Gleb J. Albert Das Charisma der Weltrevolution Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927 Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 95 Gleb J. Albert Das Charisma der Weltrevolution • • Gleb J. Albert Das Charisma der Weltrevolution Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927 2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar. Umschlagabbildung: MOPR-Zellenbüro der Allukrainischen Handelsgesellschaft „Vakot“, Mitte 1920er-Jahre. © Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-politi č eskoj istorii (RGASPI), Moskau, f. 539 op. 5 d. 799 l. 56. © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50754-1 Inhalt Danksagungen 7 Editorische Notiz 11 Abkürzungsverzeichnis 14 1 Einleitung 17 2 „Weltrevolution“, Bolschewiki und Sowjetgesellschaft 74 2 1 Bolschewikischer Internationalismus in Weltkrieg und Revolution 74 2 2 1918/19 – 1923 – 1926: Drei „Zeitfenster“ der Weltrevolution im sowjetischen Spiegel 88 2 2 1 1918/19: Der zentraleuropäische Flächenbrand 88 2 2 2 1923: Das Phantom des „Deutschen Oktobers“ 110 2 2 3 1926: Die verordnete Solidarität mit dem britischen Generalstreik 127 3 Aktivisten und das Charisma der Weltrevolution 144 3 1 Aktivisten, Opportunisten und Funktionäre Profilbestimmung des frühsowjetischen politischen Akteurs 144 3 2 Weltrevolution als „liebreizende Sache“ 170 3 3 Kommunistische Weltgesellschaft oder russische Dominanz? Aktivistische Zukunftsentwürfe 187 4. Internationalistische Praktiken I: Charisma und Aktivismus zwischen Revolution und NÖP 220 4 1 Sprechen und Fragen: Öffentliches Reden über die Weltrevolution 220 4 2 Internationalistische Grußbotschaften und ihre Verfasser 234 4 3 Die bolschewikische Provinzpresse: Vom Aktivisten-Sprachrohr zum „Massen“-Blatt 257 5. Internationalismus und die sowjetischen „Massen“ 285 5 1 Wege und Mittel internationalistischer Wissensvermittlung 285 5 1 1 Erwartungen und Argumentationslinien 285 5 1 2 Das Instrumentarium des Agitprop 296 5 2 Reaktionen der „Massen“: Desinteresse, Widerstand, Aneignung 321 6 Inhalt 6. MOPR: Die Institutionalisierung internationaler Solidarität in der ob šč estvennost’ 344 7. Internationalistische Praktiken II: Aktivismus und ob šč estvennost’ zwischen NÖP und Stalinismus 391 7 1 Spenden und Spendensammeln: Zwischen Klassensolidarität, Philanthropie und Unterhaltung 391 7 2 Objekte und Subjekte des „Chefwesens“: Zwei Arten internationaler Patenschaften im Vergleich 416 7 3 Internationalistische Brieffreundschaften – kollektiv und individuell 445 7 4 Begehrte Textilien: Der internationale Fahnentausch und seine Tücken 470 7 5 Umgang mit fremden Genossen: Ausländische Vertreter der Arbeiterbewegung in der Sowjetunion 495 8 Eine verhinderte Praktik: Der internationalistische Auslandseinsatz 529 9 Schlussbetrachtungen 546 Quellen- und Literaturverzeichnis 565 Archiv- und Bibliotheksbestände 565 Zeitgenössische gedruckte Quellen 567 Sekundärliteratur und edierte Quellen 570 Personen- und Ortsregister 625 Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN Danksagungen Ein Buch wird nicht bloß im stillen Kämmerlein erarbeitet – vor allem nicht, wenn es eine Dissertation ist, die Eintrittskarte in die akademische Welt Es gehören nicht nur ausgedehnte Archivbesuche dazu, sondern auch der tägliche Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden, die die gewonnenen Teiler- gebnisse hinterfragen, verwerfen und in Kontext setzen – oder schlichtweg dem Autor bei einem Kaffee oder Bier über den Arbeitsfrust hinweghelfen Dieser Austausch gehört zum wissenschaftlichen Arbeiten dazu, und es wäre höchst frustrierend, wenn dem nicht so wäre Ebenso essenziell sind die Personen und Institutionen, die über- haupt erst die Bedingungen zum produktiven Arbeiten schaffen – aufgeschlossene und hilfsbereite akademische Betreuer, Archivare und Systemadministratoren; Ins- titutionen, die mit Stipendien Möglichkeiten schaffen, Auslandsreisen und Kaffee- pausen ohne den ständigen Blick auf den Kontostand genießen zu können; Konfe- renzorganisatoren, die es Doktoranden infrastrukturell ermöglichen, nicht nur „für die Schublade“ zu schreiben, sondern die frisch gewonnenen Erkenntnisse auch vor der Disputation mit der akademischen Welt zu teilen Mit all diesen Segnungen bin ich während der Arbeit an der vorliegenden Dissertation ausgiebig beschenkt worden Zu größtem Dank bin ich meinen akademischen Betreuern, Thomas Welskopp und Klaus Gestwa, verpflichtet Unabhängig voneinander haben sie mir und meinem Projekt einen großen Vertrauensvorschuss gewährt und mich jederzeit mit Anregun- gen, Kritik, inhaltlichen und organisatorischen Hilfestellungen unterstützt Ohne ihr Engagement und ihre Unterstützung, die stets zu spüren war, wäre es mir nicht möglich gewesen, dieses Projekt umzusetzen Ebenso gilt mein Dank Bernhard H Bayerlein, der mein Interesse an der Geschichte des Kommunismus weckte, mich im wahrsten Sinne des Wortes das Historikerhand- werk lehrte und mir stets mit Rat und Tat beistand Es ist keine Übertreibung, dass ich ohne sein Zutun höchstwahrscheinlich kein Historiker geworden wäre Die Bielefeld Graduate School in History and Sociology gab mir mit einem großzügigen Stipendium die Möglichkeit, mein Projekt zu realisieren Die instituti- onelle Rückendeckung, die Vernetzungsmöglichkeiten, das Arbeitsklima und nicht zuletzt die MitarbeiterInnen und MitdoktorandInnen schufen die besten Bedingun- gen, die man sich wünschen kann Ganz besonders gilt dies für Frank Leitenberger, dem ich gar nicht genug danken könnte für alles, was er in diesen Jahren für mich gemacht hat, und Ulf Ortmann für großartige Bürofreundschaft und -nachbarschaft Das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz hat es mir mit einem Abschlussstipendium ermöglicht, die Dissertation fertigzustellen Der Institutsleitung sowie MitarbeiterInnen und MitstipendiatInnen sei sehr herzlich gedankt, besonders 8 Danksagungen Zaur Gasimov, Kevin Anding und Robert Bernsee Mein neuer Arbeitsort am His- torischen Seminar der Universität Zürich hat entscheidend zum Entstehen der Druck - fassung der Dissertation beigetragen Ich bin meinen neuen KollegInnen, allen voran Wendelin Brühwiler und Monika Dommann, sehr dankbar für das herzliche Will- kommen und das Verständnis dafür, dass ich den neuen Verpflichtungen zum Trotz noch mein altes Projekt „zuschnüren“ musste Den Reihenherausgebern von „Indus - trielle Welt“ und den MitarbeiterInnen des Böhlau-Verlags gebührt mein Dank für die Unterstützung und sorgfältige Betreuung des Buches Am Entstehungsprozess dieser Arbeit waren viele weitere Institutionen beteiligt – nämlich diejenigen, die die Quellen, auf denen diese Arbeit beruht, erhalten und bewahren In Moskau waren es die MitarbeiterInnen des RGASPI (insbesondere Irina Selezneva, Irina Kremen’, Larisa Rešetilo und Jurij Tutočkin), des GARF, des RGAĖ, des CAGM sowie diverser Bibliotheken, die mir eine fruchtbare Materialre- cherche ermöglichten Den MitarbeiterInnen des DHI Moskau sei gedankt für viele organisatorische Hilfestellungen In Berlin waren es die MitarbeiterInnen des SAPMO- BArch sowie des Deutschen Historischen Museums (insbesondere Regine Falkenberg), die es mir durch ihre Hilfsbereitschaft erlaubten, die sowjetische Perspektive durch eine deutsche zu ergänzen Freddy Litten von der Bayerischen Staatsbibliothek hat mir durch Bereitstellung essenzieller mikrofilmierter Archivbestände so manche Reise erspart Ganz besonderer Dank gilt Sabine Rahmsdorf und ihrem Team vom Fach- bereich Geschichte der Universitätsbibliothek Bielefeld für einen großartigen Bestand und die Umsetzung auch der exotischsten Anschaffungsvorschläge Bei Kolloquien in Bielefeld, Konstanz, Tübingen, Potsdam, Düsseldorf, Cardiff, Mainz, Norwich und Bern bekam ich die Möglichkeit, meine Ergebnisse mit fach- kundigen KollegInnen zu teilen und immer wieder zu überdenken Auch die For- schungswerkstatt des Arbeitsbereichs „Geschichte moderner Gesellschaften“ an der Universität Bielefeld gab mir durch die intensive Diskussion meiner Arbeit das beru- higende Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein In diesem Sinne gebührt großer Dank auch denjenigen FreundInnen und KollegInnen, die meinem Projekt in vielfältiger Weise zur Seite standen und es befeuert haben – durch Diskussionen, Hinweise, Anregungen und Hilfestellungen Hierfür danke ich Robert Bache, Sarah Badcock, Marcel Bois, David Brandenberger, Kasper Braskén, Katja Bruisch, Sebastian Budgen, Barry Carr, Vito Gironda, Susan Grant, Malte Griesse, Julia Herzberg, Alexis Hof- meister, Mark Jones, Norman LaPorte, Daniel Laqua, Semion Lyandres, Thomas Maier, Christina Morina, Timur Muchamatulin, Manfred Mugrauer, Matthias Neu- mann, Fredrik Petersson, Jette Prochnow, Andreas Renner, Aaron B Retish, James Ryan, Vladimir Sapon, Daniel Siemens, Uwe Sonnenberg, David R Stone, Jonathan Waterlow, Klaus Weinhauer und Andy Willimott Ganz besonderer Dank gilt Mela- nie Dejnega und Tim Wätzold für die kritische und anregende Lektüre einzelner Kapitel Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN Danksagungen 9 Darüber hinaus müssen drei Freunde und Kollegen gesondert hervorgehoben werden Einmal sind es Brendan McGeever und Aleksandr Reznik Wir teilten uns die Moskauer „Historiker-Kommune“, erkundeten gemeinsam die Parteiarchive, tauschten eine Unmenge Quellen aus und luden einander nach Bielefeld, Glasgow, Sankt Petersburg und Perm’ ein Ohne ihren Beistand und ihre zahlreichen Hinweise wäre diese Arbeit ungleich ärmer Allein schon, um solche Freunde gefunden zu haben, hat sich die Arbeit an der Dissertation gelohnt Ebenfalls ein großartiger Freund und Kollege ist Frank Wolff, der meine Arbeit von der allerersten Projektskizze bis zum Schlusskapitel begleitet und angespornt, die gesamte Dissertation gegenge- lesen, mit seiner wohlbegründeten und schonungslosen Kritik die Finger auf die Schwachstellen gelegt und mich zugleich in schwierigen Phasen immer wieder auf- gebaut hat Ich bin ihm zu allergrößtem Dank verpflichtet Ohne ihn hätte es diese Arbeit nicht gegeben Gewidmet sei die Arbeit Yuri Birte Anderson, nicht nur für ihre aufmerksame Lektüre einzelner Kapitel, sondern auch für das Verständnis und die Geduld auch in den schwierigsten Arbeitsphasen, und für die Liebe und Geborgenheit, die sie mir jeden Tag gibt Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN Editorische Notiz Eine Arbeit, die geografisch breit angelegt ist, eine soziale Umbruchssituation behan- delt und diese anhand von Quellen in mehreren Sprachen analysiert, bedarf einiger formeller Vorbemerkungen und Hinweise Zunächst betrifft dies die geografische Gliederung des zu untersuchenden Terri- toriums Die Bolschewiki nutzten nach der Oktoberrevolution zunächst das alte vorrevolutionäre territoriale Gliederungssystem des Russischen Reiches weiter, bevor sie im Zuge einer Verwaltungsreform schrittweise zu einer neuen Gebietsgliederung übergingen Im Folgenden benutze ich für die territorialen Bezeichnungen diejenigen deutschen Begriffe, die Hans-Henning Schröder in seiner sozialhistorischen Analyse der frühsowjetischen Arbeiterschaft vorschlägt 1 Die alte territoriale Gliederung hatte innerhalb der neuen Obergliederung nach Sowjetrepubliken das „Gouvernement“ (russ gubernija) als größte territoriale Einheit Diese waren in „Kreise“ (uezd), und diese wiederum in „Amtsbezirke“ (volost’) unterteilt Die Verwaltungsreform, die ab 1923 einsetzte und gegen 1930 abgeschlossen war, sah „Gebiete“ (oblast’) als territo- riale Oberkategorie vor, die in „Bezirke“ (okrug) und dann wiederum in „Rayons“ (rajon) unterteilt waren Letzterer Begriff steht ebenfalls für die territoriale Gliederung innerhalb von Städten, was im Folgenden als „Stadtbezirk“ übersetzt wird Für Ter- ritorien nationaler Minderheiten wurden die Gliederungsbegriffe „Region“ (kraj) und „Autonomes Gebiet“ (avtonomnaja oblast’) benutzt Ein anderes Maßsystem aus der Zarenzeit, nämlich den Kalender, reformierten die Bolschewiki viel zügiger Der im vorrevolutionären Russland gebräuchliche Juli- anische Kalender, der zum im Westen benutzten Gregorianischen Kalender eine Differenz um 14 Tage aufwies, wurde am 1 Februar (jul ) bzw 14 Februar (greg ) 1918 durch das westliche Kalendersystem ersetzt Alle Datumsangaben vor diesem Tag werden im Folgenden nach dem julianischen Kalender angegeben; eine Ausnahme sind Verweise auf die „Pravda“, die, wohl um ihre Anbindung an die westliche Arbei- terbewegung zu betonen, bereits 1917 die Datumsangaben beider Kalendersysteme auf der Titelseite führte; entsprechend werden in den „Pravda“-Belegstellen beide Daten aufgeführt Auch die Bezeichnung der Partei der Bolschewiki unterlag im Untersuchungs- zeitraum einigen Transformationen Zunächst hieß sie „Russländische Sozialdemo- kratische Arbeiterpartei (Bolschewiki)“ (russ Rossijskaja social-demokratičeskaja 1 Hans-Henning Schröder, Arbeiterschaft, Wirtschaftsführung und Parteibürokratie wäh- rend der Neuen Ökonomischen Politik. Eine Sozialgeschichte der bolschewistischen Partei 1920–1928 (Wiesbaden: Harrassowitz, 1982), 238 12 Editorische Notiz rabočaja partija (bol’ševikov), abgekürzt RSDRP(b)) Auf dem 7 Parteitag (März 1918) wurde sie in Abgrenzung zur Sozialdemokratie in „Russländische Kommunis- tische Partei (Bolschewiki)“ ( Rossijskaja kommunističeskaja partija (bol’ševikov), RKP(b)) umbenannt So hieß sie bis zum 14 Parteitag (Dezember 1925), auf dem sie in „Kommunistische Allunions-Partei (Bolschewiki)“ ( Vsesojuznaja kommunističeskaja partija (bol’ševikov), VKP(b)) umbenannt wurde, um ihren gesamtsowjetischen Anspruch zu betonen Die heute bekannte Umbenennung in „Kommunistische Partei der Sowjetunion“ (KPdSU) erfolgte erst 1952 Auch wenn die jeweiligen Namensänderungen innerhalb der Partei sich nicht immer schlagartig ab dem Stichdatum durchsetzten, werden in dieser Arbeit die russischen Abkürzun- gen entsprechend dieser Chronologie verwendet Für alle weiteren Abkürzungen sei auf das entsprechende Verzeichnis verwiesen Alle Übersetzungen russischer Textzitate stammen vom Verfasser, abgesehen von Texten, die in deutschen Editionen vorliegen und aus diesen zitiert werden Quellen in deutscher Sprache (so etwa zahlreiche Dokumente aus dem Komintern-Archiv) werden an die neue Rechtschreibung angeglichen, allerdings unter Beibehaltung der sprachlichen und syntaktischen Besonderheiten Die Wiedergabe russischer Begriffe, Namen und Originalzitate erfolgt in wissenschaftlicher Transliteration Eine Ausnahme zugunsten der Lesefreundlichkeit bildet das Begriffspaar „Bolschewiki“/„Mensche- wiki“ sowie im Deutschen geläufige geografische Bezeichnungen („Moskau“, „Kiew“ u a m ) Die dabei für russische Buchstaben, für die es keine lautliche Entsprechung im lateinischen Alphabet gibt, benutzten Zeichen haben folgende Aussprache: č russ „ч“, in Duden-Umschrift „tsch“, Aussprache wie in „Zwetschge“ š russ „ш“, in Duden-Umschrift „sch“, Aussprache wie in „Schenkel“ šč russ „щ“, in Duden-Umschrift „schtsch“, Aussprache wie „sch“ vor hellen Vokalen, bspw „Schienbein“ ž russ „ж“, in Duden-Umschrift oftmals „sch“, Aussprache wie das französische „j“ in „Jeanne“ oder „g“ in „gendarme“ ė russ „э“, Aussprache zwischen „ä“ und „e“ wie in „Äther“ ‘ russ „ь“, „Weichheitszeichen“, das die Aussprache des vorher stehenden Kon- sonanten mit einem angedeuteten „j“ abschließen lässt ‘‘ russ „ъ“, „Härtezeichen“, setzt den vorher stehenden Konsonanten stärker vom Rest des Wortes ab In Zitaten aus zeitgenössischen deutschen Quellen wird die von den Autoren gewähl- ten Transkription beibehalten, bei fehlerhafter Wiedergabe russischer Namen und Begriffe erfolgt eine Erläuterung in den Fußnoten Beim Verweisen auf Archivdokumente beschränke ich mich, dem Appell der „Kritika“-Redaktion folgend, nicht auf die „Zahlen- und Buchstabensuppe“ der Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN Editorische Notiz 13 Archivsignaturen, 2 sondern gebe zusätzlich Dokumentenart und Datum an Geschätzte Datumsangaben stehen dabei in eckigen Klammern Briefe werden nicht als solche gekennzeichnet, sondern es wird lediglich auf Absender und Empfänger verwiesen Sofern Dokumente einen eigenen Titel haben, wird dieser in Anführungszeichen angeführt, andernfalls ist der Titel von mir gewählt Russische Archivsignaturen werden in vereinfachter Form angegeben Während die hierarchische Gliederung russischer Archivbestände in fond (Bestand), opis’ (Find- buch) und delo (Aktenmappe) aufgebaut ist, werden hier aus Platzgründen diese drei Angaben nacheinander gesetzt und mit der Blattnummer ergänzt Blatt 82 aus fond 495 opis’ 292 delo 12 wird folglich zu „495/292/12, 82“ Die ansonsten sinnvolle, in der Osteuropäischen Geschichte eingebürgerte Begriffs- unterscheidung zwischen „russisch“ für russkij (im Sinne der russische Ethnie oder Sprache) und „russländisch“ für rossijskij (im Sinne des Landesterritoriums oder der Staatsbürgerschaft) wird zum Zweck der einfacheren Lesbarkeit nur dort aufrecht- erhalten, wo es wichtig ist, diesen Sinnunterschied zu betonen, ansonsten wird von „russisch“ gesprochen Ebenfalls im Sinne der Lesefreundlichkeit werden nur männliche Substantivfor- men gebraucht, wo auch weibliche mitgemeint sind Die Benutzung des Binnen-I, des gender gap und ähnlicher Schreibformen ist im Allgemeinen erstrebendswert, doch neben der erschwerten Lesbarkeit würde sie nur den Umstand verschleiern, dass die Sphäre des Politischen in der frühen Sowjetunion trotz aller Emanzipationsbe- strebungen überwiegend männlich dominiert gewesen ist 2 „From the Editors: Citing the Archival Revolution“, Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 8, Nr 2 (2007): 227–30 Abkürzungsverzeichnis Agitprop Agitation und Propaganda CAGM Central’nyj archiv goroda Moskvy (Zentralarchiv der Stadt Moskau) ČK → VČK DHM Deutsches Historisches Museum EK Exekutivkomitee EKKI Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale GARF Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der Rus- sischen Föderation) Gen Genosse Glavpolitprosvet Glavnoe upravlenie političeskogo prosveščenija Narkomprosa RSFSR (Hauptverwaltung für politische Bildung beim Volkskommissariat für Aufklärung der → RSFSR) Gouv Gouvernement (gubernija) IAH Internationale Arbeiter-Hilfe IGB Internationaler Gewerkschaftsbund IRH Internationale Rote Hilfe KI Kommunistische Internationale KJI Kommunistische Jugendinternationale Komfraktion Kommunistische Fraktion KJVD Kommunistischer Jugendverband Deutschlands Komintern Kommunistische Internationale Komsomol Kommunističeskij sojuz molodeži (Kommunistischer Jugendverband) KP Kommunistische Partei KP(b)U Kommunistische Partei (Bolschewiki) der Ukraine KPD Kommunistische Partei Deutschlands Krestintern Krest’janskij Internacional (Rote Bauerninternationale) Mežrabpom Meždunarodnaja Rabočaja Pomošč’, russ Bezeichnung der → IAH MOPR Meždunarodnaja organizacija pomošči borcam revoljucii (Interna- tionale Organisation zur Hilfe an die Kämpfer der Revolution, sowj Sektion der → IRH, auch: russ Bezeichnung der IRH) NKID Narodnyj komissariat inostrannych del (Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten) NÖP Neue Ökonomische Politik OMS Otdel meždunarodnych svjazej (Abteilung für Internationale Ver- bindungen [des → EKKI]) Orgabteilung Organisationsabteilung (des → EKKI) Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN Abkürzungsverzeichnis 15 Orgbüro Organisationsbüro (des → ZK der → RKP(b)/VKP(b)) Orgraspred Organizacionno-raspredelitel’nyj otdel (Organisations- und Zutei- lungsabteilung [des → ZK der → RKP(b)/VKP(b)]) PermGANI Permskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii (Permer Staatsarchiv für Neueste Geschichte) PLSR Partija levych socialistov-revoljucionerov (Partei der Linken Sozial- revolutionäre) Polbüro Politisches Büro (der Zentrale bzw des → ZK der → KPD) Politbüro Politisches Büro (des → ZK der → RKP(b)/VKP(b)) Profintern P rofsojuznyj Internacional (Rote Gewerkschaftsinternationale, RGI) PSR Partija socialistov-revoljucionerov (Partei der Sozialrevolutionäre) PUR(KKA) Političeskoe upravlenie Raboče-Krest’janskoj Krasnoj armii (Politische Verwaltung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee) RFB Rotfrontkämpferbund RGAE Rossijskij gosudarstvennyj archiv ėkonomiki (Russisches Staatliches Wirtschaftsarchiv) RGASPI Rossijskij gosudarsvennyj archiv social’no-političeskoj istorii (Russisches Staatliches Archiv für soziale und politische Geschichte) RGVA Rossijskij gosudarstvennyj voennyj archiv (Russisches Staatliches Militärarchiv) RHD Rote Hilfe Deutschlands RKI Raboče-Krest’janskaja Inspekcija (Arbeiter-Bauern-Inspektion) RKP(b) Russländische Kommunistische Partei (Bolschewiki) RSDRP Russländische Sozialdemokratische Arbeiterpartei RSDRP(b) Russländische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Bolschewiki) RSFSR Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) SAPMO-BArch Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv SAT Sennacieca Asocio Tutmonda („Nationslose Weltvereinigung“, Weltverband linker Esperantisten) SEU Sovetrespublikara Esperantista Unio (Verband Sowjetischer Espe- rantisten) SNK Sovet Narodnych Komissarov (Rat der Volkskommissare) SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands TUC Trade Union Congress USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VCIK Vserossijskij central’nyj ispolnitel’nyj komitet (Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee) 16 Abkürzungsverzeichnis VCSPS Vsesojuznyj central’nyj sovet professional’nych sojuzov (Allunionszen- tralrat der Gewerkschaften) VČK Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem (Allrussische Sonderkommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage) VKP(b) Allunions-Kommunistische Partei (Bolschewiki) VVRS Vyšsij voenno-redakcionnyj sovet (Höchster Militärverlagsrat) ZK Zentralkomitee ZKK Zentrale Kontrollkommission Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN 1 Einleitung Die abwesende Weltrevolution Der polnische Sozialist und spätere Bolschewik Wacław Solski, den es 1915 in das weißrussische Minsk verschlagen hatte, schildert in seinen Memoiren eine Episode aus der Zeit unmittelbar nach dem Machtantritt der Bolschewiki Als Mitglied des Minsker Sowjets war er einige Tage nach der Oktoberrevolution aufs Land abkom- mandiert worden, um eine Telegrafenstation der alten Armee für die neuen Macht- haber zu requirieren Das Erste, was Solski und seine ihn begleitenden Genossen dort getan hatten, war jedoch nicht die Durchsetzung der neuen Besitz- und Machtver- hältnisse Ihnen war etwas anderes viel wichtiger: Sie ließen sich die neuesten Nach- richtentelegramme aus dem Ausland zeigen, in der festen Hoffnung, etwas über die anbrechende Revolution im Westen zu erfahren Die Telegramme ließen, zu ihrer großen Enttäuschung, nichts darüber verlauten Daraufhin, so Solski, seien sie ent- täuscht von dannen gezogen und waren fest davon überzeugt, der „konterrevolutio- näre“ Telegrafist habe absichtlich die entscheidende Meldung über die anbrechende Weltrevolution unterschlagen 1 Führte der alternde, vom Kommunismus abgerückte Memorist, der seine Erin- nerungen in den 1950er-Jahren im US-Exil schrieb, diese Episode lediglich zu dem Zweck an, seinen eigenen jugendlichen Enthusiasmus bloßzustellen? Waren es ledig- lich schwindelerregende Illusionen, die schnell verflogen waren, kaum dass das Revo- lutionsjahr 1917 vergangen war? Oder war es mehr als das? Für die Omnipräsenz der Weltrevolution in Sowjetrussland im Verlauf des ganzen nachrevolutionären Jahrzehnts sprechen nicht nur die Erinnerungen – von ihr zeugt auch die topografische Namensgebung In der postsowjetischen Publikation frühso- wjetischer Geheimdienstberichte von 1922 und 1923 finden sich im Index aller in den Berichten erwähnten Fabriken und Betriebe auch solche, die gewissermaßen die internationale Revolution der Vergangenheit wie der Gegenwart im Namen tragen: Eine Clara-Zetkin-Fabrik für Militärkleidung ist ebenso präsent wie zwei Karl-Marx- Fabriken, zwei Karl-Liebknecht-Fabriken und ein Bergwerk selben Namens, zwei nach der Komintern benannte Betriebe und ein Bergwerk namens „Weltkommune“ 2 1 Vaclav Solskij, 1917 god v Zapadnoj oblasti i na Zapadnom fronte (Minsk: Tesej, 2004), 193–194 2 G N Sevost’janov, Hrsg , „Soveršenno sekretno“. Lubjanka – Stalinu o položenii v strane. 1922–1934 gg. , Bd 1 (Moskva: IRI RAN, 2001), 1077, 1080–1082, 1084 18 Einleitung Und wenn auch die Fabriknamen weitgehend getilgt wurden, so finden sich umfang- reiche Spuren internationalistischer Präsenz noch in der heutigen russischen Topo- grafie: Ganze 283 Straßen und Siedlungen im Gebiet der heutigen Russischen Föde- ration tragen noch den Namen der Komintern; 433 sind nach dem deutschen Kom- munistenführer Karl Liebknecht benannt, während Rosa Luxemburg auf 449 Nennungen kommt; mit dem Namen Clara Zetkins schmücken sich 241 Straßen und Siedlungen; die Pariser Kommune von 1871 ist noch in 256 Orts- und Straßen- namen präsent; und selbst zwei „Straßen der Weltkommune“ und eine des „Weltok- tobers“ finden sich auf der heutigen russischen Landkarte 3 Eine stärkere symbolische Präsenz der internationalen Revolution im Alltag als die, in der Karl-Liebknecht-Straße aufzuwachen, in der Allee der Pariser Kommune Brot zu kaufen und dann in der „Komintern“-Fabrik arbeiten zu gehen, ist kaum vorstellbar Welche Rechnung trägt das historische Gedächtnis dieser Omnipräsenz? Ein beredtes Beispiel dafür bietet der Bildband „The Unpublished Revolution“ von 1989 mit damals sensationellen Aufnahmen der Revolutionszeit Man sieht darin das Foto einer Demonstration am 18 Juni 1917 Die Bildunterschrift besagt: „Members of the Bolshevik Committee [...] carry a banner that proclaims: ‚Long Live the Social Revolution’“ Auf der Fotografie wird das relativ kleine Banner jedoch in den Schat- ten gestellt von einem mindestens doppelt so großen, grafisch gestalteten und (wohl) farbenprächtigen Transparent, das die Marschkolonne im Vordergrund trägt Die Aufschrift: „Da zdravstvuet Internacional“ – „Es lebe die Internationale“ 4 Das Igno- rieren des internationalistischen Banners durch den Herausgeber ist nicht bloß dem Massenzielpublikum des Bandes geschuldet – es ist symptomatisch für die konsequente Ausblendung der international(istisch)en Dimension im revolutionären Russland und der frühen Sowjetunion, die sich quer durch die gesamte Historiografie zieht Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, diese Dimension wieder sichtbar zu machen Die Studie strebt eine kulturhistorisch und praxeologisch informierte Gesellschafts- geschichte des Internationalismus an, und will Antworten darauf geben, warum der Bezug auf das revolutionäre Globale für bestimmte gesellschaftliche Gruppen attrak- tiv und identitätsstiftend sein konnte, in welchen Formen sich diese Bezüge in poli- tischen und gesellschaftlichen Diskursen manifestierten und durch welche Praktiken Internationalismus für die sowjetische Gesellschaft konstituierend sein konnte Dabei wird die Frage gestellt, inwieweit Internationalismus in das Öffentlichkeitsprojekt der Bolschewiki integriert werden konnte, nämlich in die obščestvennost’ als eine 3 Eruiert auf Basis der Postleitzahlenauskunft der russischen Post: http://ruspostindex ru [letzter Zugriff 29 8 2016] 4 Jonathan Sanders, Hrsg , Russia 1917. The Unpublished Revolution (New York: Abbeville, 1989), 166–167 Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN Einleitung 19 scheinbar „parteilose“, gesellschaftlich engagierte, in der letzten Instanz jedoch von der Partei gelenkte Öffentlichkeit, die sich ab Mitte der 1920er-Jahre konstituierte Die Arbeit setzt im Jahr 1917 an, als im März (Februar alter Zeitrechnung) die kriegsmüde Bevölkerung des Russischen Reiches die Zarenherrschaft stürzte und im November (Oktober) die Bolschewiki als linke Fraktion der russischen Sozialdemo- kratie, die unter den Bedingungen der Krise der Provisorischen Regierung immer mehr zu einer Massenpartei geworden waren, unter der Führung von Vladimir I Lenin und Lev D Trockij die Macht an sich nahmen Der Untersuchungszeitraum umfasst zunächst die Jahre des Bürgerkriegs, den das Regime der Bolschewiki gegen die „weiße“ Gegenrevolution, die ausländischen Interventionstruppen und vor allem gegen große Teile der eigenen Bevölkerung ausfocht und gewann – eine Periode, die entscheidend für die Formierung der sowjetischen Gesellschaft und der Rolle von Internationalismus in ihr war Der weitere chronologische Schwerpunkt liegt in der Periode der 1921 von der Partei ausgerufenen „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP), die das Ende des Bürgerkriegs einläutete und wenn sie auch kaum politische Freihei- ten brachte, so jedoch Ansätze privatwirtschaftlicher Verhältnisse restaurierte Unter diesen Bedingungen entfalteten sich beachtliche kulturelle und soziale Prozesse, die der Bevölkerung einen friedlichen Neuanfang signalisierten und dem Ausland die Illusion einer neuartigen, nichtkapitalistischen Gesellschaft im Entstehen gaben Die NÖP scheiterte jedoch – nicht nur an ihren immensen sozialen und kulturellen Widersprüchen, sondern auch in Folge des Machtkampfes, der nach Lenins Tod Anfang 1924 in der Parteiführung ausgebrochen war und letztlich von Iosif V Stalin und seinen Anhängern in der Partei gewonnen wurde Das Jahr 1927, in dem dieser Machtkampf ein definitives Ende zugunsten Stalins fand, markiert das chronologische Ende der Arbeit Dieser Schlusspunkt wurde gesetzt, weil erstens mit Stalins Macht- durchsetzung auch seine programmatische Linie vom „Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Land“ die Oberhand gegenüber den vor allem von Trockij repräsen- tierten Vorstellungen von der Notwendigkeit der Weltrevolution für das Überleben der UdSSR gewann Zweitens war 1927 ein Schlüsseljahr in der Verquickung zwischen Innen- und Außenpolitik, war doch dort die „Kriegsgefahr“-Kampagne angesiedelt, die die Bevölkerung mit einer von oben angefachten Kriegshysterie zusammenzu - schweißen suchte und damit auch die öffentliche Repräsentation der Außenwelt massiv veränderte Selbstverständlich wird dieser chronologische Analyserahmen stellenweise durchbrochen, denn viele der beobachteten Phänomene und Prozesse lassen sich in die vorrevolutionäre Zeit verfolgen, wie auch andere wiederum sich als langlebiger erwiesen als die Epoche der NÖP Den Grundrahmen der Untersuchung bilden jedoch die Jahre 1917 bis 1927, also die erste Dekade des Sowjetstaates