Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Gabriele Gramelsberger (Dr. phil.) lehrt Wissenschafts- und Tech- nikphilosophie an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungs- schwerpunkte sind der Wandel von Wissenschaft und Gesellschaft durch den Computer, Computersimulationen als neue Instrumente der Wissensproduktion, die ubiquitäre Informationsgesellschaft und die Philosophie der angewandten Mathematik. Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers Das dieser Publikation zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mit- teln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 07 SPR 60 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Ver- lages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfälti- gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbei- tung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Gabriele Gramelsberger Lektorat & Satz: Gabriele Gramelsberger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-986-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. 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I N H AL T Vorwort 7 Einleitung 11 I H ISTORISCHER K ONTEXT 1 Rechnen – Motor der Wissenschaft und Technik 17 Rechnen als Kulturtechnik 18 Handwerk des Rechnens 23 A uto m atisierung des Rechnens 29 Nu m erische Si m ulation un b ekannter Lö sungen 32 2 Vo m Experi m ent zu m Co m puterexperi m ent 39 Sciencia experi m entalis 44 Q uantifizierung 50 Mathe m atisierung und Mo m entu m 58 Mit Experi m enten rechnen 69 J ohn v on Neu m anns digitaler Windkanal 76 3 Entstehung der Co m putational Sciences 85 Mit Rechnern experi m entieren 86 Co m putational D epart m ents 92 e - Science 96 II W ISSENSCH A FTSFORSCHUNG 1 Von einfachen Modellen zu Erdsyste m en 105 Forschungso bj ekt A t m osph ä re 105 Synoptische Wetterkarten 110 Vilhel m Bj erknes Konzept einer P hysik der A t m osph ä re 114 B erechen b are Modelle der A t m osph ä re 121 Von Wetter - zu Kli m a m odellen 127 Erdsyste m e 137 2 Forschen mit Algorithmen 141 Wissenschaftliche Programmierung 141 In-silico Experimentalsysteme 145 Atmosphärenmodell 154 Rechnen als Experiment 157 Story Telling with Code 161 Fehlersuche im Modell 171 3 Professionalisierung der Modellierung 177 Standardisierung 178 Synchronisierung 184 Modell-komplexität 191 Evaluierung 194 Reshaping Science 197 III P HILOSOPHISCHE V ERORTUNG 1 Computerexperimente 203 Allgemeine Bedingungen 204 Vergleichsbeispiele 211 Erkenntniswert 219 2 Denken in mathematischen Möglichkeitsräumen 233 Extreme Welten I 234 Extreme Welten II 241 Erweiterung der mathematischen Anschauung 248 3 Simulation als neue symbolische Form des Forschens 255 Symbolische Formen des Forschens 257 Von der Schrift zum Computer 263 Experimentalisierung der Mathematik 268 Sinnverschiebungen 275 Literatur 283 7 V O R W O R T Co m puter , wie sie uns heute v ertraut sind , gr ü nden in den Erfindungen des 16. und 17. J ahrhunderts : in der sy mb olischen A lge b ra v on Francois Vieta , in der Verkn ü pfung v on Geo m etrie und A lge b ra b ei Rene D es - cartes und in den b in ä ren Rechenregeln v on Gottfried W . L ei b niz . A ll diesen Entwicklungen ist ge m einsa m, dass sie den Z eichenge b rauch for m alisieren und regel b asiert in For m v on Kalk ü len operationalisieren Es ist dann nur eine Frage der Z eit , b is A lan Turing Mitte des 20. J ahr - hunderts m it seiner Idee der Turing - Maschine eine so allge m eine P raktik des Z eichenge b rauchs konzipiert , dass j ede in For m v on P rogra mm an - weisungen explizier b are Z eichen m anipulation m aschinell ausgef ü hrt werden kann . A uch wenn Co m puter zu der Z eit eher Registrier m aschi - nen gleichen , so sind m it Turings Idee , der v on George B oole b ereits 1847 b eschrie b enen A lge b ra und J ohn v on Neu m anns Rechnerarchitek - tur die wichtigsten Ko m ponenten zu m B au dieser grauen kleinen Kisten gelegt , o b gleich es sich da m als noch u m Schr ä nke gewaltigen A us m a ß es und echte Schreinerar b eit handelte Seither ist v iel geschehen Co m puter ero b ern in i mm er kleineren A usf ü hrungen Institute , Fa b riken , Bü ros und Wohnzi mm er , v er b esserte Visualisierungstechnologien transfor m ieren die v or m als gr ü n - orangen Co m puterdialoge in die b unte Welt des Cy b erspace und das Internet b ringt die Vernetzung der Rechner m it sich . D ie in die Co m puter i m- ple m entierte L ogik des Z eichenge b rauchs hat sich m ittlerweile weltweit durchgesetzt und pr ä gt die Organisation v on A r b eits v org ä ngen , Ko m- m unikations b edingungen und D enkweisen . D iese P r ä gung und die sich daraus erge b enden Folgen f ü r die Wissenschaft zu studieren , ist The m a dieses B uches . D a b ei ist aus wissenschaftsphilosophischer P erspekti v e v or alle m der Wandel der Wissenschaft in Co m putational Sciences inte - C O MPU T E R EXPE RI ME NT E 8 ressant . D ieser Wandel zeigt sich in der zuneh m enden Verwendung des Co m puters als in - silico Experi m entalsyste m und in der D urchf ü hrung v on Co m puterexperi m enten , auch Si m ulationen genannt . D iese Ver - wendungsweisen findet m an m ittlerweile in allen D isziplinen Nirgends zeigt sich der Einfluss des Co m puters auf die Wissenschaft deutlicher als in den Co m puterexperi m enten , denn er geht m it einer neuen For m der Wissensproduktion einher , welche die klassischen Methoden der Naturwissenschaften – Theorie , Experi m ent , B eo b achtung , Messung – erweitert D ie Folgen dieses Wandels wissenschaftlicher Wissensproduktion wirken sich zuneh m end auf Gesellschaft und A lltag in For m neuer Technologien und P rognostiken aus . P ro m inentestes B eispiel sind wohl die Co m puterexperi m ente zur Erforschung des Kli m as , die heutigen Ge - sellschaften nicht nur einen Spiegel ihrer pro b le m atischen Realexperi - m ente m it de m Kli m a v orhalten und zu m Handeln auffordern , sondern auch paradig m atisch die M ö glichkeiten und die Grenzen co m puter b a - sierter Forschung aufzeigen . A ndere B eispiele sind die Si m ulation neuer Materialien und Molek ü le oder das si m ulations b asierte D esign und En - gineering der Technikwissenschaften Es sind genau diese D isziplinen , die in den aktuellen Wandel der Wissenschaften i m Z eitalter des Co m- puters in v ol v iert sind Von daher stehen die Episte m ik und P raktik wis - senschaftlicher Si m ulationen , a m B eispiel der Kli m a m odellierung , i m Mittelpunkt dieser Untersuchung D ie v orliegende P u b likation gliedert sich in drei Teile : I . D ie Rekons - truktion des historischen Kontexts der Co m puterexperi m ente , II eine Co m puterla b orstudie zur Kli m a m odellierung in D eutschland und III die philosophische Verortung der Co m puterexperi m ente und des Wandels wissenschaftlicher Wissensproduktion W ä hrend in der historischen Re - konstruktion zahlreiche Wissenschaftler ihrer Z eit in For m v on Z itaten zu Wort ko mm en , zeichnet die Co m puterla b orstudie anhand v on Inter - v iewausschnitten und Materialien ein B ild der aktuellen Forschungs - praktiken in den Co m putational Sciences . D ie a b schlie ß ende philosophi - sche D iskussion wiederu m l ä sst die wissenschaftsphilosophischen und - theoretischen Einordnungs v ersuche der Si m ulation als neue Methode Re v ue passieren und f ü gt dieser eine eigene Verortung hinzu D ie P u b likation ist das Resultat v on f ü nf J ahren Forschung i m Rah - m en des Forschungspro j ekts „ Co m putersi m ulationen – Neue Instru m en - te der Wissensproduktion “ (2004 b is 2007) an der Freien Uni v ersit ä t B erlin sowie eines Gastaufenthaltes a m Max -P lank - Institut f ü r Meteoro - logie Ha mb urg (2008). D as Forschungspro j ekt war eines v on zw ö lf P ro - j ekten der F ö rderinitiati v e „ Science P olicy Studies “ des B M B F B un - V ORWORT 9 des m inisteriu m f ü r B ildung und Forschung , die v on der B erlin - B randen b urgischen A kade m ie der Wissenschaften koordiniert wurde D ie Co m puterla b orstudie zur Kli m a m odellierung in D eutschland wurde v or alle m a m Max -P lank - Institut f ü r Meteorologie Ha mb urg durchge - f ü hrt , a m P IK P otsda m- Institut f ü r Kli m afolgenforschung und a m Insti - tut f ü r Meteorologie der Freien Uni v ersit ä t B erlin Insgesa m t wurden in diese m Z eitrau m f ü nfundzwanzig Inter v iews sowie zahlreiche Gespr ä- che m it Kli m a m odellierern und -m odelliererinnen gef ü hrt F ü r die Unterst ü tzung und F ö rderung m einer Forschung mö chte ich ins b esonde - re Sy b ille Kr äm er ( Freie Uni v ersit ä t B erlin ), J ohann Feichter ( Max - P lank - Institut f ü r Meteorologie Ha mb urg ), Renate Mayntz , Ulrich Wen - genroth und Monika W ä chter (B M B F F ö rderinitiati v e „ Science P olicy Studies “) sowie den zahlreichen Inter v iewpartnerinnen und Inter v iew - partnern aus der Kli m aforschung danken B erlin , Septe mb er 2009 11 E I N L E I T U N G „Serienweise kann die präzise elektronische Phantasie der Automatenhirne Gedankenexperimente ablaufen lassen und dabei neue Theorien oder technische Konstruktionen erproben – die Realisierung teurer oder gefährlicher Experimente ist nicht mehr nötig“ (Der Spiegel 1965: 115). Elektronische Computer sind Anfang der 1960er Jahre noch keine zwanzig Jahre alten Erfindungen und gerade einmal so leistungsfähig wie heutige Taschenrechner. Dennoch kündigt sich bereits ein tiefgrei- fender Wandel der Wissenschaften an, der das Verständnis wissen- schaftlicher Erfahrung revolutioniert. Die zunehmende Leistungsfähig- keit der Computer – von zehntausend Operationen pro Sekunde 1965 zu mehreren Billionen Operationen heutzutage – verändert die Experimen- talkultur der Wissenschaften: Experimente finden immer öfter im Com- puter statt, und das digitale Labor wird in vielen Wissenschaftsdiszipli- nen dem Experimentallabor vorgeschaltet. H i s t o r i s c h e r K o n t e x t Doch was sind Computerexperimente? In welchem Zusammenhang ste- hen sie mit der bisherigen Experimentalkultur der Wissenschaften, mit Theorie, Messung und Beobachtung? Inwiefern revolutionieren sie die C O MPU T E R EXPE RI ME NT E 12 wissenschaftliche Erfahrung und die Forschungslogik ? U m diesen Fra - gen nachgehen zu k ö nnen , werden Co m puterexperi m ente – nu m erische B erechnungen ( Si m ulationsl ä ufe ) v on algorith m ierten Modellen – in einen gr öß eren historischen Kontext eingeordnet . D enn m it der Heraus - b ildung des neuzeitlichen Wissenschafts v erst ä ndnisses i m 17. J ahrhun - dert for m ieren sich b ereits die episte m ischen Grundlagen heutiger Co m- puterexperi m ente : D ie Nutzung v on Instru m enten , u m neue Einsichten gewinnen und o bj ekti v ieren zu k ö nnen , die Verwendung der Mathe m a - tik als uni v erselle Sprache der Wissenschaft und die Idee , durch B erech - nung Vorhersagen treffen und Opti m ierungen erzielen zu k ö nnen Ins - tru m enten b asierte Erkenntnis , m athe m atische D arstellungsweise und i mm er effizientere B erechnungs m ethoden kon v ergieren in den 1940 er J ahren m it der Mechanisierung und A uto m atisierung des Rechnens zu Co m puterexperi m enten . D ie Folge ist die zuneh m ende Transfor m ation der Wissenschaften in Co m putational Sciences . D iese Entwicklung zeigt sich heute weltweit in der Entstehung v on Co m putational D epart m ents der P hysik , der Che m ie , der B iologie und anderer D isziplinen Trotzde m sich Co m puterexperi m ente in dieser historischen Tradition v erorten lassen , b rechen sie m it grundlegenden B edingungen des e m pi - rischen Wissenschafts v erst ä ndnisses Einer dieser B r ü che b esteht in der Ni v ellierung der ontologischen D ifferenz der m aterial realisierten Expe - ri m ente i m L a b or und der sy mb olischen D arstellungsweise der experi - m entellen Resultate Inde m das ko m plette Experi m entalsyste m ins D igi - tale des Co m puters transferiert wird , fehlt die m ateriale Widerst ä ndig - keit als Teil der experi m entellen A nordnung wie auch als E v aluations - kriteriu m der Resultate U m Co m puterexperi m ente als wissenschaftlich v alide Erkenntnis m edien zu nutzen , mü ssen daher neue E v aluationsstra - tegien entwickelt werden Eine weitere B ruchstelle ist wesentlich diffizi - ler , denn sie b etrifft die Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis sel b st D ie Transfor m ation ins D igitale des Co m puters b edeutet , Experi m ente unter de m D iktat v on A lgorith m en , diskreten Z ust ä nden und rechneri - schen Effizienzen zu gestalten , auszuf ü hren und zu interpretieren . D a - durch sind Co m puterexperi m ente einer anderen L ogik unterworfen als Experi m ente i m L a b or Sie repr ä sentieren eine eigenst ä ndige episte m i - sche Kultur der Wissensgenerierung . D a Co m puterexperi m ente relati v neue Erkenntnisinstru m ente sind , ist es sinn v oll , diese v or Ort zu erfor - schen E INLEITUNG 13 V o r O r t i m C o m p u t e r l a b o r Die numerische Meteorologie ist bestens geeignet diese neue epistemi- sche Kultur des Simulierens zu untersuchen. Wettermodelle gehören zu den ersten Computersimulationen, die Anfang der 1950er Jahre auf Rechnern wie ENIAC und NORC berechnet wurden. Die Meteorologie mit ihren Wettervorhersagen, und ab den 1960er Jahren mit Klimasimu- lationen, entwickelt sich seither zur führenden Simulationswissenschaft. Ähnlich der Astronomie des 17. Jahrhunderts bezüglich des neuen Um- gangs mit wissenschaftlichen Instrumenten und mathematischen Metho- den setzt die Meteorologie heute Standards für den Umgang mit der Si- mulation als neuem Erkenntnisinstrument. Dabei stellt sich die Frage, ob die codierte und computerprozessierte Weise der Erkenntnisgewinnung denselben Bedingungen unterliegt wie die traditionell naturwissenschaft- liche Handhabung von Erkenntnissen, die ihre Wissensbestände in Form mathematisierter und quantifizierter, aber eben noch nicht algorithmier- ter und numerisch simulierter Weise gewinnt. Diese Frage zielt auf den epistemischen Kern des Wandels der Wissenschaft im Zeitalter des Computers. Es erscheint einleuchtend, dass ein weiterer Transforma- tionsschritt sowie der mediale Wechsel zum Computer neue Bedingun- gen generieren. Welche dies sind, soll anhand eines konkreten Fallbei- spiels aus der Klimamodellierung untersucht werden. Die Analyse der numerischen Meteorologie soll dabei nicht nur Einblicke in die Praktik und Epistemik der Computerexperimente geben, sondern auch Anhalts- punkte für eine Philosophie des Simulierens liefern, die den Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers zu erfassen im Stande ist. P h i l o s o p h i s c h e V e r o r t u n g Eine solche Philosophie des Simulierens hat die mathematischen und informatischen Bedingungen der Computerexperimente zum Untersu- chungsgegenstand. Sie analysiert den Einfluss dieser Bedingungen auf die Forschungslogik und den wissenschaftlichen Erfahrungsbegriff. Da- zu wird, basierend auf Ernst Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen , der semiotische und epistemische Status der Computerexperimen- te untersucht. Weiter wird danach gefragt, ob sich die Veränderung des wissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs in einem co-evolutionären Pro- zess auch nachhaltig auf unseren alltäglichen Erfahrungsbegriff auswir- ken wird. So wie Edmund Husserl bereits 1935 in seinem Krisis Vortrag die Sinnverschiebungen kritisierte, die in Form eines universalen Kau- salstils der mathematisierten Wissenschaften als Apriori in unsere Le- C O MPU T E R EXPE RI ME NT E 14 b ens w el t einpro g r a mm ier t sind , h a b en w ir es he ut e m i t w ei t eren Sinn - v erschie b u n g en aufg r u nd der si m u lierenden W issensch aft en zu tu n W elche Sinn v erschie b u n g en dies sein w erden , l ä ss t sich aufg r u nd der f ehlenden his t orischen D is ta n z n u r a nde ut en . Ab er die B edin gu n g en ihrer M ö g lich k ei t l a ssen sich b erei t s he ut e u n t ers u chen u nd in einer P hi - losophie des Si m u lierens f or m u lieren I H ISTORIS C H E R K ONT EX T 17 1 R E C H N E N – M O T O R D E R W I S S E N S C H AF T U N D T E C H N I K „It took me the best part of six weeks to draw up the computing forms and to work out the new distribution in two vertical columns for the first time. My office was a heap of hay in a cold rest billet. With practice the work of an average computer might go perhaps ten times faster. [...] If the coordinate chequer were 200 km square in plan, there would be 3200 columns on the complete map of the globe. In the tropics, the weather is often foreknown, so that we may say 2000 active columns, so that 32x2000 = 64,000 computers would be needed to race the weather for the whole globe. That is a staggering figure“ (Richardson 1922: 219). Als Lewis Fry Richardson 1922 in seinem Buch Weather P rediction by N umerical P rocess einen P arallelcomputer entwarf, um das Wetter der nächsten Tage zu simulieren, ging er von menschlichen Computern aus: Jeweils ein Rechner sollte für die Kalkulationen eines P unktes des Be- rechnungsgitters zuständig sein. In seiner Wettervorhersagefabrik sollten 64.000 menschliche Computer per Hand die globale Wetterentwicklung berechnen, in der Hoffnung, dass sie nicht nur schneller rechnen als das tatsächliche Wetter sich entwickeln würde, sondern dass die Anzahl der menschlichen Rechner genügen würde, um eine ausreichend hohe Dich- te an Berechnungen für aussagekräftige P rognosen zu erzielen. Denn je feiner das Berechnungsgitter einer solchen numerischen Simulation ist, desto genauer sind ihre Resultate. Eine höhere Auflösung des Berech- nungsgitters geht jedoch mit einer enormen Erhöhung der dafür nötigen Berechnungen einher. Selbst mit 64.000 menschlichen Rechnern hätte Richardson seine Idee, das Wetter der nächsten Tage zu simulieren, wie es uns heute aus jedem Wetterbericht vertraut ist, nicht realisieren kön- I H ISTORIS C H E R K ONT EX T 18 nen E rs t sei t den 1970 er J a hren , a ls die C o m p ut er en t s p rechend leis - tu n g s f ä hi g w u rden , sind solche n u m erischen P ro g nosen mö g lich . D iese L eis tu n g s f ä hi gk ei t der R echner , die a k tu ell b ei B illionen v on Op er at io - nen p ro S e k u nde lie g t , er z e u g t m i tt ler w eile eine D ich t e a n B erechn u n - g en , die au sreich t , u m den C o m p ut er a ls di g i ta les L a b or f ü r Exp eri m en t e z u n ut z en H e ut i g e S u p erco m p ut er h a l t en nich t n u r S chri tt m i t de m re a - len W e tt er , sie b erechnen die K li m a en t w ic k l u n g üb er einen Z ei t r au m v on J a hr z ehn t en innerh a l b w eni g er T a g e , sie desi g nen ne u e M ole k ü le u nd M at eri a lien , l a ssen F l u gz e u g e u nd A ut os cr a shen M i t diesen aut o - m at isier t en R echen m a schinen b lic k en F orscher in die Z u k u n f t u nd o p t i - m ieren die Natu r S ie m a chen b isl a n g u nsich t b a re W el t en sich t b a r u nd f ü hren eine ne u e L o g i k u nd P r a k t i k des F orschens in W issensch a f t u nd T echni k ein I n diese m S inne w a r R ich a rdsons I dee v ision ä r , denn m i t seiner W e tt er v orhers a g e f a b ri k en t w a r f er – b a sierend au f n u m erischen S i m u l at ionen , p a r a llel a r b ei t enden R echeneinhei t en u nd b erechne t en V orhers a g en – ein m odernes W issensch a f t ss z en a rio , w ie es he ut e in v ie - len m at he m at isier t en Natu r - u nd I n g enie u rs w issensch a f t en , den so g e - n a nn t en C o m p utat ion a l S ciences , z u f inden is t R e c h n e n a l s K u l t u r t e c h n i k G r u ndl a g e dieses m odernen W issensch a f t ss z en a rios is t die E r f ind u n g der Z a hl u nd des R echnens . D ie E n t w ic k l u n g b is hin z u den n u m eri - schen S i m u l at ionen v on he ut e m a ch t de ut lich , d a ss d a s R echnen eine der ein f l u ssreichs t en K u l tu r t echni k en des M enschen is t 1 Z a hlen s p ielen sei t J a hr tau senden in j eder K u l tu r eine w ich t i g e R olle , sei es z u m R e g is t rie - ren v on Wa ren , z u r B es t i mm u n g a s t rono m ischer E rei g nisse oder z u r D o k u m en tat ion k li m at ischer R e g el mäß i gk ei t en U m V orr ä t e u nd a ndere W ir t sch a f t s g ü t er z u re g is t rieren , w u rden a n f a n g s Zä hls t eine oder Zä hl - 1 „ K u l tu r t echni k b e f ö rder t die L eis tu n g en der I n t elli g en z d u rch V ersinnli - ch u n g u nd e x t eriorisierende Op er at ion a lisier u n g en des D en k ens . [...] K u l - tu r t echni k en sind (1) o p er at i v e V er f a hren z u m U m g a n g m i t D in g en u nd S y mb olen , w elche (2) au f einer D isso z iier u n g des i m p li z i t en ‚ W issens w ie ‘ v o m e xp li z i t en ‚ W issen , d a ss ‘ b er u hen , so m i t (3) a ls ein k ö r p erlich h a b i tua lisier t es u nd ro ut inier t es K ö nnen au fz u f a ssen sind , d a s in a ll t ä g li - chen , f l u iden P r a k t i k en w ir k s a m w ird , z u g leich (4) a b er au ch die a is t he t i - sche , m at eri a l - t echnische B a sis w issensch a f t licher I nno v at ion u nd ne u - a r t i g er t heore t ischer G e g ens t ä nde a b g e b en k a nn . D ie (5) m i t de m Wa ndel v on K u l tu r t echni k en v er b u ndenen M edieninno v at ionen sind si tu ier t in eine m W echsel v erh ä l t nis v on S chri f t , B ild , T on u nd Z a hl , d a s (6) ne u e Sp ielr ä u m e f ü r Wa hrneh m u n g , K o mm u ni k at ion u nd K o g ni t ion er ö ff ne t “ (B rede k a m p , K r äm er 2003: 18). 1 R EC HN E N – M OTOR D E R W ISS E NS C HAFT U ND T EC HNIK 19 k u g eln v er w ende t , die in L eder b e ut eln u nd s p ä t er in v ersie g el t en T on g e - f äß en au f b e w a hr t w u rden . A ls m a n b e g a nn , au f die A u ß ensei t e der T on - g e f äß e Z eichen f ü r die A n z a hl der K u g eln in den G e f äß en z u ri t z en , h at - t e m a n die Z a hlen a ls sy mb olische D a rs t ell u n g en v on E inhei t en er f u n - den D iese Ab s t r a k t ionsleis tu n g – m at eri a le Äq u i v a len t e f ü r W ir t - sch a f t s g ü t er (Zä hls t eine u nd - k u g eln ) in sy mb olische N o tat ionen z u üb erse t z en – s t ell t e v or g ut a ch ttau send J a hren nich t n u r eine M edien - w ende v o m M at eri a len z u m S y mb olischen d a r , sondern den U rs p r u n g v on S chri f t g enerell . D enn n a chde m sich „ die V er f a hren des Zä hlens u nd des R e f erierens g r a p hisch v onein a nder e m a n z i p ier t h a b en , s p rich t j e t z t in der T at nich t s m ehr d a g e g en , R e f eren t en , die nich t g e z ä hl t w er - den sollen , – au ß erh a l b des p r a g m at ischen Z w ec k s der R e g is t rier u n g – g r a p hisch z u sy mb olisieren , a lso g r a p hische S y mb ole f ü r i mm er m ehr p r a g m at ische Z w ec k e u nd f ü r i mm er m ehr s p r a chliche Z eichen z u en t - w ic k eln “ ( K och 1997: 56). D er n ä chs t e f u nd a m en ta le S chri tt b es ta nd d a nn in der E r f ind u n g der Zä hlreihen I nde m ein z elne Z eichen (Z i ff ern ) a nein a nder g ereih t w u rden , lie ß en sich au f diese W eise ne u e Z a hlen er z e u g en 2 Z i ff ernsys t e m e , w ie d a s r öm ische , d a s sich in E u ro p a i m 5. J a hrh u nder t v. C hr e ta b lier t e , do k u m en t ieren eindr u c k s v oll diese ne u e M ö g lich k ei t , m i t S y mb olen o p er at i v z u h a n t ieren : M i t w eni g en Z i ff ern l ä ss t sich eine g ro ß e M en g e a n Z a hlen er z e u g en . D er Z a hlenr au m, der sich d a d u rch er ö ff ne t e , üb er - s t ie g nich t n u r die A n z a hl a ll t ä g licher G ü t er E r dehn t e a ls I dee der K ons t r u ier b a r k ei t u nendlich v ieler Z a hlen d a s m enschliche D en k en in ne u e u nd a b s t r a k t e B ereiche au s , die in ihrer U nendlich k ei t b is d a hin a llein de m m y t hischen D en k en v or b eh a l t en w a ren . D iese A u sdehn u n g ins Ab s t r a k t e , a ls d a s de m G e g ens t ä ndlichen nich t V erh a f t e t e u nd d a her ins U nendliche V erl ä n g er b a re , k ons t i tu ier t b is he ut e den O bj e k t b ereich der M at he m at i k Z i ff ernsys t e m e er mö g lichen j edoch nich t n u r die K ons t r u k t ion b e - lie b i g v ieler Z a hlen , sie a ni m ieren au ch d a z u , A n z a hlen z u a ddieren oder z u s u b t r a hieren , a lso ein f a che B erechn u n g en d u rch z u f ü hren . D a b ei z ei g - t e sich b a ld die U nh a ndlich k ei t des r öm ischen Z i ff ernsys t e m s , dessen 2 „ S ei t de m 3. J a hr tau send v. C hr sind u ns D o k u m en t e üb erlie f er t , au s denen z u schlie ß en is t , d a ß v erschiedene a n t i k e H och k u l tu ren u n a b h ä n g i g v onein a nder Zä hlreihen d u rch Zä hlsys t e m e b ilde t en , in denen nich t n u r ein u nd d a ssel b e Z eichen f or t l au f end a nein a nder g e f ü g t , sondern Z eichen - g r u pp en g e b ilde t u nd diese d u rch I ndi v id ua l z eichen erse t z t w u rden : die Zä hlreihe is t m i t H il f e v on Z i ff ern g e b ilde t “ ( K r äm er 1988: 9).