Bernhard Weidinger „IM NATIONALEN ABWEHRKAMPF DER GRENZLANDDEUTSCHEN“ Akademische Burschenschaften und Politik in Österreich nach 1945 2015 Böhlau Verlag Wien Köln Weimar Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF): PUB 199-G21 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: © Martin Juen © 2015 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Stefan Galoppi, Korneuburg Korrektorat : Herbert Hutz , Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Druck und Bindung: BALTO print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79600-8 VORBEMERKUNGEN Unter den vielen Personen , die das Zustandekommen dieses Buches ermöglicht ha- ben , seien hervorgehoben : meine Eltern , meine Schwester , moja ljuba , Johanna Geh- macher , Sieglinde Rosenberger , Andreas Peham , Herbert Posch , Günter Cerwinka , Harald Lönnecker und Peter Krause. Die Österreichische Akademie der Wissenschaf- ten und die Universität Wien haben die zugrunde liegende Forschung maßgeblich fi- nanziert , das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien hat Büroraum zur Ver- fügung gestellt. Ursula Huber und Carolin Noack ist für vortreffliche Betreuung von Verlagsseite zu danken. Gemischtgeschlechtliche Gruppen von Personen werden im vorliegenden Werk mit geschlechtsneutralen Bezeichnungen oder mittels Binnen-I kenntlich gemacht , außer in Fällen , wo dies eine eklatante Männerdominanz verschleiern würde. Grenzfälle wur- den zum Teil uneinheitlich gehandhabt. Die Ausweisung von Personen als ( nicht-)kor- poriert erfolgte nach bestem Wissen und Gewissen und grundsätzlich auf der Basis verbindungsstudentischer Schriften oder des Abgleichs mehrerer Quellen. Fehlerhafte Angaben in Einzelfällen können dennoch nicht vollständig ausgeschlossen werden. Für Weblinks gilt , wo nicht anders angeführt , der 1. Juli 2014 als Datum des letzten Zugriffs. Für und wegen Willi und Erika Gugig , Leo Kuhn , Anna und Rosa Redlinger , Herta Reich und Poldi Schnabl. INHALT Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I.1 Forschungsstand und Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 I.2 Zum Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I.3 Methodische Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I.4 Quellen und Quellenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I.4.1 Forschungspraktische und quellenkritische Herausforderungen . . . . 26 I.4.2 Spezifische Problemlagen einzelner Quellengattungen . . . . . . . . . 31 I.5 Zentrale Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Nationalsozialismus und postnazistische Restauration . . . . . . . . . . 45 II.1 Völkische Korporierte im (und für den) Nationalsozialismus . . . . . . . . 45 II.2 Korporationen und ‚Entnazifizierung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 II.3 Die Wiedererrichtung der Bünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 II.3.1 Restauration vs. Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 II.4 Rückeroberung von Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 II.4.1 Salonfähigkeit durch konservative Elitensolidarität . . . . . . . . . . 76 II.5 Burschenschaftliche Vergangenheitsbewältigung . . . . . . . . . . . . . . 80 II.5.1 Die erste Bestandsaufnahme Günther Berkas (1950/51) . . . . . . . . 83 II.5.2 Die Auseinandersetzung um das ‚burschenschaftliche Geschichtsbild‘ (ab 1956) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 II.5.3 Burschenschaftliche Gedenkpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Exkurs: Zur Spezifik burschenschaftlicher Vergangenheitsbewältigung in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 II.5.4 Die Feldpost-Anthologie der Oberösterreicher Germanen (1967) . . . . 110 Exkurs: Die Sprache der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II.5.5 Generationenverhältnis zwischen Konflikt und Konformismus . . . . 114 II.5.6 Vergangenheitsbewältigung um die Jahrtausendwende . . . . . . . . 124 II.5.7 Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Inhalt 8 III. Burschenschaftliche Ideologie in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III.1 Die Burschenschaften in Österreich als politische Vereinigungen . . . . . 133 III.1.1 Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 138 III.1.2 Konjunkturen der Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 III.2 Der burschenschaftliche Auftrag an den Einzelnen . . . . . . . . . . . . 150 III.2.1 Zwischen Geselligkeitsorientierung und Idealismus . . . . . . . . . 152 III.2.2 Die politische Klasse unter Burschenschaftern . . . . . . . . . . . . . . 155 III.2.3 Burschenschaftliche Meinungsführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 III.2.4 Burschenschafter-Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 III.3 Burschenschaftliche Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 III.3.1 Der burschenschaftliche Erziehungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . 164 III.3.2 Ebenen und Orte burschenschaftlicher Erziehung . . . . . . . . . . 171 III.3.3 Funktionen und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 III.4 Politisch-ideologische Heterogenität und burschenschaftlicher Corpsgeist 181 III.4.1 Meinungsvielfalt und -hegemonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Exkurs: Zur relativen Abweichung der Oberösterreicher Germanen . . . . . . . . 186 III.4.2 Konflikt und Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 III.4.3 Die Außenwahrnehmung: Burschenschaften als Monolith . . . . . . 201 III.4.4 Ursachen und Folgen burschenschaftlicher ‚Geschlossenheit‘ . . . . 210 III.5 Wandel und Beharrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 III.5.1 Burschenschaften zwischen Avantgarde und Reaktion . . . . . . . . 214 III.5.2 Die Restaurationsphase: weiter (fast) wie bisher . . . . . . . . . . . 220 III.5.3 Die 1960er-Jahre: Weckrufe und Reformanläufe . . . . . . . . . . . 225 III.5.4 Der Streit um die Ehrenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Exkurs: Das Duellwesen in Österreich nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . 232 III.5.5 Die 1970er-Jahre: Aufbruchsstimmung und Backlash . . . . . . . . 233 III.5.6 Gründe der Wandlungsresistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 III.6 Selbstbild: Gegen-Elite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 III.6.1 Herausforderung Zweite Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 III.6.2 Wider die Herrschenden: Burschenschaften in Opposition . . . . . 254 III.6.3 Für die Herrschaft: Burschenschaftlicher Elitarismus . . . . . . . . 261 III.6.4 Zusammenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 III.7 Völkischer Nationalismus als weltanschaulicher Angelpunkt . . . . . . . 273 III.7.1 Das Primat des Völkischen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 III.7.2 ‚Volkstumsbezogener Vaterlandsbegriff‘ und österreichische Eigenstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 III.7.3 Kritik der völkischen Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Inhalt 9 III.8 Burschenschaften und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 III.8.1 Zwischen Barrikaden, Bismarck und Führerprinzip . . . . . . . . . 303 III.8.2 Demokratie als Form und Demokratie als Inhalt . . . . . . . . . . . 305 Exkurs: Zur Demokratisierung der österreichischen Hochschulen . . . . . . . 313 III.8.3 Demokratie im Verband und interbündischen Verkehr . . . . . . . . 315 III.8.4 Der Einzelbund: ein ‚Parlament im Kleinen‘? . . . . . . . . . . . . . 319 III.8.5 Individuum und Kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 IV. Praxis burschenschaftlicher Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 IV.1 Burschenschaftliche Betätigung im politischen Sinn . . . . . . . . . . . . 335 IV.1.1 Politik des Appells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 IV.1.2 ‚Grenzlandarbeit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 IV.1.3 Hochschulpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 IV.2 Burschenschaftliche Betätigung im metapolitischen Sinn . . . . . . . . . 355 IV.2.1 Gegen ‚Zeitgeist‘ und ‚Umerziehung‘: Frühe burschenschaftliche Metapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 355 IV.2.2 Wider die ‚österreichische Nation‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 IV.2.3 Gegen ‚Geschichtslügen‘: Burschenschaftliche Geschichtspolitik . . 365 IV.2.4 Einsatz für ‚das Deutschtum‘: die ‚Volkstumspolitik‘ der Burschenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 IV.2.5 ‚Nach außen wirken‘: burschenschaftliche Publizistik und Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 IV.2.6 ‚Neue Rechte‘ gegen ‚Neue Linke‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 IV.2.7 Rezeption der ‚Neuen Rechten‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 IV.2.8 Burschenschaftliche Metapolitik um die Jahrtausendwende . . . . . 412 IV.3 Burschenschaftliche Südtirol-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 IV.3.1 Der Konflikt in völkischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 IV.3.2 Legaler Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 IV.3.3 Beteiligung am Bombenterror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 IV.3.4 Allgemeine Ableitungen zu ‚Volkstumspolitik‘ und völkischer Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 V. Burschenschaften und politische Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 V.1 Völkische Korporationen als freiheitliche Kaderschmieden: eine statistische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Inhalt 10 V.1.1 Die Bundesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 V.1.2 Die Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 V.1.3 Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 V.2 Zur Überparteilichkeit des Burschenschaftswesens in Österreich . . . . . 476 Exkurs: NDP und NFA als verbindungsstudentische Projekte . . . . . . . . . 481 V.3 Flügelkämpfe und Personaldebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 V.3.1 Von der Parteigründung bis zum Innsbrucker Parteitag 1986 . . . . . 490 V.3.2 Haider-Ära, zweite Regierungsbeteiligung und Parteispaltung . . . . 501 V.4 Programmatik und Policy-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 V.4.1 Freiheitliche Parteiprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 V.4.2 Agenda-Setting und Politikfeldbewirtschaftung . . . . . . . . . . . . 516 V.5 Parteienkooperation und Koalitionsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Exkurs: Sonderfall Steiermark? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 V.6 Funktionen der FPÖ für die völkischen Korporationen . . . . . . . . . . 532 V.7 Funktionen des völkischen Korporationswesens für die FPÖ . . . . . . . . 541 V.8 Völkische Verbindungen und FPÖ: prekäre Interessengemeinschaft auf Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . 550 VI. Abschließende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 VI.1 Die politische Bedeutung der Burschenschaften in Österreich . . . . . . 560 VI.2 Zur burschenschaftlichen Politikfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 VI.2.1 Liberal-demokratische und burschenschaftliche Weltsicht . . . . . . 567 VI.2.2 Oppositionell aus Prinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 VI.2.3 Fähig und bereit zum Kompromiss? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Anhang Literatur, publizierte Quellen, Chroniken und Festschriften . . . . . . . . . . 581 Archive und Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Verbindungsstudentische, völkische und freiheitliche Periodika . . . . . . . . 608 Tabelle und Diagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Zitierte eigene Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 Glossar: Organisationen, Organe, verbindungsstudentische Begriffe . . . . . . 612 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 I. EINLEITUNG 1 „Im nationalen Abwehrkampf der Grenzlanddeutschen – und in dieser Position fin- den sich die deutschnationalen Österreicher gerade heute wieder – wurde einer frei- heitlichen Gesellschaftsordnung von jeher wenig Bedeutung beigemessen.“ Diese Feststellung aus einem internen Bericht Norbert Gugerbauers für seine Burschen- schaft der Oberösterreicher Germanen in Wien von 19752 enthält gleich mehrere Kern- merkmale burschenschaftlicher Weltsicht in Österreich : die Selbstwahrnehmung als Außenposten ‚deutschen Volkstums‘ ; die Empfindung , mit dem Rücken zur Wand zu stehen ; die Auffassung vom Kampf als Dauerzustand des eigenen Daseins ; das Erleben dieses Kampfes nicht als Resultat eigener Aggression , sondern als defen- siv , von anderen aufgezwungen ; sowie die Priorisierung ( deutsch-)‚nationalen‘ Stre- bens auf der eigenen politischen Agenda , respektive die Zurückstellung von ‚Frei- heit‘ zugunsten nationaler ‚Einheit‘ im burschenschaftlichen Wertegebäude. Der Urheber des Zitats illustriert zudem die enge Verbundenheit von Burschenschaften und Freiheitlicher Partei Österreichs ( FPÖ ), die für die politische Relevanz der Ers- teren nach 1945 essenziell war.3 Im selben Jahr , in dem Gugerbauer seinen Bericht niederschrieb , legte Heinrich Drimmel , vormaliger österreichischer Unterrichtsminister ( und Korporierter im Öster- reichischen Cartellverband /ÖCV ), seine Autobiographie vor. „Man kann die Geschichte des Politischen in Österreich nicht richtig verstehen lernen , wenn man nicht einen sehr gründlichen Einblick in die Geschichte des Studententums , namentlich des Korpo- rationswesens hat“, stand darin zu lesen.4 Diese Einschätzung hat über den Zeitraum der Zweiten Republik sicherlich an Gültigkeit eingebüßt. Gerade das völkische Ver- bindungswesen , seit dem Aufkommen von Parteien in Österreich organisiertes Rück- grat einer Vielzahl völkischer und ( zunächst auch ) liberaler Initiativen , konnte nach 1945 nicht mehr an seine frühere politische Bedeutung anschließen. Dennoch hinter- ließen nicht wenige seiner Vertreter Spuren in der österreichischen Zeitgeschichte – von den Südtirolterroristen um Norbert Burger über die Verstaatlichten-Generaldirek- 1 Für eine ausführlichere Darstellung der auf den folgenden Seiten nur gerafft wiedergegebenen ( hand- lungs-)theoretischen Vorannahmen , des Erkenntnisinteresses , der Gegenstandsbestimmung , des For- schungsdesigns , quellenkritischer Überlegungen und zentraler Begrifflichkeiten der dem Buch zugrunde liegenden Dissertation vgl. ebendiese : Weidinger 2013 , 1–49. 2 Zit. in Oberösterreicher Germanen 1994 , 60–71 , hier : 62. 3 Gugerbauer fungierte in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren für die FPÖ u. a. als Generalsekretär , stell- vertretender Bundesparteiobmann und Klubobmann im Nationalrat. 4 Drimmel 1975 , 170. I. Einleitung 12 toren Franz Geist und Hugo Michael Sekyra bis hin zu Jörg Haider und Martin Graf , allesamt akademische Burschenschafter. I.1 Forschungsstand und Erkenntnisinteresse Nichtsdestotrotz ist die bisherige Forschungslage zu Burschenschaften ( und völkischen Studentenverbindungen im Allgemeinen ) in der Zweiten Republik als ausgesprochen defizitär zu bezeichnen.5 Kritische Beiträge beschränken sich auf eine geringe Zahl an Artikeln , die weitreichende Überschneidungen zueinander aufweisen und ihren inhaltlichen Schwerpunkt auf rechtsextreme Verwicklungen legen6 , sowie auf eine Reihe von Diplomarbeiten zu Spezialaspekten7. Keine einzige Monographie , kein einziger Sammelband hat bis dato in zugleich kritischer und wissenschaftlich seriö- ser Weise das politische Wirken der völkischen Korporationen in den Fokus genom- men. Den größten Erkenntnisgewinn liefert dank Faktenreichtum und breiter The- menpalette eine Publikation der HochschülerInnenschaft an der Universität Wien 8. Der Band ist in der Selektivität der Darstellung , seinen Wertungen und Schlüssen zum Teil durch die politische Motivation der AutorInnen überdeterminiert , macht allerdings auch keine Anstalten , diese Motivation zu verschleiern. Hans Magenschabs populä- res Sachbuch zu „Macht und Einfluss der Studentenverbindungen“ in Österreich9 be- handelt die Zeit nach 1945 nur am Rande , liefert kaum neue Erkenntnisse und strotzt überdies vor inhaltlichen Fehlern. Reinhold Gärtners Monographie zur Korporierten- zeitschrift Aula 10 behandelt deren Inhaber und LeserInnen sowie die ersten drei Jahr- zehnte ihres Bestehens nur am Rande. Literatur zur parteipolitischen Repräsentation des völkischen Lagers in Österreich nach 1945 – im Wesentlichen: zu VdU und FPÖ – ist in größerem Umfang vorhan- den.11 Das zugehörige Verbindungswesen taucht darin allerdings , wenn überhaupt , nur im Hintergrund auf , als in sich monolithischer Teil eines Milieus , in das die erwähn- 5 Vergleichsweise gut erschlossen sind dagegen die Geschichte der völkischen Korporationen in Österreich vor 1945 ( kritisch Gehler 1994 und 1998 ; Stimmer 1975 ; Chvojka 2009 ; affirmativ u. a. Witzmann 1940 und Mölzer 1980 ) sowie der bundesdeutschen Burschenschaften ( vgl. Gehler/Heither/Kurth/Schäfer 1997 , Heither 2000 , Projekt ‚Konservativismus und Wissenschaft‘ e. V. 2000 , Kurth 2004 ). 6 Vgl. Weinert 1981 ; Gärtner 1989 ; Perner/Zellhofer 1994 ; Gehler 1995a , 1997b und 1998 ; Schiedel/Tröger 2002 ; Gruppe AuA ! 2009 ; zuletzt : Peham 2012 ( noch unveröffentlicht ). 7 Vgl. Radauer 1993 , Haslinger 1998 , Jakubowicz 2005. 8 Vgl. HochschülerInnenschaft an der Universität Wien 2009. 9 Vgl. Magenschab 2011. 10 Vgl. Gärtner 1996. 11 Vgl. an affirmativen Darstellungen etwa Piringer 1982 , Höbelt 1999 , Grillmayer 2006 , Steininger 2007 ; kritisch ( und mit wissenschaftlichem Anspruch ) u. a. Riedlsperger 1978 , Bailer-Galanda/Neugebauer I.1 Forschungsstand und Erkenntnisinteresse 13 ten Parteien eingebettet waren. Obwohl diese Publikationen nicht wenige Korporierte als handelnde Personen zeigen , beziehen sie das Kriterium der Verbindungsmitglied- schaft nicht systematisch in ihre Analysen ein und können daher auch kaum rele- vante Aussagen über die Korporationen treffen. Für die Rechtsextremismusforschung ist v. a. auf das Fehlen von über die Artikelform hinausreichenden Arbeiten hinzuwei- sen – ein Umstand, der als symptomatisch für die ( auch ) in Österreich prekäre Lage des Forschungsstranges überhaupt zu werten ist. Wiederkehrende Wellen journalisti- scher Publikationen , die politischen Konjunkturen folgen12 , können kaum kompensie- ren , dass einschlägigen Phänomenen in Österreich inner- und außeruniversitär wenig kontinuierliche Beachtung zuteil wird , sieht man von der Arbeit des Dokumentations- archivs des Österreichischen Widerstandes ( DÖW ) ab. Ein besonderes Manko der bisherigen kritisch-wissenschaftlichen Auseinanderset- zung mit dem völkischen Verbindungswesen Österreichs nach 1945 stellt die meist äußerst spärliche Quellengrundlage der vorliegenden Arbeiten dar , wie der Landsmann- schafter Stefan Hug zu Recht konstatiert.13 Insbesondere eigenständige Archivrecher- che wurde bislang kaum geleistet , was zu einem bedeutenden Teil auf die Schwierigkeit ( zumal für Außenstehende ) zurückzuführen ist , Zugang zu verbindungsstudentischen Archiven zu erhalten ( vgl. Abschnitt I.4.1 ). Diese Schwierigkeit ist wesentlich dafür verantwortlich , dass die vorliegende Literatur zu völkischen Studentenverbindungen in Österreich von affirmativen bis apologetischen Selbstdarstellungen dominiert wird14 , die nur in den seltensten Fällen des Prädikat ‚wissenschaftlich‘ verdienen. Wie Lön- necker festhält , reichen die entsprechenden Arbeiten oftmals nicht über eine Chronik hinaus , sind an Traditionsstiftung und -pflege interessiert , bleiben einer bloßen Geschehnisaufzählung ( ... ) verhaftet , die über den Rand der eigenen Verbindung oder des eigenen Korporationsverbandes nicht hinaussieht , Entwicklungen und Strukturen oft völlig außer acht läßt15. 1993b , 1997 , Hauch 2000 , Manoschek 2002 , Pelinka 2002 und 2011 , Picker/Salfinger/Zeglovits 2004 , Ge- den 2004 und 2006. 12 Vgl. für die frühen 1990er-Jahre u. a. Scharsach 1995 ; Purtscheller 1993 , 1994 und 1995 ; aus der Zeit um 2010 z. B. Horaczek/Reiterer 2009 , Scharsach 2012. 13 Vgl. Hug 2004. Als Ausnahmen sind die Arbeiten Gehlers sowie Peham 2012 zu nennen. Neben unzu- reichender Quellenfundierung attestieren korporierte Autoren der korporationskritischen Literatur häu- fig auch eine Tendenz zur Pauschalisierung sowie zu selektiven und Brüche ignorierenden Darstellungen ( vgl. ebd. ; Lönnecker 2009a , 117 ; Kaupp 2004 , 2 ). 14 Vgl. beispielsweise Mölzer 1994a oder Graf 2009a. Ein umfangreiches Verzeichnis ( v. a. ) verbindungsstu- dentischer Publikationen findet sich in Krause 2007 , 305–364. 15 Lönnecker 2002 , 11. I. Einleitung 14 Auch vor dem Hintergrund politischer Auseinandersetzungen um die Korporatio- nen werde „vielfach zweckgerichtet gearbeitet“ und sei das Motiv der Kritikabwehr bzw. der Korrektur vorherrschender Fremdbilder „nicht zu unterschätzen“.16 Nach innen hin bestünden Zwecke burschenschaftlicher Geschichtsschreibung in der Tra- ditions- und Identitätsstiftung , was die Arbeiten gleichfalls „oft zur Apologie“ ge- raten und ihre Autoren „eine so nicht gegebene Erfolgsgeschichte ( konstruieren )“ lasse.17 Überdies äußere sich , so Christian Jansen , die „unmittelbare , biographisch be- gründete Betroffenheit“ der meisten Studentenhistoriker auch in einer „introvertier- ten Schreibweise“, durch die viele Arbeiten sich „in hohem Maße dem wissenschaft- lichen Diskurs“ entzögen.18 Angesichts der polarisierten Forschungslandschaft mag kaum verwundern , dass Dar- stellungen von Geschichte und Gegenwart akademischer Burschenschaften in Österreich von einem auffälligen Kontrast geprägt sind : Selbstdarstellungen als Vorkämpfer von De- mokratie und Freiheitsrechten seit jeher stehen Beiträge ‚von außen‘ gegenüber , die bur - schenschaftliche Geschichte weitgehend auf Bücherverbrennungen , ‚Arierparagraphen‘ und ( neo-)nationalsozialistische Umtriebe reduzieren. Tatsächlich stellt die im frühen 19. Jahrhundert ihren Ausgang nehmende burschenschaftliche Geschichte höchst unter- schiedliche Bezugspunkte bereit – für den heutigen Burschenschafter ebenso wie für die HistorikerIn. Kämpfe um die Erweiterung politischer Teilhaberechte und individueller Freiheiten finden sich darin ebenso wie solche um deren Abschaffung ; liberale Streiter gegen den Klerikalismus ebenso wie rechtsextreme Bombenwerfer. Vor diesem Hintergrund soll dieses Buch eine differenzierte , systematische und zeitlich umfassende Darstellung des politischen Denkens und Handelns von Bur- schenschafte( r )n in der Zweiten Republik liefern , dabei allerdings den Rahmen ei- ner bloß beschreibenden Organisationsgeschichte überschreiten. Die gleichberechtigte Auseinandersetzung mit der Ideologie und der politischen Praxis von Burschen- schafte( r )n sollte es vielmehr ermöglichen , ihr politisches Verhalten nicht nur zu porträtieren , sondern auch nachvollziehbar zu machen. Im Kern ging es dabei darum , mehrere Jahrzehnte burschenschaftlicher Betätigung auf deren Strukturmerkmale hin zu untersuchen. Dabei waren – unter angemessener Berücksichtigung von inneren Wi- dersprüchen und Veränderungen des Gegenstandes über die Zeit – jene handlungslei- tenden Motive und Denkfiguren sowie jene Praxen herauszuarbeiten , die für den bur- schenschaftlichen Mainstream in Österreich als charakteristisch gelten können. Im Sinne einer adäquaten zeithistorischen Einbettung war das burschenschaftliche Denken und Handeln darüber hinaus auf seine gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen 16 Ebd., 11 f. 17 Lönnecker 2009a , 115. Vgl. auch Cerwinka 2009 , 91. 18 Jansen 1998 , 436. I.2 Zum Gegenstand der Untersuchung 15 hin zu befragen. Nicht nur die Anpassungsreaktionen auf Veränderungen des gesell- schaftlichen Umfelds waren dabei von Interesse , sondern auch das Ausbleiben solcher Reaktionen trotz veränderter Umfeldbedingungen. Ein besonderes Anliegen war es mir , eine Engführung der Analyse auf die neo- nazistischen , rassistischen und antisemitischen Gehalte burschenschaftlicher Betäti- gung zu vermeiden. Dies nicht nur , weil vorliegende Literatur gerade ihnen besondere Beachtung schenkt , sondern auch im Sinne der Einschätzung Theodor W. Adornos , wonach größere Bedrohung vom „Nachleben des Nationalsozialismus in der Demo- kratie“ ausgehe als vom „Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“.19 Gleichwohl wird , so viel sei vorausgeschickt , der Blick auf das Wirken von Burschen- schafte( r )n innerhalb des institutionellen und normativen Rahmens bürgerlicher De- mokratie nicht nur erhellen , dass burschenschaftliche Weltanschauung im völkischen Nationalismus ankert , sondern auch dass dieser völkische Nationalismus die ideolo- gische Basis der erwähnten extremistischen Auffälligkeiten bildet und Letztere daher weniger als Anomalien denn als chronische Symptome burschenschaftlicher Weltsicht ( in ihrer in Österreich typischen Ausformung ) zu bestimmen sind. I.2 Zum Gegenstand der Untersuchung Im Fokus des vorliegenden Buches stehen jene akademischen Burschenschaften ( und die Mitglieder derselben ), die nach 1945 in Österreich zumindest vorübergehend einen sogenannten Aktivbetrieb unterhielten , d. h. : nicht nur als reine Altherrenschaften be- standen , sondern auch Studenten zu rekrutieren vermochten. Im Wesentlichen umfasst das Feld die ( dauerhaften oder zeitweiligen ) Mitgliedsbünde des Verbandes Deutsche Burschenschaft in Österreich ( DBÖ ) bzw. ihres Vorgängers ( des Allgemeinen Delegierten Convents / ADC ) und/oder der Deutschen Burschenschaft ( DB ). Es handelt sich dabei , je nach Handhabung von Fusionen , um 30 bis 37 Bünde in sechs Städten ( Graz , Inns- bruck , Leoben , Linz , Salzburg und Wien ), wobei ich aus forschungspragmatischen Gründen schwerpunktmäßig die Wiener Burschenschaften in den Blick nehme.20 Die 19 Adorno 2003a , 555 f. Vgl. zum burschenschaftlichen Antisemitismus Weidinger 2012 und Peham 2012 , 18– 22 , zur Pionierrolle des ( korporierten ) Studententums bei der Durchsetzung des Rassenantisemitismus in Österreich auch Wladika 2005 , 30–33 , 42 f., 48 f., 103–109 , 158–163 , 225–227 , 286–291 ; zum historischen Zusammenhang von Antisemitismus und völkischem Nationalismus vgl. Puschner 2001 , 49–201 ( v. a. 51– 54 ) und Breuer 2005 , speziell für Österreich : Peham 2010 und Arendt 1955 , 344–368. 20 Graz : Allemannia , Arminia , Carniola , Cheruskia ( inkl. Rhaetogermania ), Frankonia , Germania , Marcho Teu- tonia , Stiria ; Innsbruck : Brixia , Germania , Suevia ; Leoben : Cruxia ( inkl. Wiking ), Leder ( inkl. Eisen ); Linz : Arminia Czernowitz ( inkl. Markomannia ); Salzburg : Germania , Gothia ; Wien : Alania ( inkl. Ost- mark ), Albia , Aldania , Alemannia , Bruna Sudetia , Gothia , Libertas , Moldavia ( inkl. Südmark ), Nibelungia , Oberösterreicher Germanen , Olympia ( inkl. Vandalia ), Silesia , Silvania , Teutonia. I. Einleitung 16 Gesamtmitgliederzahl der erfassten Bünde dürfte österreichweit zu keinem Zeitpunkt nach 1945 die 4.000 erreicht haben.21 Vieles des über akademische Burschenschaften zu Sagenden trifft auch auf andere völkische Korporationen – Landsmannschaften , Corps , Vereine Deutscher Studen- ten usw. – zu. Diese werde ich , ebenso wie das katholische Verbindungswesen und Burschenschaften in der Bundesrepublik Deutschland , immer wieder streifen , um die Befunde über akademische Burschenschaften zu ergänzen und gegebenenfalls zu kontrastieren. Dass ich den Fokus auf Letztere lege , verdankt sich dem Umstand , dass diese zum einen seit jeher ein besonders prononciert politisches Selbstverständ- nis und zum anderen ein ideologisch vergleichsweise homogenes Profil aufweisen. Zeitlich verfolgt das Buch burschenschaftliche Entwicklungen von der Restauration der völkischen Verbindungen um 1950 bis in die jüngste Vergangenheit. Parteipolitik wird , von den statistischen Erhebungen in Kapitel V.1 und vereinzelten Ad-hoc-Ver- weisen abgesehen , nur bis zum Anbruch der Ära Heinz-Christian Straches als FPÖ- Obmann 2005 behandelt , um ein Mindestmaß an Distanz zum tagespolitischen Ge- schehen zu wahren. Was meint ‚politisches Handeln‘? Die in diesem Buch dargestellten Forschungsergebnisse wurden auf Basis des For- schungsprogramms der Grounded Theory nach Juliet Corbin und Anselm Strauss er- arbeitet. Im Sinne des symbolischen Interaktionismus , der diesem Ansatz zugrunde liegt , analysiere ich Handeln als strategisches , auf die Lösung von Problemen bzw. He- rausforderungen durch Umweltanforderungen gerichtetes Handeln , wobei die konkrete Gestalt der Herausforderungen in den subjektiven Interpretationen fußt , welche die AkteurInnen sich von der sozialen Wirklichkeit machen.22 Das politische Handeln von Burschenschafte( r )n im Zeitverlauf kann somit nur verstanden werden , wenn es ge- lingt , die Problemstellungen zu identifizieren , denen sie sich gegenübersahen und zu deren Bewältigung ihr Handeln subjektiv Sinn ergab.23 21 Mit Ende des Sommersemesters 1960 , das in die Hochphase burschenschaftlicher Rekrutierung nach 1945 fiel , verfügten die DBÖ-Bünde über insgesamt 3.656 Mitglieder , davon 3.036 Alte Herren ( vgl. BAK , DB 9 , E. 4 [ A2 ], Anlage 2/5 zur Niederschrift des ord. DBÖ-Tages 1961 , 1 ). Im Jahr 1958/59 be- trug die gerundete durchschnittliche Bundgröße 106 Alte Herren und 21 studentische Mitglieder ( vgl. BAK , DB 9 , E. 4 [ A2 ], Anlage 2/5 zum Protokoll des DBÖ-Tages 1960 , 8 ). Mitte der 1990er-Jahre gab die DBÖ die Stärke ihrer damals 24 Mitgliedsbünde mit durchschnittlich „rund 80“ an ( AVSt , DBÖ 1994 , 5 ). 22 Vgl. Corbin/Strauss 1996 , 164 ; grundlegend Blumer 1986. Zur handlungsmotivierenden Rolle von Ideo- logie vgl. die Ausführungen zur ‚relativen Autonomie des Ideologischen‘ in Kapitel III.7.3. 23 Vgl. dazu auch Ute Frevert ( paraphrasiert in Lönnecker 2002 , 13 ): gerade weil das Verbindungsstuden- tentum „heute auf viele Menschen so fremd und befremdend wirke , müsse die historische Untersuchung I.2 Zum Gegenstand der Untersuchung 17 Als politisches Handeln fasse ich im Kern die Betätigung individueller Burschen- schafter innerhalb von Partei- und staatlichen Strukturen sowie die Aktivitäten bur- schenschaftlicher Kollektivakteure ( Bünde , Verbände ) mit direktem Bezug auf diese Strukturen , etwa in Form von Resolutionen an MinisterInnen oder von Demonstra- tionen vor Botschaftsgebäuden. Wenngleich damit ihrerseits alles andere als unpoliti- sche Aspekte wie das verbindungsstudentische Brauchtum in den Hintergrund treten , möchte ich deren erkenntnisförderndem Potenzial zumindest ansatzweise Rechnung tragen.24 In zweiter Linie berücksichtige ich metapolitisches Handeln im Sinne der fran- zösischen ‚Neuen Rechten‘ ( ‚Nouvelle Droite‘ ). Metapolitik bezeichnet hier ein aus der rechtsextremen Gramsci-Rezeption hergeleitetes strategisches Konzept zur Erlangung ‚kultureller Hegemonie‘. Durch Aktivitäten im vorpolitischen Raum ( wie etwa publi- zistische und künstlerische Interventionen ) soll Einfluss auf die Einstellungen und Werthaltungen breiter Bevölkerungsschichten genommen und sollen bestimmte Deu- tungen sozialer Problemlagen durchgesetzt werden. Auf Grundlage einer erfolgreichen ‚Kulturrevolution von rechts‘ ließen sich , so die Hoffnung , schließlich im durchaus „po- litische( n ) Frontalangriff die Früchte des ideologischen Stellungskrieges ernte( n )“.25 Da die sukzessive ‚Rechtsverschiebung‘ der Grenzen des widerspruchsfrei Artikulier- baren demnach nur dazu dient , auch die Grenzen des politisch Machbaren in diese Richtung zu erweitern , begreife ich Metapolitik nicht als Anderes der Politik , sondern als Bestandteil derselben. Als ausformulierte Strategie ist Metapolitik in burschenschaftlichen Quellen aus Österreich nur selten anzutreffen. Dennoch meine ich nachweisen zu können , dass bur- schenschaftliche Akteure in Österreich nach 1945 in relevantem Umfang Aktivitäten setzten , die in ihren Zielsetzungen und Mitteln metapolitischen Konzepten entspra- chen. Die Einbeziehung dieser Aktivitäten erscheint gegenüber einer staatsfixierten Perspektive insofern als angeraten , als burschenschaftliche Politik seit jeher zu einem wesentlichen Teil nicht in Parlamenten und über Petitionen , sondern etwa in Kom- mentarspalten und in Form von Flugschriften betrieben wurde. Zudem begünstigte die parteipolitische Marginalisierung des ‚Dritten Lagers‘ nach 1945 eine verstärkte Orien- tierung auf kulturelle Belange zuungunsten von politischem Engagement im engeren darum bemüht sein , die erfahrungsnahen Begriffe und Beschreibungen der Mitglieder und Beteiligten zu treffen und eine angemessene Balance zwischen phänomenologischem Verstehen und sozialstruktu- reller Erklärung zu halten“. 24 Ausgiebig realisiert wurde dieses Potenzial bislang von AutorInnen wie Heither ( 2000 ), Kurth ( 2002 ), Fichter ( 2009 ) und Schiedel/Wollner ( 2009 ). 25 Benoist 1985 , 20. Vgl. aus ‚neurechter‘ Perspektive auch ebd., 39–52 , und Benoist 1984 , 379–89 ; zu den Wur- zeln des metapolitischen Ansatzes im völkischen Denken deutscher Romantiker vgl. die Neue Front vom 11. 2. 1961 , 9 ; zur Kritik der ‚Neuen Rechten‘ ( einschließlich ihres Neuheitsanspruches ) vgl. Kapitel IV.2.7 sowie Gessenharter/Pfeiffer 2004 , Schiedel 1998 und Bailer 2004. I. Einleitung 18 Sinn. In dieselbe Richtung wies der prioritäre Stellenwert des ( deutschen ) Volkstums- bekenntnisses innerhalb der burschenschaftlichen politischen Agenda : Anstelle des al- ten ‚Anschluß‘-Wunsches trat angesichts der veränderten politischen und rechtlichen Realitäten das Ziel einer zumindest kulturellen ‚Deutscherhaltung‘ ins Zentrum bur- schenschaftlichen Strebens. Zur Relevanz individuellen Handelns Meine Berücksichtigung des Handelns einzelner Burschenschafter außerhalb burschen- schaftlicher Zusammenhänge folgt der Annahme , dass seit jeher ein sehr wesentlicher Teil burschenschaftlichen politischen Einflusses just auf solchem Wege ausgeübt wurde. Nichtsdestotrotz ist offenkundig , dass Burschenschafter in ihrer Verbindungsmitglied- schaft nicht aufgehen , sondern stets auch als Männer , Angehörige einer ( wie auch immer bestimmten ) ‚ethnischen Mehrheitsbevölkerung‘ , Akademiker u. a. m. handeln. Dies wirft die Frage auf , inwieweit individuelles Handeln außerhalb der Burschenschaft überhaupt als ‚burschenschaftliches Handeln‘ aufgefasst werden kann – d. h. als Handeln , auf dessen Grundlage sich legitimerweise Aussagen über burschenschaftliche Kollektive formulie- ren ließen. Dazu ist zunächst festzuhalten , dass der individuellen Handlungsfreiheit des Burschenschafters Grenzen durch den Bund gesetzt werden : Wer , auch im beruflichen oder privaten Umfeld , ein Verhalten an den Tag legt , das als mit burschenschaftlichem Denken unvereinbar und/oder das Ansehen des Bundes schädigend eingestuft wird , hat mit Ausschluss zu rechnen ( vgl. dazu die Kapitel III.8.4 f. und V.2 ). In Anbetracht dessen ist davon auszugehen , dass Handlungen einzelner Burschenschafter über darauf folgende ( oder auch ausbleibende ) Sanktionierung Rückschlüsse auf das Spektrum bundintern als tolerabel geltender Meinungen bzw. Handlungsweisen zulassen. Als zweites Argument für das gewählte Vorgehen sei der Stellenwert burschenschaft- licher Sozialisation für das Individuum angeführt. Nicht nur ist es die deklarierte Ab- sicht von Burschenschaften , das Verhalten jedes Mitglieds in allen Lebensbereichen zu prägen ; einiges deutet auch darauf hin , dass sie mit ihrem umfassenden Erziehungs- anspruch soziale Zusammenhänge von außerordentlich hoher sozialisatorischer Präge- kraft darstellen.26 Freilich werden die von ihnen verabreichten pädagogischen Impulse von den Individuen unterschiedlich verarbeitet. Wie stark Identität und Handeln des Burschenschafters durch seine Sozialisation in der Verbindung geformt sind , ist daher von Fall zu Fall verschieden. Haltbare Rückschlüsse von individuellem Handeln auf kollektive Merkmale bedürfen daher einer über bloße sozialisatorische Verbundenheit hinausreichenden Begründung. Eine solche kann zum Ersten im Aufzeigen konkreter 26 Vgl. die Kapitel III.1 bis III.3 sowie zur burschenschaftlichen bzw. allgemein verbindungsstudentischen Sozialisation auch Heither 2000 , 59–78 , bzw. Peters 2004. I.2 Zum Gegenstand der Untersuchung 19 ( individueller ) Kausalität bestehen – d. h. in dem Nachweis , dass das infrage stehende Verhalten in relevantem Ausmaß durch den ‚Faktor Burschenschaft‘ beeinflusst war.27 Dieser Nachweis kann im simpelsten Fall über eine entsprechende Erklärung des Be- treffenden selbst erbracht werden. In anderen Fällen wird ein Zusammenhang von So- zialisation und Handlung über Indizien wie sprachliche Auffälligkeiten oder indivi- dualbiografphische Details zu argumentieren sein. Ergänzend kann dabei generische Kausalität ins Treffen geführt werden ( vgl. hierzu Kapitel III.2 ), wie sie von burschen- schaftlicher Seite bisweilen behauptet wird : „Wir sind in erster Linie Burschenschaf- ter und dann erst Mitglieder einer Partei oder einer sonstigen Gliederung unseres Ge- meinwesens.“28 Als dritter Indikator bietet sich Exklusivität bzw. relative Häufung an. Legt eine relevante Zahl an Burschenschaftern eine bestimmte Verhaltensweise an den Tag und fördert auch gezielte Suche keine oder eine im Verhältnis verschwindend ge- ringe Zahl an Gegenbeispielen zutage , so erhöht dies die Plausibilität eines Rückschlus- ses auf generische burschenschaftliche Eigenschaften. Beispielsweise liefert die nahezu vollständige Konzentration burschenschaftlicher Berufspolitiker in einer einzigen Par- lamentspartei der Zweiten Republik ein deutliches Indiz für eine zumindest tenden- zielle Parteibindung der Burschenschaften in Österreich. In der Analyse des Verhaltens burschenschaftlicher Parteifunktionäre wiederum kann feststellbarer Kontrast zum Ver- halten nicht oder anderweitig korporierter FunktionsträgerInnen auf allgemein-bur- schenschaftliche Eigenschaften hindeuten ( vgl. hierzu die Einleitung zu Kapitel V ). Der dritte Grund , weshalb ich die Berücksichtigung des Handelns von Burschen- schaftern außerhalb burschenschaftlicher Zusammenhänge für zulässig , ja für wichtig erachte , besteht darin , dass nicht nur die Verbindung das einzelne Mitglied , sondern dieses umgekehrt auch die Verbindung mit formt. Nach symbolisch-interaktionistischer Auffassung entspinnt soziales Handeln sich in einem Prozess gegenseitiger Interpreta- tion und wechselseitiger Abstimmung von Handlungsoptionen durch die Individuen. Um überhaupt handlungsfähig zu sein , pflegen diese auf eingeübte Deutungen und er- probte Handlungsstrategien zurückzugreifen und entsprechende Erwartungen aneinan- der zu stellen. Soziale Normen und ihnen adäquate Verhaltensmuster weisen daher eine gewisse Trägheit auf. Gleichwohl bedürfen sie , um in Geltung zu bleiben , der ständigen Bekräftigung. Ihre Veränderung vollzieht sich teils als Produkt missglückter Wieder- holung , teils in Form des mehr oder weniger bewussten Zuwiderhandelns.29 Was auch 27 Kausalität ist hier wie auch im folgenden Fall nicht im Sinne