Johannes Tütken Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta Except where otherwise noted, this work is licensed under a Creative Commons License erschienen im Universitätsverlag Göttingen 2005 Johannes Tütken Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta, Teil II erschienen als zweibändiges Werk im Universitätsverlag Göttingen 2005 Johannes Tütken Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta Zur älteren Privatdozentur (1734 bis 1831) Teil II Biographische Materialien zu den Privatdozenten des Sommersemesters 1812 Universitätsverlag Göttingen 2005 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Die Drucklegung wurde gefördert durch den Universitätsbund Göttingen e.V. http://www.unibund.gwdg.de © Alle Rechte vorbehalten, Universitätsverlag Göttingen 2005 Umschlaggestaltung: Margo Bargheer Links: Karikatur des PD und Notar Dr. jur. Johann Georg Quentin (Ausschnitt). Nähere Herkunftsangaben fehlen (vgl. Seite 596 und 600 dieses Bandes). Der Karikierte wurde von vielen Gläubigern verklagt und gegen Ende seines Lebens von der Universität mit Entlassung bedroht. Universitätsarchiv Göttingen. Signatur: Kur 3. n (alt); Kur 3975 (neu); Bl. 354 [Gerichtsakten aus dem Nachlass des Regierungsbevollmächtigen Prof. Dr. F. Chr. Bergmann]. Rechts: Bildnis des PD Ernst Schulze. Frontispiz in: De Rosis lusus. Scripsit Ernestus Schulze. Hrsg. von Wilhelm Müldner [1867]. Näheres auf Seite 869 dieses Bandes. – Posthum war Schulze ein Poet der Verliebten seines Jahrhunderts. Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Signatur: Antiquit. II 1679. ISBN 3-938616-14-8 451 Inhaltsverzeichnis Teil II Biographische Materialien zu den Privatdozenten des SS 1812 20. Der endgültige berufliche Verbleib der 32 Privatdozenten des Sommersemesters 1812 .................................................................. 455 21. Sechs Rufe als Professoren an die Universitäten Rostock, Bonn, Kiel, Göttingen und Berlin................................................................... 458 21. 1 Magister J. Ph. Bauermeister – Professor der Theologie in Rostock ......................................................461 21. 2 Magister und Dr. theol. h. c. G. W. Freytag – Professor der Arabistik in Bonn.............................................................467 21. 3 Dr. jur. H. R. Brinkmann – Ein freimütiger Professor der Rechtwissenschaft in Kiel.....................474 21. 4 Dr. med. J. F. Osiander – Ein lehrscheuer Professor der Geburtshilfe in Göttingen.................494 21. 5 Magister E. A. Ph. Mahn – Professor für orientalische Philologie in Rostock ................................508 21. 6 Magister E. H. Tölken – Professor für Kunstgeschichte in Berlin ................................................518 22. Vier Abgänger in bürgerliche Professionen und staatliche Ämter .....531 22. 1. Dr. jur. J. W. Thom(e)s – Advokat in Northeim .................................532 22. 2 Magister und Dr. jur. F. Ballhorn-Rosen – Kanzleidirektor in Detmold..................................................................535 22. 2. 1 Eine vielseitige Privatdozentur in Göttingen............................536 22. 2. 2 Tätigkeit im lippeschen Justizwesen...........................................545 22. 3 Dr. jur. K. von Weyhe – Schriftsteller in Celle......................................549 22. 4 Dr. med. Johann Georg Spangenberg – Generalstabsarzt und Leibmedicus des Königs...................................553 22. 4. 1 Eine problemreiche Lebensphase in Göttingen........................554 22. 4. 2 Karriere im Militärdienst und im Medizinalwesen des Königreichs Hannover.............................563 452 23. Kombinierer: Privatdozenten mit Zweitberuf am Ort ........................ 569 24. Privatdozent und Superintendent J. F. Ch. Gräffe, Magister und Doktor der Theologie................................................... 572 24. 1 Ein Späteinsteiger nähert sich wieder der Universität ...........................579 24. 2 Lehrbeauftragter der Pastoraltheologie....................................................585 24. 3 Unterschiedliche Bewertungen von Gräffes Engagement....................590 25. Ein mit Entlassung bedrohter Privatdozent – Notar Dr. jur. J. G. Quentin ............................................................. 596 25. 1 Der gescheiterte Versuch seiner Entlassung ...........................................603 25. 2 Letzter Dienst eines Universitätsgerichts.................................................610 26. Privatdozenten als praktizierende Ärzte in und um Göttingen ..........613 26. 1 Dr. med. G. K. Winiker – Physicus im Gericht Adelebsen.............................................................614 26. 2 Dr. med. J. C. Uhlendorf – Kinderarzt und Tiermediziner ...............................................................621 26. 3 Dr. med. G. Chr. Breden – ein idealistischer Menschenfreund und wenig erfolgreicher Lehrer.................................................................624 26. 4 Dr. med. und Dr. phil. L. A. Kraus – „Warum wurde er nicht Professor?“ ....................................................629 27. Privatdozenten als Lehrkräfte am Göttinger Gymnasium..................651 27. 1 Magister J. F. A. Kirsten – Theologe in spe und Direktor des Gymnasiums ...............................657 27. 1. 1 Kirstens Jugend- und Studienzeit..............................................658 27. 1. 2 Der Sohn Johann Gotthelf Kirsten – das Göttinger Wunderkind ........................................................662 27. 1. 3 Kirsten als gelehrter Schulmann und Privatdozent ................668 27. 2 Magister G. H. Lünemann – Herausgeber und Rektor des Gymnasiums........................................674 27. 3 Magister G. J. Ebell – Senior der Privatdozenten und Mathematiklehrer ............................687 27. 4 Magister Chr. Focke – Vom Friseurgesellen zum Privatdozenten der Mathematik.............694 27. 4. 1 Der mühevolle Weg zur Georgia Augusta: Frisieren, Brauen und Studieren ...............................................695 27. 4. 2 Der Zweitberuf als Mathematiklehrer am Gymnasium.........701 27. 4. 3 Probleme eines alternden Privatdozenten................................705 453 28. Privatdozenten als Universitätsbedienstete .........................................715 28. 1 Dr. jur. G. H. Oesterley – Erster Universitätsrat der Georgia Augusta .......................................716 28. 1. 1 Einstieg eines Advokaten in die Verwaltung und Lehre .......717 28. 1. 2 Der Aufstieg an die Spitze der Universitätsverwaltung .........729 28. 2. Dr. jur. h. c. G. Riedel – Universitätssekretär und bürokratischer Rückhalt der Universität.735 28. 3. Magister h. c. J. N. Forkel – Akademischer Musikdirektor und Musikwissenschaftler................742 28. 3. 1 Ein Chorschüler auf dem traditionellen Weg durch die Schulen und Chöre....................................................743 28. 3. 2 Der Student und Organist Forkel im Rahmen des Göttinger Musiklebens ..................................745 28. 3. 3 Forkels Lehrangebot einer für „Liebhaber eingerichteten Theorie“..........................................748 28. 3. 4 Musikdirektor und Lehrer musikalischer Theorie und Praxis ......................................................................................751 28. 3. 5 Der Schriftsteller seines Faches: Musiktheorie, Musikgeschichte und Chronist des Musiklebens seiner Zeit 756 28. 3. 6 Der alternde Forkel: Undank und Kritik .................................761 28. 4 J. H. Müller – Baukommissar und Dozent ..........................................765 28. 4. 1 Universitäts- und Klosterbaumeister und ein wenig Privatdozent ..........................................................768 28. 4. 2 Spuren des Baumeisters ...............................................................774 29. Dr. med. F. K. Lappe Direktor der Tierarzneischule der Universität 778 29. 1 Tiermedizinische Lehr- und Forschungsansätze an der Georgia Augusta...............................................................................778 29. 2 Ein Tierarzt auf der Suche nach Lehr- und Forschungsmöglichkeiten ...........................................................................782 29. 3 Leiter des Tierarzneihospitals am Leinekanal (1816–1822).................788 29. 4 Direktor der Tierarzneischule vor dem Groner Tor (1822–1854) ......792 29. 5 Rangfragen: Direktor oder gar Professor ?...................................................797 29. 6 Möglichkeiten und Grenzen der Tierarzneischule als Ausbildungs- und Service-Einrichtung ...............................................801 30. Lebenslängliche Privatdozenten ohne Zweitberuf .............................813 30. 1 Dr. jur. C. F. Rothamel – ein lehrwütiger Repetent ............................813 30. 2 Magister F. W. Schrader – die Verelendung eines mathematischen Privatdozenten...................820 30. 2. 1 Petitionen markieren den Weg in die Armut............................826 30. 3 Magister W. J. R. Fiorillo – ein Hogarth-Erklärer und Kalendermacher ........................................835 454 30. 4 Magister h. c. J. Klare – Hauptmann a. D. und Privatdozent der Kriegswissenschaft ..........849 30. 5 Magister Ernst Schulze – ein früh verstorbener Lieblingsdichter seines Jahrhunderts .............859 30. 5. 1 Kindheit – Jugend – Studium an der Georgia Augusta .........861 30. 5. 2 Gründungsmitglied der Societas philologica Gottingensis ..............867 30. 5. 3 Magisterpromotion und Venia-Disputation ............................870 30. 5. 4 Der Privatdozent und Cäcilie Tychsen.....................................874 30. 5. 5 Die poetischen Werke: die Gedichte und die großen Versepen ....................................................................876 30. 5. 6 Rollenkonflikte: Poet oder Wissenschaftler? Romantiker oder medisanter Spötter? ......................................881 30. 5. 7 Tod in Celle...................................................................................889 31. Zwei Aussteiger....................................................................................891 31. 1 Magister W. Kern – ein schwer verständlicher spekulativer Philosoph.............................892 31. 2 Magister Frhr. G. A. von Seckendorf alias Patrik Peale – ein ruheloser Künstler und Weltbürger................................................906 32. Epilog...................................................................................................916 Anhang .......................................................................................................................917 A. Verzeichnis der Abkürzungen........................................................................917 B. Verzeichnis der Tabellen .................................................................................918 C. Verzeichnis der Sachen und Personen..........................................................919 D. Verzeichnis der Archivalien ............................................................................952 E. Verzeichnis der Literatur.................................................................................954 455 20. Der endgültige berufliche Verbleib der 32 Privatdozenten des Sommersemesters 1812 Wenn nur sechs der 32 Privatdozenten des Sommers 1812 mit ihrer Universitäts- karriere jener Regelerwartung entsprachen, die sich in neuerer Zeit an eine Privat- dozentur knüpfen, drängt sich die Frage nach dem beruflichen Verbleib jener auf, die ihre Hoffnung auf eine Professur nicht einlösen konnten. Die folgenden bio- graphischen Skizzen versuchen vor allem für die Beantwortung dieser Frage ein- schlägige Materialien vorzulegen. Es geht vornehmlich darum, Wege einer sekun- dären Chancenverwertung aufzuzeigen, und es soll nicht in erster Linie, die Gelehr- tengeschichte mit weiteren Professorenbiographien der wenigen „Erfolgreichen“ angereichert werden. Die folgenden Materialien sollen im Detail die Breite des sozialen Zugangs zur Privatdozentur der Georgia Augusta um 1800 zeigen, aber auch, wie weit sich das Spektrum der späteren Berufsalternativen auffächerte. Zugleich ist beabsichtigt, mit den biographischen Skizzen die faktischen Grundla- gen für die generellen Aussagen des ersten Teils zu verbreitern und vereinzelte Aspekte, die zuvor unter systematischen Gesichtspunkten aus ihrem Kontext herausgelöst und isoliert erörtert wurden, in ihrem biographischen Zusammen- hang vorzuführen. Wenn möglich, wurden in die folgenden Skizzen Angaben über den sozialen Hin- tergrund, den Studiengang und die Studiendauer, über die akademischen Prüfun- gen (Promotion, Pro loco-Disputation bzw. eine andere Form des Venia- Erwerbs), sowie über ihre akademische bzw. berufliche Tätigkeit während der Beschäftigungsspanne als Privatdozent aufgenommen. Aus Vergleichsgründen wurde für alle 32 Privatdozenten anhand des deutschen Lektionskatalogs festge- stellt, in welchem Umfang sie im SS 1812 Lehrveranstaltungen ankündigten. An- gaben über die Lehre (  ) in den übrigen Semestern beschränken sich auf charak- teristische Stichproben. Um die publizistische Tätigkeit nach Inhalt und Umfang zu charakterisieren, werden vor allem die buchförmigen Publikationen angeführt (  ). Mit der Angabe der Seitenzahlen kann wegen der unterschiedlichen For- mate der Veröffentlichungen das Ausmaß der Tätigkeit als Schriftsteller nur ange- deutet werden. 1120 Angaben zur Sekundärliteratur, die Ebel in seinem Catalogus bereits angeführt hat, werden zumeist nicht wiederholt zitiert. Bei jedem Privatdo- 1120 Angaben zur Primärliteratur in den einschlägigen Bänden des Pütter , wo z. T. auch Zeitschriften- aufsätze aufgeführt sind. 456 zenten werden meistens in der jeweils ersten Fußnote seiner biographischen Skiz- ze die Verweise auf den Pütter und den Catalogus von Ebel angeführt. Bei jenen Privatdozenten, die wegen der Aufnahme einer Professur oder eines bürgerlichen Berufs außerhalb Göttingens ihren Privatdozenten-Status aufgegeben haben, wurde nur mit begrenztem Aufwand deren anschließende Karriere ver- folgt. Hingegen wurde vor allem versucht, die weitere Entwicklung jener aufzuzei- gen, die als Kombinierer am Universitätsort blieben, um deren Symbiose von bürgerlichem Beruf und akademischer Lehre bzw. ihre Kombination von Univer- sitätsamt und Privatdozentur zu beleuchten. Problemfälle häufen sich in der klei- nen Gruppen jener, die ohne Zweitberuf bis zu ihrem Tode in der Georgia Au- gusta nur als Privatdozenten tätig waren bzw. die weder in der Universität noch außerhalb recht Fuß fassen konnten. Im folgenden Untersuchungsteil werden die 32 Privatdozenten unter fünf Katego- rien ihres endgültigen beruflichen Verbleibs gruppiert: Tabelle 20: Endgültiger Verbleib der Privatdozenten des Jahres 1812 Nr. Verbleib Anzahl 1. Universitätsprofessoren 6 2. Abgänger in bürgerliche Berufe 4 3. Kombinierer: Privatdozentur und Beruf in Göttingen 15 4. Privatdozenten auf Lebenszeit ohne Zweitberuf 5 5. Sonderfälle – Aussteiger 2 Angesichts des Zustandes der Universitätsstatistik und der Aktenlage einschlägiger Archive sind einem umfassenden Vergleich aufgrund der Datenlage Grenzen ge- setzt. Symptomatisch ist die Aussage W. Ebels über die Schwierigkeiten bei der Erstellung des Catalogus Professorum Gottingensium : Auch bei größter Sorgfalt und Mühe konnten nicht in allen Fällen sämtliche gesuchten Daten gefunden werden. Es ist überraschend zu sehen, daß auch in den älteren Perso- nalakten der Fakultäten oftmals einfach keine Aufklärung etwa über das Geburtsda- tum eines ordentlichen Professors zu erlangen war. Noch stiefmütterlicher ging die Überlieferung bzw. die Gelehrtengeschichte mit den Privatdozenten um. Aus dem Jahre 1838 wurde bereits eine Bewertung der Daten- lage durch den früheren Privatdozenten und damaligen höchsten Verwaltungsbe- amten der Georgia Augusta, G. H. Oesterley [Nr. 7], über die hier untersuchte frühe Göttinger Privatdozentur zitiert: 457 ein vollständiges und zuverlässiges Verzeichnis der [...] Privatdozenten giebt es nicht und kann es auch nicht geben. 1121 Wegen dieser Quellenlage musste sich die Erfassung der persönlichen Daten der hier untersuchten 32 Privatdozenten in den meisten Fällen auf deren Präsentation als geordnete Materialsammlung beschränken. In ihr sind zumeist nur sozialstruk- turell bedeutsame Entscheidungsfaktoren des Karriereverlaufs vertreten. In eini- gen Fällen erlaubte eine gute Datenbasis eine biographische Skizze zu entwickeln. Leider haben nur zwei der hier untersuchten Privatdozenten einen autobiographi- schen Text hinterlassen, so dass kaum unmittelbare Einblicke in die subjektiven Motive von Laufbahnentscheidungen möglich sind. In der Stichprobe der 32 Privatdozenten des SS 1812 ist das Qualitäts- und Chan- censpektrum breit gefächert. Es reicht vom erfolgreichen Bonner Arabisten Frey- tag, auf dessen Publikationen seine Fachwissenschaft noch heute zurückgreifen muss, bis hin zum gescheiterten Privatdozenten Ernst Schulze, der nach seinem frühen Tod aber zu einem der Lieblingsdichter seines Jahrhunderts aufstieg. Es fehlen nicht diejenigen, denen nach Möglichkeit geholfen wurde, wie dem behin- derten Professorensohn Osiander, und es sind auch jene zu registrieren, die am Ende ihres Lebens tief enttäuscht mit der Landesregierung über die kärgliche Un- terstützung rechten, wie der für die Entwicklung der Musikwissenschaft bedeut- same Musikdirektor Forkel. Erbittert schreibt er, für sein geringes Salarium könne man nach seinem Tod kaum einen gemeinen Musikanten, der sich nur auf Tanz-, Tafel- und Feldmusik versteht, gewinnen. Wenn neun der 32 Privatdozenten in der Biblio- thek der Georgia Augusta nicht mit einer Buchveröffentlichung vertreten sind, verrät dies, dass in den Auditorien einer seinerzeit berühmten Universität auch unterhalb des Mittelmaßes gelehrt wurde. Bei der Bewertung des folgenden Potpourri sehr verschiedenartiger Lebensläufe und höchst unterschiedlicher Lehr- und Forschungsleistungen ist Zurückhaltung angebracht. Goethe – auch offiziell zuständig für Weimar-Jena, der großen Stadt, die an beiden Enden viel Gutes hat, – meinte angesichts der schwankenden Wertschät- zung gegenüber den Gelehrten seiner Zeit anmerken zu müssen: Man beobachtet den Theologen, man spottet über den Mediziner, man scherzt über den Philosophen, man läßt den Juristen gewähren, und bedenkt nicht, daß alle diese Män- ner von der Zeit gebildet werden und die Zeit bilden helfen, und daß alles, was sie leh- ren, auf das bürgerliche Leben den größten Einfluß hat. 1122 1121 Ebel: Catalogus (wie Anm. 19), S. 12. – Zu Oesterley vgl. oben Seite 12. 1122 Zitiert bei Müller, G.: Universität Jena (wie Anm. 65), S. 7 und 9. 458 21. Sechs Rufe als Professoren an die Universitäten Rostock, Bonn, Kiel, Göttingen und Berlin Nur sechs der 32 Privatdozenten des Jahres 1812 erreichten das von den meisten erhoffte Ziel, als Gelehrte im Professorenstatus an einer Universität zu forschen und zu lehren. Vermutlich haben derartige Proportionen zwischen den wenigen Erfolgreichen und den vielen Zurückgebliebenen den Göttinger Altertumswissen- schaftler C. O. Müller am 26 1. 1830 veranlasst, seine Eltern nachdrücklich zu warnen, als er von den Plänen seines jüngeren Bruders erfuhr, an der Universität Breslau eine Dozenten-Karriere beginnen zu wollen. Sein brüderlicher Rat gehe dahin, sich doch ja nicht dieser wahrhaft perfiden Carrière zu vertraun. Ein Amt ist eine vor- treffliche Sache, aber ohne Amt seine Kenntnisse ausbieten zu müssen, wie der Dr. le- gens thut, eine fatale Sache. Unter zehn Docenten gedeiht hier in Göttingen etwa Ei- ner, und ich kenne keine Laufbahn, die so oft in wahrhaft trostlose Lagen führte als diese. 1123 Mit seiner geschätzten Erfolgsquote von 1/10 hat C. O. Müller – im Anschluss an Michaelis – übertrieben. Von den Göttinger Privatdozenten des Jahres 1812 er- reichten immerhin etwa 1/5 eine Universitätsprofessur. Aber vielleicht hat C. O. Müller die schwer fassbare Dunkelziffer jener mit in seine Rechnung aufgenom- men, die bereits in einer frühen Studienphase ihre Hoffnungen auf eine akademi- sche Kariere entmutigt aufgaben. Die abschreckende Wirkung derartiger Warnungen und augenfälliger Misserfolgs- quoten war offenbar gering, und so verfehlte auch C. O. Müllers brüderlicher Rat seine Wirkung. Für ernsthaft Entschiedene ging von der Vorstellung eines Gelehr- tenlebens eine große Faszination aus, und Julius Müller hatte mit seinem berühm- ten Bruder ein ambivalentes Beispiel vor Augen: zwar warnte ihn dieser, aber mit seiner Blitzkarriere stand er auch für die außergewöhnlichen Chancen, die das Universitätssystem den Hochbegabten bot: C. O. Müller trat seine Göttinger Pro- 1123 Kern, Otto/Kern, Else (Hg.): Carl Otfried Müller. Lebensbild in Briefen an seine Eltern mit dem Tagebuch seiner italienisch-griechischen Reise. Berlin 1908. S. 195. – Müllers Einschätzung der Erfolgsquote geht vielleicht auf Michaelis zurück: Und zu einem guten Professor wird so mancherley erfodert, daß vielleicht kaum einer unter zehn Privatdocenten diese Eigenschaften beysammen hat. [Vgl. [Michaelis] (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 129]. 459 fessur bereits mit 22 Jahren an. Trotz der Misserfolgsprognose seines älteren Bru- ders steht der jüngere Müller für die Zeit von 1832 bis 1834 sogar im Verzeichnis der theologischen Privatdozenten der Georgia Augusta. Über kurz bemessene Zwischenstationen in Göttingen und an der Universität Marburg erreichte er be- reits 1835 eine o. Professur der Theologie an der Universität Halle. 1124 Auch In- sider leisteten sich prognostische Fehlurteile. Der erlösende Ruf war ein bewegendes Ereignis in der Karriere eines jungen Ge- lehrten. Die damit verknüpften Ängste und Hoffnungen hat der Göttinger Althi- storiker und Archäologe Ernst Curtius zum Anlass genommen, ein Lustspiel mit dem Titel Der Ruf zu schreiben, das in seinem gastfreien Haus an der heutigen Theaterstraße (Altes Kuratorium) im Februar 1861 von Studenten aufgeführt wurde. Der Autor war über den Erfolg dieser Variante des Göttinger Fastnachtsthea- ters überrascht: Es waren einige sechzig Personen als Zuschauer da und alle sagten, so etwas wäre in Göttingen noch nicht da gewesen. Die dargestellte Begebenheit spielt an der Uni- versität Salamanca, deren z. T. blutige Promotionsbräuche Curtius wohl nicht bekannt waren. Dort wurde der Promovierte erst voll anerkannt, wenn er in einer corrida , dem paseo doctoral , einen Stier getötet und mit dessen Blut seinen Namen auf eine Hauswand geschrieben hatte. 1125 Im Göttinger Fastnachtsspiel lenkt der Student Enrico, ein bereits bemoostes Haupt einen Werber der Universität Coimbra von einem Hofrat seiner Universität Sala- manca ab und bringt mit Erfolg seinen Freund, den doctor legens Rodrigo, ins Spiel, der schon lange die Not eines Privatdozenten zu ertragen hatte: O Schicksal, jedem gabst du was er braucht. Dem Ätna einen Gipfel, welcher raucht, Dem Weibe Schönheit, Eitelkeit dem Tropf, Dem Leutnant Taille, dem Chinesen Zopf, Dem Stier das Horn, dem Roß den schnellen Huf, Nur mir nicht das, was ich bedarf: den Ruf! Der ursprünglich ausersehene Hofrat ist zum Glück für den Privatdozenten Ro- drigo ein quietistischer Wahrer seines Status quo, der für die Sesshaftigkeit eines gesetzten Standesvertreters um Verständnis wirbt: Doch bedenkt: Ich bin auch Mensch, bin Gatte, Vater, bin Geheimer Hofrath, Senior der Fakultät, Comthur und Hausbesitzer, Präsident Der Auditoriencommission und sämmtlicher Ausschüsse. Für den Privatdozenten Rodrigo war die Alternative Salamanca-Göttingen oder Coimbra kein ernsthafter Abwägungsfall. Seine rollentypische Chance lag im geis- tigen Nomadentum. Das allseits befriedigende Fazit der Werbungsaktion lautet: 1124 Ebel: Catalogus (wie Anm. 19), S. 44, Nr. 47 und S. 40, Nr. 20. 1125 Frijhoff (wie Anm. 635), S. 287. 460 So sind die Rollen wohl verteilt, und Jeder hat das Seine. Der kehrt mit Ehren heim und der – bleibt ruhig an der Leine. 1126 Die Daten der folgenden Tabelle 21 zeigen, dass die Berufungen unter den hier näher untersuchten 32 Privatdozenten des SS 1832 um das 30. Lebensjahr erfolg- ten. Tabelle 21: Berufungsalter, Professorenstatus und Ziel-Universität der erfolgreichen Privatdozenten Nr. Name Berufungsalter Erstberufung als Berufende Universität 1 Bauermeister 31 o. Professor Rostock 2 Brinkmann 30 ao. Professor Kiel 3 Freytag 30 o. Professor Bonn 4 Osiander 28 ao. Professor Göttingen 5 Mahn 31 o. Professor Rostock 6 Tölken 30 ao. Professor Berlin Die zunächst als ao. Professoren Berufenen erhielten später an ihrer Universität eine ordentliche Professur. 1127 Keiner hat nochmals die Universität gewechselt. Die Hälfte der Berufenen sind dem orientalistischen bzw. theologischen Diszipli- nenbereich zuzuordnen (Nr. 1, 3 und 5). Damit verglichen ist in dieser allerdings nur kleinen Stichprobe die Exportbilanz der renommierten Juristischen Fakultät gering (Nr. 2), und die Medizin ist nur mit einer Hausberufung vertreten (Nr. 4). Die Daten dieser Professorengruppe sind mit den entsprechenden Angaben in der Untersuchung von E. Th. Nauck über die 183 Freiburger Privatdozenten des Zeitraums 1818 bis 1899 schwer vergleichbar, da weitgehend der chronologisch anschließende Zeitraum von Nauck bearbeitet wurde. Es fällt auf, in welch gro- ßem Umfang die 183 Freiburger Privatdozenten eine Professur erreichten: 99 planmäßige Professoren (davon 51 in Freiburg), 13 außerplanmäßige Professoren, 6 Honorarprofessoren. 1126 Hassenstein, Friedrich: Ernst Curtius in Göttingen. In: GJ 42/1994. S. 143-157. Hier: S. 149 f. 1127 Brinkmann (1822); Osiander (1833) und Tölken (1823). – Der Zugang zum Ordinariat erfolgte im Durchschnitt im Alter von fast 35 Jahren. – Entsprechende Daten aus dem Zeitraum 1815-1847 der fünf von ihr untersuchten Universitäten bei: Baumgarten: Professoren und Universitäten (wie Anm. 1084), S. 292. 461 Die Summe von 118 Professoren entspricht einer Erfolgsquote von 64,4 %. Nur 5 von 183 Privatdozenten verblieben in diesem Status. Davon verstarb einer mit 27 und ein anderer mit 36 Jahren. 1128 Mit 51 Professoren war der Anteil der Haus- berufungen groß (35,8 %). Von den sechs Professoren der hier untersuchten Göt- tinger Stichprobe erhielt nur einer eine Hausberufung. Im Vergleich mit der reichs- und bundesweiten Ausstrahlung der Universität Göttingen besaß Freiburg eine stark regional orientierte Universität mit einem hohen Maß an Selbstrekrutie- rung. Als der Altdorfer Professor Jakob Wilhelm Feuerlein 1736 den Ruf auf eine Göt- tinger Professur der Theologie erhielt, meinte er nicht nur vom welfischen Lan- desherrn sondern mittelbar auch von Gott berufen zu sein. Nachdem ihm die erbetene Entlassung in Altdorf mitgeteilt worden war, stellte er am 30. 12. 1736 fest, dass alle Merkmale einer göttlichen mittelbaren Berufung beisammen waren, und er folgte dem Ruf nach Göttingen. 1129 Bei den drei berufenen Privatdozenten der Theologie, über die in den folgenden Kapiteln zu berichten ist, kann man nicht mehr feststellen, dass sie sich in doppelter Weise berufen fühlten. 21. 1. Magister J. Ph. Bauermeister – Professor der Theologie in Rostock Johann Philipp Bauermeister [Nr. 3] wurde am 18. 10. 1788 in Northeim (Nds.) als Sohn des Georg Heinrich Levin Bauermeister und seiner Frau Johanna Chris- tina Antoinette, geb. Eickmeier, geboren. 1130 Sein Vater war in der Zeit von 1783 bis 1825 als Pfarrer in Northeim tätig. Zum Zeitpunkt der Immatrikulation seines Sohnes war er der Senior der Geistlichkeit am Ort. 1131 Das evangelische Pfarrhaus gilt mit Recht als Kinderstube der deutschen Professorenschaft. 1132 In der hier untersuchten Stichprobe der Privatdozenten ist aber außer Bauermeister nur Ball- horn [Nr. 6] diesem sozialen Herkunftsbereich zuzuordnen. Gelehrsamkeit muss viel in Bauermeisters Elternhaus gegolten haben, denn sechs weitere Brüder studierten an der Georgia Augusta: drei nahmen ein juristisches 1128 Nauck: Privatdozenten (wie Anm. 13), S. 74. 1129 Meyer: Theologische Fakultät (wie Anm. 839), S. 15. 1130 Ev. Kirchenbuchamt Göttingen: Kirchenbuch Northeim 1776-1800. – Pütter: Gelehrtenge- schichte (wie Anm. 20), Bd. 3, S. 281 und Anm. cc und Bd. 4, S. 392 und Anm. 1. – Ebel: Catalogus (wie Anm. 19), S. 136, Nr. 104 (dort nur als Privatdozent der Klassischen Philologie geführt). 1131 Meyer: Pastoren (wie Anm. 194), Bd. 2, S. 209 f. – Rotermund, Heinrich Wilhelm: Das gelehrte Hannover oder Lexikon von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, gelehrten Geschäftsmännern und Künstlern, die seit der Reformation in und außerhalb den sämtlichen zum jetzigen Königreich Hannover gehörigen Provinzen gelebt haben und noch leben [...]. 1. Bd. [A-E]. Bremen 1823, 2. Bd. [F-K]. Bremen 1823. Hier: Bd. 2, S. 110. 1132 Heutger, Nicolaus: Das evangelische Pfarrhaus in Niedersachsen. Als Beispiel für die Bedeutung des evangelischen Pfarrhauses. Frankfurt/M. 1990. Dort ist die Pastorenfamilie Bauermeister aller- dings nicht erwähnt. 462 Studium auf, und die drei andern studierten, wie Johann Philipp, Theologie. 1133 Für die Söhne eines Pfarrers gab es kaum andere Möglichkeiten, beruflich das soziale Niveau der Familie zu halten. Auch der Vater hatte in Göttingen einen Teil seines Theologiestudiums absolviert. Er wurde – aus Gandersheim kommend – zunächst an der Landesuniversität in Helmstedt immatrikuliert und am 7. 4. 1780 an der Georgia Augusta eingeschrieben. 1134 Vermutlich hat er 1812 das hebräisch verfasste Trauergedicht auf Heynes Tod verfasst. 1135 J. Ph. Bauermeister wurde am 8. 11. 1808 in der Theologischen Fakultät der Uni- versität Göttingen immatrikuliert. 1136 Als nach seinem rund 3 ½ jährigen Studium zu Ostern 1812 beide Stellen des Repetentenkollegiums frei wurden, schlug die Theologische Fakultät am 24. 2. 1812 der Generaldirektion die Studenten Bauer- meister und Freytag [Nr. 2] vor. Nach Meinung der Fakultät zeichneten sie sich durch Fleiß, Talent und Betragen aus. Beide hatten die für die Repetentenprüfung erforderliche theologische Abhandlung verfasst und waren während einer Fakul- tätssitzung von den Facultisten in den theologischen Wissenschaften mit völlig genügendem Ergebnis examiniert worden. Die Fakultät stellte ihnen eine positive Erfolgsprognose als theologische Dozenten und empfahl sie für das übliche Sti- pendium von 150 rthlr. 1137 Vermutlich waren Bauermeister und sein zeitgleich eingestellter Kollege Freytag die ersten theologischen Repetenten, die von der Neuregelung betroffen waren, wonach diese täglich zwei Stunden in der Universitätsbibliothek tätig werden mussten. Die Ausweitung der Bibliothek um die Bestände aus Wolfenbüttel und Helmstedt forderte bei knappen Kassen personelle Konsequenzen. Bauermeister gehörte dem Kreis ehrgeiziger und hochbegabter Studenten der Societas Philologica 1133 Die Daten nach Selle: Matrikel (wie Anm. 1134): C HRISTIAN Wilhelm L UDWIG , Theologie [S. 493, Nr. 22 419 (30. 10. 1809)], er erhielt 1812 zur Hälfte den Prediger-Preis [GGA 1812, S. 2010]; – C ARL A UGUST T HEODOR , Jura [S. 503, Nr. 22 854 ( 22. 10. 1810)]; – C ARL F RIEDERICH W ILHELM , Jura, [S. 632, Nr. 27 986 (21. 10. 1816 und 2. 7. 1820)]; – W ILHELM , Theologie, [S. 573, Nr. 25 617 (21. 10. 1816)]; – C HRISTIAN A UGUST L UDEWIG F RIEDRICH , Theologie [S. 671, Nr. 29 350 (30. 4. 1822)] und zum gleichen Datum: E RNST L EVIN E DUARD B AUERMEISTER , Theologie (S. 671, Nr. 29 351). – 1813 trug Direktor Kirsten unter der Nr. 314 den 14jährigen Wilhelm Bauermeister aus Northeim als Schulanfänger am Göttinger Gymnasium ein. Er bescheinigte ihm einen guten Anfang im Lateinischen und Französischen. Der Vater war damals Superintendent zu Northeim (SUB HDS: 4° Cod. Ms. Hist. lit. 50 b , Bd. 3, S. 62). 1134 Selle, Götz von (Hg.): Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen. Bd. 1: 1734- 1837, im Auftrage der Universität hrsg. von Götz von Selle (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen 9: Matrikeln niedersächsischer Hochschulen, Abt. 3), Hildesheim/Leipzig 1937, S. 248, Nr. 11 859. 1135 SUB: 8° H. lit. biogr. V 2010 (2). 1136 Bauermeister wurde in zwei aufeinander folgenden Semestern immatrikuliert, vgl. Selle: Matrikel (wie Anm. 1134), S. 484, Nr. 22 073 und S. 484, Nr. 22 103. 1137 UAG: Kur 4. II. d. 2, Bl. 12 f. – Vgl. auch UAG: Sek 315, Bll. 108/109.