Todesstrafe im Iran "Mein Vater braucht keine Zahnpasta. Sein Leben muss gerettet werden" Gazelle Sharmahds Vater wurde im Iran zum Tode verurteilt. Ein Gespräch über den Kampf um sein Leben, langsame deutsche Behörden, iranische Cybertrolle und Mut Interview: Amonte Schröder-Jürss 31. März 2023 Todesstrafe im Iran: Gazelle Sharmahd kämpft um das Leben ihres Vaters, der im Iran zum Tode verurteilt wurde. Gazelle Sharmahd ist die Tochter des Deutschiraners Jamshid Sharmahd. Der Regimegegner ist im Februar 2023 von einem Gericht in Teheran zum Tode verurteilt worden, wegen "Korruption auf Erden". Sie kämpft unter #SaveSharmahd für seine Rettung. ZEIT ONLINE: Ihr Vater wurde am 21. Februar 2023 vom iranischen Regime zum Tod verurteilt. Am 1. August 2020 haben Sie von seiner Inhaftierung erfahren. Ein Video von ihm wurde im iranischen Staatsfernsehen veröffentlicht. Können Sie sich an diesen Moment erinnern? Gazelle Sharmahd: Ich war damals im fünften Monat schwanger. Meine dritte Schwangerschaft, ich hatte schon zwei verloren, deswegen waren wir sehr vorsichtig. An dem Tag hatte ich frei. Mein Mann hat mich geweckt und gesagt: "Die haben deinen Papa." Wir sind dann zu meiner Mutter gefahren. Meine Familie hat mich das Video nicht anschauen lassen, damit ich ruhig bleibe für das Kind in mir. ZEIT ONLINE: Ihre Familie lebt in Los Angeles. Ihr Vater ist Ingenieur und IT-Experte und hat zehn Jahre lang bei Siemens gearbeitet. Er wurde während einer Geschäftsreise nach Dubai über zwei verschiedene Länder, die Arabischen Emirate und den Oman, in den Iran gebracht. Wie konnte das gelingen? GAZELLE SHARMAHD ist die Tochter des Deutschiraners Jamshid Sharmahd. Der Ingenieur, der einen Radiosender und eine Website betrieben hatte, auf der Menschen über die Lage in Iran berichten konnten, wurde im Juli 2020 entführt, als er auf einer Geschäftsreise in Dubai einen Zwischenstopp machte. Im Februar 2023 verurteilte ihn ein Gericht in Teheran zum Tode, wegen "Korruption auf Erden". Gazelle Sharmahd kämpft für seine Rettung. Sie lebt mit ihrer Familie in Los Angeles. Sharmahd: Das wird noch untersucht. Das letzte Mal, dass meine Mutter Kontakt zu ihm hatte, war während eines Videogesprächs in seinem Hotelzimmer im Flughafen in Dubai. Sie hatte Angst um ihn. Also hat er seinen Google-Tracker freigeschaltet. Später konnte sie sehen, wie er sich bewegt: nicht Richtung Indien, sondern in den Oman und in die Küstenstadt Sohar. Dann bricht der Tracker ab. Seit diesem Tag trackt sich meine Familie gegenseitig, sobald wir uns bewegen. ZEIT ONLINE: Welche Maßnahmen haben Sie nach seinem Verschwinden getroffen? Sharmahd: Wenn eine normale Person den eigenen Vater entführt, wendet man sich an die Polizei. Was aber macht man, wenn ein Staat den Vater entführt hat? Wir haben uns an Interpol gewandt, ans FBI, das State Department. Gleichzeitig haben wir versucht, das Auswärtige Amt in Deutschland zu kontaktieren, die Botschaft. Wir konnten niemanden erreichen. Es gibt kein Drehbuch zu der Frage: Wie rettet man jemanden, den man liebt? Irgendwann hat Interpol zurückgerufen: "Ma'am, wir verhandeln nicht mit Privatpersonen, sondern mit Staaten." Eine Woche später hatten wir den ersten Termin bei der deutschen Botschaft. Man sagte uns, man werde sich hochrangig um meinen Vater kümmern. Wann hat man das? Als er sich keinen Anwalt aussuchen durfte? Ihm alle Zähne ausgeschlagen wurden? Er zum Tode verurteilt wurde? ZEIT ONLINE: Was wird Ihrem Vater vorgeworfen? Sharmahd: Unter anderem ein vermeintlicher Bombenanschlag in der iranischen Stadt Schiras, 2008. Während seiner Schauprozesse wurden über 30 Anklagepunkte verlesen: Spionage, Sprengung und so weiter. Nach dem 20. Vorwurf haben wir nur noch gelacht. Ist mein Vater James Bond? Osama bin Laden? Einfach lächerlich. Iranische Medien haben vorher berichtet, dass es sich möglicherweise um einen Unfall gehandelt hat. Mittlerweile wurden über 40 Menschen für die gleiche Tat hingerichtet, für die auch mein Vater fälschlich beschuldigt wurde. Sie benutzen die immer gleichen Vorwürfe – und sind dabei nicht einmal sonderlich kreativ. ZEIT ONLINE: Ihr Vater besitzt nur einen einzigen Pass: den deutschen. In den Schauprozessen sieht man, wie dieser an die Wand projiziert wird. Sharmahd: Eine Nachricht an Deutschland. Da zeigt auch der Zeitpunkt, an dem seine Schauprozesse anfingen: Als die Verhandlungen zum Atomabkommen in Wien stattfanden. Da haben sie gezeigt: Wir haben euren Staatsbürger. Mein Vater ist kein Deutschiraner, kein Doppelstaatler. Er ist mit sieben Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen, seit 2002 lebt er in Los Angeles. Er ist nie in sein Geburtsland zurückgekehrt. ZEIT ONLINE: Was ist das Ziel des Regimes? Sharmahd: Sie wollen zwei Dinge und das sagen sie auch ganz deutlich. Erstens ist es eine Nachricht an die iranische Diaspora. Ihr seid nirgendwo sicher. Das Todesurteil wurde verkündet, nachdem bei der Münchner Sicherheitskonferenz iranische Oppositionelle eingeladen und Regimevertreter ausgeladen worden waren. Zweitens: die Auslieferung des iranischen Diplomaten Assadollah Asadi, gegen meinen Vater. Asadi wurde in Belgien zu 20 Jahren Haft verurteilt, weil er einen Bombenanschlag auf iranische Oppositionelle geplant hatte. "Wir haben das Regime zu groß werden lassen" ZEIT ONLINE: Wie haben die deutsche Bundesregierung und das Auswärtige Amt reagiert? Sharmahd: Man hat uns versichert, dass er deutscher Staatsbürger sei und man sich hochrangig für ihn einsetzen werde. Erst zweieinhalb Jahre später, nachdem er das Todesurteil bekommen hat, wurden zwei iranische Diplomaten aus Deutschland ausgewiesen. Das war alles. ZEIT ONLINE: Bekommt Ihr Vater konsularische Betreuung? Sharmahd: Er braucht keine Zahnpasta und Zahnseide. Sein Leben muss gerettet werden. ZEIT ONLINE: Sie leben seit 2006 in Los Angeles. Was machen die USA im Fall von Entführungen aus Ihrer Sicht besser als Deutschland? Sharmahd: Es gibt zwei beispielhafte Fälle: James Foley, ein amerikanischer Journalist, der vom IS entführt und enthauptet wurde. Und Robert Levinson, ein FBI-Agent, der vom islamischen Regime entführt wurde. Diese beiden Fälle sind sehr bekannt in den USA. Aktivisten haben erreicht, dass Gesetze erlassen werden, die regeln, wie mit solchen Fällen umgegangen wird. Es gibt jetzt die "Levinson-Law" und eine Abteilung im amerikanischen Außenministerium, die auf genau solche Geiselnahmen spezialisiert ist. An die Angehörige sich wenden und mit Sicherheitsbehörden und Reportern zusammenarbeiten können. Man würde sofort Presse bekommen und müsste nicht zweieinhalb Jahre schreien. Zudem gibt es finanzielle Unterstützung für die Familien. Es gibt einen Apparat, der hilft. In Europa haben wir so etwas nicht. Obwohl die meisten Geiseln des iranischen Regimes europäische Geiseln sind. ZEIT ONLINE: Wie viel Einfluss hat das iranische Regime in Deutschland? Sharmahd: Sie filmen die Demonstrationen, die gerade in Deutschland stattfinden. Sie finden mittels Gesichtserkennung heraus, wer die Demonstranten sind, und bedrohen dann manche Familien im Iran. Ein Drittel der Personen, die sich an unserer Save-Sharmahd-Kampagne beteiligen, hat Morddrohungen erhalten. Ahadi, eine politische Aktivistin, war die Erste in Deutschland, die mit mir gesprochen hat. Sie wurde monatelang von deutschen Behörden in Safe-Häusern versteckt. Es ist ein Problem von uns allen, hier in Deutschland, in Europa. Wir haben das Regime zu groß werden lassen: das islamische Zentrum, die Sicherheitsapparate. Sie können uns ausspionieren, terrorisieren, töten. ZEIT ONLINE: Sie sagen, dass es ein iranisches Propagandavideo in deutscher Sprache über Ihren Vater gibt. Sharmahd: Eine Reporterin vom Spiegel hat mir ein Video geschickt, das ihr zugespielt wurde. Darin spricht ein Mann von Iran TV auf Deutsch mit starkem persischem Akzent. Es wird ganz klar Propaganda über meinen Vater in deutscher Sprache verbreitet. Das Regime will nicht, dass die deutschen Medien die Wahrheit berichten. Es möchte, dass die deutschen Medien berichten, was das Regime behauptet: dass mein Vater Terrorist und iranischer Staatsbürger ist. ZEIT ONLINE: Ist es jetzt das erste Mal seit Jahren, dass ein deutscher Staatsbürger hingerichtet werden soll? Sharmahd: Ich glaube, ja. 2020 gab es einen Gefangenenaustausch und ein sogenannter Bio- Deutscher wurde freigelassen. Mein Vater hat deutsche Steuern bezahlt, seine Kinder sind auf deutsche Schulen gegangen. Was müssen wir machen, um als volle Deutsche zu gelten? Sharmahd: Ein sicheres Zeichen, dass sie jemanden töten wollen. Es gibt Menschen im Iran, wir nennen sie die "graue Bevölkerung", die sich noch nicht gegen das Regime gewendet haben, aber auch nicht für das Regime sind. Sie können beeinflusst werden. Deswegen werden die Eltern der in Schiras getöteten Kinder im Staatsfernsehen gezeigt. Die sagen dann Sätze wie: "Wenn mein Sohn noch am Leben wäre, wäre er Doktor geworden." Dahinter erscheint dann das Foto von meinem Vater. ZEIT ONLINE: Ihm droht der Tod durch Erhängen. Sharmahd: Im Gericht wurden die Angehörigen gefragt: Was wollt ihr mit diesem Mörder machen? Die Antwort lautete: Wir wollen, dass er in Schiras an einem Kran aufgehängt wird – und alle es sehen können. ZEIT ONLINE: Wie ist sein Gesundheitszustand? Sharmahd: Er ist seit 964 Tagen gekidnappt. Heute, am 23. März, ist sein 68. Geburtstag. Wir wissen nicht, wo er ist. Nur dass er sich in kompletter Isolation befindet. Im letzten Gespräch mit meiner Mutter im Februar hat er gesagt, seine Zähne seien gebrochen. Also angedeutet, dass sie entweder ausgezogen oder ausgeschlagen wurden. Er hat 20 Kilo verloren, Diabetes, Bluthochdruck, Parkinson. Sein Empfinden für Raum und Zeit ist durcheinander. Er findet die Worte nicht. Vor anderthalb Jahren haben wir das letzte Mal miteinander telefoniert. "Meine Tochter gibt mir Mut" ZEIT ONLINE: Ihr Vater gilt als Monarchist und Oppositioneller. Er gründete die Webseite Tondar.org und die gleichnamige Radiostation. Sharmahd: Seiner Meinung nach wäre das beste Staatssystem im Iran ein Königreich und die Trennung von Kirche und Staat. Die Bewegung, der er eine Stimme gegeben hat, heißt Kingdom Assembly of Iran. Eine Bewegung mit einer langen Geschichte, die es bereits zu Zeiten des persischen Reiches gab. Wann immer der König aus dem Weg geräumt worden ist, gab es eine Bewegung aus der Zivilgesellschaft, die sich in seiner Abwesenheit für die Freiheit des Volkes eingesetzt hat. Mein Vater ist Diplomingenieur und war sehr gut darin, Webseiten zu kreieren, die nicht vom Regime runtergenommen werden konnten. Auf seiner Webseite kamen Menschen zu Wort, die sonst keine Stimme hatten, nicht nur Monarchisten. ZEIT ONLINE: 2009 gab es in Los Angeles einen Mordanschlag auf Ihren Vater. Sharmahd: Ein Auftragsmörder war darauf angesetzt, meinen Vater umzubringen. Er sollte ihn mit einem Van überfahren. Sein Komplize hat kalte Füße bekommen und sich selbst der Polizei gestellt. Die 35.000 Dollar, die sich bei dem Auftragskiller fanden, trugen das Zeichen der Zentralbank der Islamischen Republik Iran. Er wurde verurteilt und in einem späteren Gefangenenaustausch wieder in den Iran gelassen. ZEIT ONLINE: Deutschland ist der größte europäische Handelspartner des Iran. Ihr Vater hat für Siemens gearbeitet, ein Konzern, der im Iran aktiv ist. Sharmahd: Mein Vater hat zehn Jahre lang für Siemens gearbeitet. Warum stehen diese Konzerne nicht auf und sagen: Wenn ihr unseren Staatsbürger und Mitarbeiter nicht freilasst, dann brechen wir die Handelsbeziehungen ab? Wir suchen doch nach Druckmitteln, um die Terroristen unter Druck zu setzen. ZEIT ONLINE: Social Media hilft Ihnen im Kampf um Ihren Vater am meisten. Wie agiert das Regime auf den sozialen Kanälen? Sharmahd: Es gibt eine Cyberarmee, die dafür bezahlt wird, Oppositionelle zu identifizieren. Diese Menschen bekommen Morddrohungen. ZEIT ONLINE: Also sind das Trolle? Sharmahd: Es sind nicht irgendwelche Clowns, die irgendwo sitzen und dafür bezahlt werden. Das ist deren Job: Kommentare zu schreiben, meinen Account zu melden und Menschen, die das liken, Nachrichten zu schicken. Das ist ein richtiger Beruf, den es gibt. Die haben Zentren, in denen sie ausgebildet werden, Accounts oder Hashtags zu finden. ZEIT ONLINE: Haben Sie ein Beispiel? Sharmahd: Sie kommentieren Videos von mir: Guck mal, wenn sie wirklich um ihren Vater trauern würde, dann hätte sie nicht so viel Make-up im Gesicht. Zu Beginn waren es nur persische Kommentare. Seitdem sich deutsche Medien für den Fall interessieren, benutzen sie Google Translator. Unter meinen Postings steht dann: "Dies Mann ist ein Terrorismus." Das ist einerseits lustig, andererseits gefährlich, weil die damit Erfolg haben. ZEIT ONLINE: Was kann man tun? Sharmahd: Jedes Herz hilft. ZEIT ONLINE: Was gibt Ihnen Mut? Sharmahd: Die Frauen, die auf die Straße gehen, obwohl auf sie geschossen wird. Am 16. März war der Beginn der Revolution genau sechs Monate her. Sie gehen immer noch auf die Straße. Und meine Tochter gibt mir Mut. Ein Stück von ihm, das weiterlebt. ZEIT ONLINE: Sie haben vorhin mit ihr gelacht. Sharmahd: Bei so einem Interview ist man am Ende völlig fertig. Der Körper zittert, weil man immer wieder traumatisiert wird. Aber dann spaziert dieser kleine Mensch herein und für eine Sekunde ist alles vergessen. Eben war so ein Moment: Sie ist während des Interviews ganz allein aufs Töpfchen gegangen.