Universitätsverlag Göttingen Dirk Koob Sozialkapital zur Sprache gebracht Eine bedeutungstheoretische Perspektive auf ein sozialwissenschaftliches Begriffs- und Theorieproblem Dirk Koob Sozialkapital zur Sprache Except where otherwise noted, this work is licensed under a Creative Commons License erschienen im Universitätsverlag Göttingen 2007 Dirk Koob Sozialkapital zur Sprache gebracht Eine bedeutungstheoretische Perspektive auf ein sozialwissenschaftliches Begriffs- und Theorieproblem Universitätsverlag Göttingen 2007 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar Kontakt: Priv.-Doz. Dr. Dirk Koob e-mail: dirk_koob@web.de Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den OPAC der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar und darf gelesen, heruntergeladen sowie als Privatkopie ausgedruckt werden Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Es ist nicht gestattet, Kopien oder gedruckte Fassungen der freien Onlineversion zu veräußern. Satz und Layout: Dirk Koob Umschlaggestaltung: Kilian Klapp © 2007 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-938616-79-6 "Nehmen wir ein Wort, das auf einen Gegenstand hin- weist – 'Schirm' zum Beispiel. Wenn ich das Wort 'Schirm' ausspreche, sehen Sie im Geiste das Ding. ... Ein Schirm ist nicht nur ein Ding, er ist ein Ding, das eine Funktion erfüllt – mit anderen Worten, den Willen des Menschen ausdrückt. Wenn Sie darüber nachdenken, äh- nelt jeder Gegenstand insofern dem Schirm, als er einer Funktion dient. Ein Bleistift ist zum Schreiben da, ein Schuh zum Tragen, ein Auto zum Fahren. Meine Frage lautet nun: Was geschieht, wenn ein Ding nicht mehr seine Funktion erfüllt? Ist es noch das Ding, oder ist es etwas anderes geworden? Ist der Schirm noch ein Schirm, wenn Sie den Stoff herunterreißen? Sie öffnen das Gestell, halten es über den Kopf, gehen in den Regen hinaus und werden naß. Ist es möglich, diesen Gegen- stand noch einen Schirm zu nennen? Im allgemeinen tun es die Leute. Allenfalls werden sie sagen, der Schirm sei kaputt. Für mich ist das ein schwerwiegender Fehler, die Quelle aller unserer Nöte. Da er seinem Zweck nicht mehr dienen kann, hat der Schirm aufgehört ein Schirm zu sein. ... Und wenn wir nicht einmal einen gewöhn- lichen, alltäglichen Gegenstand benennen können, den wir in der Hand halten, wie wollen wir dann von Dingen sprechen, die uns wirklich etwas angehen?" (Paul Auster, Stadt aus Glas) 7 Inhalt Vorwort .................................................................................................................................... 11 Abstract .................................................................................................................................... 13 1. Einleitung............................................................................................................................. 15 Ausgangsproblem (15), Zielsetzung und Vorgehensweise (17), Forschungsoutput und -nutzen (23) 2. Forschungsstand und Forschungslücke.......................................................................... 25 Mikro- und makrosoziologisches Begriffsverständnis (27), Vorliegende Beiträge zur Begriffsdebatte (33), Originalität der durchzuführenden Begriffs- und Theorienanalyse (38) 3. Präzisierung von Fragestellung und Vorgehensweise .................................................. 41 Bedeutung als Problem der Sprache (42), Erläuterungen zur ontologischen Fragedimension (45), Zusammenfassung und ergänzende Hinweise (48) I. Grundlagenteil: Entwicklung eines Analyseinstrumentariums als "kleine" analytische Sprachphilosophie der Sozialwissenschaften........53 4. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Grundlagenteil ................................ 59 4.1. Zum Zusammenhang von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.......... 60 4.2. Linguistisches wissenschaftliches Erkenntniskonzept ............................... 64 Die analytisch-synthetisch-Dichotomie (64), Signifikanzkriterium und Zweistufenkonzept (67) 4.3. (Neo-) Strukturalistisches wissenschaftliches Erkenntniskonzept ........... 70 Verwerfung der analytisch-synthetisch-Dichotomie (71), T-Theoretizität (72), Mengentheoretische Theoriendarstellung (75), Methode der Rationalen Rekonstruktion (80) 4.4. Der Moderate Strukturalismus ....................................................................... 84 4.4.1. Abweisung einer Eliminierung T-theoretischer Terme............ 85 Die Theoriebeladenheit der Erfahrung (87), Die Propositionalität und Synthetizität des Wissens (90), Die Hypothesentheorie der (sozialen) Wahrnehmung und der Radikale Konstruktivismus (92) 4.4.2. Theorieanwendung als Kompatibilitätsprüfung ........................ 97 4.4.3. Strukturalismus als Aussagenkonzeption und Vereinfachung der mengentheoretischen Rekonstruktionsweise...... 100 4.4.4. Zusammenfassung.......................................................................... 103 4.4.5. Ausblick auf die Theorienanalyse ................................................ 106 8 5. Ontologischer Grundlagenteil.......................................................................................... 111 5.1. Sein und Letztbegründungen.......................................................................... 113 5.2. Sprache und Realität ........................................................................................ 116 Das Linguistische Relativitätstheorem (117), Der Quinesche Holismus (118), Begriffs-/Weltbildrelativismus (121), Sein als Wert einer gebundenen Variable (123) 5.3. Bedeutung und Sprache................................................................................... 127 Bedeutung und Bezug (129), Bedeutung und Struktur (133), Bedeutung und Gebrauch (135), Bedeutung und Sprechakte (138), Bedeutung und konstitutive Regeln (141), Bedeutung und sinnhaftes Handeln (144), Zusammenfassung (147) 5.4. Bedingungen der Möglichkeit sozialer Realität: Sprachphilosophische Perspektive ................................................................................................................ 149 Beobachterrelativität und ontologische Subjektivität (150), Intentionalität, Funktionszuweisung und institutionelle Tatsachen (152), Die sprachlogische Struktur institutioneller Tatsachen (154), Zusammenfassung (156) 5.5. Bedingungen der Möglichkeit sozialer Realität: Wissenssoziologische Perspektive ................................................................................................................ 160 Objektivation (162), Externalisierung (166), Internalisierung (168), Zusammenfassung (170) 5.6. Der Bedeutungskonstruktivismus.................................................................. 171 Komplementarität der Ontologien (171), Verfügbarmachung der Ontologien (173) 5.7. Exkurs: Zur ontologischen Argumentationsweise...................................... 177 Phänomenologische Argumentation (178), Sprachanalytische Argumentation (183) 6. Zwischenbilanz: Was Wissen und Bedeutung mit der sozialen Welt machen ......... 187 II. Anwendungsteil: Analyse ausgewählter Sozialkapitalbegriffe / -konzepte und integrative Begriffs- und Theoriebildung....................... 195 7. Einführende Bemerkungen zur Vorgehensweise.......................................................... 199 7.1. Sozialkapital und gesellschaftliche Position: Das Konzept Pierre Bourdieus .................................................................................................................. 207 Definition (207), Ebene (210), Lokalisierung (211), Entstehung (211), Wirkung (213), Operationalisierung (214), Wissenschaftstheoretischer Status (214), Strukturalistische Darstellung (217) 9 7.2. Sozialkapital und schulischer Erfolg: Das Konzept James S. Colemans. 227 Definition (228), Ebene (231), Lokalisierung (232), Entstehung (233), Wirkung (235), Operationalisierung (236),Wissenschaftstheoretischer Status (237), Strukturalistische Darstellung (239) 7.3. Sozialkapital und Bürgergesellschaft: Das Konzept Robert D. Putnams..................................................................................................................... 244 Definition (245), Ebene (250), Lokalisierung (251), Entstehung (252), Wirkung (253), Operationalisierung (257), Wissenschaftstheoretischer Status (259), Strukturalistische Darstellung (263) 7.4. Sozialkapital und beruflicher Erfolg: Das Konzept der Netzwerktheoretiker................................................................................................ 269 Definition (269), Ebene (271), Lokalisierung (271), Entstehung (272), Wirkung (273), Operationalisierung (275), Wissenschaftstheoretischer Status (277), Strukturalistische Darstellung (277) 8. Eine integrative Theorie über Sozialkapital und Bestimmung des ontologischen Status......................................................................................................................................... 283 8.1. Sozialkapitalbegriff und theoretisches Aussagensystem............................. 283 Definition (286), Ebene (298), Lokalisierung (300), Entstehung (303), Wirkung (306), Operationalisierung (313), Wissenschaftstheoretischer Status (313), Strukturalistische Darstellung (314) 8.2. Sozialkapitalbegriff und sozialer Gegenstand .............................................. 321 Sozialkapital und "innere" Sprechakte (322), Sozialkapital und vorwissenschaftliche Theorie (324), Sozialkapital und sprachlogische Struktur (327), Sozialkapital und Bedeutungsnormativität (333), Sozialkapital und Externalisierungen (341) 9. Epilog ................................................................................................................................... 351 9.1. Zusammenfassende Ergebnisbewertung ...................................................... 351 9.2. Ausblick auf anknüpfende Forschungsfragen ............................................. 357 Literatur.................................................................................................................................... 363 10 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Eine Begriffsanalyse von "Sozialkapital" .................................................... 22 Abbildung 2: Projektdesign................................................................................................... 52 Abbildung 3: Wissenschaftstheorie zwischen Erkenntnis- u. Gegenstandstheorie ..... 64 Abbildung 4: Das Zweisprachen-/Zweistufenkonzept Carnaps .................................... 70 Abbildung 5: Erkenntnis als Syntheseleistung ................................................................... 103 Abbildung 6: Bedeutungskonstitution sprachlicher Zeichen und Äußerungen ........... 148 Abbildung 7: Searles Ontologie institutioneller Tatsachen.............................................. 157 Abbildung 8: Berger/Luckmanns Ontologie institutioneller Tatsachen ....................... 170 Abbildung 9: Die Zirkularität institutioneller Wirklichkeit.............................................. 192 Abbildung 10: Richtung der Theorienintegration ............................................................. 206 Abbildung 11: Die Funktionalität von Sozialkapital ......................................................... 310 Abbildung 12: Eine sprachphilosophische Ontologie des Sozialkapitals ...................... 331 Abbildung 13: Eine wissenssoziologische Ontologie des Sozialkapitals ....................... 349 Abbildung 14: Alltagssprache, Sozialkapital und Wissenschaftssprache ....................... 357 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Bourdieus Sozialkapitalkonzept ......................................................................... 217 Tabelle 2: Colemans Sozialkapitalkonzept.......................................................................... 240 Tabelle 3: Putnams Sozialkapitalkonzept............................................................................ 265 Tabelle 4: Netzwerkanalytisches Sozialkapitalkonzept ..................................................... 278 Tabelle 5: Gemeinsamkeiten der rekonstruierten Sozialkapitalkonzepte ...................... 315 Tabelle 6: Sozialwissenschaftliche Semantik und Ontologie des Sozialkapitals ........... 355 Vorwort Vorwort Die Idee zur vorliegenden Untersuchung entstammte meiner Mitarbeit an einem internationalen Forschungsprojekt zur vergleichenden Analyse von innovativen Kooperationsformen in der dezentralen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in Europa. Die diversen wie dispersen Forschungsinteressen bzw. -traditionen und – wie man wohl auch sagen darf - Eitelkeiten der einzelnen Teilnehmerteams machte eine einheitliche konzeptionelle Ausrichtung, die doch unabdingbar für einen systematischen und sinnvollen Vergleich gewesen wäre, schon nach kurzer Zeit unmöglich. Da dem deutschen Team die verantwortliche Leitung des Projektes oblag, be- stand unsererseits aber ein großes Interesse daran, dem Auftrag- und Geldgeber theoriegeleitete, kohärente und vergleichbare Ergebnisse zu präsentieren. Zu die- sem Zweck erwies sich der Sozialkapitalbegriff als äußerst nützliches Instrument. Zum einen wurde er von der auftraggebenden Institution selbst verwendet. Damit war es schlichtweg opportun, sich dieses Ausdrucks zu bedienen. Zum anderen wurde (und wird) der Begriff relativ vage und heterogen bestimmt; er war (und ist nach wie vor) offen für vielfältige Interpretationen. Jedes an dem oben genannten Forschungsprojekt teilnehmende Team sah sich dementsprechend in die Lage versetzt, seine eigenen konzeptionellen Vorstellungen irgendwie hierunter zu sub- summieren. "Sozialkapital" bildete gewissermaßen ein Dach, das jeder For- schungsausrichtung ausreichend Schutz bot. Was unter kooperationsstrategischen Aspekten betrachtet zweifellos als glück- liche Fügung (bzw. als geschickter Schachzug des Projektleiters) anzusehen war, konnte wissenschaftlich – und dies bedarf sicherlich keiner näheren Begründung - wenig zufrieden stellen. Insofern erschien es mir mit Blick auf die Erzielung sozi- alwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts ausgesprochen sinnvoll, mich auf de- zidiert metatheoretischer Grundlage mit dem Sozialkapitalbegriff und den theore- Vorwort 12 tischen Aussagensystemen, in denen er auftaucht, auseinanderzusetzen, um so zu versuchen, einen fundierten wie kommunikativ notwendigen Konsensvorschlag für Begriff und Theorie vorzulegen. Damit wird nun aber innerhalb dieser Untersuchung ein Zugang zur Sozialka- pitalthematik gewählt, der so bislang in der Literatur nicht zu finden ist und daher als desiderat gelten darf. Meiner Beobachtung zu Folge setzen sich erfahrungswis- senschaftliche Fachvertreter – gleich welcher Provenienz – i.d.R. allenfalls notge- drungen denn freiwillig mit philosophischen Metareflexionen auseinander. Die entsprechenden Inhalte scheinen schwer verständlich, trocken und mithin nicht wirklich etwas mit den eigentlichen Fachproblemen zu tun zu haben. Insbesonde- re erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Überlegungen sind aber eine uner- lässliche Vorbedingung jeden vernünftigen wissenschaftlichen Arbeitens. Ohne eine sinnvolle, exakte und konsensuale Festlegung von Begriffen muss unsere Kommunikation zwangsläufig missverständlich bleiben; wissenschaftlicher Fort- schritt wird behindert. Freilich bin ich mir der mit interdisziplinär angelegten Untersuchungen viel- fach verbundenen Kosten bewusst. Zwar betont heutzutage nahezu jede Wissen- schaftseinrichtung die Notwendigkeit und den Nutzen von Interdisziplinarität; aber wenn es um die Kommentierung entsprechender Arbeiten geht, dann finden die jeweiligen Fachvertreter reichlich Veranlassung zur Kritik. So mag etwa der Soziologe eine (aus seiner Sicht) nicht weit genug reichende Beachtung soziologi- scher Klassiker, der Philosoph eine nicht durchgängige sprachanalytische Orien- tierung, der Psychologe einen zu starken Einbezug phänomenologischer Überle- gungen oder der Politologe eine lediglich marginale Anbindung an öffentliche Diskurse beklagen. Aus meiner Sicht kann Interdisziplinarität jedoch nicht heißen, es allen Fachvertretern Recht zu machen. Wie sollte dies in Anbetracht der immer stärker zunehmenden Ausdifferenzierung einzelwissenschaftlicher Teilbereiche auch möglich sein? Das Fruchtbare einer interdisziplinären Perspektive erweist sich vielmehr in dem innovativen Blick auf festgefahrene Probleme oder in der Formulierung und Beantwortung weiterführender, bislang so noch nicht gestellter Fragen. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle beim sozialwissenschaftlichen Metho- denzentrum und dem Graduiertenkolleg "Die Zukunft des Europäischen Sozial- modells" der Georg-August-Universität Göttingen sowie insbesondere bei Profes- sor Ulrich Druwe und Professor Wolfgang Knöbl für ihre konstruktive Kritik und hilfreichen Hinweise. Für die Inhalte dieser Arbeit bin ich freilich alleine verant- wortlich. Göttingen im März 2006 Dirk Koob Abstract Abstract Ausgangsüberlegung, Ziel und Gang der Untersuchung "Sozialkapital" hat seit geraumer Zeit Konjunktur. Sowohl namhafte Sozialwissen- schaftler, etwa Robert D. Putnam oder Anthony Giddens, als auch internationale politische Institutionen, wie die Weltbank oder die OECD, haben den Begriff an eine exponierte Stelle ihrer Agenda gesetzt. Ein Blick auf die vorliegende Literatur zur Thematik offenbart allerdings eine semantisch-theoretische Ambiguität und Heterogenität, die vor dem Hintergrund der Bemühungen um wissenschaftlichen Fortschritt als problematisch zu kennzeichnen ist. Die Frage nach der Bedeutung von "Sozialkapital" lässt sich bislang weder konsensual noch kohärent beant- worten. Ausgangspunkt meiner Beschäftigung mit der Sozialkapitalthematik ist damit eine Bedeutungsvarianz, und insofern ein begriffstheoretisches Problem. Will man im Anschluss an diese Diagnose den Versuch einer klärenden Analyse unterneh- men, so muss man sich den Begriff dort anschauen, wo er vorkommt, d.h. inner- halb elaborierter theoretischer Aussagensysteme; diese legen die Bedeutung von "Sozialkapital" fest und propagieren bestimmte Erkenntnisse über den so be- zeichneten Gegenstand. Damit wird die Einnahme bzw. Konstruktion einer meta- theoretischen Perspektive erforderlich, denn Objekt der Analyse ist nun ein sozi- alwissenschaftliches Konstrukt mitsamt der ihm Bedeutung verleihenden sprachli- chen Konzepte. Über eine Rationale Rekonstruktion schulenbildender Konzepte (namentlich der von Pierre Bourdieu, James S. Coleman, Robert D. Putnam und Ronald S. Burt) gilt es zunächst herauszuarbeiten, welche semantische Vielfalt derzeit mit "Sozialkapital" verknüpft ist und welche sozialwissenschaftlichen Probleme sich über das Konstrukt beschreiben und erklären lassen. Eine systematische synopti- Abstract 14 sche Gegenüberstellung auf Grundlage wissenschaftstheoretischer Kriterien soll dann in eine integrative Begriffs- und Theoriebildung münden, um so vor dem Hintergrund der Diskussion um wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt einen präzisen, einheitlichen sowie regelgeleiteten begrifflichen Gebrauch im Rahmen einer weitgehend axiomatisierten Theorie zu ermöglichen. Im Anschluss daran ist zusätzlich zu prüfen, ob es vor dem Hintergrund gebrauchstheoretischer Überlegungen hinsichtlich sprachlicher Bedeutung über- haupt sinnvoll ist, das, was von mir schließlich als "Sozialkapital" bezeichnet wird, als Kapitalform auszuweisen. Eine Bedeutungsanalyse hat daher zu klären, inwie- fern das Ergebnis der Begriffsexplikation der empirisch feststellbaren Verwen- dungsweise von "Kapital" gerecht wird. Sollte es bspw. nicht möglich sein, einen Eigentümer für Sozialkapital zu bestimmen, dann wäre zu fragen, warum dann überhaupt von einer Kapitalform die Rede ist. Damit ist aber zugleich deutlich, dass begriffliche und theoretische Probleme im vorliegenden Kontext keinesfalls nur etwas mit dem wissenschaftlichen Er- kenntnisproblem zu tun haben. Wer nach der Bedeutung eines Begriffes fragt, gelangt i.d.R. geradewegs zu dem Gegenstand, der über den Begriff bezeichnet wird. Der Zusammenhang zwischen Begriff und Gegenstand ist aber insbesondere auch von ontologischem Interesse: "Sozialkapital" bezeichnet etwas, was es gibt. Dieses Etwas – so meine Argumentation – verdankt seine Existenz sprachlichen Ordnungsprozessen. Wie verhalten sich nun diese gegenstandskonstitutiven Pro- zesse zu dem Begriff, der den Gegenstand bezeichnet? Zur Beantwortung dieser Frage wird man sich zunächst mit allgemeinen Überlegungen zu einer Ontologie des Sozialen beschäftigen müssen, um diese dann problemspezifisch anzuwenden. Ein integratives Theoriemodell über Sozialkapital, das über solche ontologischen Reflexionen angereichert wird, ist geeignet, unser Wissen insbesondere hinsicht- lich der Entstehungsbedingungen des Gegenstandes zu vertiefen. Durch die vorgeschlagene Analyse kann der wissenschaftliche Reifegrad der Sozialkapitaldebatte erheblich gesteigert werden. Indem " Sozialkapital zur Sprache gebracht" wird, lässt sich eine wissenschaftstheoretischen Anforderungen genü- gende, integrative Begriffs- und Theoriebildung vornehmen. Über sich anschlie- ßende ontologische Überlegungen führt dies dann zu einer Präzisierung des Ob- jektbereiches. So kann in der Art einer logischen Propädeutik geklärt werden, was sich mit "Sozialkapital" überhaupt vernünftigerweise sagen lässt. 1. Einleitung 1. Einleitung Ausgangsproblem "Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner!" Sicherlich ist jeder schon einmal dieser Aussage begegnet – hat sie gehört oder selbst ausgesprochen. Menschen artikulie- ren mit ihr ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber ihren Nächsten. Wir können bestimmt alle einige Situationen anführen, in denen ein solches Misstrauen ganz offensichtlich seine Berechtigung besaß. Dennoch sind wir wohl nicht minder häufig in der Lage, von Fällen zu berichten, in denen man uns sogar Hilfe anbot, ohne dass damit wirklich zu rechnen gewesen wäre. U.a. in solchen Fällen greifen wir auf etwas zurück, was in der Sprache der Sozialwissenschaften heute oftmals als "Sozialkapital" bezeichnet wird. "Sozialkapital" ist einer der derzeit am heftigsten diskutierten sozialwissen- schaftlichen Begriffe (vgl. Kapitel 2). Ganz grundlegend wird hierüber ein auf den ersten Blick relativ trivial erscheinender und im Alltag als selbstverständlich hin- genommener Aspekt menschlichen Zusammenlebens thematisiert: Menschen unterstützen sich gegenseitig. Oder, aus einem anderen Blickwinkel heraus formu- liert: Individuen ziehen Nutzen aus ihren Sozialkontakten. Folgt man dem wohl populärsten Sozialkapitalexponenten, Robert D. Putnam, dann haben die Sozial- wissenschaften dank des Begriffs sogar "the key to making democracy work" ent- deckt (Putnam 1993: 185). Gemäß Putnam wird "aus einer Vielzahl von Gründen ... das Leben in einer Gemeinschaft leichter, wenn sie über einen substantiellen Bestand an Sozialkapital verfügt" (Putnam 1999: 29). Trotz dieser nahezu euphorischen Einschätzung handelt es sich bei der Sozial- kapitaldebatte um einen noch relativ jungen sowie – was weiter unten zu belegen sein wird - heterogen bzw. bisweilen diffus strukturierten wissenschaftlichen Be- reich, "in dem", so der angesprochene Putnam selbst, "ernsthafte Forschungspro- 1. Einleitung 16 gramme eben erst eingeleitet werden" (Putnam/Goss 2001: 40). Michael Taylor (1993: 73) sprach vor gut 10 Jahren sogar noch von "still very embryonic claims that have recently been made on behalf of 'social capital'". In einer aller ersten Annäherung lassen sich auf Basis der vorliegenden Litera- tur grob zwei begriffliche Bedeutungen identifizieren, die im Kontext unterschied- licher Wirkungsargumentationen auftauchen: 1. Insbesondere der schon angesprochene Robert D. Putnam verwendet den Begriff vorwiegend auf der makrosoziologischen Ebene. "Sozialkapital" be- schreibt dabei zusammenfassend zwischenmenschliche Vernetzung, gegensei- tiges Vertrauen und Normen generalisierter Reziprozität innerhalb von Ge- meinschaften. Die zentrale Behauptung lautet: Je höher der Bestand an Sozi- alkapital eines Kollektivs (also etwa: je zahlreicher die Bürger eines Staates in Vereinen organisiert sind, je stärker das Vertrauen, das die Bürger sich unter- einander aber auch den politischen Institutionen entgegenbringen und je mehr Normen effektiv auf kooperatives Handeln hinwirken), desto "besser" die demokratische und ökonomische Performanz dieses Kollektivs. 2. Netzwerktheoretiker wie bspw. Ronald S. Burt (z.B. 1999) verorten Sozialka- pital hingegen weitgehend auf der mikrosoziologischen Ebene. "Sozialkapital" bezieht sich hier auf die in Beziehungsrelationen eingebetteten Ressourcen, mit deren Hilfe Individuen ihre Ziele verwirklichen. Umgangssprachlich wür- de man wohl von "Vitamin B" (Vitamin Beziehung) sprechen. "The human capital explanation is that the people who do better are better people (smarter, more attractive, more skilled etc.). The social capital explanation is that the people who do better are better connected." (ebenda: 48) In zahlreichen Stu- dien konnte auf Basis dieser Begriffsfassung bspw. immer wieder die Nütz- lichkeit von Sozialkontakten bei der Jobsuche nachgewiesen werden. Sozialforscher sehen sich heute also verschiedenen Verständnisweisen von und Theorien bzw. Konzepten über Sozialkapital gegenüber 1 . Nach Alejandro Portes (1998: 2) nähert sich die Debatte einem Punkt an, "at which social capital comes to be applied to so many events and in so many different contexts as to lose any distinct meaning". Vor der Durchführung einer empirischen Analyse steht daher notwendigerweise zunächst der Blick auf vorhandene Gebrauchsweisen, dann die Entscheidung für eine Bedeutungsvariante und abschließend eine untersuchungs- orientierte Begriffspräzisierung. (Kromrey [2000: 130ff.] spricht für die Sozialfor- schung in diesem Zusammenhang allgemein von einer "semantischen Analyse".) So kann man sich etwa zur Betrachtung der Effizienz kommunalpolitischen Ver- waltungshandelns des Putnamschen Verständnisses bedienen und dabei den analy- tischen Schwerpunkt auf das institutionelle Vertrauen der Bürger richten, während 1 Zu diesem Zeitpunkt der Argumentation spreche ich hinsichtlich von elaborierten Ausarbeitungen zu Sozialkapital wahlweise von "Theorien", "Konzepten", "Ansätzen" oder "Aussagensystemen"; der tatsächliche wissenschaftstheoretische Status wird später genauer zu bestimmen sein. 1. Einleitung 17 man zugleich bürgerschaftliche Assoziationsformen weniger stark gewichtet und normative Komponenten weitgehend ausblendet 2 Bei einer solchen Vorgehensweise handelt es sich aber um den Idealfall. Viele Wissenschaftler, die heute mit dem Sozialkapitalbegriff arbeiten, kommen dieser Minimalforderung nicht nach; sie argumentieren implizit auf Grundlage von Real- definitionen oder behandeln begriffliche Probleme allenfalls am Rande, ganz so, als gäbe es verschiedene definitorische Bestimmungen sowie konzeptionelle Pro- bleme überhaupt nicht 3 . In einer Disziplin, die um die Erzeugung wissenschaftli- chen Erkenntnisfortschritts bemüht ist, kann dieser Zustand nicht als befriedigend angesehen werden. Zur Verbesserung der wissenschaftlichen Kommunizierbarkeit eines Begriffes ist eine konsensuale Verwendungsweise wünschenswert bzw. sinnvoll – auch in der Chemie und der Physik versteht man ja bspw. unter "Gravitation" grundle- gend dasselbe. Diese Disziplinen werden gerade auch wegen eines nahezu durch- gängigen, nicht zuletzt dank mathematisch-logischer Formulierungen erzielten, einheitlichen Begriffsinventars als "reife" Wissenschaften bezeichnet. Wer aber etwa innerhalb der Soziologie einen Berufs-, einen Bildungs- und einen Wohl- fahrtsstaatsforscher nach der Definition von "Sozialkapital" befragt, der dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit voneinander abweichende Antworten erhalten. Dieses Problem verschärft sich zusehends, da mittlerweile nicht nur Soziologen, sondern ebenso Politikwissenschaftler, Pädagogen, Volks- und Betriebswirtschaftler, His- toriker sowie Philosophen über "Sozialkapital" reden. Zielsetzung und Vorgehensweise Vor diesem Hintergrund möchte ich innerhalb der vorliegenden Untersuchung grundlegende Fragen im Vorfeld der Anwendung von "Sozialkapital" klären. Inso- fern richtet sich der Fokus hier auf sprachliche Aspekte wissenschaftlichen Er- kenntnisfortschritts. Dabei soll es aber nicht in der Tradition Poppers, Lakatos oder Stegmüllers unmittelbar um einen kumulativen oder evolutionären Fort- 2 Vgl. bspw. Cusack 1999. 3 Ohne jeglichen Bezug zu vorliegenden theoretischen Erörterungen behauptet etwa Immerfall (1999: 121): "Sozialkapital sind Vertrauens-Vorleistungen von Gruppenmitgliedern für und in ihren sozialen Beziehungen." Für Gehmacher (2004: 2) fallen ohne Angabe von Gründen oder Quellen "Liebe, Verbundenheit und Vertrauen" sowie "das Wesen und das Funktionieren von Gesellschaft überhaupt" (ebenda: 4) unter den Begriff. Zugleich soll Sozialkapital eine "soziale Kraft" sein, die aus "Bindungen – Normen – Vertrauen" "besteht" (ebenda: 11). Ist Vertrauen damit Sozialkapital, nur ein Bestandteil davon oder sogar beides? Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang auch auf einen viel zitierten Artikel von Knack/Keefer (1997) verwiesen werden. Zu Beginn heißt es dort lediglich: "Trust, cooperative norms, and associations within groups each fall within the elastic definitions that most scholars have applied to the term social capital." (ebenda: 1251f.) Es genügt den Autoren, Vertrauen und zivilgesellschaftliche Normen als Gegenstände zu identifizieren, auf die Coleman und Putnam den Sozialkapitalbegriff anwenden, um ihre umfangreichen statistischen Analysen zu begin- nen. Es bleibt völlig unklar, wozu hier überhaupt der Sozialkapitalbegriff notwendig sein soll; eine Verbindung zwischen Theorie und Messung wird nicht geleistet. 1. Einleitung 18 schritt in der empirischen Gegenstandsbeschreibung bzw. –erfassung gehen. Es ist gerade kennzeichnend für die Sozialkapitaldebatte, dass ein gemeinsamer Gegen- standsbereich nur schwer auszumachen ist. Thomas Kuhn würde sicherlich von einer "vor-paradigmatischen Phase" sprechen. Bei Alan F. Chalmers (2001: 89) heißt es allgemein: "Die typische Geschichte eines Begriffes, ob es sich nun um den Begriff 'chemisches Element', 'Atom' oder 'das Unbewusste' handelt, beginnt zunächst einmal mit einer vagen Vorstellung, die dann erst allmählich in dem Ma- ße deutlich wird, in dem die Theorie, deren Bestandteil er ist, eine präzisere und kohärentere Form annimmt." Der Versuch, eine solch "präzisere und kohärentere Form" nicht nur für einen Begriff von, sondern damit (wie noch deutlich werden wird) automatisch auch für eine Theorie über Sozialka- pital herbeizuführen, kennzeichnet nun mein Forschungsinteresse. Aus Gründen der Syste- matik erfordert dies das Aufsuchen eines metatheoretischen Analyseortes: Der Gegenstandsbereich wird zunächst einmal durch den sozialwissenschaftlichen Sozialkapitalbegriff und theoretische Aussagensysteme, in denen dieser Begriff eingebettet ist, konstituiert. Die Notwendigkeit der Einnahme einer solchen For- schungsperspektive resultiert aus der derzeit nicht zufriedenstellend beantwortba- ren, grundlegenden Fragestellung dieser Untersuchung: Was bedeutet "Sozialkapi- tal"? Eine Begriffsexplikation soll den heterogen bzw. unscharf verwendeten Sozi- alkapitalbegriff durch eine einheitliche, präzise und weitgehend axiomatisierte Variante ersetzen, um so eine Annäherung an ein Idealbild exakter Wissenschaft- lichkeit in diesem Bereich und das heißt eine Erhöhung des begrifflichen und theoretischen Reifegrades zu erzielen. Begriffsexplikationen sind aber – und das wurde gerade auch über die letzte Formulierung thematisiert - ohne die Beschäftigung mit Aussagensystemen nicht durchführbar. Wissenschaftliche Begriffe sind als theoretische Konstrukte zu kennzeichnen; ihre Bedeutung wird durch den semantischen Kontext bestimmt, in dem sie vorkommen. Ob man mit "Sozialkapital" etwa eine Hilfestellung, ein Be- ziehungsnetzwerk oder Vertrauen konzeptualisiert, hängt davon ab, was ein Theo- riekonstrukteur zum Ausdruck bringen und welche Erkenntnisse er über die Wirk- lichkeit systematisiert darstellen möchte. Um nun eine einheitliche begriffliche Verwendungsweise herbeizuführen, sol- len bestehende Sozialkapitalkonzepte auf Grundlage eines wissenschaftstheoreti- schen Kriterienkatalogs rekonstruiert und synoptisch gegenübergestellt werden. Ausgehend von identifizierbaren Gemeinsamkeiten lässt sich dann auch ein Vor- schlag für eine integrative und systematisch weiterentwickelte Theorie ausarbei- ten 4 ; "in diesem Fall besteht die Begriffsexplikation also in der Aufstellung einer 4 In der "massiven Konkurrenz der Theorien spielen wissenschaftstheoretische Fragen eine erhebli- che Rolle, Fragen also zu den Voraussetzungen und Charakteristika von Wissenschaft und wissen- schaftlicher Theoriebildung." (Joas/Knöbl 2004: 15) Die grundlegenden Methoden für einen Theo- rienvergleich können also nicht aus der Erfahrungswissenschaft Soziologie, sondern nur aus der - deren Praxis reflektierender - Formalwissenschaft Wissenschaftstheorie stammen. Matthes (1978: 14)