Dörfer und Deputierte Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 57 2012 Böhlau Verlag Wien Oldenbourg Verlag München Thomas Stockinger Dörfer und Deputierte Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise) 2012 Böhlau Verlag Wien Oldenbourg Verlag München Gedruckt mit der Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und die MA 7 – Kulturamt der Stadt Wien, Wissenschaftsförderung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78815-7 (Böhlau Verlag) ISBN 978-3-486-71275-9 (Oldenbourg) Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien, Köln, Weimar http ://www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung: Stimmzettel von der Hauptwahl in Perchtoldsdorf am 21. Juni 1848. Aufschrift: Franz Wanbacher von Lainz ist ein Bauer, und ist gwelt als Deputirter . Rechts unten Stempel des Kreisamts unter dem Wienerwald. HHStA, ÖRT Kt. 1, Fasz. I/3. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Satz: Thomas Stockinger Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln I Vorwort Dieses Buch ist eine gründlich überarbeitete Fassung meiner im Jahr 2010 am Institut für Geschichte der Universität Wien approbierten Dissertation. Gegenüber der damaligen Fassung sind ergänzende Quellen und Literatur eingearbeitet sowie der gesamte Text durch- gesehen worden. Insbesondere sind die Erträge eines erneuten Forschungsaufenthalts in Paris im Januar und Februar 2011 eingeflossen, die in etlichen Punkten Unsicherheiten der bisherigen Rechercheergebnisse beheben konnten. Die substantiellen Resultate der Studie sind allerdings weiterhin dieselben. Die Dissertation entstand über einen Zeitraum von ungefähr einem Jahrzehnt. Zu den wichtigsten Zielen der Überarbeitung zählte die Aktualisierung der ältesten Textteile und die Homogenisierung des Texts in Argumentation, Terminologie und Stil. Dass manches, hätte ich die Arbeit mit meinem Wissensstand von 2010 neu begonnen, anders angelegt worden wäre, bleibt Tatsache. Ich bin jedoch der Überzeugung, ein inhaltlich kohärentes und lesbares Buch vorzulegen. Zu danken ist den Betreuern meiner Dissertation, den Professoren Wolfgang Schmale und Ernst Bruckmüller an den Instituten für Geschichte respektive für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, für vielmalige Beratung, wertvolle Rückmeldungen und Unterstützung in allen Belangen. Der Erstere hat mein Interesse an der Geschichte Frankreichs durch sein Seminar entscheidend gefördert und mir viele theoretische und me- thodische Perspektiven eröffnet. Auf den Letzteren und seine vor bald fünfzehn Jahren in einer Lehrveranstaltung gemachte Bemerkung, über die Reichstagswahlen könnte einmal jemand was machen, da gäbe es noch wenig dazu, geht der Anfang von allem zurück, was dazu geführt hat, dass nun diese Studie vorliegt. Der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) hat die Fertigstel- lung der Arbeit während meiner Beschäftigung beim START-Projekt Y-390 „Monastische Aufklärung und die Benediktinische Gelehrtenrepublik“ ermöglicht. Ebenso könnte es zur Veröffentlichung ohne eine Druckförderung von seiner Seite nicht kommen. Für die beiden Aufenthalte in Paris, während derer die Quellenforschung in den Archiven der umliegenden Départements stattfand, bin ich der École Normale Supérieure und dem Deutschen Histo- rischen Institut Paris zu großem Dank verpflichtet. Die Aufnahme dieser Studie in eine der Buchreihen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung ist für mich eine beson- dere Freude, da ich dieser Institution durch meine Ausbildung nachhaltig verbunden bin und viele der Fähigkeiten, die mir heute die Berufsausübung als Historiker erlauben, ihm zu verdanken habe. Dem Direktor, Thomas Winkelbauer, der mir auch bei mehreren Ge- legenheiten kostbare fachliche Ratschläge mitgegeben hat, und ebenso den Mitgliedern des Redaktionskomitees – Brigitte Merta, Martin Scheutz, Andrea Sommerlechner sowie Herwig Weigl – gilt dafür und für die Zusammenarbeit bis zur Drucklegung meine tiefe Anerkennung, desgleichen Eva Stain für administrative Unterstützung. Nicht zuletzt danke ich Ursula Huber vom Böhlau-Verlag für die effiziente Betreuung des Publikationsprojekts, das neben dem FWF auch von der Stadt Wien mit einem Zuschuss bedacht wurde. Hans Michael Putz hat die beiden Übersichtskarten mit viel Sachverstand erstellt. II Vorwort Nicht unterlassen möchte ich, den vielen Menschen zu danken, die mir während der vergangenen Jahre auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen geholfen haben oder zur Seite gestanden sind. Auch ohne sie wäre diese Studie entweder gar nicht oder schlechter zustande gekommen. Vor allem möchte ich meinen Kollegen und Freund Thomas Wallnig nennen, der in vielfältigen Diskussionen, in jahrelanger Zusammenarbeit an anderen For- schungstätigkeiten, ganz besonders jedoch durch die Lektüre und Korrektur des gelinde gesagt umfangreichen Textes von der ersten bis zur letzten Seite eine unschätzbare Hilfe geleistet hat. Es steht zu vermuten, dass er in meine Abschlussarbeit mehr Mühe investiert hat als manche Absolventen und Absolventinnen österreichischer Hochschulen in ihre eigenen ... An den Korrekturen für die Drucklegung beteiligten sich in höchst großzügiger Weise Petra Aigner, Alexander Hanisch-Wolfram, Kathrin Kininger, Jessica Richter und mein Bruder Stephan Stockinger. Für weitere Rückmeldungen, Hinweise und Beiträge, die ich hier nicht in der Art, wie sie es verdient hätten, im Einzelnen würdigen kann, danke ich Thomas Angerer, Fanny Billod, Patrick Fiska, Wolfgang Häusler, Mareike König, Brigitte Mazohl, Josef Pauser, Gilles Pécout, Ines Peper, Irene Rabl, Willibald Rosner, Christophe Voilliot, Sigrid Wadauer, Waltraud Winkelbauer und Lukas Wolfinger. Dass für sämtliche Mängel dieses Buches trotz so vieler Unterstützung ich allein verantwortlich bleibe, mag topisch sein, aber es ist deshalb zum Topos geworden, weil es in jeder vergleichbaren Lage richtig ist. Meinen Eltern Nancy und Bruno Stockinger bin ich für unendlich vieles dank- bar; sie haben es an Hilfsbereitschaft nie mangeln lassen, wenn es notwendig war. Wien, im April 2012 Thomas Stockinger Inhaltsverzeichnis III Inhalt I. Einleitung ...................................................................................................... 1 II. Theoretische Grundlagen und Ausgangspunkte ............................................. 13 II.1. Der Vergleich in der Geschichtswissenschaft .................................................. 14 II.1.1. Die Entwicklung der vergleichenden Geschichtswissenschaft .......................... 15 II.1.2. Problemfelder der Theoriedebatte zum historischen Vergleich ........................ 19 II.1.3. Verortung der vorliegenden Studie .................................................................. 28 II.2. Theoretischer Ansatz: „Politisierung“ der Landbevölkerung? ......................... 37 II.2.1. Aufkommen des Kernbegriffs „Politisierung“ .................................................. 37 II.2.2. Zur Chronologie der Politisierung ................................................................... 39 II.2.3. Die Frage nach der Natur der Politisierung: drei zentrale Bilder ..................... 44 II.2.4. Der Politikbegriff als eigentlicher Angelpunkt ................................................. 53 II.2.5. Ursachen und Erscheinungsformen der Politisierung ...................................... 57 II.2.6. Anwendbarkeit für die vorliegende Untersuchung ........................................... 71 III. Sozioökonomische Rahmenbedingungen ....................................................... 78 III.1. Präsentation der Untersuchungsgebiete .......................................................... 80 III.1.1. Entstehung, Lage und Ausdehnung ................................................................. 80 III.1.2. Naturräumliche Gegebenheiten ....................................................................... 83 III.2. Demographische Eckdaten ............................................................................. 88 III.3. Landwirtschaftliche Verhältnisse .................................................................... 104 III.3.1. Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung .................................................... 105 III.3.2. Die wichtigsten landwirtschaftlichen Produktionszweige ................................ 106 III.3.3. Grundbesitzverteilung und Betriebsgrößen ...................................................... 114 III.3.4. Grundherrschaft, Steuern und bäuerliche Belastung ........................................ 124 III.3.5. Konjunktur, technische Neuerungen und Produktivität .................................. 138 III.4. Gewerbliche und industrielle Aktivitäten ....................................................... 162 IV. Mentale und kulturelle Voraussetzungen ....................................................... 172 IV.1. Verkehrswesen und Kommunikation ............................................................. 174 IV.2. Schulwesen und Alphabetisierung .................................................................. 192 IV.3. Religiosität und kirchliches Leben .................................................................. 209 IV.4. Politische Partizipation und Wahlen .............................................................. 230 IV.4.1. Seine-et-Oise: Staat, Gemeinden und Bürger .................................................. 233 IV.4.2. Niederösterreich: Landesfürst, Grundherrschaft und Untertanen ................... 263 IV Inhaltsverzeichnis V. Revolutionen und ländlicher Raum – Revolutionen im ländlichen Raum ..... 279 V.1. Seine-et-Oise: Republikanisierung und Widerstände ..................................... 283 V.1.1. Ausschreitungen gegen Eisenbahnen, Forst- und Jagdrecht ............................. 284 V.1.2. Kommissare und Bürgermeister: Revolution in den Gemeinden? ................... 287 V.1.3. Patriotische Feste und Freiheitsbäume: die symbolische Revolution ............... 308 V.2. Niederösterreich: die „Bauernfrage“ im Zentrum des Geschehens ................. 319 V.2.1. Maschinenstürme ............................................................................................. 319 V.2.2. Zehent und Robot, Jagd- und Forstfragen ....................................................... 321 V.2.3. Landbevölkerung, Öffentlichkeit und politische Kommunikation .................. 332 V.2.4. Die Nationalgarde auf dem Land: „Sicherheitswache“ oder „Volksbewaffnung“? 341 V.3. Zusammenfassung: Hie „politische“, da „soziale Revolution“? ....................... 351 VI. Die Wege zum Wahltag ................................................................................. 363 VI.1. Rechtliche Grundlagen der Wahlen ............................................................... 365 VI.1.1. Ein „politisches Erdbeben“? Einführung des „allgemeinen“ Wahlrechts in Frankreich .............................................................................................. 366 VI.1.2. „Recht und Klugheit fordern allgemeines Stimmrecht“: Kämpfe um das Wahlrecht in Österreich ....................................................................... 378 VI.1.3. Große Prinzipien und kleine Paragraphen: vom Kodifizieren einer Revolution ......................................................................................... 393 VI.2. Weitere Wahlen im Frühjahr 1848 ................................................................ 404 VI.3. Administrative Vorbereitung der Wahlen ...................................................... 418 VI.3.1. Seine-et-Oise: „Le gouvernement doit-il agir sur les élections?“ ..................... 419 VI.3.2. Niederösterreich: „Bei der dringenden Beschleunigung der vorzunehmenden Reichstagswahlen“ .......................................................... 454 VI.4. Wahlinformation und Wahlwerbung ............................................................. 480 VI.4.1. Seine-et-Oise: „Partout des comités, des délégués, des affiliations“ ................ 484 VI.4.2. Niederösterreich: „Das Grundprinzip zur Wahl eines Deputirten ist Vertrauen“ .............................................................................................. 549 VII. Die Momente der Wahl ................................................................................. 587 VII.1. Wahlberechtigung und Wahlbeteiligung ........................................................ 591 VII.1.1. Seine-et-Oise: „Presque tout le monde a voté“ ................................................ 592 VII.1.2. Niederösterreich: „An mittelbaren Wahlen kann Niemand Antheil nehmen“? 610 VII.2. Der Ablauf der Abstimmungen ...................................................................... 626 VII.2.1. Seine-et-Oise: „L’ordre et la tranquillité la plus parfaite“? .............................. 628 VII.2.2. Niederösterreich: Wählen als kommunikative Aushandlung .......................... 666 VII.3. Wähler, Gewählte und Wahlmotive ............................................................... 718 VII.3.1. Seine-et-Oise: „Il fallait figurer sur une ou plusieurs listes“ ............................ 720 VII.3.2. Niederösterreich: „Männer aus unserer Mitte“ – aber nicht ausschließlich .... 747 VIII. Schluss ............................................................................................................ 772 Inhaltsverzeichnis V Quellen und Literatur ..................................................................................................... 781 Archivalische Quellen ...................................................................................................... 783 Gedruckte Quellen .......................................................................................................... 789 Forschungsliteratur .......................................................................................................... 792 Register ........................................................................................................................... 897 Personen ........................................................................................................................... 899 Orte .................................................................................................................................. 915 VI Abkürzungen Abb. Abbildung Anm. Anmerkung, Anmerkungen Arrdt., Arrdts. Arrondissement, Arrondissements Bgm. Bürgermeister Bgm.-Stv. Bürgermeister-Stellvertreter bzw. beziehungsweise Ct. in Zitaten: Carte Dépt., Dépts. Département, Départements ebd. ebenda ehem. ehemals, ehemalig Ew. Einwohner und Einwohnerinnen Fasz. Faszikel GR Gemeinderat Hft. Herrschaft Jh., Jhs. Jahrhundert, Jahrhunderts Kap. Kapitel Kt., Kts., Kte., Ktn. Kanton, Kantons, Kantone, Kantonen Kt. nur in Archivsignaturen: Karton Mgl. Mitglied, Mitglieder Tab. Tabelle, Table vgl. vergleiche V.O.M.B. Viertel ober dem Manhartsberg V.O.W.W. Viertel ober dem Wienerwald V.U.M.B. Viertel unter dem Manhartsberg V.U.W.W. Viertel unter dem Wienerwald zit. zitiert VII Archivsiglen ADE Archives départementales de l’Essonne (Chamarande) ADHS Archives départementales des Hauts-de-Seine, Nanterre ADVM Archives départementales du Val-de-Marne, Créteil ADVO Archives départementales du Val-d’Oise, Cergy-Pontoise ADY Archives départementales des Yvelines et de l’ancienne Seine-et-Oise, Montigny-le-Bretonneux AN Archives nationales, Paris BN Bibliothèque nationale de France, Paris HHStA Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien NÖLA Niederösterreichisches Landesarchiv, St. Pölten ÖNB Österreichische Nationalbibliothek, Wien StaA Bad Vöslau Stadtarchiv Bad Vöslau StiA Altenburg Stiftsarchiv Altenburg StiA Göttweig Stiftsarchiv Göttweig StiA Klosterneuburg Stiftsarchiv Klosterneuburg StiA Melk Stiftsarchiv Melk WB Wienbibliothek im Rathaus, Wien 1 I. Einleitung A quel sentiment baroque, à quelle mystérieuse suggestion peut bien obéir ce bipède pensant, doué d’une volonté, à ce qu’on prétend, et qui s’en va, fier de son droit, assuré qu’il accomplit un devoir, déposer dans une boîte électorale quelconque un quelconque bulletin, peu importe le nom qu’il ait écrit dessus? ... Qu’est-ce qu’il doit bien se dire, en dedans de soi, qui justifie ou seulement qui explique cet acte extravagant? 1 Warum Wahlen untersuchen? Die Frage erscheint zunächst einfach zu beantworten, denn Wahlen werden nicht nur in vielen Teilen der Welt, insbesondere – aber nicht nur – in den als Demokratien eingestuften Staaten, regelmäßig abgehalten, sondern sind auch ebenso regelmäßig Gegenstand öffentlicher Diskussionen und wissenschaftlicher Unter- suchungen. Die Fragestellungen für einen großen Teil der Letzteren sowie für nahezu die Gesamtheit der Ersteren gruppieren sich dabei in aller Regel um zwei zentrale Punkte, und zwar erstens: Wer hat gewonnen? Und sobald dies bekannt ist, zweitens: Warum? Diese letztere Frage wird dabei meist in etwa verstanden als: Wer hat wen gewählt, und welche Motive gab es dafür 2? Die Wichtigkeit dieser Aspekte soll hier keineswegs geleugnet werden. Über Wahlen können allerdings auch andere, grundsätzlichere Fragen gestellt werden, welche freilich viel seltener auftreten respektive oft als weniger wichtig angesehen werden. Eine davon lautet: Auf welche Weise funktionieren Wahlen? Wenn dies öffentlich diskutiert wird, dann in der Regel im Sinne einer technischen Erläuterung, einer Bedienungsanleitung. Es wird zwar als gegeben eingesehen, dass Wahlen eine Funktionsweise haben, die nicht überall exakt gleich ist, doch gilt es als ausreichend, darüber gerade so viel zu wissen und nachzudenken, dass man die nötigen Gesten zur Benutzung der Technik fehlerfrei ausführen kann; ähnlich wie man nicht unbedingt wissen muss, auf welchen Prinzipien das Funktionieren etwa eines Computers oder eines Automobils beruht, noch, wie es in allen seinen Einzelheiten abläuft, sofern man genug weiß, um sich dieser Geräte zu bedienen. Eine weitere, noch fundamentalere Frage ist jene, die Octave Mirbeau 1902 sarkastisch in den Raum stellte: Warum wählt man? Weshalb sollte es Wahlen geben? Was leisten sie? Während der anarchistische Vordenker Mirbeau in provozierender Absicht behauptete, diese Fragen seien geradezu unbeantwortbar rätselhaft, werden die Antworten in der heutigen ––––––––––––––––– 1 M IRBEAU , Grève des électeurs 4. 2 Für eine solche Bestimmung der Ziele der Wahlforschung vgl. etwa B ÜSCH , Historische Wahlforschung 1; für Kritik an dieser Eingrenzung vgl. K ÜHNE , Historische Wahlforschung 42; R OMANELLI , Electoral Systems 7f. – Die Beobachtung, dass die Geschichte des Wahlkampfs „fast ausschließlich von den Wahlergebnissen her“ geschrie- ben werde, macht M ERGEL , Wahlkampfgeschichte 355. 2 Einleitung Öffentlichkeit Österreichs und anderer demokratischer Staaten meist als selbstverständlich angesehen: Wahlen gelten als zentrale Voraussetzung der Demokratie, welche ihrerseits das wünschenswerteste aller politischen Modelle ist 3. Sie werden zugleich auch als Funktions- prinzip der Demokratie angenommen. Diesen Festlegungen schließt sich in der Regel auch die Politikwissenschaft dem Grunde nach an, jedoch nicht ohne zu differenzieren. „[The] democratic process is indeed encapsulated in elections and electing“, formulierte dies etwa Giovanni Sartori, schränkte aber auch ein, dass Wahlen nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Demokratie seien 4; ebenso erforderlich sei auch die Freiheit der Wahlen und der Meinungsbildung sowie weiters die „Repräsentation“ im Sinne einer dauerhaften Bindung und Verantwortlichkeit der Gewählten gegenüber den Wählerinnen und Wählern 5. In Abwesenheit dieser weiteren Elemente können Wahlen als solche in den verschiedensten Kontexten existieren; sie finden gegenwärtig in Staaten und Organisationen statt, welche nach nahezu allen Definitionen (außer, in vielen Fällen, jenen der eigenen Führung) in keiner Weise demokratisch sind 6. Wahlen existierten auch – hierauf wird an anderer Stelle ausführlich zurückzukommen sein – in der Vergangenheit im Rahmen von Gesellschaftsordnungen und Vorstellungswelten, die gegenwärtigen europäischen Demo- kratien in vielem noch unähnlicher waren als manche heutige Diktatur. Damit löst sich zwar nicht die Verbindung von Demokratie und Wahlen auf, wohl aber die Selbstverständlichkeit der Art dieser Verbindung und vor allem die Annahme, dass sie immer dieselbe sei. Denn erstens gibt es nicht „die“ Demokratie, in der das Wählen stets dieselbe Rolle spielt, sondern eine Vielzahl teils beträchtlich voneinander divergierender Modelle von Demokratien in Theorie und Praxis 7. Zweitens ist davon auszugehen, dass Wahlen, wenn sie in so verschiedenen Rahmen auftreten können, nicht in allen dieselbe Funktion erfüllen. Diesen unterschiedlichen Funktionen im politischen und im weiteren gesellschaftlichen Kontext entsprechen unterschiedliche Funktionsweisen der Wahl in sich; beides ist nicht dasselbe, hängt jedoch miteinander zusammen 8. Die variablen Realitäten und Praktiken von Wahlen sind zudem hinterlegt von ebenso variablen Vorstellungen und Deutungsmustern. Thomas Kühne hat vorgeschlagen, diese „Metaebene des Wahlprozesses“ mit dem Begriff der „Wahlkultur“ zu fassen, welche ihrerseits als Teilbereich der politischen Kultur zu sehen ist 9; bereits vor ihm hatte Monika Neugebauer-Wölk in ganz ähnlichem Sinne den Ausdruck „Wahlbewußtsein“ aufgebracht 10. Alles dies fordert dazu auf, eine breite Definition von „Wahlen“ zu formulieren, um abzustecken, was überhaupt sinnvoll unter diesem Terminus diskutiert werden kann. Sie könnte etwa folgendermaßen lauten: Wahlen sind Vorgänge, bei denen die Angehörigen ––––––––––––––––– 3 Auch hierzu erbringt ein politikwissenschaftlich geführter Vergleich der „Leistungen“ von demokratischen und nicht-demokratischen Staaten mitunter gewisse Relativierungen: S CHMIDT , Demokratietheorien 522–539. 4 S ARTORI , Theory of Democracy 1 86; vgl. N OHLEN , Elections 3–6. Diese Einschätzung wird freilich nicht von allen Demokratietheorien geteilt: vgl. S CHMITT , Rolle von Wahlen 11–25. 5 S ARTORI , Theory of Democracy 1 29–31; vgl. R OMANELLI , Electoral Systems 1. Oft gilt die Einschrän- kung als selbstverständlich genug, dass sie kaum mehr ausformuliert werden muss, so bei W ESTLE –N IEDERMAYER , Orientierungen 11: „So bilden kompetitive Wahlen das zentrale Strukturelement, durch das sich Demokratien von anderen politischen Systemen unterscheiden“. Entscheidend ist hier das eingrenzende Adjektiv „kompetitive“. 6 Vgl. S CHMITT , Rolle von Wahlen 4f.; N OHLEN , Elections 1f., 17–20. 7 Einen Überblick bietet S CHMIDT , Demokratietheorien 175–306. 8 Vgl. etwa S CHULTZE , Funktionen 137–142; S CHULTZE , Wahlanalyse 75–81; S TEINBACH , Historische Wahlforschung 501f., 512f.; K ÜHNE , Historische Wahlforschung 54–59. 9 K ÜHNE , Historische Wahlforschung 54f.; vgl. K ÜHNE , Dreiklassenwahlrecht 29–32. 10 N EUGEBAUER -W ÖLK , Wahlbewußtsein 315. Einleitung 3 einer – wie auch immer definierten oder abgegrenzten – Gruppe von Menschen gemeinsam eine oder mehrere Personen zur Ausübung eines Amts oder einer Aufgabe designieren, und zwar nach gemeinsam anerkannten Verfahren, welche die Akzeptanz der Designation durch alle Angehörigen der Gruppe ermöglichen sollen. Zu den Verfahren gehören insbesondere diverse Techniken der Abstimmung, das ist, der Abgabe einzelner Willensäußerungen durch die dazu Berechtigten, aus denen dann wiederum nach unterschiedlichen Kriterien – etwa dem Mehrheitsprinzip – eine für alle bindende Entscheidung hergeleitet wird; es gab und gibt allerdings auch Wahlen ohne Abstimmung, die etwa auf dem Wege der Akklamation stattfinden können 11. Gerade weil Wahlen in der Geschichte der europäischen Gesellschaften einerseits ein sehr verbreitetes, andererseits ein sehr vielfältiges und wandelbares Phänomen waren und sind, lohnt sich ihre Untersuchung auch und besonders im diachronen oder synchronen historischen Vergleich 12. Die beiden Aspekte, wie Wahlen in sich funktionierten und welche Rolle sie in und für Politik und Gesellschaft spielten, können dabei gesondert in den Blick genommen werden, sollten aber auch miteinander in Verbindung gesetzt werden. Einen Beitrag hierzu für zwei Untersuchungsgebiete in zwei verschiedenen europäischen Staaten soll die vorliegende Studie leisten, und zwar in der Konzentration auf einen einzigen Zeit- punkt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Rückblick auf die diesem Zeitpunkt voran- gegangenen Entwicklungen erscheint dabei für eine fundierte Analyse des Beobachteten unabdingbar und nimmt daher in der Untersuchung einigen Raum ein. Die Ausweitung der Perspektive auf das Nachwirken des Untersuchten in späterer Zeit erfolgt dagegen nur punktuell in Form von Hinweisen, vor allem aber im Aufwerfen von Fragen und Aufzeigen von Forschungsperspektiven, deren weitere Verfolgung anderen Gelegenheiten, anderen Forscherinnen und Forschern vorbehalten bleibt. Warum 1848 untersuchen? In der öffentlichen Erinnerungskultur sind die Ereignisse dieses Jahres und die Frage ihrer Bedeutung für die heutige Politik und Gesellschaft nicht mehr sehr präsent 13. In der Geschichtswissenschaft ist dahingegen seine Einstufung und Verwendung als Epochengrenze insbesondere der politischen Entwicklung in beiden hier untersuchten Staaten gut etabliert: in Frankreich, für welches das Jahr 1848 etwa im Unter- titel einer rezenten Darstellung als „The End of Monarchy“ apostrophiert wird 14, ebenso wie ––––––––––––––––– 11 Auch die Akklamation kann freilich in einem sehr weiten Sinne als eine Art der Abstimmung verstanden werden, etwa bei M ALECZEK , Abstimmungsarten 87–95. Ihr Einsatz erstreckte sich jedoch vielfach auf Situationen, in denen ihr keinerlei reale Entscheidungsfunktion zukam. Oft waren Abstimmung und Akklamation auch als Phasen ein und desselben Vorgangs verbunden: R OMANELLI , Electoral Systems 15f. 12 Vgl. S CHULTZE , Wahlanalyse 74, 82–84; S TEINBACH , Einleitung 12f. 13 Dieser Umstand ist in jüngster Zeit selbst Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion geworden, wie über- haupt die Erinnerungen an 1848 geradezu als ein Schwerpunkt der neuesten Forschungen zum Revolutionsjahr bezeichnet werden können: vgl. etwa H ÄUSLER , Noch sind nicht alle Märzen vorbei; B ÖCK , Radetzkymarsch; B OUVIER , Tradition; H ETTLING , Nachmärz; M ERGEL , Sozialmoralische Milieus; S ARASIN , Sich an 1848 erinnern; V OGT , Weimar; W OLFRUM , Bundesrepublik Deutschland; B ELLER , Licht der Welt; B RIX , 1848 als Beispiel; B RUCKMÜLLER , Revolution in Österreich; E HALT , Revision; E LVERT , Revolution; M ÜHLBERGER , Revolution; S CHEICHL , 1848 – kein Datum; S UPPANZ , Freiheitskampf; E VANS , 1848 in Mitteleuropa; H ÄUSLER , Märzgefallene; H YE , Was blieb von 1848; K OŘALKA , Jahr 1848; L ENGAUER , Exil; F ILLAFER , Gespenstergeschichte 45–56. – Zu Frankreich vgl. etwa A GULHON , Seconde République dans l’opinion; M AYAUD , Centenaire; K ÖRNER , Ideas and Memories; S PANG , First Performances; M AYAUD , Jahr 1848; sowie unten Kap. II.2.5. Anm. 376. Einen europäi- schen Vergleich bietet G ILDEA , 1848 in European Collective Memory. 14 F ORTESCUE , France and 1848; vgl. auch L ENOËL –Y VOREL , Introduction 9. 4 Einleitung in Österreich 15. Dies gilt nicht nur in allgemeiner Perspektive, sondern auch im Hinblick auf zahlreiche Spezialfragen 16 und jedenfalls für beide Staaten in der Frage der Entwicklung des Wahlrechts und der Wahlen. In Frankreich handelte es sich bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversamm- lung, die im April 1848 vorgenommen wurden, um die erste Wahl eines Parlaments nach „allgemeinem“, gleichem und direktem Wahlrecht. Dieses Niveau des elektoralen Teilhabe- rechts erwies sich insofern als nachhaltige Errungenschaft, als es zwar in der Folge mehrfach Einschränkungen seiner Anwendung unterlag, aber – außer in Pétains État français während des Zweiten Weltkriegs – nicht wieder abgeschafft wurde. 1848 ist deshalb in einigen der wichtigsten Arbeiten zur Geschichte von Wahlen in Frankreich als Anfangszäsur gewählt worden 17. In den meisten Ländern der Habsburgermonarchie – mit Ausnahme Ungarns und Lombardo-Venetiens – fanden im Juni und Juli 1848 die Wahlen zum Konstituie- renden Reichstag statt, der schlichtweg das erste Parlament in diesem Staatswesen war 18. Das Wahlrecht war hierbei in mehreren Punkten beschränkter als bei den knapp zuvor in Frankreich abgehaltenen Wahlen, aber doch geeignet, einen sehr beträchtlichen Teil der männlichen Bevölkerung zu beteiligen. Eine ähnlich dauerhafte Fortsetzung wie in Frank- reich fand die Praxis solcher Wahlen nicht, vielmehr wurde sie mit der Niederschlagung der Revolution und mit dem Neo-Absolutismus der 1850er Jahre vorerst gänzlich von den Herrschenden zurückgewiesen. Ihre Wiedereinführung zog sich nach 1860 und 1867 in kleinen Schritten über Jahrzehnte hin und erreichte um die Wende zum 20. Jahrhundert erstmals wieder ein Niveau, welches nach den Kriterien der Breite und der Gleichheit des Wahlrechts mit jenem von 1848 zu vergleichen war. Die Markanz von 1848 hinsichtlich dieser Kriterien – die auch in wissenschaftlichen internationalen Vergleichen weiterhin als eine „Messlatte der Demokratie“ herangezogen werden 19 – ist somit auch für diesen Fall klar ersichtlich, obgleich eine langfristige Wirkung nicht wie in Frankreich im Sinne einer ununterbrochenen Kontinuität, sondern allenfalls auf dem Wege der Erinnerung und mög- licherweise Vorbildhaftigkeit bestanden haben kann. Dieser etablierte Befund einer Zäsur wird im Folgenden als Ausgangspunkt genommen, er wird allerdings noch kritisch zu überprüfen sein. Wenn, wie bereits gesagt, Wahlen ein vielgestaltiges Phänomen sind, das verschiedene Aspekte und zahlreiche mögliche Ausprä- gungen hat, dann ist zu fragen, ob Veränderungen – selbst sehr einschneidende – alle diese Aspekte gleichermaßen betrafen oder ob nicht in manchen davon auch eine beträchtliche Kontinuität über die „Zäsur“ von 1848 hinweg bestand. Weder in Frankreich noch in den habsburgischen Ländern fehlte es gänzlich an Antezedentien und Erfahrungen, welche für den Umgang mit dem, was 1848 neu war, herangezogen werden konnten; wie im Weiteren zu zeigen sein wird, flossen diese Vorgeschichten in Vorstellungen und Praxis des Wählens im Jahr 1848 in erheblichem, ja oft nachgerade prägendem Maße ein. Zu diesem Prozess einer Entwicklung der Wahlen von 1848 nicht nur aus „neuen“ oder gar „revolutionären“ ––––––––––––––––– 15 Verwiesen sei nur auf die Anlage des von der Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Standardwerks „Die Habsburgermonarchie 1848–1918“. 16 Beispielsweise wurde 1848 erst jüngst als Zeitpunkt einer „Wende“ in den Nationalitätenbeziehungen in der Habsburgermonarchie eingestuft: H YE , Wende. 17 Genannt seien hier nur: H UARD , Suffrage universel; G ARRIGOU , Vote et vertu. 18 Vgl. etwa W ADL , Wahlen in Kärnten 367: „die Geburtsstunde des österreichischen Parlamentarismus“. 19 S CHMIDT , Demokratietheorien 390–393; vgl. K OHL , Entwicklung 481; R OMANELLI , Electoral Systems 5; V ELEK , Myšlenka 58. Einleitung 5 Normen und Ideen, sondern auch aus vorgängigen Erfahrungen liegen für Frankreich aus neuerer Forschung bereits wichtige Erkenntnisse vor, auf welche in dieser Studie aufgebaut werden kann; für die Habsburgermonarchie und speziell für das hier näher untersuchte Niederösterreich ist dies kaum der Fall, wie überhaupt für diesen Bereich die Vorarbeiten zu Wahlen im 19. Jahrhundert zwar nicht inexistent, aber viel weniger reichlich vorhanden sind 20. Der unterschiedliche Forschungsstand zu den beiden Untersuchungsgebieten bringt es mit sich, dass auch die Bandbreite der angewendeten Theorien und Methoden in den Arbeiten zu Frankreich erheblich größer ist; ein nicht geringer Teil der neuen Erkenntnisse der vorliegenden Studie beruht auf der Heranziehung einiger dieser Ansätze, welche für die habsburgischen Länder bislang nicht eingesetzt wurden. Warum den ländlichen Raum untersuchen? Warum gerade anhand der beiden Gebiete, die als Untersuchungsgegenstände gewählt wurden? Längst ist der ländliche Raum – womit hier und im Weiteren aller von Menschen bewohnte Raum außerhalb der größeren Städte gemeint ist – nicht mehr Stiefkind der Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung, wie er dies in einer Zeit war, als sich jene bevorzugt mit der „großen Politik“ der Staaten und ihrer Herrscher befassten. Es dürfte sogar – stark vereinfachend – richtig sein zu sagen, dass die Geschichtswissenschaft, als sie das Ökonomische, das Soziale, das Kulturelle und weitere Dimensionen menschlichen Lebens als Forschungsgegenstände entdeckte, gemeinsam mit diesen auch den ländlichen Raum und die dort lebenden Menschen in den Blick zu nehmen begann. Dabei blieb freilich oft das Politische in der Stadt zurück. Das musste es auch, so- lange Historiker und Historikerinnen es als alleinige Angelegenheit von Monarchen, Regie- rungen oder auch Parlamenten ansahen und der Staat als sein einziger Bezugsrahmen galt 21. Um ein dem Thema dieser Studie nahes Beispiel zu wählen: Die Geschichte der Revolution von 1848 in Wien wurde seit dem späteren 19. Jahrhundert immer wieder geschildert, in ihrer Bedeutung interpretiert und auf Spezialfragen hin untersucht. Dagegen existiert bis heute eine einzige zusammenfassende Arbeit, und zwar eine ungedruckt gebliebene Disser- tation aus dem Jahr 1949, zur Revolution im ländlichen Niederösterreich; diese trägt den bezeichnenden Titel „Die unmittelbaren Auswirkungen der Revolution 1848 in Nieder- österreich“, geht also bereits im Ansatz davon aus, dass der ländliche Raum die andernorts gemachte Politik passiv in ihren „Auswirkungen“ zu erdulden habe 22. Ansonsten blieb das Thema den Bemühungen der Lokalhistoriker und Lokalhistorikerinnen überlassen. ––––––––––––––––– 20 Ein Literaturüberblick zu beiden Untersuchungsgebieten würde diese Einleitung über Gebühr ausdehnen; die verwendeten Arbeiten sind in den Anmerkungen zu den einschlägigen Abschnitten zitiert, teilweise wird dort auch der Forschungsstand zu einzelnen Fragen im Text kommentiert. 21 Zur älteren „politischen Geschichte“, für welche diese Festlegungen charakteristisch waren, vgl. I GGERS , Geschichtswissenschaft 21, 23, 25–28; B OROWSKY , Politische Geschichte 475–479; C ORNELIßEN , Politische Geschichte 136f.; M ERGEL , Überlegungen 575–578; L ANDWEHR , Diskurs 80–85, 96–99. Zu ihrer besonderen Zählebigkeit im deutschsprachigen Raum vgl. C ORNELIßEN , Politische Geschichte 139–141; zur ausgeprägten Idealisierung des Staates im klassischen deutschen Historismus vgl. I GGERS , German Conception of History 7f., 16f., 269–273 und passim. 22 L ÖHNERT , Unmittelbare Auswirkungen. – Reflexionen zur unterbliebenen Erforschung der Revolution in der „Provinz“ bietet P FEISINGER , Ihr lieben Wiener. Die Arbeit desselben Autors über die Revolution in Graz leistet eine der bislang wertvollsten Durchbrechungen dieser hauptstädtischen Perspektive, befasst sich aber im Gegensatz zur vorliegenden Studie nicht mit dem ländlichen Raum, sondern mit einem provinzstädtischen Milieu: P FEISINGER , Revolution. Einen kurzen Blick auf die Provinzstädte wirft auch H ÄUSLER , Soziale Protestbewegungen 351–353. – Zu Deutschland vgl. F RANZ , Agrarische Bewegung; B LEIBER , Bauern; G AILUS , Politisierung; S CHILDT , Landbevölkerung; D IPPER , Bewegungen 556–566; R IES , Bauern; R OUETTE , Bürger 191–193; B LEIBER , Pro oder Kontra; R IES , Ländliche Unruhen. 6 Einleitung Die Schließung dieser Lücke ist in Frankreich bislang deutlich weiter fortgeschritten als in Österreich. Für Letzteres haben Disziplinen wie die Rechts- und die Sozialgeschichte viele der wichtigsten Beiträge zur Erforschung dessen geleistet, was im folgenden Kapitel noch ausführlich als Politik in einem breiteren Sinne zu definieren sein wird 23. In jüngerer Vergangenheit haben allerdings auch Historikerinnen und Historiker der Frühen Neuzeit dem Politischen im ländlichen Raum nachgespürt, so etwa im Rahmen der Geschichte der Grundherrschaft oder der Gerichtsbarkeit sowie jener der bäuerlichen Gemeinden und ihres Verhältnisses zur Herrschaft und zum Staat. Speziell zu Österreich im 19. Jahrhundert sind allerdings viele wichtige Fragen bis heute nicht oder nur wenig bearbeitet worden. Diesem Befund steht in Frankreich eine während der letzten Jahrzehnte intensiv geführte Debatte über die Entwicklung des Verhältnisses der Landbevölkerung zur Politik, häufig unter dem Schlagwort politisation de la paysannerie , gegenüber. Diese wird im zweiten Teil des zweiten Kapitels in Grundzügen referiert und die Übernahme einiger Konzepte vorgeschlagen. Ist erst einmal anerkannt, dass es Politik, wenn man sie als Dimension im Leben aller menschlichen Gemeinschaften anstatt als Handlungen der höchsten Machtträger auffasst, auch im ländlichen Raum gibt, dann fällt es nicht mehr schwer zu begründen, warum ihre Erforschung für jenen Raum nicht nur sinnvoll, sondern notwendig ist. Im 19. Jahrhundert lebte die überwiegende Mehrheit der Menschen in Frankreich ebenso wie in Österreich auf dem Land. Die Angehörigen der ländlichen Bevölkerung leisteten an Steuern und gestellten Rekruten, an produzierten Nahrungsmitteln und Rohstoffen sowie noch in einigen weiteren Hinsichten den größten Beitrag zu den Ressourcen, die dem Staat zur Verfügung standen, wie auch zur Versorgung der Städte und ihrer Menschen. Sie wählten im Übrigen auch den Großteil der Abgeordneten zur französischen Nationalversammlung wie zum österreichi- schen Reichstag von 1848. Staat und Stadt existierten somit in Wirklichkeit in ständiger Berührung und Verflechtung mit dem ländlichen Raum; dieser wiederum war im 19. Jahr- hundert kaum mehr irgendwo gänzlich unberührt von der Interaktion mit jenen. In einer Geschichte der – terminologisch neu und breiter gefassten – Politik im 19. Jahrhundert hat folglich die Politik im ländlichen Raum ihren Platz einzunehmen, allerdings nicht als ein in sich abgeschlossenes eigenes Phänomen, sondern in ihren Beziehungen zur Politik der städtischen Zentren. Dies ist eines der wichtigsten Argumente für die Auswahl der beiden Untersuchungsgebiete: Mit dem Land Niederösterreich und dem ehemaligen Département Seine-et-Oise wird jeweils die ländliche Umgebung der beiden Hauptstädte Wien und Paris ins Auge gefasst. Die Verflochtenheit von ländlicher, städtischer und staatlicher Politik hätte sich zwar überall zeigen lassen, es wird aber davon ausgegangen, dass sie in diesen Gebieten besonders intensiv war und daher besonders gut sichtbar wird 24. In der Zusammenführung der drei genannten Forschungsinteressen – Wahlen, 1848 und ländlicher Raum – sollen also in der vorliegenden Untersuchung die beiden bereits erwähnten Wahlgänge des April und des Juni 1848 in diesen zwei Gebieten miteinander vergleichend untersucht werden. Warum vergleichen, und wie vergleichen? Beide Fragen werden im unmittelbar folgenden ersten Abschnitt des zweiten Kapitels noch ausführlich zu behandeln sein, auf die erste sei jedoch hier in knapper Form geantwortet: weil aus der vergleichenden Betrachtung mehrerer Fälle mehr gelernt werden kann als aus deren separater Untersuchung ohne Bezug aufeinander; und weil aus ihr auch über den Einzelfall manches –––––––––––––