht, mein Vorhaben in großer Freiheit umzusetzen, stand mir aber bei Bedarf jederzeit, sowohl in wissenschaft- licher wie auch in praktischer Hinsicht, hilfsbereit zur Seite. Während fruchtbarer Gespräche in Paris hat Jean-Claude Waquet mir durch konstruktive Fragen und Anregungen eine Reihe neuer Perspektiven auf meinen Forschungsgegenstand eröffnet und mich wiederholt dazu gebracht, den bereits eingeschlagenen Weg nochmals zu überdenken. Ihm und Christian Windler verdanke ich nicht zuletzt den Zugang zu meinem wichtigsten Quellenbestand, ohne den die Dissertation nicht in dieser Form hätte realisiert werden können. Weiterführende Kommentare und wichtige Hinweise für mein Projekt erhielt ich im Rahmen verschiedener Kolloquien und Gespräche von André Holenstein, Heinrich-Richard Schmidt, Hillard von Thiessen und Joachim Eibach. André Holenstein und André Krischer danke ich für ihr Engagement als Mitglieder der Jury, den Herausgebern der »Externa« für die Aufnahme meines Werks in ihre Reihe und Anregungen zum Manuskript. Dorothee Rheker-Wunsch vom Böhlau Verlag hat die Publikation der Studie umsichtig begleitet. Meine Recherchen führten mich in eine Vielzahl von Archiven und Biblio- theken, deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mich meist äußerst zuvor- kommend und hilfsbereit in meinem Vorhaben unterstützten. Ihnen allen sei für ihre freundlichen Dienste herzlich gedankt. Für ihre intensive Betreuung danke ich insbesondere Jean-Philippe Dumas von den Archives du Ministère des Affaires étrangères, Silvan Freddi und Andreas Fankhauser vom Staats- archiv Solothurn sowie Eliane Dufour von den Archives départementales de Seine-et-Marne. Finanziell unterstützt wurde ich vom Schweizerischen Nationalfonds, dem ich eine dreijährige Projektstelle sowie die Übernahme der Publikationskosten verdanke. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich der Dr. Joséphine de Karman- Stiftung, die mich in einer entscheidenden Phase der Dissertation mit einem Stipendium unterstützt hat. OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR Dass mir die langen Jahre des Forschens und Schreibens an der Universität in glücklicher Erinnerung bleiben werden, verdanke ich in erster Linie meinen zu Freunden gewordenen Arbeitskollegen in Bern. Dank ihnen konnte ich mein Pro- jekt in einem anregenden und freundschaftlichen Umfeld verwirklichen. Großen Dank für kritische Lektüren und ertragreiche Gespräche schulde ich Nadine Amsler, Tilman Haug, Florian Schmitz, Eva Ott, Daniel Sidler und Philipp Zwyssig. Ganz besonders dankbar bin ich Nadir Weber, der mir von Anfang an mit zahlreichen wertvollen Ratschlägen zur Seite stand und am Schluss die ganze Arbeit mit großem Gewinn für mich gegengelesen hat. Für ihren unermüdlichen Einsatz beim Korrekturlesen des Dissertationsmanuskripts danke ich Tilena San- tesso. Bei Maud Harivel bedanke ich mich für die Korrektur des französischen Resümees, bei Samuel Weber für diejenige der eng lischen Zusammenfassung. Von unverzichtbarem Wert war mir schließlich die vielfältige Unterstützung meiner Eltern Sabine und Franz Affolter. Das große Vertrauen, das sie mir stets entgegengebracht haben, hat viel zum Gelingen meines Vorhabens beigetragen. In tiefer Dankbarkeit widme ich ihnen dieses Buch. Bern, im Dezember 2016 Danksagung 12 1 Einleitung Als sich der englische Resident Francis Manning im September 1719 in Bern umhörte, wie die dortigen Ratsherren zur Erneuerung ihres Bündnisses mit der französischen Krone standen, brachte er – wenig überraschend – in Erfahrung, dass die Meinungen in dieser Frage geteilt waren. Sowohl die Gegner wie auch die Befürworter der Allianzerneuerung seien sich allerdings einig, dass gewisse Aspekte ihrer Beziehungen zum franzö sischen König unerträglich seien. In einer Hinsicht, so Manning, zeigten sich die Ratsherren dabei besonders empfindlich, nämlich betreffend die fortwährende Weigerung der Krone, es einzelnen Orten – obwohl sie souverän und unabhängig vom Rest sind – zu erlauben, ihre Botschafter oder andere Gesandte ohne Mitwirkung der Gesamteidgenossenschaft an jenen [französischen, A. A.] Hof zu entsenden. Dies wird hier als eine derartige Geringschätzung der Souveränität der einzelnen Orte, und insbesondere derjenigen des Kantons Bern, der jeden anderen an Macht und Größe übertrifft, angesehen, dass man sich immer extrem daran gestoßen hat. Sie sagen, dass man sie dadurch herabsetzt zu einer Art unterwürfiger Ehrerbietigkeit gegenüber dem französischen Ambassador, über dessen Kanal allein sie mit dem französischen Hof verkehren können. Dies wird so weit getrieben, dass sich Seine Exzellenz der Ambassador, wenn er ihre an den Hof adressierten Briefe nicht billigt, die Freiheit nimmt, sie zur Korrektur zurück- zusenden, was, so meinen sie, eine Behandlung für Schuljungen und eines souveränen Staats unwürdig sei. 1 Die Klagen der Berner Ratsherren verweisen auf zwei Aspekte der französisch- eidgenössischen Beziehungen, die für die vorliegende Studie von grundlegendem Interesse sind. 1 Francis Manning an James Craggs, Bern, 13. 9. 1719. BAR , London, Bd. 7, Misc. Papers, Nr. 24, 105 f.: »[They] are particulary sensible with regard to another point which is the constant refusal France has made hitherto to allow any canton by itself, tho’ Sovereign and independent from the rest, to send its Embassador or other ministers to that Court without the conjunction of the whole Helvetick Body. This is thought here to be such a discrimination of the Sovereignty of each canton, and especially of this of Berne, which surpasses very much any other in point of Power and extent, that it has always been extreamly resented and debases them, they say, to a kind of servile submission to the French Embassadour, by whose canal alone they can have any intercourse with the Court of France and which is carried so far, that if the Embassadour doth not approve of their Letters, directed to Court, [...] his Excellency takes the liberty to send them back in order to be corrected which they urge is a treatment for schoolboys and unworthy of a Sovereign State.« OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR Zum einen werfen sie die Frage nach den Kommunikations- und Verhandlungs- bedingungen zwischen den eidgenössischen Obrigkeiten und der französischen Krone beziehungsweise deren Repräsentanten auf. Nach Aussage des englischen Residenten verweigerte der französische König den eidgenössischen Orten nicht nur, eigene Botschafter an seinen Hof zu entsenden, sondern er nötigte sie auch, die ganze diplomatische Korrespondenz über den Kanal seines Ambassadors 2 abzuwickeln, der sich nicht scheute, sie mit schulmeisterlichem Gebaren vor den Kopf zu stoßen. Demnach gelangten die Eidgenossen über keinen anderen Weg zum König als über dessen Vertreter vor Ort. Wie war es dazu gekommen, dass der französische Ambassador in der Eidgenossenschaft eine offenbar so domi- nante Rolle einnehmen konnte? War er tatsächlich der einzige Kanal, über den die Orte mit der Krone verhandeln konnten? Und wie liefen diese Verhandlungen mit dreizehn unterschiedlichen republikanisch verfassten Orten ab? Zum anderen verweisen Mannings Ausführungen auf den Zusammenhang zwischen diplomatischer Praxis und völkerrechtlichem Status der beteiligten Akteure. Die Berner argumentierten nicht ohne Grund mit ihrem Status als Souve- räne, wenn sie auf ihr Recht pochten, eigene Botschafter an den französischen Hof zu entsenden, galt doch dieses in der Vormoderne als das »klarste Zeichen der Souveränität« 3 . Der französische König, so wird deutlich, verwehrte den Bernern dieses Recht ebenso, wie sein Ambassador ihnen eine ihrem souveränen Status würdige Behandlung vorenthielt. Was bedeutete es für die eidgenössischen Orte und ihren Status als souveräne Republiken, wenn sie auf das deutlichste Zeichen der Souveränität verzichten mussten? Was stellten sich die Berner Ratsherren vor, wenn sie vom französischen Ambassador eine würdigere Behandlung einforder- ten? Lässt sich die Beziehung zum französischen König auch anders denken und repräsentieren als eine Beziehung von Souverän zu Souverän? Die Frage nach den Praktiken und Kanälen des Verhandelns einerseits und die- jenige nach dem Status der beteiligten Akteure andererseits stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit. Zeitlich liegt der Schwerpunkt auf dem frühen 18. Jahrhundert und insbesondere auf der von 1716 bis 1726 dauernden Ambassade von Claude-Théophile de Bésiade, Marquis d’Avaray, wobei verschiedentlich der Blick auch auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts und bis ins späte 18. Jahrhundert gerichtet wird. 2 In der schweizergeschichtlichen Forschung wird der französische Botschafter in der Eidgenossenschaft als »Ambassador« bezeichnet (siehe den gleichlautenden Artikel von André Schluchter im e- HLS [letzter Zugriff am 8. 12. 2016]). Im Folgenden wird zur Bezeichnung dieser Gesandten ebenfalls dieser Begriff verwendet. Alle anderen Gesandten erster Klasse werden hingegen als »Botschafter« bezeichnet. 3 So der berühmt gewordene Satz von Wicquefort, L’ambassadeur, Bd. 1, 12: »Il n’y a point de plus illustre marque de la Souveraineté que le Droit d’envoyer & de recevoir des Ambassadeurs.« Einleitung 14 1.1 Forschungskontext Von den methodischen Neuerungen der Geschichtsschreibung lange Zeit weit- gehend unberührt, hat sich die Geschichte der Außenbeziehungen in den letzten Jahren sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen geöffnet. Der Blick auf die frühneuzeitlichen Mächtebeziehungen hat sich dabei stark gewandelt, implizit geltende Grundannahmen wurden revidiert, neue Forschungsfelder aufgetan und Periodisierungen kritisch überprüft 4 In einer makroperspektivischen Herangehensweise wurde etwa nach den syste- mischen Bedingungen und der Entwicklung des »Staatensystems« in der Frühen Neuzeit und darüber hinaus gefragt. In dieser Hinsicht wurde auch die Frage nach der Bedeutung des Westfälischen Friedens als Geburtsstunde eines »interna- tionalen Staatensystems« aufgeworfen 5 . Wenn auch die Geschichtsforschung die Vorstellung eines vor allem von der Politikwissenschaft propagierten »Westphalian Systems« nie breit rezipiert hatte 6 , wurde doch oft, zumindest implizit, 1648 als ein Wendepunkt in der Geschichte der Außenbeziehungen betrachtet. So löste nach Heinz Schilling, der mit »Konfession«, »Dynastie«, »Staatsräson« und »Tradi- tion« vier Leitkräfte ausmachte, die im Verlauf der Frühen Neuzeit das politische Handeln in den Außenbeziehungen unterschiedlich stark prägten, die Staatsräson nach 1648 die Konfession als dominierenden Faktor ab 7 . Im Band zum 18. Jahr- hundert im neuen Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen sieht Heinz Duchhardt die Monopolisierung von Außenpolitik durch diplomatische Apparate im späten 17. Jahrhundert als abgeschlossen und beschreibt Außen- beziehungen als Beziehungen zwischen Staaten im Rahmen eines internationalen Systems 8 . Auch das neue Historische Lexikon der Schweiz vermerkt, dass sich etwa zwischen der Eidgenossenschaft und dem Heiligen Römischen Reich nach 1648 Beziehungen ausbildeten, »wie sie zwischen zwei souveränen Staaten bestanden« 9 4 Einen Überblick über neue Ansätze und Perspektiven der Forschung zu Außenbezie- hungen bietet: Kugeler/Sepp/Wolf, Einführung, 19 – 33; Externbrink, Internationale Politik in der Frühen Neuzeit. Eine Reihe innovativer Beiträge bietet etwa der Sammelband von von Thiessen/Windler (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen. 5 Die folgenden allgemeinen Ausführungen zum Epochenjahr 1648 orientieren sich an einem unveröffentlichten Text, den der Autor mit Mitarbeitern der Abteilung für Neuere Geschichte der Universität Bern (Christian Windler, Nadir Weber, Tilman Haug) ver- fasst hat. 6 Zum »Westfälischen System« siehe Gross, The Peace of Westphalia; Krippendorf, Die Erfindung der Außenpolitik. 7 Schilling, Formung und Gestalt. 8 Duchhardt, Balance of Power; ähnlich Legutke, Diplomatie als soziale Institution. 9 Jorio, Marco, Art. »Heiliges Römisches Reich. Die Eidgenossenschaft und das Reich 1648–1803«, in: e- HLS [letzter Zugriff am 6.7.2015]. Forschungskontext 15 OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR Die Bedeutung von 1648 als Epochengrenze und Geburtsstunde eines Sys- tems zwischenstaatlicher Beziehungen ist mittlerweile von verschiedener Seite relativiert worden. So wurde einerseits darauf hingewiesen, dass die Ursprünge eines internationalen Systems bereits vor dem Westfälischen Frieden zu suchen sind 10 . Andererseits wurde betont, dass vorstaatliche Elemente, etwa dynastische oder universalistische Ordnungsvorstellungen, in den Außenbeziehungen auch nach 1648 von eminenter Bedeutung waren 11 Des Weiteren haben neuere Forschungen darauf hingewiesen, dass die Zeit- genossen die europäische Ordnung auch nach 1648 nicht als System gleichbe- rechtigter, souveräner Staaten, sondern als eine exklusive »Fürstengesellschaft« betrachteten 12 . Dass diese weiterhin stark hierarchisch geprägt war, belegen die zahlreichen Präzedenzkonflikte, die sich im Gesandtschaftsverkehr ergaben 13 . Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann sich zwar ein neues, dualistisches Ordnungsprinzip, das nur noch zwischen Souveränen und Untertanen unterschied, zunehmend vor das alte, mehrfach abgestufte Prinzip zu schieben, wobei der Westfälische Friedenskongress durchaus als erster Schritt zu einer völkerrecht- lichen Egalisierung und der Einführung einer neuen zeremoniellen Grammatik der Souveränität betrachtet werden kann. Dem Prinzip der Gleichheit souveräner Staaten verhalfen allerdings erst die Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts und definitiv der Wiener Kongress zum Durchbruch 14 . In dieser Zeit begann sich nicht zufällig auch die Semantik des Wortes »Staat« schnell zu verändern. Während das Wort vor 1770 in unterschiedlichen Kontexten völlig verschieden- artige Sachverhalte erschloss, rückte es danach zu einem zentralen Oberbegriff auf, »von dem her das gesamte politische und soziale Verfassungsleben gedank- lich – und faktisch administrativ – organisiert werden konnte«. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der »Staat« zur »gleichsam realen Person« und rückte als Begriff zum autonomen Handlungssubjekt auf 15 In der Zeit davor hing die politische Handlungsfähigkeit gegen innen und außen hingegen stets vom Souverän ab, der den Staat verkörperte. In diesem Sinn hat André Krischer betont, dass sich frühneuzeitliche Diplomatie »nicht 10 Schulze, Dimensionen, 23 ff.; Duchhardt, »Westphalian System«. 11 Teschke, Mythos 1648, Kap. 7; siehe speziell für die Bedeutung des dynastischen Denkens in Europa um 1700 den Sammelband von Kampmann, Bourbon; für den universalen Vormachtanspruch in Frankreich unter Ludwig XIV Haran, Le lys et le globe. 12 Zum Begriff der »Fürstengesellschaft«: Bély, La société des princes. 13 Mit Präzedenzkonflikten befasst sich eine Mehrzahl der Beiträge in Bély/Poumarède (Hrsg.), L’incident diplomatique. 14 Belissa, Repenser l’ordre européen; Windler, La diplomatie. 15 Conze et al., »Staat und Souveränität«, 25 – 29, Zitate: 26 f.; für den Staat im 18. Jahr- hundert: 18 – 22; für die lexikalische Verwendung: 53 – 58. Einleitung 16 zwischen Staaten, sondern zwischen ›souverainen oder ihnen gleichgeltenden Personen‹ innerhalb der Fürstengesellschaft vollzog« 16 . Wie die neuere Forschung zur symbolischen Kommunikation deutlich gemacht hat, war dabei Souveränität in der Praxis, anders als in der politischen Theorie, an das Gewicht der stän- dischen Würde gebunden. Verstanden als soziale Qualität konnte Souveränität im strengen Sinn nur von einem König erfüllt werden; nur die königliche Majestät verkörperte das Höchstmaß an sozialer Schätzung 17 . In Zweifelsfällen, das heißt bei all denjenigen Akteuren, die über keine Königskrone und keinen Königstitel verfügten, entschied das diplomatische Zeremoniell über den völkerrechtlichen Status. Wer von gekrönten Häuptern als ihresgleichen behandelt wurde, konnte sich zum exklusiven Kreis der Souveräne zählen 18 Daneben gab es in Europa auch nach dem Westfälischen Frieden eine Vielzahl von Akteuren der Völkerrechtspraxis, denen es nicht gelang, vollen Zugang zu dieser Gruppe der Souveräne zu finden. Im Unterschied zur Moderne vollzog sich somit der Völkerrechtsverkehr in der Frühen Neuzeit »zwischen Akteuren, die sich wechselseitig überhaupt nicht als gleichberechtigt anerkannten« 19 . Inwiefern dies auch für die Beziehungen zwischen der französischen Krone und den eidgenös- sischen Orten zutraf, wird ebenso zu klären sein wie die Frage, ob es Letzteren als republikanisch verfasste Gemeinwesen gelang, ihren Status als Souveräne im diplomatischen Zeremoniell zu behaupten. Neben den Akteuren, die mehr oder weniger erfolgreich um den Status von Souveränen rangen, rückte die neuere Forschung zu frühneuzeitlichen Außen- beziehungen auch Akteure ins Blickfeld, die an einen solchen Status gar nicht denken konnten. Anregungen dazu kamen von den politischen Wissenschaften, in denen seit den 1960er-Jahren als Reaktion auf die Aufweichung nationalstaatlicher Souveränität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Konzept der »trans- nationalen Beziehungen« entwickelt wurde. Gefordert wurde dabei, nicht mehr nur Beziehungen zwischen souveränen Nationalstaaten zu untersuchen, sondern auch supranationale, subnationale oder nichtstaatliche Akteure zu berücksich- tigen 20 . Jürgen Osterhammel plädierte dann auch in der Geschichtswissenschaft 16 Krischer, Das diplomatische Zeremoniell der Reichsstädte, 4. 17 Ders., Souveränität als sozialer Status, 13 f. Auf den Königsrang als »Vollmitgliedschaft« im Konzert der europäischen Mächte und damit Ausdruck der Souveränität hat auch Schnettger, Rang, 187, hingewiesen. Programmatisch für die Erforschung symbolischer Kommunikation: Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation. Einen auf die Diplomatiegeschichte bezo- genen Überblick bietet Windler, Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis. 18 Krischer, Souveränität als sozialer Status; Stollberg-Rilinger, Honores regii. 19 Krischer, Souveränität als sozialer Status, 23. Siehe auch Schnettger, Rang. 20 Zur Bedeutung politikwissenschaftlicher Konzepte für die Erneuerung der Geschichte der Außenbeziehungen: von Thiessen/Windler, Einleitung, 1 f.; für das Konzept der transnationalen Beziehungen: Czempiel, Internationale Politik, 13 – 15, 69 – 76; Kaiser, Forschungskontext 17 OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR dafür, im Rahmen einer »transnationalen Gesellschaftsgeschichte« die Vielzahl von Akteuren, die grenzüberschreitende Beziehungen pflegten, zu untersuchen 21 Für die Frühe Neuzeit gerieten so als Akteure der Außenbeziehungen etwa die Grafschaft Burgund, burgundische Städte, Reichsstädte oder hochprivilegierte Korporationen im Fürstentum Neuchâtel in den Blick 22 Im Sinn einer Kulturgeschichte des Politischen wurde sodann auch nach den Wahrnehmungen, dem Handeln und den Verflechtungen personaler Akteure der Außenbeziehungen gefragt 23 . Mit Gewinn konnte dabei auf den bereits früher von Wolfgang Reinhard entwickelten Verflechtungsansatz zurückgegriffen werden 24 Konsequent angewendet wurde dieser im Bereich der Außenbeziehungen erstmals in einem von Reinhard initiierten Forschungsprojekt über die Außenbeziehungen des Kirchenstaats unter Paul V. 25 In einem Forschungsprojekt zur »weiblichen Diplomatie« wurde nach den außenpolitischen Handlungsspielräumen weiblicher höfischer Akteure gefragt und gezeigt, wie etwa königliche Mätressen und adelige Hofdamen über per- sonale Verflechtung parallel oder in Konkurrenz zu den offiziellen diplomatischen Strukturen höfische Außenbeziehungen mitgestalteten 26 . Diese Studien laden dazu ein, das Blickfeld zu öffnen und sich bei der Erforschung von Außenbeziehungen nicht nur auf die offiziellen Gesandten zu konzentrieren. Im Falle der eidgenös- sischen Beziehungen zur französischen Krone lässt sich somit fragen, inwieweit etwa Solddienstoffiziere über ihre Verflechtung am Hof und in ihren Heimat- orten zu Akteuren der Außenbeziehungen werden konnten. Transnationale Politik; Nye/Keohane, Transnational Relations. Für Außenbeziehungen subnationaler Einheiten: Aldecoa/Keating (Hrsg.), Paradiplomacy in Action; Duchacek/ Latouche/Stevenson (Hrsg.), Perforated Sovereignties; Michelmann/Soldatos, Federalism and International Relations. 21 Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte. Für die Frühe Neuzeit schlug Krieger, Transnationalität, vor, sich mit Netzwerken jenseits staatlicher Strukturen zu befassen. 22 Windler, Städte am Hof; ders., Außenbeziehungen vor Ort; Krischer, Reichsstädte; Weber, Lokale Interessen, Kap. 2.3.2.1. 23 Zur Kulturgeschichte des Politischen allgemein: Stollberg- Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Paradigmatisch für einen kulturgeschichtlichen Zugang zur Diplomatiegeschichte ist die Studie von Windler, La diplomatie, über die franzö- sischen Konsuln im Maghreb. 24 Zum Ansatz der Verflechtung: Reinhard, Freunde und Kreaturen. 25 Ders., Römische Mikropolitik; Wieland, Fürsten; Mörschel, Buona amicitia?; von Thiessen, Diplomatie und Patronage; Metzler, Römische Mikropolitik. 26 Einen knappen Überblick über Ergebnisse des Forschungsprojektes bietet Bastian/Dade/ Ott, Weibliche Diplomatie? Siehe aber vor allem die aus dem Projekt hervorgegangenen Dissertationen von Dade, Madame de Pompadour, und Bastian, In Briefen verhandeln. Eine geschlechtergeschichtliche Perspektive auf die Diplomatie bieten zudem die Bei- träge im Sammelband Bastian et al. (Hrsg.), Das Geschlecht der Diplomatie. Einleitung 18 Nicht zuletzt veränderte sich durch neuere Forschungen das Bild des früh- neuzeitlichen Gesandten, der nun nicht einfach mehr als »verlängerter Arm des Souveräns« 27 erscheint. Dass die Gesandten auch zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht in bürokratischen Strukturen rekrutiert wurden und Dienst leisteten, hat bereits Lucien Bély gezeigt 28 . Neuere Studien zeigen sie zudem als vielfach ver- flochtene und damit unterschiedlichen Normen ausgesetzte Akteure, deren Pro- fessionalität standes- und nicht berufsspezifischer Natur war 29 Kommunikative Praktiken wie Informieren, Repräsentieren und Verhandeln, die bereits in frühneuzeitlichen Abhandlungen zur Diplomatie als Kernbereiche der Gesandtentätigkeit galten 30 , rückten ebenfalls in den Fokus der Außen- beziehungsforschung. So wurde untersucht, wie Netzwerke zur Informations- beschaffung genutzt wurden und welche Techniken zur Geheimhaltung diploma- tischer Korrespondenzen Anwendung fanden 31 . Mit der Frage nach den Praktiken der Repräsentation rückte vor allem das Handeln der Gesandten im Medium des diplomatischen Zeremoniells in den Fokus. Wie dieses der Repräsentation von Statusansprüchen oder Ordnungsvorstellungen diente, wurde oben bereits erwähnt 32 . Bezüglich des Verhandelns hat Jean-Claude Waquet gezeigt, wie die Verhandlung als losgelöste Praxis und eigenständiger Reflexionsgegenstand in der Frühen Neuzeit erst »entdeckt« wurde 33 . Matthias Köhler hat untersucht, wie die Gesandten am Kongress von Nimwegen in verschiedenen Kommunikations- modi verhandelten und dabei jeweils rollenspezifische Ressourcen mobilisieren konnten 34 . Schließlich rückte auch der Brief als Ort der Verhandlung ins Blick- feld der Forschung 35 27 So bei Duchhardt, Balance of Power, 29. 28 Bély, Espions et ambassadeurs. 29 Von Thiessen, Diplomatie und Patronage, Kap. 3; Köhler, Strategie und Symbolik, Kap. 3; Haug, Ungleiche Außenbeziehungen, 131 – 148; Tischer, Französische Diplomatie; dies., Diplomaten als Patrone; Droste, Im Dienst der Krone. 30 Gantet, Guerre, 38 – 45. Allgemein zur Erforschung sozialer Praktiken: Reckwitz, Toward a Theory. 31 Externbrink, Friedrich der Große, 61 – 71; Bély, Espions et ambassadeurs, 51 – 286; Ulbert, Zur Verschlüsselung. 32 Siehe neben der bereits erwähnten Literatur für das diplomatische Zeremoniell auch die Beiträge in Kauz/Rota/Niederkorn (Hrsg.), Diplomatisches Zeremoniell. 33 Waquet, Verhandeln in der Frühen Neuzeit, 115 – 120. Siehe für die Praxis des Verhandelns zudem ders., François de Callières; ders., Verhandeln in der Frühen Neuzeit, sowie die Beiträge in Andretta et al. (Hrsg.), Paroles de négociateurs. 34 Köhler, Strategie und Symbolik. 35 Bastian, In Briefen verhandeln; Boutier/Landi/Rouchon (Hrsg.), Politique par corres - pondance, darin insbesondere Waquet, La lettre diplomatique. Forschungskontext 19 OPEN ACCESS © 201 7 BY BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR