Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Normal– anders – krank? Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin Dominik Groß | Sabine Müller Jan Steinmetzer (Hrsg.) Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Über die Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart Die Schriftenreihe begreift das Menschliche als integratives Zentrum der Fächertrias Medizingeschichte, Medizin- ethik und Medizintheorie („Medical Humanities“); sie verfolgt das Ziel, diejenigen Perspektiven zusammenzu- führen, die den Menschen als Wesen in einem komplexen Spannungsfeld erkennen lassen: Der Mensch erfährt Bedrohungen durch Krankheit und Tod, aber auch die medizinischen Reaktionen darauf unter sachlichen, sozialen und geistigen Bedingungen, die sich im Laufe der Zeit in praktischer und konzeptioneller Hinsicht ändern und in- sofern historisch aufzuarbeiten sind (Medizingeschichte). Zugleich ist es erforderlich, die theoretische Ordnung der konkreten Zugriffsweisen auf den Menschen zu reflektieren (Medizintheorie). Beides kann allerdings nicht geschehen, ohne dass Rechenschaft über die jeweils zugrunde gelegten, handlungs- und reflexionsleitenden Ziel- bestimmungen sowie den vorausgsetzten oder in Frage gestellten normativen Rahmen abgelegt wird (Medizin- ethik). In diesem Sinne versammelt die Schriftenreihe zum einen monographische Abhandlungen, zum anderen thematisch fokussierte Sammelbände, in denen Mitglieder des Aachener Instituts, Gastautoren sowie nicht zuletzt auch Nachwuchsforscher medizinhistorisch, medizinethisch und medizintheoretisch relevante Fragestellungen auf ihre zentrale anthropologische Dimension hin in den Blick nehmen. Dabei fokussiert sich die Schriftenreihe Human- diskurs besonders auf kontrovers diskutierte Problemfelder aus den besagten Querschnittsfächern. Herausgeber Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Wendlingweg 2 D - 52074 Aachen Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart Dominik Groß | Sabine Müller Jan Steinmetzer (Hrsg.) Normal – anders – krank? Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin mit Beiträgen von G. Buchli | R. D’Ortona | S. Evers | P. Gelhaus | D. Groß U. Hagenah | W. Henn | P. Hucklenbroich | M. Kehl | T. Krones A. Kopytto | A. T. May | F. Mildenberger | S. Müller C. Neuschaefer-Rube | G. Schäfer | D. Scheidt J. Steinmetzer | M. Thal | S. Westermann Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Zimmerstraße 11 10969 Berlin www.mwv-berlin.de ISBN 978-3-95466-187-9 (eBook: PDF) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2008 Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz- Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Die Verfasser haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Daher kann der Verlag für Angaben zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen (zum Beispiel Dosierungsanweisungen oder Applikationsformen) keine Gewähr übernehmen. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website. Produkt-/Projektmanagement: Nina Heinlein, Berlin Lektorat: Monika Laut, Berlin Layout & Satz: eScriptum GmbH & Co KG – Digital Solutions, Berlin Zuschriften und Kritik an: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Zimmerstraße 11, 10969 Berlin, lektorat@mwv-berlin.de Herausgeber Univ.-Prof. Dr. med., med. dent. et phil. Dominik Groß Dr. phil. Dipl.-Phys. Sabine Müller Jan Steinmetzer, M. A. Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Medizinische Fakultät der RWTH Aachen Wendlingweg 2 D - 52074 Aachen Schriftleitung: Sabine Müller v Vorwort „Normal – anders – krank?“ ist der zweite Band der Reihe „Humandiskurs“, die sich aus der Perspektive der Medizin historisch bedingten wie neuen ge- sellschaftlichen Herausforderungen widmet. Er behandelt das Themenfeld Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin und versammelt hierzu ein breites Spektrum von Beiträgen, denen – mittel- oder unmittelbar – ein Aspekt gemeinsam ist: die soziale Verantwortung der Medizin und der in der Heilkunde tätigen Akteure. In vielen Beiträgen wird zudem die Frage aufgeworfen, inwieweit die Medizin über die gesellschaft- liche Akzeptanz, Pathologisierung oder Ausgrenzung von bestimmten Min- derheiten oder Individuen bestimmt, und inwiefern ihr die Funktion einer Deutungsmacht nicht nur über Krankheit, sondern auch über Normalität zukommt. Dabei wird deutlich, dass die Krankheits- und Normalitätsdefi- nitionen der Medizin gerade für die Behandlung von Menschen, deren kör- perliche oder psychische Erscheinung von der Allgemeinheit als „irgendwie anders“ empfunden wird, eine zentrale Rolle spielen. Gefordert werden daher eine neue Achtsamkeit innerhalb der Medizin, welche die Gefahr von Diskri- minierungen und Stigmatisierungen wahrnimmt und reflektiert, aber auch eine besondere Zurückhaltung bei Versuch(ung)en, bestimmten Phänomenen einen Krankheitswert zuzuschreiben. Diese Forderung ist schon deswegen be- rechtigt, weil erstens keine verbindliche, normative Definition des Begriffs Krankheit existiert, und zweitens der medizinische und der lebensweltliche Normalitätsbegriff nicht übereinstimmen und zudem einem ständigen Wan- del unterliegen. Die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sind abhängig vom je- weiligen soziokulturellen und politischen Kontext. Beispiele für die Relativi- tät derartiger Vorstellungen sind die Einschätzung eines regelmäßigen Kon- sums bewusstseinsverändernder Substanzen als Suchterkrankung oder aber als normales Verhalten sowie die – zeit- und kulturabhängige – Betrachtung von Homosexualität als moralisches Fehlverhalten, als angeborene oder er- worbene Krankheit oder als selbst gewählter Lebensstil. Abgesehen von kulturellen Differenzen verändern sich das Verständnis und die Bewertung von Krankheit auch entscheidend durch den medizinischen Fortschritt. Vor allem psychische und neurologische Erkrankungen werden durch die Verfügbarkeit neuer Medikamente und Interventionsmöglichkei- ten grundlegend anders betrachtet. Bestimmte psychiatrische Störungen, die früher als Resultat frühkindlicher psychischer Traumata angesehen wurden, werden zunehmend als hirnorganisch bedingt und medikamentös behandel- bar eingeschätzt. Andererseits werden früher als normal angesehene kognitive und affektive Veränderungen im Alter wie Vergesslichkeit oder Antriebsschwä- che zunehmend als pathologisch und behandlungswürdig interpretiert. Die Beiträge dieses Buches untersuchen verschiedene Fragestellungen zur Normalität, zum Anderssein und zur Krankheit aus theoretischer Perspektive oder anhand konkreter Beispiele. Teil A behandelt die theoretischen Grundlagen der Begriffe „normal“, „anders“ und „krank“. Den Anfang macht der Mediziner und Medizintheoretiker Peter vi vix1ix2 Hucklenbroich mit einer wissenschaftstheoretischen Untersuchung der Begriffe „Krankheit“ und „Normalität“. Er analysiert und rekonstruiert systematisch die wissenschaftlich-medizinische Krankheitslehre und stellt eine umfassen- de Definition von Krankheit vor, die die grundlegenden Kriterien und Prinzi- pien der heutigen medizinischen Nosologie zusammenfasst. Anschließend stellt die Medizinerin und Medizinethikerin Petra Gelhaus die Frage nach der Funktionalität des Normalen. Ausgangspunkt ihrer Unter- suchungen ist der Fall des schwer behinderten Mädchens Ashley, das einer wachstumsbegrenzenden Behandlung unterzogen wurde, um seine Pflege zu erleichtern, aber auch um das kindliche Erscheinungsbild zu bewahren. Von dort entwickelt sie Überlegungen über die Grenzen der Normalität und den Status, den Normalität für den medizinischen Krankheitsbegriff besitzt. Aus Sicht der klinischen Neurowissenschaften, insbesondere der Neurolo- gie, Neuropädiatrie, Psychiatrie und Neurochirurgie, untersucht der Neuro- loge Stefan Evers den Krankheitsbegriff. Er stellt fest, dass gerade in diesen Bereichen zunehmend relativierende Beobachtungen zur Feststellung von Krankheit gemacht werden. Anhand verschiedener Beispiele, insbesondere der Migräne und der Altersdemenz, demonstriert er, wie unscharf die Grenzen zwischen krank und gesund sind, und dass sich Krankheiten je nach Situation als Lebensvorteil oder als Lebensnachteil manifestieren können. Der Humangenetiker und Medizinethiker Wolfram Henn untersucht die Kon- zepte Normalität, Anderssein und Krankheit aus Sicht der Humangenetik und betrachtet die diskriminierenden Folgen von bestimmten, nicht positiv konnotierten Normabweichungen, insbesondere das Risiko genetischer Dis- kriminierung. Nach diesen theoretisch ausgerichteten Beiträgen beschäftigen sich die weiteren Aufsätze in den Teilen B bis G mit konkreten Beispielen von Anders- artigkeit, Normabweichung und Krankheit. Teil B behandelt die Homosexualität aus zwei verschiedenen Perspektiven: Zuerst betrachtet der Medizinhistoriker Florian Mildenberger den Diskurs über männliche Homosexualität in der deutschen Medizin von 1880 bis heute und stellt dabei den Wandel von einer durch die Medizin betriebenen Pathologi- sierung der Homosexualität bis zu deren Depathologisierung aufgrund ge- sellschaftlichen Drucks dar. Anschließend untersucht die Physikerin und Me- dizinethikerin Sabine Müller den aktuellen Forschungsstand zu biologischen Grundlagen der Homosexualität und diskutiert die ethischen Implikationen einer biologischen (Mit-)Bedingtheit homosexueller Neigungen. Teil C widmet sich den Phänomenen Transsexualität und Intersexualität . Der Medizinhistoriker Jan Steinmetzer und der Arzt und Medizinethiker Dominik Groß analysieren den gesellschaftlichen und juristischen Umgang mit transsexuel- len Menschen in Belgien und anderen Staaten der Europäischen Union. Dabei wird deutlich, wie sehr die Definition von „Normalität“ vom jeweiligen so- ziokulturellen und medizinischen Umfeld abhängt. Die Phoniaterin Christiane Neuschaefer-Rube , der Logopäde David Scheidt und Dominik Groß betrachten Model- le zur Definition von Transsexualität und untersuchen, wie sich eine der Ge- schlechtsdarstellung entsprechende bzw. eine davon abweichende Stimme auf die Akzeptanz der Betroffenen im Alltag auswirkt. Anschließend beschreibt vii vix1ix2 die Ärztin Mareike Kehl die Situation von intersexuellen Menschen; sie geht der Frage nach, wie sich die gesellschaftliche Normvorstellung von eindeutig definierter Geschlechtszugehörigkeit in der medizinischen Behandlung von Intersexuellen niederschlägt und wie diese häufig traumatisierende operative Eingriffe veranlasst. Teil D enthält Beiträge zur Körperwahrnehmung und Identität : Der Kinder- und Jugendpsychiater Ulrich Hagenah untersucht die Bedeutung von Stigmatisie- rungsprozessen für die Entwicklung von Essstörungen wie Anorexie und Bu- limie sowie von Übergewicht. Sabine Müller beschreibt das sehr seltene Phäno- men der Body Integrity Identity Disorder (BIID), das durch ein starkes Verlan- gen nach der Amputation eines gesunden Körperteils charakterisiert ist. Sie diskutiert die kontroversen medizinethischen Positionen hierzu: zum einen die Respektierung eines solchen Amputationswunsches als autonome Ent- scheidung, zum anderen die Hypothese, dass diesem Verlangen eine neuro- logische Störung zugrunde liegt. Christiane Neuschaefer-Rube und Dominik Groß untersuchen die Bedeutung der Sprecheridentität für die Zuschreibung von „Normalität“. Dabei geht es u. a. um die bisher wenig beachtete Frage, in- wieweit der Verlust dieser Sprecheridentität Diskriminierungen und Stigma- tisierungen durch das soziale Umfeld nach sich zieht. Der Medizinethiker Arnd T. May untersucht aus medizinethischer und juristischer Sicht das Piercing. Er diskutiert Modelle zur Kostenübernahme der Komplikationskosten nach Piercings. Der Zahnarzt und Medizinhistoriker Gereon Schäfer beschäftigt sich demgegenüber mit traditionellen und modernen Körpermodifikationen im Orofazialbereich, insbesondere mit Dental Piercing und Tattoos, und disku- tiert deren Akzeptanz bzw. Ablehnung unter medizinischen, gesellschaftli- chen und ethischen Aspekten. Teil E stellt zwei historische Formen von Zwangsbehandlungen im Bereich der Medizin dar: Dominik Groß und Gereon Schäfer analysieren Austauschprozesse zwischen der fachlichen und der gesellschaftlichen Diskussion über Psycho- chirurgie am Beispiel der (verfilmten) belletristischen Literatur – ausgehend von der Annahme, dass die Darstellung der Medizin in der Literatur den ge- sellschaftlichen Blick auf Medizin (und hier insbesondere auf die psychiatri- sche Chirurgie) reflektiert und prägt. Die Medizinhistorikerin Stefanie Wester- mann untersucht die Folgen der in der NS-Zeit von Medizinern durchgeführten Zwangssterilisationen für die Betroffenen und zeigt dabei die Kontinuität der Stigmatisierung der Opfer bis in die Gegenwart auf. Teil F untersucht die Phänomene Hochbegabung und Inselbegabung , die keines- wegs als durchweg positive Normabweichungen betrachtet wurden und wer- den. Jan Steinmetzer und Sabine Müller untersuchen zunächst Wunderkinder und Genies in historischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Anschlie- ßend betrachten Sabine Müller und Jan Steinmetzer Hochbegabte und Savants in medizinischer Perspektive, wobei sie vor allem die biologischen Ursachen der Inselbegabungen von Savants und die möglichen Zusammenhänge mit echter Hochbegabung, aber auch mit geistigen Behinderungen behandeln. Schließlich behandelt Teil G Behinderungen im Kontext der Medizin. Der His- toriker Gisep Buchli beschreibt den eugenischen Diskurs über Menschen mit Be- hinderungen und das Konzept, sie in Asylen abzusondern, von der Gesellschaft viii vix1ix2 fernzuhalten und an der Fortpflanzung zu hindern. Anschließend untersucht die Ärztin und Medizinsoziologin Tanja Krones theoretisch und empirisch die Frage, ob Menschen mit Behinderungen durch die Einführung von Präna- tal- und Präimplantationsdiagnostik vermehrt Diskriminierungen ausgesetzt werden. Am Ende von Teil G steht ein Aufsatz ganz anderer Art: Rosanna D’Or- tona von der Redaktion Ohrenkuss berichtet über ein Projekt von Menschen mit Down-Syndrom, die weitgehend eigenständig eine Zeitung gestalten; dabei präsentiert sie Kurzbeiträge aus dem Magazin zum Thema „Wie erleben Men- schen mit Down-Syndrom die Welt?“ Das Buch wird durch Teil H , die Auswahlbibliographien , abgerundet. Die ers- te, von Andreas Kopytto und Michaela Thal erstellte Bibliographie, versammelt Publikationen zu den Themen des Buches in medizinischer Perspektive; die zweite, von Michaela Thal und Andreas Kopytto , entsprechende Beiträge aus so- ziokultureller Sicht. Aachen, im November 2007 Dominik Groß, Sabine Müller und Jan Steinmetzer ix Inhalt A Theoretische Grundlagen von Normalität und Krankheit____________ 1 „Normal – anders – krank“: Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen zum Krankheitsbegriff ________ 3 Peter Hucklenbroich Wie groß ist zu groß? Zur Funktionalität des Normalen _______________________________________ 33 Petra Gelhaus Die Relativität des Krankheitsbegriffs am Beispiel der Neuromedizin __________ 51 Stefan Evers Normal – anders – krank: Die Perspektive des Humangenetikers ___________________________________ 67 Wolfram Henn B Homosexualität _____________________________________________ 79 Der Diskurs über männliche Homosexualität in der deutschen Medizin von 1880 bis heute _____________________________ 81 Florian Mildenberger Biologische Faktoren der (homo-)sexuellen Orientierung – Ethische Implikationen _______________________________________________ 113 Sabine Müller C Transsexualität und Intersexualität _____________________________ 151 Der Umgang mit Transsexualität in der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung von Belgien ___________________________ 153 Jan Steinmetzer und Dominik Groß Modelle zur Definition von Transsexualität und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Akzeptanz – Das Beispiel Stimme und Sprechverhalten ________________________________ 171 Christiane Neuschaefer-Rube, David Scheidt, Dominik Groß x vix123 Krankheit Intersexualität – Trauma Therapie. Über die medizinische Konstruktion von Geschlecht im Deutschen Ärzteblatt ______________________________________________ 195 Mareike Kehl D Körperwahrnehmung und Identität_____________________________ 209 Die Bedeutung von Stigmatisierungsprozessen bei Essstörungen und Übergewicht _____________________________________ 211 Ulrich Hagenah Body Integrity Identity Disorder (BIID) – Ist der Amputationswunsch eine autonome Entscheidung oder Ausdruck einer neurologischen Störung?_________________________________ 229 Sabine Müller Die Bedeutung der Sprecheridentität für die Zuschreibung von „Normalität“ bei Kommunikationsstörungen __________________________ 267 Christiane Neuschaefer-Rube und Dominik Groß Piercing: Körpermodifikation oder Selbstverstümmelung____________________ 281 Arnd T. May Zwischen Akzeptanz und Ablehnung: Modifikationen im Orofazialbereich unter besonderer Berücksichtigung von Dental Piercing und Tattoos ________________________________________ 305 Gereon Schäfer E Zwangsbehandlung__________________________________________ 331 Der psychisch Kranke im Spiegel der Literatur: Das Beispiel Psychochirurgie ___________________________________________ 333 Dominik Groß und Gereon Schäfer „Er habe jedoch in der Sterilisation eine Verletzung seiner Ehre und eine Gefährdung seiner Gesundheit gesehen“. Stigmatisierung durch Zwangssterilisation – die Perspektive der Opfer ________ 351 Stefanie Westermann xi vix123 F Hochbegabung und Inselbegabung _____________________________ 371 Wunderkinder und Genies in Geschichte und Gegenwart ____________________ 373 Jan Steinmetzer und Sabine Müller Hochbegabung und Savant-Syndrom – eine Superioritätspathologie? _________ 393 Sabine Müller und Jan Steinmetzer G Behinderungen _____________________________________________ 407 „Die Gesellschaft aber hat Anspruch auf Schutz vor ihnen“ – Der eugenische Diskurs über die Asylierung von Anormalen _________________ 409 Gisep Buchli Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik: Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen? _______________________ 435 Tanja Krones „Ohrenkuss ... da rein, da raus“ – Menschen mit Down-Syndrom machen eine Zeitung _______________________ 455 Rosanna D’Ortona H Auswahlbibliographien _______________________________________ 461 Normal – anders – krank: Beiträge in medizinischer Perspektive ______________ 463 Andreas Kopytto und Michaela Thal Normal – anders – krank: Beiträge in soziokultureller Perspektive ____________ 473 Michaela Thal und Andreas Kopytto Kurzbiografien der Autoren _______________________________________________________ 480 1 A Theoretische Grundlagen von Normalität und Krankheit „Normal – anders – krank“: Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen zum Krankheitsbegriff ______________ 3 Peter Hucklenbroich Wie groß ist zu groß? Zur Funktionalität des Normalen _____________________________________________ 33 Petra Gelhaus Die Relativität des Krankheitsbegriffs am Beispiel der Neuromedizin ________________ 51 Stefan Evers Normal – anders – krank: Die Perspektive des Humangenetikers _________________________________________ 67 Wolfram Henn 2 vix1ix2 3 „Normal – anders – krank“: Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen zum Krankheitsbegriff Peter Hucklenbroich 1 Normal, anders, krank? Die Trias der Begriffe „normal“, „anders“ und „krank“ beinhaltet in vollstän- diger Darstellung drei Paare von Unterscheidungen, nämlich zwischen normal und krank, zwischen normal und anders und zwischen anders und krank . In wissen- schaftlichen Kontexten gehört nur die erste Unterscheidung im engeren Sin- ne zur Krankheitstheorie und damit zur Medizin; die zweite Unterscheidung gehört disziplinär eher in den Bereich einer Soziologie und Sozialpsycholo- gie (oder, ganz abstrakt, in die Statistik) und die dritte in eine vergleichende oder abgrenzende, z. B. wissenschaftstheoretische Betrachtung zwischen den beiden ersten Unterscheidungen. Im Folgenden soll versucht werden, insbe- sondere die erste und die dritte Unterscheidung auf der Basis medizin- und wissenschaftstheoretischer Überlegungen näher zu charakterisieren. Eine historische oder empirisch-sozialwissenschaftliche Untersuchung der Unter- scheidung zwischen Normalität und „Anderssein“ liegt dagegen nicht in der Reichweite dieses Aufsatzes; hier werde ich mich darauf beschränken, die Existenz sozialer Ab- und Ausgrenzungsphänomene als Faktum anzunehmen, ohne in tiefergehende theoretische Erklärungen und Deutungen einzustei- gen. Die folgende Untersuchung setzt sich daher aus zwei Teilen zusammen: Im ersten Teil lege ich dar, wie die Unterscheidung zwischen normal (bzw. gesund oder ungestört ) und krank (bzw. krankhaft oder pathologisch ) – also insbesondere der Krankheitsbegriff und der Normalitätsbegriff – in der Medizin begründet werden können. Im zweiten Teil diskutiere ich (a) einige Probleme, die sich aus dem Unterschied zwischen dem medizinischen und dem lebensweltlichen Norma- 4 vi x12342567ff12ifi48fl90ffifb2fliδ3fliTh34→ffi065ž5i8fl9ić4ffiflç1265 litätsbegriff ergeben, (b) die Frage, inwieweit historische Verschiebungen in der medizinischen Krankheitslehre als Veränderungen, Wechsel oder Relati- vierung des Krankheits- und Normalitätsbegriffs aufzufassen sind. 2 Der Krankheitsbegriff Der Krankheitsbegriff und die auf ihm basierenden Unterscheidungen bilden die zentrale theoretische Begrifflichkeit der Medizin , vergleichbar der Rolle des Lebensbegriffs in der Biologie , des Stoffbegriffs in der Chemie oder der Begriffe von Raum, Zeit, Masse und Kraft in der klassischen Physik . Zugleich bildet der Krankheitsbegriff das wichtigste Bindeglied zwischen theoretischer Medizin und klinisch-praktischer Medizin, insofern die Krankhaftigkeit von Zuständen und Prozessen – allgemein: von Merkmalen – des menschlichen Organismus ein prima-facie-Kriterium für deren Behandlungsbedürftigkeit darstellt. (Um Missver- ständnisse zu vermeiden, sei betont: Krankhaftigkeit ist nicht das einzige Kri- terium für Behandlungsbedürftigkeit, sondern es gibt andere Kriterien, z. B. bei normalen Altersbeschwerden. Außerdem handelt es sich um ein Kriterium prima facie , was bedeutet, dass für die Stellung einer Behandlungsindikation und die Fällung einer Behandlungsentscheidung noch weitere Kriterien zu berücksichtigen sind, so die vergleichende Bewertung der verfügbaren Behand- lungsoptionen und die Präferenzen und Wertüberzeugungen von Patient und Arzt.) Daher ist die medizinische Krankheitslehre, oder genauer: die Gesamtheit von medizinischer Orthologie , Pathologie und Nosologie , das eigentliche theoretische Rückgrat der Medizin, an dem die methodischen und praktischen Anteile der Medizin wie Therapeutik und Diagnostik festgemacht sind. Während nun die medizinische Fachliteratur einschließlich der üblichen Lehr- und Handbücher das Erfahrungsmaterial bezüglich der einzelnen gesun- den und krankhaften Lebenserscheinungen am menschlichen Organismus ausgiebig behandelt, fehlt eine entsprechende Darstellung der dem ganzen System zugrunde liegenden Unterscheidung zwischen gesund (bzw. normal) und krank (bzw. krankhaft). Es existieren umfangreiche Darstellungen z. B. der normalen und Pathologischen Anatomie, der Physiologie und Pathophysio- logie oder der klinischen Subdisziplinen wie Innere Medizin, Chirurgie und Psychiatrie; dagegen gibt es kein Lehrbuch und keine Standarddarstellung der Theoretischen Pathologie – wenn man mit Karl E. Rothschuh und der Heidel- berger Schule um Wilhelm Doerr und Heinrich Schipperges die für den allge- meinen Krankheitsbegriff benötigte und zuständige Disziplin so bezeichnen will. 1 Stattdessen finden wir allerdings ausgedehnte Diskussionen darüber, wie ein allgemeiner Krankheitsbegriff theoretisch zu fassen wäre. Diese Diskus- sionen haben zwar schon eine lange medizinhistorische Tradition bis zurück zum Corpus Hippocraticum , 2 haben aber etwa seit den 1970er Jahren eine neue Qualität gewonnen: Es beteiligen sich nunmehr zunehmend nicht nur Me- diziner, sondern auch Vertreter anderer Fächer wie Philosophie, Psychologie, Soziologie, (Medizin-)Geschichte und (Bio-)Ethik, und die Diskussion wird 1 Rothschuh (1958); Doerr/Schipperges (1979); Becker/Doerr/Schipperges (1993). 2 Vgl. die in den Sammelbänden Rothschuh (1975 b) und Caplan/Engelhardt/McCartney (1981) zusammengestell- ten historischen Zeugnisse zu dieser Diskussion. 5 Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen A international geführt. Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass sich diese neuere Diskussion bislang eher außerhalb als innerhalb der Medizini- schen Fakultäten abgespielt hat, insofern als Autoren wie Christopher Boorse, Bernard Gert, Lawrie Reznek oder Lennart Nordenfelt in der Philosophie und den Sozialwissenschaften bekannter zu sein scheinen als in der Medizin. Es handelt sich aber um eine Diskussion, die die begrifflichen und theoretischen Grundlagen der Medizin direkt betrifft, gewissermaßen um die medizintheo- retische Grundlagenforschung – oder den medizinischen Grundlagenstreit 3 Während eine Zeit lang der Eindruck entstehen konnte, dass diese Grundla- gendiskussion aporetisch und extrem kontrovers verläuft, lassen sich mittler- weile doch bestimmte Resultate festhalten, die nur mehr wenig kontrovers sind und in die Richtung einer vereinheitlichten allgemeinen Krankheitstheorie mit einem in bestimmter Weise fassbaren allgemeinen Krankheitsbegriff weisen. Ohne behaupten zu wollen, dass sich bereits ein allgemeiner Konsens in dieser Hinsicht abzeichne, glaube ich doch die Grundlinien dieser Theorie angeben zu können, insoweit sie aus einer kritischen Rekonstruktion der Struktur der medizinischen Krankheitslehre selbst abgeleitet werden können. Ich lege die- se Konzeption der Theoretischen Pathologie, die an anderer Stelle ausführlich entwickelt wurde, 4 der folgenden kurzgefassten Darstellung zugrunde. 2. 1 Grundlagen Wie schon Karl E. Rothschuh aufgezeigt hat, 5 gibt es nicht nur den Krank- heitsbegriff der Medizin, sondern man muss zusätzlich in Rechnung stellen, dass die Bezeichnungen krank und Krankheit a) auch in der alltäglichen Lebenswelt gebraucht werden und dann ein Krankheitsverständnis widerspiegeln, das sich nicht mit dem der (wissenschaftlichen) Medizin deckt; b) in der Arbeitswelt, im Sozialrecht und im Versicherungswesen einen be- stimmten sozialen Status bezeichnen, der mit bestimmten Erwartungen, Rechten, Pflichten, Ansprüchen und Privilegien verbunden ist; 6 c) sowohl in der Geschichte der abendländischen Medizin als auch in außer- europäischen Kulturen und Medizinsystemen der Vergangenheit und Gegen- wart mit anderen theoretischen Vorstellungen und praktischen Kon- sequenzen verbunden wurden bzw. werden, als es in der zeitgenössi- schen „westlichen“ wissenschaftlichen Medizin der Fall ist. 7 Es ist sehr wahrscheinlich nicht möglich, einen Bedeutungskern von krank und Krankheit zu identifizieren, der allen genannten Verwendungsweisen dieser Be- zeichnungen im Sinne eines gemeinsamen Definiens zugrunde liegt. Wenn man bedenkt, dass in bestimmten Medizinsystemen z. B. persönliches Missgeschick, 3 Im Rahmen dieses Aufsatzes kann ich nicht näher auf diese ausgedehnte Diskussion eingehen. Es sei auf die im Literaturverzeichnis angeführten Werke der im Text genannten Autoren verwiesen sowie auf Caplan/Engelhardt/ McCartney (1981), Humber/Almeder (1997) und Caplan (2004). 4 Vgl. Hucklenbroich (2006), (2007 a), (2007 b); Buyx/Hucklenbroich (2007); Hucklenbroich et al. (2007). 5 Rothschuh (1975 a). 6 Die klassische Darstellung dazu ist Parsons (1967). Vgl. auch Mazal (1992), (2004). 7 Vgl. Schipperges/Seidler/Unschuld (1978); Lux (2003). 6 vi x12342567ff12ifi48fl90ffifb2fliδ3fliTh34→ffi065ž5i8fl9ić4ffiflç1265 Streitigkeiten mit anderen Menschen oder das Vertreten bestimmter religiöser Auffassungen zu den Krankheiten gerechnet werden, in anderen Systemen da- gegen Ereignisse wie ein Schlaganfall, eine Epilepsie oder das Versterben eines Kindes nicht als Krankheiten, sondern z. B. als göttliche Strafe oder göttliche Er- leuchtung aufgefasst werden, scheint eine gemeinsame begriffliche Basis nicht denkbar zu sein. Wenn man aber deswegen als „kleinsten gemeinsamen Nenner“ nur eine negative Normativität annehmen will, also die Vorstellung, dass etwas nicht so ist oder sich verhält, wie es sollte , 8 erhält man wieder eine viel zu weite Bedeutung, da davon nicht nur Krankheitserscheinungen, sondern alle Arten von Unglück, Misserfolg, Unfähigkeit, Kriminalität oder Unmoral abgedeckt werden. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, sich bei der Analyse des Krankheitsbe- griffs bewusst auf den Bereich zu beschränken, in dem eine systematische theoretische Grundlage vorgefunden werden kann: Die wissenschaftlich-medi- zinische Krankheitslehre im o. g. Verständnis. Diesen medizinischen Krankheitsbegriff gilt es sodann klar zu unterscheiden vom alltagssprachlich-lebensweltlichen Begriffsverständnis, vom sozialen bzw. soziologischen Krankheitsbegriff und von den Krankheitsvorstellungen anderer Kulturen und Epochen. Der Vorteil, den man sich mit dieser selbstauferlegten Beschränkung einhandelt, besteht in der Möglichkeit, die Bedeutung dieses Krankheitsbegriffs in Form einer re- lativ überschaubaren und logisch klaren Definition angeben zu können. Diese Definition stellt natürlich keine normative Vorgabe an die Medizin dar, so als ob die Medizintheorie den Ärzten vorschreiben wollte, was sie unter Krank- heit zu verstehen haben, sondern sie ist eine Zusammenfassung der grundlegenden Kriterien und Prinzipien , die sich in der heutigen medizinischen Krankheitslehre, als Resultat ihrer bisherigen historischen Entwicklung, finden. Welche sind nun diese grundlegenden Kriterien und Prinzipien, und wie kann man sie erkennen? Die erste, negative Antwort hierauf besagt, dass kei- ne der gängigen „Definitionen“ von Krankheit oder Gesundheit, wie man sie etwa in Wörterbüchern und Konversationslexika findet, eine gehaltvolle, theoretisch oder praktisch brauchbare Charakterisierung dieser Begriffe be- inhaltet: Diese Worterklärungen sind entweder zirkulär („Krankheit als Abwe- senheit von Gesundheit“ und „Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit“), oder sie führen zum Regress , indem sie Begriffe zur Definition heranziehen, die selbst genau so erklärungsbedürftig sind wie das Definiendum (z. B. Krank- heit als Störung, als Regelwidrigkeit, als Normabweichung oder Abnormali- tät), oder sie sind genau besehen inhaltsleer (z. B. Krankheit als „Leben unter veränderten Bedingungen“). Auch die etwas elaborierteren Versionen, in de- nen etwa Krankheit mit einer Disharmonie, Abweichung vom Gleichgewicht oder Störung der Regulations- und Kompensationsfähigkeit des Organismus gleichgesetzt wird, 9 leiden unter ähnlichen Defekten: Erstens wären sie nur anwendbar, wenn unabhängig von ihnen schon klar wäre, wann denn eine ungestörte Harmonie, ein ungestörtes Gleichgewicht oder eine ungestörte Regulationsfähigkeit vorliegt; und zweitens wären sie selbst dann, wenn dies 8 Dies wurde von Axel Bauer vorgeschlagen; Bauer (2007), S. 94. 9 Definitionsvorschläge, die auf diese und ähnliche Vorstellungen zurückgreifen, finden sich z. B. in aktuellen Lehr- büchern der Pathologie wie Grundmann et al. (2004), Böcker (2004), Riede (2004). 7 Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen A Wissen vorausgesetzt werden könnte, keineswegs allgemeingültig, sondern würden zwar auf einige ganz bestimmte Krankheitsklassen passen, viele an- dere Klassen von Krankheiten dagegen völlig unberücksichtigt lassen. Die von mir zugrunde gelegte medizintheoretische Hypothese, auf deren Basis eine positive Antwort gegeben werden kann, lautet folgendermaßen: Um den Krankheitsbegriff der Medizin zu rekonstruieren, müssen diejenigen Voraussetzungen identifiziert werden, die in der medizinischen Beurteilung und Theoriebildung regelmäßig in Anspruch genommen werden, aber (in der Regel) implizit bleiben . Dass diese impliziten Voraussetzungen tatsächlich ange- nommen werden und logisch auch notwendig sind, lässt sich zeigen, sobald sie explizit formuliert sind, denn dann kann man prüfen und nachweisen, dass die geltende Krankheitslehre und Diagnostik von diesen Voraussetzungen Ge- brauch macht. Es handelt sich im Wesentlichen um drei Voraussetzungen, die z. T. in sich noch einmal differenziert sind. Die erste Voraussetzung besteht in der Zugrundelegung eines (primären) Kriteriums für Krankhaftigkeit , das sich aus drei (bzw. fünf, s. u.) Teilkriterien zusammensetzt. Die zweite Voraussetzung besteht in dem Prinzip, dass es möglich ist, bestimmte Phänomene als Teil-, Begleit- und Folgeerscheinungen krankhafter Vorgänge zu identifizieren und daher als krank- haft zu klassifizieren, auch wenn diese Phänomene für sich allein betrachtet nicht von den primären Krankheitskriterien erfasst werden sollten : Nämlich erstens dann, wenn diese Phänomene notwendige Glieder in einer spezifischen pathogenetischen Ent- wicklung sind, die zu einer bereits als pathologisch bekannten Erscheinung ge- hört, und wenn diese Phänomene nicht außerhalb solcher pathogenetischer Entwicklungen auftreten; zweitens auch dann, wenn sie nach klinischer Erfah- rung spezifischer Teilvorgang oder Symptom eines bereits als solchen identifizierten Krankheitsbildes (einer nosologischen Krankheitsentität ) sind. Ergänzend tritt als dritte Voraussetzung noch das Prinzip auf, dass sich alle krankhaften Erscheinungen im Organismus prinzipiell innerhalb des Systems aller Krankheiten – der Nosologie – zuordnen lassen (müssen), und zwar als Erscheinungen einer oder mehrerer vorliegender Krankheitsentitäten . Dies letzte Prinzip sichert die Vollständigkeit des medizinischen Krankheitsbegriffs und liegt insbesondere der Methode der Dia- gnostik und Differentialdiagnostik konstitutiv zugrunde, indem es postuliert, dass es keine „isolierten“, aus dem System der Krankheitsentitäten heraus- fallenden Krankheitserscheinungen gibt, sondern jedes pathologische Phä- nomen im Rahmen einer oder mehrerer kombinierter Krankheitsentität(en) auftritt und dementsprechend diagnostisch zugeordnet werden muss Man kann die gerade gegebene Rekonstruktion in Form einer Definition zu- sammenfassen: (D 1) Ein Vorgang (Zustand/Ereignis) ist krankhaft (pathologisch) genau dann, (1) wenn mindestens eines der fünf Krankheitskriterien (siehe D2) auf ihn zutrifft, oder (2) wenn er, entsprechend dem ätiopathogenetischen Krankheitsmodell, ausgehend von ersten Krankheitsursachen ein spezifisch krankheitsbe- dingender Vorgang im Rahmen eines pathogenetischen Prozesses ist, oder