Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie Editorial | In Umbruchzeiten und Zeiten beschleunigten Wandels ist die Philosophie in besonderer Weise herausgefordert, Verände- rungen unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge zu arti- kulieren. Denn Begriffe, Kategorien und Topoi, unter denen Welt- bezüge stehen und unter denen wir unser Denken und Handeln ausrichten, erweisen sich im Zuge jener Dynamik regelmäßig als einseitig, kontingent, dogmatisch oder leer. Dialektisches Denken richtet sich von alters her auf diejenige Gegensätzlichkeit, die die Beschränktheiten des Denkens und Handelns aus sich heraus hervorbringt, und zwar mit Blick auf die Einlösbarkeit seiner Ansprüche angesichts des Andersseins, An- derssein-Könnens oder Anderssein-Sollens der je verhandelten Sa- che. Dialektik versteht sich als Reflexion der Reflexionstätigkeit und folgt somit den Entwicklungen des jeweils gegenwärtigen Denkens in kritischer Absicht. Geweckt wird sie nicht aus der Denktätigkeit selbst, sondern durch das Widerfahrnis des Schei- terns derjenigen Vollzüge, die sich unter jenem Denken zu begrei- fen suchen. Ihr Fundament ist mithin dasjenige an der Praxis, was sich als Scheitern darstellt. Dieses ist allererst gedanklich neu zu begreifen in Ansehung der Beschränktheit seiner bisherigen be- grifflichen Erfassung. Vor diesem Hintergrund ist für dialektisches Denken der Dialog mit anderen philosophischen Strömungen unverzichtbar. Denn Be- schränkungen werden erst im Aufweis von Verschiedenheit als Un- terschiede bestimmbar und als Widersprüche reflektierbar. Und ferner wird ein Anderssein-Können niemals aus der Warte einer selbstermächtigten Reflexion, sondern nur im partiellen Vorführen ersichtlich, über dessen Signifikanz nicht die dialektische Theorie bestimmt, sondern die Auseinandersetzung der Subjekte. Wissenschaftlicher Beirat | Prof. Dr. Christoph Hubig, Stutt- gart | HD Dr. Volker Schürmann, Leipzig | Prof. Dr. Gerhard Schweppenhäuser, Bozen/Italien | Dr. Michael Weingarten, Mar- burg | Prof. Dr. Jörg Zimmer, Girona/Spanien | Management | Andreas Hüllinghorst, transcript Verlag Edition panta rei | Forum für dialektisches Denken Gerhard Gamm, Mathias Gutmann, Alexandra Manzei (Hg.) Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-319-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleich- tem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@transcript-verlag.de This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License. Inhalt Vorwort 7 | Alexandra Manzei, Mathias Gutmann, Gerhard Gamm Anthropologie Philosophische Anthropologie als systematische Philosophie – Anspruch und Grenzen eines gegenwärtigen Denkens 15 | Michael Weingarten Natur als Fremdes 33 | Volker Schürmann Gesellschaftstheorie Umkämpfte Deutungen – Gesellschaftstheorie und die Kritik szientifischer Bestimmungen menschlicher Existenz in der biotechnologischen Medizin 55 | Alexandra Manzei Der methodologische Ansatz der reflexiven Anthropologie Helmuth Plessners 83 | Gesa Lindemann Die Rede vom Menschen – die Rede vom Körper: Plessner und Bourdieu 99 | Ulle Jäger Wissenschaftsphilosophie der Biologie Der Lebensbegriff bei Helmuth Plessner und Josef König. Systematische Rekonstruktion begrifflicher Grundprobleme einer Hermeneutik des Lebens 125 | Mathias Gutmann Biophilosophie als Kern des Theorieprogramms der Philosophischen Anthropologie. Zur Kritik des wissenschaftlichen Radikalismus 159 | Joachim Fischer Das Typusproblem in philosophischer Anthropologie und Biologie – Nivellierungen im Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft 183 | Mathias Gutmann, Michael Weingarten Praktische Vernunft Die Verbindlichkeit des Unergründlichen Zu den normativen Grundlagen der Technologiekritik 197 | Gerhard Gamm »So wie der Mensch sich sieht, wird er.« Überlegungen zur politischen Verantwortung der philosophischen Anthropologie im Anschluss an Helmuth Plessner 217 | Heike Kämpf Der Mensch als praktischer Anspruch. Zum Primat des Politischen in Helmuth Plessners Anthropologie 233 | Andreas Hetzel Autorinnen und Autoren 259 | 7 V O R W O R T Seit einigen Jahren ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine Renaissance der philosophischen Anthropologie zu beobachten. Sie verbindet sich weniger mit den Namen Max Scheler oder Arnold Geh- len als mit der Anthropologie und Gesellschaftstheorie Helmuth Pless- ners. Haben nach der neueren Dekonstruktion der Natur des Men- schen in Soziologie, Philosophie und Biologie seit den 1980er Jahren Cyborgs, Hybride, Aktanten, datenverarbeitende Systeme oder andere kommunizierende Maschinen die Wissenschaften bevölkert, so lässt sich parallel dazu eine Diskussion beobachten, für die die Rede von ›dem Menschen‹ wieder selbstverständlich erscheint. Während die Kulturanthropologie, die Ethnologie und die historische Anthropolo- gie, aber auch die Philosophie von den essenzialistischen Deutungen und ahistorischen Diskursen über den Menschen Abstand nehmen und auf den historischen Brüchen und kulturellen Differenzen der so- zialen Akteure und Kollektive bestehen, scheint der neuerliche Re- kurs auf die philosophische Anthropologie von dem Wunsch getragen zu sein, eine kritische und theoretisch fundierte Begrenzung der his- torisch-relativistischen Denkformen zu entwickeln. Der aktuelle Anlass dazu sind auf der einen Seite die ambivalen- ten Machbarkeitsphantasien und Praktiken der biotechnologischen Medizin, auf der anderen aber eine Kritik, die ihre zentralen Intuitio- nen aus der Unverfügbarkeit und der Unausdeutbarkeit des menschli- chen Lebens zieht. So vielgestaltig die Ansätze im Einzelnen sind, sie eint der Versuch, nicht hinter die begründete Skepsis des Sozialkon- struktivismus und der Anthropologiekritik zurückzufallen. Es ist heu- te weder möglich noch der Sache dienlich, die normative Basis der Kritik in der Natur des Menschen zu suchen. Jede positive Setzung ei- ner unhintergehbaren Grenze würde den Verdacht erregen, dogma- tisch zu sein und die Existenz des Menschen um seine technologi- schen Entfaltungsmöglichkeiten zu bringen. Ebenso bliebe ein Rekurs auf die philosophische Anthropologie, der nicht die historische Diffe- renz des beginnenden und des endenden 20. Jahrhunderts für die Theorie und Kritik berücksichtigt, selbst abstrakt und liefe der Inten- Buch_Plessner_alles.fm Seite 7 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 8 Alexandra Manzei Mathias Gutmann Gerhard Gamm tion einer reflektierten Deutung und Fortschreibung anthropologisch- technischer Möglichkeiten entgegen. Unsere Absicht ist es daher, die angedeuteten Schwierigkeiten unter vier Gesichtspunkten zu disku- tieren, die sowohl für die Theoriearchitektur Plessners als auch für die gegenwärtige Auseinandersetzungen mit der Biomedizin bedeutsam sind. So wird im ersten Hauptstück versucht, die theoretischen Voraus- setzungen der Anthropologie Plessners zu klären. Gelingt es Plessner eine Theorie des Menschen zu formulieren, die den cartesianischen Dualismus aufhebt, indem sie gleichermaßen natur- wie kulturge- schichtliche Aspekte in Rechnung stellt? Und ist das Konzept der ›ex- zentrischen Positionalität‹, insofern es die menschliche Existenz als ebenso kreatürlich wie symbolisch vermittelt begreift, anschlussfähig im Blick auf eine kritische Auseinandersetzung mit den biotechnolo- gischen Existenzweisen des Menschen heute? Oder zeigt sich nicht vielmehr, dass auch Plessner eine »Bestimmung des Menschen« theo- retisch voraussetzen muss, um seine Anthropologie zu fundieren? Und dass deshalb – auch aufgrund der historischen Differenz – ein Rekurs auf die philosophische Anthropologie von Anfang an proble- matisch ist? Auf ein verwandtes Problem stößt man, wenn man der begrün- dungstheoretischen Frage nach dem Konstitutionsverhältnis von An- thropologie und Naturphilosophie nachgeht: Wie ist beider Bezug aufeinander zu denken? Vor dem Hintergrund dieser Fragen untersucht Michael Wein- garten in seinem Beitrag das spezifische Philosophieverständnis der Plessner‘schen Anthropologie. Die Analyse einer intensiv geführten zeitgenössischen Debatte zwischen Helmuth Plessner und Josef König zeige nicht nur systematische Unbestimmtheiten seiner philosophi- schen Anthropologie; mit dem Plessner‘schen Zugeständnis, auch for- mallogische Widersprüche zuzulassen, erweise sich vielmehr das Kon- zept im Ganzen bedroht. Volker Schürmann bietet eine alternative Deutung zu den übli- chen Lesarten des Plessner‘schen Ansatzes an, indem er die Stufen des Organischen und der Mensch sowie Macht und menschliche Natur als gegenläufige Denkbewegungen systematisch aufeinander bezieht. Die Figur der exzentrischen Positionalität entwickelt er dabei als ein zen- trales Bestimmungsstück, um sie als Ausdruck der Reflexion der je ei- genen Positionen aufzufassen. Im zweiten Hauptstück wird die Bedeutung Plessners für eine mögliche Kritik der Soziologie diskutiert. Unsere Vermutungen gehen dahin, dass alle soziologischen Theorien – implizit oder explizit – an- thropologische Deutungen voraussetzen; entweder indem der Gegen- standsbereich der Soziologie auf menschliche Akteure beschränkt und diese Voraussetzung nicht weiter reflektiert wird oder indem Buch_Plessner_alles.fm Seite 8 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 9 Vorwort menschlichen Akteuren wesentliche Eigenschaften wie Geist, Ver- nunft, Personalität etc. zugesprochen werden, um sie wiederum von nicht-menschlichen Wesen abzugrenzen. Will man diese anthropolo- gischen Voraussetzungen der Soziologie problematisieren, bieten sich, angelehnt an Plessner, verschiedene, scheinbar gegensätzliche Möglichkeiten an. Alexandra Manzei plädiert in ihrem Beitrag dafür, die soziologi- schen Grundbegriffe offensiv um anthropologische Deutungen zu er- weitern. Sie zeigt zunächst exemplarisch, dass auch die Rede von Subjekten, Personen, Individuen oder Geschlechtern auf anthropolo- gischen Annahmen beruht und identitätslogische Verkürzungen nur scheinbar vermeidet. Mit Rekurs auf die ›entgrenzte‹ Positionalität im Sinne Plessners ließe sich zur Frage nach dem Menschen Stellung be- ziehen, ohne naturalistisch oder reduktionistisch argumentieren zu müssen. Dadurch gewinne die Soziologie Deutungsmöglichkeiten, die eine Kritik biomedizinischer Bestimmungen des Menschen überhaupt erst ermögliche. Im Gegensatz dazu verfolgt Gesa Lindemann die umgekehrte Stra- tegie und plädiert im Anschluss an Plessners Theorie des Lebens für eine Entanthropologisierung der soziologischen Kategorien. In ihrem Beitrag zeigt sie, dass seine Positionalitätstheorie nicht als Anthropo- logie, sondern als Theorie personaler Vergesellschaftung verstanden werden muss. Plessners Theorie gebe a priori keine Auskunft darüber, wer (oder was) ein Mensch sei. Er zeige vielmehr, dass sich erst für exzentrisch organisierte Lebewesen im sozialen Bezug aufeinander die Notwendigkeit ergebe, zu entscheiden, »wer in den Kreis persona- len Seins einzubeziehen sei und was aus diesem Kreis herausfällt«. Exzentrische Positionalität sei daher nicht auf den Kreis der Men- schen beschränkt, sondern prinzipiell auch für andere Lebewesen denkbar. Für Ulle Jäger liegt die Bereicherung, die die Soziologie durch Plessners Positionalitätstheorie erfährt, in der Vermittlung konstruk- tivistischer und naturalistischer Auffassungen leib-körperlicher Exi- stenz. In ihrem Beitrag verbindet sie das Habituskonzept Pierre Bourdieus mit den entsprechenden Überlegungen Helmuth Plessners. Erst mit Letzteren lasse sich erklären, wie die Inkorporierung sozialer Ordnung vonstatten gehe und wie der »körperliche Leib« die Vermitt- lungsfunktion zwischen Individuum und Gesellschaft überhaupt wahrnehmen könne, die ihm Bourdieu zuschreibe. Im dritten Hauptstück wird zum einen die Frage nach der Bedeu- tung Plessners für die theoretische Biologie heute gestellt. Zum ande- ren soll umgekehrt die Frage erörtert werden, inwieweit der Pless- ner‘sche Versuch, zeitgenössische biologische Positionen (insbeson- dere Jakob von Uexkülls) zur Grundlage der Anthropologie und damit indirekt auch der Sozial- und Gesellschaftstheorie zu machen, ge- Buch_Plessner_alles.fm Seite 9 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 10 Alexandra Manzei Mathias Gutmann Gerhard Gamm lingt. Während die erste Frage – vermutlich unstrittig – dahingehend beantwortet wird, dass sich weder aus der auf von Uexküll fußenden Organismustheorie noch aus ihren Erweiterungen in die Theorie des Humanums ernsthafte Revisionsanforderungen oder auch nur Anre- gungen für die moderne Biologie (hier insbesondere für die laborge- stützten Disziplinen) ergeben, dürfte die Antwort auf die zweite Frage kontrovers ausfallen. Die hier vertretende Skepsis gegenüber dem me- thodischen Aufbau des Plessner‘schen Programms soll durch eine ein- gehende Analyse der empirisch-faktischen wie der normativen Inve- stitionen gestützt werden. Sie ergibt sich, wenn die Rede von Perso- nalität – und die daran anschließenden Konzepte von Sozialität und Kulturalität – an eine naturale Bestimmung der Exzentrizität gebun- den werden. Diese wird insbesondere unter Rückgriff auf die Cassi- rer‘sche Kritik des Kulturverständnisses der philosophischen Anthro- pologie erläutert. Der Rede vom Leben und ihren Implikationen für die Pless- ner‘sche Anthropologie geht Mathias Gutmann nach. Im Zentrum sei- nes Beitrags steht die Rekonstruktion einer zuzeiten Plessners kaum wahrgenommenen Auseinandersetzung zwischen dem aus der Göttin- ger Tradition stammenden König und Plessner. Im Zentrum der Kon- troverse steht der Streit um den methodologischen Status des Lebens- begriffes. ›Leben‹ wird dabei mit König in der Dualität als modifizie- rende und determinierende Redeform entwickelt. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung kann eine spezifische Verkürzung der logi- schen Grammatik philosophischer Anthropologie nachgewiesen wer- den – eine Verkürzung, deren Vermeidung zu einem grundlegend re- vidierten Programm der Lebenshermeneutik führen sollte. Um einen systematischen Leitbegriff Plessners, der nicht nur für die zeitgenössische Diskussion von Relevanz war, sondern auch für laufende Debatten um das Verhältnis von Lebenswissenschaften und Philosophie von großer Bedeutung sein dürfte, ist es Joachim Fischer in seiner Rekonstruktion der »Positionalität« zu tun. Er zeigt, wie in der Verbindung von Ekstatik und Orgiastik als spezifischen Momenten der Grenzregulierung eine wirkliche Durchbrechung und Überwin- dung cartesischer Dualismen angestrebt wird. Die Entwicklung der Positionalität würde demnach nicht nur einen kritischen Einspruch gegen »wissenschaftlichen Radikalismus« erlauben, sie wiese viel- mehr einen Weg für die Grundlegung der Philosophie selber, gleich- sam zwischen einem spekulativen Naturbegriff auf der einen und ei- ner mentalistischen Interpretation des Geistes auf der andern Seite. Die biowissenschaftlichen Grundlagen von Plessners Anthropolo- gie bilden den Gegenstand der Untersuchung von Mathias Gutmann und Michael Weingarten. Ausgehend von der eigentümlichen gram- matischen Verschränkung des generischen Singulars (der Mensch, das Tier, die Pflanze) mit der Rede von »dem Menschlichen« zeigen die Buch_Plessner_alles.fm Seite 10 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 11 Vorwort Autoren in Form von fünf Thesen, dass die Nivellierung des Ausdru- ckes ›Leben‹ bei Plessner ein möglicherweise notwendiger Bestandteil der philosophischen Anthropologie ist. Dieser Verdacht erhärtet sich bei genauerer Betrachtung jener zeitgenössischen biologischen Theo- riestücke, die im Wesentlichen aus anti-darwinistischen und vitalisti- schen Evolutions- bzw. Entwicklungsansätzen stammen. Mit dem vierten Hauptstück soll eine bislang wenig beachtete Sei- te von Plessners Denken in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden: der Primat praktischer Vernunft in allen Konzeptualisierungs- fragen philosophischer Anthropologie. Er spiegelt sich in dem, was Plessner als Korrespondenzbegriff zur exzentrischen Positionalität zu- weilen das »Verbindlichnehmen des Unergründlichen« nennt. In der Reflexion auf die normativen Implikationen seiner Grundbegriffe (Freiheit, Menschenwürde usf.) ergeben sich Begründungslasten ganz eigener Art; sie erweitern nicht nur die herkömmlichen Konzepte von philosophischer Anthropologie, sie werfen auch ein kritisches Licht auf sozialwissenschaftliche und philosophische Deutungen, die glau- ben, sich die Frage nach den normativen Voraussetzungen ihrer Dis- kurse ersparen zu können. In seinen Überlegungen zu den »Quellen der Normativität« macht Gerhard Gamm den Versuch, eine moralphilosophische Antwort auf die Idee der Unausdeutbarkeit des menschlichen Selbst zu formulie- ren: Wie könnte eine Ethik aussehen, die in der »Unbestimmtheitsre- lation des Menschen zu sich« (Plessner) ihren Ausgang hat? Wie las- sen sich die beiden für Plessners Normativitätskonzept zentralen Strukturmomente – Offenheit und Verbindlichkeit – in ihrer konstitu- tiven Verschränktheit angemessen explizieren? Der Beitrag von Andreas Hetzel thematisiert das Verhältnis von Anthropologie, Ethik und Politik im Denken Plessners. Die Grundfrage der philosophischen Anthropologie, was der Mensch sei, wird von Plessner weniger als wissenschaftliche denn als politisch-praktische Frage aufgefasst. Der Mensch begegnet uns im Rahmen dieses Pro- jekts als »praktischer Anspruch«. Dieser Anspruch kann, so zeigt Hei- ke Kämpf in ihrem Beitrag, nur in der Verweigerung und Kritik an- thropologischer Bestimmungen liegen, die zu fixieren suchen, was den Menschen ausmache. In diesem Sinne sei er politisch. So sich mit der Theorie Plessners die performative Macht anthropologischer Mo- delle zeigen lasse, könne die verdinglichende Praxis szientifischer wie gesellschaftlicher Deutungen des Menschen kritisiert werden. Alexandra Manzei Mathias Gutmann Gerhard Gamm März 2005 Buch_Plessner_alles.fm Seite 11 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 Buch_Plessner_alles.fm Seite 12 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 ANTHROPOLOGIE Buch_Plessner_alles.fm Seite 13 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 Buch_Plessner_alles.fm Seite 14 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 15 P H I L O S O P H I S C H E A N T H R O P O L O G I E A L S S Y S T E M A T I S C H E P H I L O S O P H I E – A N S P R U C H U N D G R E N Z E N E I N E S G E G E N W Ä R T I G E N D E N K E N S Michael Weingarten Die Dominanz anthropologischer Fragestellungen und Antwortversu- che in der gegenwärtigen Philosophie ist sicherlich selbst ein philoso- phisch erklärungsbedürftiges und von Seiten derjenigen, die solche Projekte verfolgen, auch begründungsbedürftiges Problem. Zum ei- nen muss, bezogen auf den Kontext, in dem philosophische Anthro- pologie neue Aktualität gewonnen hat, allein schon aufgezeigt wer- den, inwiefern philosophisch-anthropologische Überlegungen ›ange- wandt‹ werden können zum Zweck der Klärung von Fragen, die bspw. aus bio- und gentechnischem Kennen und Können resultieren 1 ; zum zweiten muss argumentiert werden dafür, dass gerade und möglicher Weise nur im Rahmen philosophisch-anthropologischer Konzepte sol- che Fragen geklärt werden könnten, nicht aber von Seiten dieser Wis- senschaften und Techniken selbst bzw. anderer Wissenschaften (etwa Soziologie, Politikwissenschaft) oder anderer philosophischer Teildis- ziplinen (etwa der Wissenschaftstheorie). Indem ich diese Fragen stelle, möchte ich anzeigen, dass bisher weder die Möglichkeit der ›Anwendung‹ einer philosophischen Anthropologie begrifflich zurei- chend reflektiert wurde – man ›macht‹ es vielmehr einfach 2 –, noch wurde der Status philosophischer Anthropologie als philosophischer Disziplin in ihrem Verhältnis zu anderen philosophischen Disziplinen und zu anderen Wissenschaften geklärt – weder zu denjenigen, auf 1 | Dies ist parallel zu sehen mit der ›Anwendung‹ ethischen Wissens. Auch dort hat sich eine ganze Disziplin innerhalb der Philosophie ausgebildet als ›angewandte Ethik‹, ohne an irgend einer Stelle Auskunft darüber zu geben, inwiefern ›Ethik‹ überhaupt ›angewandt‹ werden kann; vgl. Weingarten (2003, 2004, 2005). 2 | Einen vergleichbaren Einwand scheint auch Volker Schürmann zu erheben; vgl. seinen Beitrag in diesem Band. Buch_Plessner_alles.fm Seite 15 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 16 Michael Weingarten die sie sich in aller Regel kritisch bezieht (Biowissenschaften, Medi- zin, Bio- und Gentechniken u.a.), noch zu denjenigen, die sie selbst in ihren Argumenten und Begründungen verwendet (in aller Regel nämlich wiederum biowissenschaftliches Wissen!). Gerade dieser Punkt, dass im philosophisch-anthropologischen Diskurs als geltend behauptetes biowissenschaftliches Wissen in kritischer Absicht gegen anderes, in den Fachwissenschaften selbst geltendes biowissenschaft- liches Wissen gesetzt wird, bedarf doch einer besonderen Argumenta- tionsbemühung, will man den Eindruck vermeiden, es würde in kon- tingenter Weise erstens auf ein zufällig aufgerafftes biowissenschaftli- ches Wissen 3 zurückgegriffen und dies zweitens dann auch noch in einer Weise verwendet, dass der Unterschied zwischen und die Ver- schiedenheit von philosophischem und einzelwissenschaftlichem Wis- sen zum Verschwinden gebracht wird. 4 Darüber hinaus zeigt die Wortzusammenstellung ›philosophische Anthropologie‹ an, dass Anthropologie in irgend einer Weise verstan- den werden muss als Gattungsterminus, in dem wir als Arten dann medizinische, biologische, philosophische, psychologische usw. An- thropologien finden können. Gegenstand der Anthropologie als Gat- tung wäre so der anthropos ; ihre Aufgabe fände sie darin, diesen als anthropos vorgestellten Gegenstand hinsichtlich seines logos zu be- stimmen. Die Bestimmtheit des anthropos hinsichtlich seines logos finden die als Arten vorgestellten, einzelnen anthropologischen Diszi- plinen als schon außerhalb und unabhängig von ihnen bestimmten Gegenstand vor; sie können dann nur relativ zu dessen Bestimmtheit spezifische Ausführungen (medizinische, philosophische, psychologi- sche usw.) vornehmen. Wenn nun die einzelnen Disziplinen oder Wissensformen, die sich in Eigenschaftsstellung ( soziologische Anthropologie, medizinische Anthropologie usw.) zu der Anthropologie sehen, ihren Gegenstand als je schon bestimmten und vorfindlichen unterstellen, dann muss erstens entweder die Wissensform, die den logos des anthropos be- stimmt, eine nicht-philosophische und nicht-medizinische und nicht- biologische usw. Wissensform sein. Aber welche Wissensform oder welches Wissen könnte dies sein? In dem faktischen Kanon disziplinä- rer Wissenschaften und faktischer Typen des Wissens ist sie jedenfalls nicht zu finden. Was zunächst unproblematisch wäre, könnten wir denn nur angeben, wie eine Wissenschaft oder eine Wissensform ›An- thropologie‹ zu konstituieren wäre. Oder wir kommen zweitens zu dem Schluss, eine solche Wissen- schaft oder Wissensform ›die Anthropologie‹ könne es nicht geben, 3 | Zumal dieses Wissen häufig auch noch eher aus der Geschichte der Biowis- senschaften stammt, nicht aber aus deren gegenwärtigem Wissen. 4 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gutmann/Weingarten in diesem Band. Buch_Plessner_alles.fm Seite 16 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 17 Philosophische Anthropologie als systematische Philosophie – Anspruch und Grenzen eines gegenwärtigen Denkens weil sie ihren Gegenstand, den anthropos , als invariant, a-historisch setzen müsste und damit dem von uns als wirklich und historisch wandelbar erfahrenen menschlichen Lebensvollzug und vor allem der Individualität der Lebensvollzüge strikt entgegengesetzt wäre. So hält Landmann fest: »Den allgemeinen Menschen, den die Aufklärer gefunden zu haben glauben, gibt es gar nicht. Man kann gar nicht nur Mensch überhaupt, sondern man muß notwendig Farbiger oder Weißer, Mann oder Frau, Kind oder Erwachsener sein usf. Erst in diesem Spezielleren verwirk- licht und erfüllt sich der Begriff des Menschen.« (Landmann 1976: 25) 5 Unter den Bedingungen der Moderne, die sich selbst beschreibt in ih- rer Unterschiedenheit von anderen Epochen über Leitbegriffe wie In- dividualität, Historizität, Werden und Entwicklung, können Bestim- mungen von etwas hinsichtlich seines invarianten Wesens oder Typus nur als gegen-modern und ideologisch motiviert erscheinen. Genau dies scheint die Struktur des Einwandes gegen die Möglichkeit von Anthropologie zu sein, die insbesondere Max Horkheimer im Rahmen seiner Aufklärungskritik mehrfach vorgetragen und damit den ideolo- giekritischen Vorbehalt der Kritischen Theorie gegenüber der Anthro- pologie insgesamt (mit-)begründet hat (Horkheimer 1985, 1988). 6 Die Anthropologie, und mit ihr ihre disziplinär ausgestalteten Arten, hat keinen Gegenstand, weil es den anthropos als invarianten Typus oder als Wesen nicht gibt; wird dennoch ihre Möglichkeit als Wissen behauptet, dann liegt ein Fall von Täuschung vor, der eben nur ideo- logiekritisch behandelt und aufgelöst werden könne. Drittens könnte dann behauptet werden, es sei zwar grundsätzlich richtig zu sagen, dass mit den begrifflichen Mitteln einer philosophi- schen Teil disziplin wie der philosophischen Anthropologie der anthro- pos weder als Gegenstand noch hinsichtlich seines logos bestimmt werden könne; wir irrten uns aber daraus zu schließen, dass die Be- stimmung des anthropos als Gegenstand und hinsichtlich seines logos daher durch eine Form von Nicht-Philosophie bewältigt werden müsse. Es könnte doch hier der ausnehmend besondere Fall vorliegen, dass das, was von einer Teildisziplin der Philosophie nicht geleistet werden kann, insofern sie ihren Gegenstand als bestimmten je schon vorfin- 5 | Vgl. Landmann (1979). 6 | Vgl. Weingarten (2001a). Hinsichtlich dieses Gesichtspunktes wäre es loh- nenswert, die Diskussion zwischen Adorno und Benjamin zu rekonstruieren. Denn Benjamins Überlegungen zu einem ›Leib-Materialismus‹ stießen auf äu- ßerst heftige Einwände Adornos – auch wenn dieser dann später Benjamins Überlegungen aufgriff, diese aber in gänzlich andere systematische, nämlich moralische, Zusammenhänge integrierte; vgl. Adorno (1974, 1996, 1997), Ad- orno/Benjamin (1995), Benjamin (1980, 1991). Buch_Plessner_alles.fm Seite 17 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 18 Michael Weingarten det, von dieser selbst , der Philosophie nämlich, zu leisten sei – und möglicherweise nur von ihr. Die Philosophie selbst und als solche sei also in all ihren Spielarten des Philosophierens zu kennzeichnen als das andauernde, unabgeschlossene (und unabschließbare?) Bemü- hen, den anthropos hinsichtlich seines logos zu bestimmen. Historisch jedenfalls können Beispiele benannt werden, an denen dieses Verhältnis zwischen philosophischer Teildisziplin als philoso- phischer Anthropologie und der Philosophie selbst als Bestimmung des anthropos hinsichtlich seines logos expliziert werden kann. Pro- minentestes Beispiel dürfte wohl Kant sein. Zum einen wird sein ge- samtes philosophisches Bemühen umschrieben als einmündend in die Beantwortung der Frage, was der Mensch sei. Zum anderen finden wir als eines seiner Werke auch eine Anthropologie in pragmatischer Ab- sicht vor. Den Stellenwert dieses Werks umschreibt Landmann zurei- chend bösartig: »Die Anthropologie, die Kant veröffentlicht hat, wird seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht und will es auch nicht werden. In Kants Ord- nung der Disziplinen hat nach dem Wesen des Menschen nicht sie, sondern die ›Metaphysik der Sitten‹ zu fragen. Es ist nur eine be- schreibende ethnographisch-psychologische Anthropologie voller Ku- riositäten. Sie soll nicht scholastisch Lehren aus der Schule, sondern solche aus der Welt für die Welt vortragen. In schnurrigem Professo- renjargon werden wir belehrt: ›Der, welcher die berauschenden Ge- tränke in solchem Übermaß zu sich nimmt, daß er die Sinnesvorstel- lungen nach Erfahrungsgesetzen zu ordnen auf eine Zeitlang unver- mögend wird, heißt trunken oder berauscht.‹ Weiterhin erfahren wir, daß die Beine der Frauen durch das Tragen von schwarzen Strümpfen schlanker erscheinen und daß die Seekrankheit nicht auf dem Schwanken unseres eigenen Körpers, sondern darauf beruht, daß un- ser Gesichtssinn infolge des Schwankens des Schiffes die feste Orien- tierung im Raume verliert.« (Landmann 1976: 35 f.) Von diesem »schnurrigen Professorenjargon« unterscheidet sich dann Kants gehaltvolle These, dass anthropologische Überlegungen ge- braucht würden im Begründungszusammenhang von Ethik und Moral, und zwar zum Zweck der Klärung der subjektiven Bedingungen der Ausführung sittlicher Gesetze. Zwar werden so der Anthropologie ein systematischer, wenn auch stark eingegrenzter, Ort und ein bestimm- ter Typus von, wenn auch eher untergeordneten, Fragestellungen zu- gewiesen; es bleibt aber offen, inwiefern es sich dann um eine philo- sophische Anthropologie handelt oder gar handeln muss: Denn auch die Psychologie und andere empirische Wissenschaften können ge- haltvolle Beiträge leisten zur Identifizierung subjektiver Eigenschaf- ten, Vermögen und Fähigkeiten, die ein sittliches Handeln ermögli- chen (oder verhindern). Vergleichbar finden wir heute anthropologi- sche Überlegungen etwa im Begründungszusammenhang der Diskurs- Buch_Plessner_alles.fm Seite 18 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14 19 Philosophische Anthropologie als systematische Philosophie – Anspruch und Grenzen eines gegenwärtigen Denkens ethik, wenn dort auf Ergebnisse der Kognitionspsychologie (Kohl- berg) zurückgegriffen wird, um den Entwicklungsstand moralischer Fähigkeiten von Individuen zu beurteilen; oder um die begrifflich-sy- stematischen Probleme zu bewältigen im Übergang vom Grundle- gungs- zum Anwendungsteil der Diskursethik (vgl. Apel/Niquet 2002). In all diesen Fällen bleibt aber der Anthropologie günstigsten- falls der Status einer philosophischen Teildisziplin und Hilfswissen- schaft. Demgegenüber scheinen mir die Ansprüche gegenwärtiger an- thropologischer Diskurse wesentlich stärker zu sein – zumindest wird dies nahegelegt durch Referenzautoren wie insbesondere Helmuth Plessner. Denn dieser beanspruchte eben nicht als Philosoph auch ei- ne philosophische Anthropologie zu schreiben – so wie Kant eben auch noch eine Anthropologie geschrieben hat –, sondern Philosophie systematisch als Philosophische Anthropologie zu betreiben. 7 Unterscheidet man in diesem Sinne philosophische Anthropologie als Teildisziplin irgend einer systematischen Philosophie von Philoso- phischer Anthropologie als selbst systematischer Philosophie, dann besteht für Philosophische Anthropologie sofort ein möglicherweise gar aporetisches Anfangsproblem. »So ist – trotz aller modischen Einkleidungen, in denen sie auftritt – die Anthropologie doch keine Mode, sondern eine im Wesen der Neu- zeit angelegte Weise, die Frage nach dem Anfang der Philosophie zu stellen. Wird aber, in verkürzter Sicht, als vermeintlicher Gegenstand dieses Fragens der Mensch oder der Mensch genommen (und nicht das menschliche Verhältnis zur Welt), so verfehlt die Anthropologie ihr ei- gentliches Problem.« (Holz 1998: 13) 8 Die Aporie besteht also darin, dass Philosophische Anthropologie nur dann sinnvoll möglich zu sein scheint, wenn sie gerade nicht zuerst nach dem Menschen fragt und zwar weder nach dem Menschen noch nach dem Menschen 9 ; auch dies wieder im Unterschied zur philoso- phischen Anthropologie, die ihren Gegenstand als schon von anderem Wissen irgend wie bestimmten vorfindet. Würde Philosophische An- 7 | Wird im Folgenden von ›Philosophischer Anthropologie‹ gesprochen, so geht es um Konzepte, die genau einen solchen systematischen Anspruch erhe- ben, als Philosophische Anthropologie nichts anderes als Philosophie selbst und als solche zu sein. Im Unterschied eben zu philosophischer Anthropologie, die als Teildisziplin der Philosophie sich auf einen ihr vorgängigen und nicht von ihr bestimmten Gegenstand bezieht. Insofern finden wir philosophische Anthropologien im Existenzialismus, der Hermeneutik, der Lebensphiloso- phie(n), der dialektischen Philosophie usw. Dagegen ist es begrifflich widersin- nig von einer hermeneutischen Philosophischen Anthropologie, einer dialekti- schen Philosophischen Anthropologie usw. zu sprechen. 8 | Vgl. Holz (2003). Buch_Plessner_alles.fm Seite 19 Mittwoch, 6. April 2005 2:36 14