Platsch Jürgen Marschal Roman Über die Autoren: Jürgen Marschal * 1983 in Mistelbach Karel Čapek * 1890 in Malé Svatoňovice † 1938 in Prag ›Platsch‹ ist eine zeitgenössische Adaption von Karel Čapeks 1936 erschienenem Roman ›Der Krieg mit den Molchen‹. I. Andrias Scheuchzeri »So this is what a civilization committing mass suicide looks like ...« User-Kommentar unter dem YouTube-Video ›deep sea mining could transform our earth‹ 11 Kapitän Valloni und seine Dämonen – Tana Masa, Indonesien Wer in einem Weltatlas die kleine Insel Tana Masa suchte, der hätte sich vergeblich abgemüht. Wer aber auf Google Maps südlich bei Sumatra nachgesehen, am Äquator so weit wie möglich hineingezoomt, und dann auch noch mit einer Lupe auf den Bildschirm geschaut hätte, ja, der hätte viel- leicht ab und zu einen Fliegenschiss am Bildschirm entde- cken können, der sich Tana Masa nannte. Aber nur ab und zu. Denn im Bürgermeisteramt von Tana Masa arbeitete jah- relang ein eigener Onlinebeamter, der acht Stunden am Tag Wikipedia, Google und überhaupt das ganze Internet durch- forstete, um alle Hinweise auf die bloß 3.229 Einwohner zäh- lende kleine Insel wieder aus dem Netz löschen zu lassen. »Seit 2013 war kein Tourist mehr hier!«, erzählte der Bürger- meister stolz seiner Familie. »Opa, was ist das, ein Tourist?«, fragte seine Enkelin wissbegierig. Der Fremdenhass in Tana Masa war jedoch nicht böse gemeint, sondern beruhte auf einer fast niedlichen Legende. Afrika, so sagte man, mag zwar die Wiege der Menschheit gewesen sein, aber Tana Masa könnte das Totenbett der menschlichen Zivilisation werden. Jahrhunderte hielt sich auf dieser Insel der Mythos, dass die gesamte Menschheit nur so lange existieren wird, so lange es hier mehr Einheimi- sche als Fremde gibt. An dem Tag aber, an dem mehr Fremde als Einheimische auf diesem Fliegenschiss einer Insel leben, ist die gesamte Menschheit unwiderrulich dem Untergang geweiht. An diese so erfundene wie lächerliche Sage glaub- ten die Einheimischen bis zum Schluss verbissen wie an ein wissenschaftliches Gesetz. Weil es eben immer schon so war. Und was immer schon so war, das stellt man natürlich nicht in Frage. Sonst wäre es ja nicht immer schon so gewesen. Logisch. 12 Während man in Tana Masa also alles tat, um keine Fremden sesshaft werden zu lassen, um dadurch den Untergang der Menschheit zu vermeiden, steuerte nun ausgerechnet das fußballfeldgroße Forschungsschif mit dem wunderbar schö- nen und absolut lächerlich nichtssagenden Namen ›Future of the World IV‹ auf Tana Masa zu. Mit gleich 72 Fremden im Gepäck. An Bord des Schifes zierte sich der Kapitän Johann Valloni vor dem Anlegen in den kleinen Hafen, fast so, als müsse er hier zu einer dreiwöchigen Wurzelbehandlung absteigen. Valloni luchte über die Insel und erklärte seiner Crew, dass es sich bei diesem Tana Masa zweifelsohne um das dreckigste Drecksloch der ganzen Sundainseln handelt, sogar noch viel versauter als Tan Balana, ja gottloser als Pini oder Banyak, und von gehässigeren Einheimischen bevöl- kert, als die verachtenswerten Pädophileninseln Tolaka, San Severin und Australien. Kapitän Valloni schifte seine ›Future of the World IV‹ aber natürlich nicht nur wegen der oiziellen Order hierher. Ja klar, er hatte 70 Forscher an Bord, die das Meer für eine nachhaltige Klimapolitik erforschen sollten. Ja klar, auch die beiden Röntgengeräte, die im Rahmen eines Entwick- lungshilfeprogramms hierher gebracht wurden, standen oiziell in seinen Auftragspapieren. Röntgengeräte, die in Europa wegen zu hoher Strahlung längst verboten waren, deren fachgerechte Entsorgung aber mehr gekostet hätte, als sie nach Tana Masa zu exportieren. Ja klar, haha, klar sei aber auch, dachte Valloni, dass ein Mann wie er, Kapitän Valloni, neben der oiziellen Order auch seine eigenen Auf- traggeber hatte, von denen der Rest an Bord nichts wusste, nichts wissen sollte, nichts wissen durfte. Am Heck der ›Future of the World IV‹ baumelte zwar die hol- ländische Flagge, Valloni aber war geborener Österreicher. Aufgewachsen im niederösterreichischen Flachland, blieb Valloni bis heute überzeugter Nichtschwimmer. Im Pool 13 plantschen, das verstand er vielleicht noch, aber kopfüber ins Meer springen!? »Taucher sind oberlächliche Menschen«, belehrte Valloni seine Crewmitglieder, wenn sie in einer Pause wieder mal freudig ins Wasser hüpften. »Taucher haben keinen Respekt vor dem Meer! Wer taucht, der begeht Hausfriedensbruch bei Lebewesen, die uns einen Scheißdreck angehen. Der Mensch hat den Kopf oben am Körper, um nach oben zu schauen, und nicht nach unten hinab in das beschissene Meer.« Valloni war mit Mitte 20 aber nicht Kapitän geworden, weil er die Schiffahrt liebte, sondern weil er das Land hasste. Jedes seiner Schife fun- gierte ihm als schwimmendes Exil. Am Meer lüchtete Val- loni seit Jahrzehnten vor seiner Heimat. Valloni verachtete Österreicher, denn sie waren für ihn verkommen, verlogen, pathologisch rassistisch und hässlich, und genau deshalb erinnerten sie ihn immer an sich selbst. Und da Valloni sich selbst nicht wirklich mochte, mied er sein Heimatland, um nicht an sich selbst erinnert zu werden. Sein Äußeres hingegen war für einen 52-jährigen Österreicher durchaus herzeigbar. Gut genährte aber muskulöse Statur, graues, dickes, mittellanges Haar, das wie Draht war und sich bie- gen und formen ließ. Valloni hatte ein schiefes, aber sym- pathisches Lächeln, und sah aus wie ein in Würde gealterter Schlagersänger. An Bord unzähliger Frachtschife traf er seit Jahrzehnten auf verschiedenste gutgelaunte Menschen, und selbst der wankelmütigste Portugiese strotzte immer noch mehr vor Lebenslust als der fröhlichste Wiener. Valloni fuhr zur See, um hunderte Länder zu bereisen, um in jedem Hafen ein Stück des Österreichers in ihm zurückzulassen und abzule- gen. Er wollte sich häuten, den Österreicher abstreifen. Weltofener und fröhlicher gemacht hat das Leben auf hoher See den Kapitän natürlich trotzdem nicht. Valloni hat sich zwar regelmäßig gehäutet, doch der Österreicher in ihm wuchs trotzdem immer wieder nach. 14 Er setzte seinen Fuß auf das staubige Land der Insel, auf der er insgesamt wohl schon drei- oder viermal war, sich zum Glück aber an fast nichts mehr erinnern konnte. Auf Tana Masa war nur eine einzige Stadt bewohnt, wobei es sich nicht um eine Stadt im westlichen Sinne handelte. Regelmä- ßig zerstörte der Sturm die Holzhütten, die anschließend an anderer Stelle wieder aufgebaut wurden. Die Menschen ver- suchten, vom Fischfang zu leben, ernährten sich aber haupt- sächlich von den Konservendosen und den Cola-Flaschen, die einmal im Monat als Hilfslieferung vom Festland kamen. Beim Anblick der Bewohner erschauderte Valloni. Der Kapi- tän betrachtete einen alten Dorbewohner, der in seiner Hän- gematte im Rhythmus wippte. Für die Bataks, die indigenen Einheimischen auf Tana Masa, hatte Valloni weniger Res- pekt als für sein Magengeschwür. Denn das Magengeschwür, so der Kapitän, pulsiere wenigstens und tue alles, um sich weiter zu entwickeln. Diese Bataks dort aber sehen aus, als hätte ihnen die Evolution nie eine Wirbelsäule geschenkt, um aus den Hängematten zu klettern, dachte sich Valloni. Abgesehen von den Bataks gab es hier nur ein einziges men- schenartiges Wesen. Diesen Handelsvertreter. Ein ekelhaf- ter Mischling aus einem Italiener und einem Hund, wobei die Hunde-DNA eindeutig überwog. Das lange und von jahrelangem Alkoholmissbrauch eingefallene Gesicht hatte beinahe keinen Platz mehr für Wangen, weil überall Augen- ringe sich nach unten hin Richtung Kinn wellenartig aus- breiteten. Der Mischling war wie ein Baum. Jedes Jahr kam ein Augenring hinzu. Sein dunkles Haar hing an seiner Stirn herab, als wären an der Frisur Gewichter angebracht. Wenn er saß, wirkte er irgendwie lässig und relaxt, aber sobald er aufstand, bewegte er sich wie eine Marionette. Ein braver, gläubiger Katholik war er, der Mischling, denn jeden Sonntag pünktlich um zehn Uhr legte er per Skype seine Beichte bei einem Priester in Sizilien ab, da es in der 15 Gegend hier auf 500 Kilometer keinen katholischen Beicht- vater gab. Seit Jahren war er der einzige Fremde, der in Tana Masa sesshaft geworden war und geduldet wurde. Die Einheimi- schen sahen in ihm keine Bedrohung, sondern eher einen Unterstützer ihrer Politik. Der Mischling war ein derart abscheulicher Zeitgenosse, dass er alle Besucher der Insel ohnehin sofort wieder auf die Schife zurück ekelte. Auf sei- ner Visitenkarte sollte nicht ›Handelsagent‹ stehen, sondern ›Vogelscheuche‹. Oh Gott, dachte sich der Kapitän, als er durch das indonesi- sche Dorf spazierte. Er hatte wahrlich schon viele Dreckslö- cher beschift, aber Tana Masa? Ach ... Valloni besuchte in einer Nebenstraße vom Hauptlatz weg- führend die kleine Bar, das einzige Lokal der ganzen Insel. Er setzte sich auf einen weißen Plastikstuhl und telefonierte nach Europa. »Diese scheiß Maturanten gehen mir auf die Nerven!« Valloni sprach mit einer Sekretärin der Reederei, die jedoch nicht antwortete, sondern nur lauschte. Wenn Val- loni Zeit hatte, sprach er gerne mit Europa und beschwerte sich über seine Firma, interessanterweise am liebsten auch bei seiner Firma. Mit ›Maturanten‹ meinte Valloni diese neue junge Riege von Vorstandsmitgliedern, Investoren, PR-Managern, Business Angels, Politikern und anderen Verbrechern. Fast wie über Nacht saßen plötzlich in allen Chefetagen, Gremien und Par- lamenten der Welt nur noch Milchgesichter. Die Zeit des ›Alten Weißen Mannes‹ war vorbei. Die Zeit des ›Jungen Weißen Mannes‹ war gekommen. Der Jugendwahn machte auch vor der Industrie nicht halt. Sie verdrängten die alten erfahrenen Geschäftsführer, die in ihren zu großen Anzügen und mit ihren Pfeifen zwar jahr- zehntelang genauso korrupt und machtgeil agierten wie die neuen Jungen, die aber den Kapitän wenigstens noch auf Augenhöhe gegenübertraten. Diese kleinen, kaum 1,75 Meter 16 großen Bubis aber, blickten den 1,90 Meter großen Kapitän nur noch von oben herab an. »Diese Maturanten zu Hause in Amsterdam oder Hamburg oder auf den Jersey Islands oder wo auch immer sich unser Firmensitz gerade wieder beindet, die denken immer nur ans Geld! Als ich im Jahr 2011 mit der ›Future of the World III‹ gesunken bin, haben sie auf der Pressekonferenz zuerst erklärt, dass kein Gewinneinbruch zu befürchten sei, und dann erst haben sie beiläuig erwähnt, dass niemand an Bord verletzt wurde.« Von den drei rumänischen Matrosen, die ertrunken sind, wurde natürlich nicht gesprochen. »Wer keine Papiere hat, der kann oiziell gar nicht sterben und wird ewig leben!«, lautete ein trauriger, aber wahrer Witz unter Schwarzarbeitern auf Schifen. Vallonis Schif sank damals, weil die Chinesen ihn bombar- dierten. Das chinesische Militär vermutete geschmuggelte Wafen an Bord. »Ihr könnt eine Flotte doch nicht ›Future of the World‹ nennen!«, warnte der Kapitän die Reederei schon damals. »Was ist denn das für ein idiotischer Name für ein illegales Schif? Das schreit ja geradezu nach Tarnung. Da kann ich ja gleich Heiratsschwindler werden und mich Max Mustermann nennen!« Zwei Stunden später telefonierte Valloni abermals nach Europa, um sich bei einem anderen Assistenten zu beschweren. »Seht euch mal um hier! Seht ihr in diesem Drecksloch irgendetwas, womit diese Maturanten zu Hause noch Geld verdienen könnten? Nichts auf der Welt wurde häuiger aus- gebeutet, als all diese angeblich abgeschiedenen Inseln und einsamen Paradiese. Jahrhundertelang raubten die Koloni- almächte jeden noch so kleinen Fleck im Meer aus. Dann, nach den Weltkriegen, kamen die Konzerne. Der weiße Mann hat sich doch schon alles genommen und an sich gerissen, was er inden konnte. Dutzende Nationen stürmten über unschuldige Inseln und Ländereien, so rücksichtslos und 17 gierig wie über eine alte Hure, die sich nicht wehren kann, weil sie keinen Zuhälter mehr indet.« Ach so, ob Valloni damals, als man ihn bombardierte, wirk- lich Wafen an Bord hatte? Natürlich nicht. Wafenschmug- gel machte er damals schon seit Jahren nicht mehr. Die ›Future of the World III‹ war ein astreines Forschungsschif, wie auch die ›Future of the World IV‹. »Alle Schife der Flotte standen im Dienste der Wissenschaft, Nachhaltigkeit und Humanitärität, oder wie man das heutzutage nennt«, zeigte sich Valloni immer stolz. Am Schif befanden sich Forsche- rinnen und Forscher renommierter Universitäten, Stiftun- gen und NGOs. Und Vallonis ehrenvolle Aufgabe war es, diese Leute überall dort hin zu bringen, wo sie ihre For- schungen und Studien im Meer durchführen wollten. Val- loni war somit quasi Mitglied der mutigen Kämpfer für die Erhaltung des Ökosystems, die Rettung der Ozeane und der Erdkugel gleich dazu. Das Einzige, das wirklich Einzige, das man dem Kapitän Valloni hätte vorwerfen können, war, dass er kurz vor dem Ende jeder Mission heimlich alle Studien und Festplatten der Forscher kopierte, und die Ergebnisse an die Maturanten schickte, die diese an Rohstofirmen und Regierungen verkauften. »Aber mir geht es nicht ums Geld, sondern ums Prinzip!«, plegte Valloni sich zu verteidigen. Was auch immer er damit meinte, Prinzipien jedenfalls hatte der Kapitän ziemlich gerne. Valloni legte das Telefon beiseite und sprach mit dem klei- nen, zappelnden Käfer, den er aus seiner Cola-Flasche ret- tete und auf den Plastiktisch setzte. »Geld wollen sie! Diese Chefetagen brauchen ständig einen Krieg, damit ihnen nicht langweilig wird. Wenn Sie Angst haben um ihr Geld, dann schafen sie eine Finanzkrise. Wenn plötzlich die anderen mehr Geld haben, erinden sie 18 einen Religionskrieg, und wenn das Geld mal ganz weg ist, dann brauchen sie ruckzuck einen Weltkrieg.« Valloni trocknete den Käfer mit seinem Ärmel ab. Der Käfer blickte kurz hoch, als ob er mit den Schultern zucken würde. Dann log er davon. Gegenüber der Bar öfnete ein einheimischer Batak die Tür seiner Hütte und für einen kurzen Moment konnte Valloni durch Tür und Fenster der Hütte hindurch sehen, hinaus aufs Meer, wo die ›Future of the World IV‹ ruhig auf und ab wippte. Mit 72 Mann an Bord war es eines der größten Forschungsschife der Welt, ausgerüstet mit moderns- tem Equipment, große Hofnung dutzender NGOs und Umweltorganisationen, ausgezeichnet mit dem WWF-Li- fetime-Achievement-Award, und seit 2012 im Besitz eines Hedgefonds. Eine Gruppe Bataks betrat den Gastgarten der Bar, und als sie Valloni erblickten, schnappten sie sich sofort einige weiße Plastikstühle und setzten sich so weit wie möglich weg von ihm. Valloni spielte mit seinem Drahthaar. Kurz überlegte er, ob er sich zu den Einheimischen setzen sollte, aber was hätte er mit ihnen reden sollen? Niemand hier auf dieser Insel interessierte sich für lächer- liche ›First World Problems‹ wie den gestrigen Anschlag in München, bei dem die mittelständische Terrororganisa- tion ›VOLK!WAGEN!‹ in einer Obdachlosenunterkunft 30 Menschen getötet hatte, und niemanden hier kümmerte es, dass der französische Ministerpräsident im Amt bleiben durfte, obwohl er eine 61-jährige Prostituierte misshandelt hatte. Ja klar, wenn wieder mal ein Popstar ein Nacktfoto postete, dann sorgte das sogar in Tana Masa für tagelangen Gesprächsstof, aber sonst interessierte man sich hier nicht übermäßig für den Westen. 19 Valloni wippte auf seinem Plastiksessel auf und ab und dachte zurück an die guten alten Zeiten. Früher war im All- gemeinen gesehen, politisch natürlich nicht alles besser, im Gegenteil, aber er war eben jünger, deshalb waren die Zeiten damals gut, und heute sind sie es nicht mehr. Die Rohstofe an der Erdoberläche waren alle entdeckt, die Schürfrechte längst auf Jahrzehnte verkauft. In Sri Lanka wurde seit fünf Jahren kein neues Gold mehr gefunden, im Kongo lagen in den Minen zwar Tonnen toter Kindersolda- ten herum, aber Platin oder Bauxit fand man schon lange nicht mehr. Rohstofunternehmer mussten an allen Fronten Niederlagen hinnehmen. »Sogar die Entwicklungsländer haben jetzt schon Umweltorganisationen. Es ist ein Horror!«, jammerte einer der Maturanten einmal am Telefon. Afrika- nische Rebellen, die dich früher für eine Handvoll Porno- hefte in jedem Nationalpark eine Mine quer durch einen Elefanten hindurch errichten ließen, sprachen plötzlich davon, dass man »Big Mama Nature« gut behandeln müsse. In Alaska, der Arktis oder unter dem russischen Permafrost gab es zwar noch Schätze, an denen die Auftraggeber des Kapitäns Rechte besaßen, »allerdings ist die Erderwärmung leider noch nicht drastisch genug fortgeschritten, und es kann noch Jahrzehnte dauern, bis wir da rein können«, seufzte eine andere Maturantin. Der neueste Trend hieß damals ab 2020 ›Deep Sea Mining‹; Meeresbodenbergbau, denn tief unten im Meer schlum- merten noch wertvolle Metalle. Sogar Konzepte des soge- nannten ›Asteroid Mining‹ wurden bereits zwischen Roh- stofunternehmen und der NASA hin- und hergeschickt. Bis 2025 wollte man erste Raumschife zu erdnahen Asteroiden schicken, um auch im Weltall Edelmetalle abzubauen. Der Mensch wollte sich nicht damit zufriedengeben, den eige- nen Planeten zu zerstören. Nein, man wollte auch noch 20 Schlaglöcher in der Milchstraße hinterlassen und dem Mann im Mond seine Schatztruhe entreißen. »Wir beuten das Universum schneller aus, als es sich ausdeh - nen kann!« MFG, Ihr Rohstofunternehmen. »Fahr doch mal runter zu den Sundainseln und schau, ob du einen neuen Fundort entdeckst, dort könnte es noch unentdeckte Buchten geben, haben die Maturanten gesagt«, fauchte der Kapitän einen Einheimischen an, der ihn zwar nicht verstand, der aber einige Meter weiter weg rückte. Valloni erblickte an der Fassade der Bar komische Umrisse. Er dachte zuerst an ein Schattenspiel von Kindern, als er zap- pelnde Schatten erkannte, die an eine Marionette erinner- ten. Kurz darauf kam der Mischling von hinten angewackelt, setzte sich zu Valloni an den Tisch. Die Einheimischen taten nicht einmal so, als würden sie die beiden weißen Männer nicht beobachten wollen. Im Gegenteil. Sie fotograierten die beiden mit ihren Handies und verschickten eilig Fotos. Valloni hatte sich in Rage geredet. Seine Stirnfalten schos- sen hervor wie Klippen nach einem Erdbeben. Schweiß lief darin herab wie heiße Lava. Jeder Tropfen, der über sein Gesicht rannte, brachte ihn zum Kochen. Der Kapitän blickte dem Mischling ernst zwischen den Augenringen herum. »Diese Ratten in Europa. Denken, dass es hier noch was zu inden gäbe, von dem sie noch nichts wüssten. Als Nächs- tes erwarten sie von mir, dass ich einen Batak in den Arsch icke, um zu schauen, ob seine Scheiße vielleicht nicht aus Gold besteht. Fundorte soll ich entdecken, wo sich noch Geld machen lässt!? In Padang habe ich endlich ein neues Puf entdeckt, wo ich mein Geld loswerden kann! Aber neue Fundorte? Keine Spur. Wenn es in den Tropen noch was zu holen gäbe, das man kaufen und dann doppelt so teuer wei- terverkaufen könnte, dann wären doch schon längst drei 21 andere Agenten in dieser beschissenen Bar hier und würden mit fünf Smartphones sieben Schife, die unter der Flagge von zehn Nationen segeln, hierher lotsen. So schaut’s aus. Nur weil sie den Forschern ein paar neue Geräte mitgeben, heißt das noch lange nicht, dass man etwas Neues indet.« Der Mischling nickte, sagte aber nichts. Die Kellnerin brachte ihm ein Glas Wein. Er exte es und beobachtete den Kapitän, der von seiner Arbeit erzählte. »Ich hab so einen total ausgemergelten Mann an Bord. Einen Perlentaucher aus Sri Lanka. Illegal natürlich. Wenn ich irgendwo einen Küstenstreifen sehe, an dem noch keine Flagge weht, kein Firmenschild steht oder kein Zaun eines Nationalparks zu sehen ist, dann schwupps, ist er schon im Wasser und erkundet das Meer für mich. Ist viel eizienter als all diese Geräte. Hier gibt es überall Haie. Wenn dir ein Hai gegen so einen Tauchroboter schwimmt, dann viel Spaß mit der Reparatur, das kostet gleich wieder 20.000 Dollar. So ein singhalesischer Perlentaucher ist da viel billiger. Wenn dem ein Bein abgebissen wird, gibst du seiner Familie 1.000 Dollar, und die sind dir für den Rest ihres Lebens dankbar. Die Frau ist oft froh, wenn der Mann im Rollstuhl nach Hause kommt. Dann können sie wenigstens die Schule für die Kinder bezahlen.« »Interessant«, sagte der Mischling, und bestellte Wein nach. »Wirklich, glauben Sie mir, der kleine Taucher da taucht mir 80 Meter tief runter. Nicht, dass ich Tauchen gutheißen würde, aber Sie wissen ja, es geht ums Prinzip. In den Prince Islands jedenfalls ist er sogar bis auf 90 Meter runter und hat mir vom Meeresgrund die schönste und größte Filmkamera raufgeholt, die ich je gesehen habe. Hat wohl ein TV-Team aus Spanien im Meer entsorgt, als sie eine Dokumentation über die Verschmutzung der Meere gedreht haben. Eine kaputte Kamera, ja das indest du da unten, aber irgendwel- che seltenen Erden oder zumindest Gas? Hier? Nichts. Am Ende werden sie noch von mir verlangen, dass ich einen 22 neuen Kontinent entdecke. Nein, nein, das alles hier ist doch bitte kein Job für einen ehrenwerten Kapitän eines Handels- schifes ... naja ... aber genau deshalb haben sie mich wohl ausgewählt«, seufzte Valloni. Sagen wir mal so: Der Kapitän hatte bei den richtigen Leuten den falschen Ruf. Oder umgekehrt. An Aufträgen mangelte es ihm zeitlebens nie. »Aber jetzt zu Ihnen. Sie hab ich nämlich gesucht!«, lachte Valloni den Italiener an. »Mich?«, verschluckte dieser sich fast am Wein. »Sie sind der einzige Europäer, der sich hier in der Gegend auskennt.« Valloni fragte nach den Rohstofvorkommen in der Gegend und welche Firmen hier in den letzten Jahren aktiv gewesen seien. »Scuse, Capitano«, sagte der Mischling, der nun die kleine Jesusigur streichelte, die an seiner Halskette baumelte. Der Mischling war auf der Insel als Handelsagent bekannt, obwohl er zu Hause in Italien bloß Kindergärtner war. »Aber hier auf Tana Masa gibt es nichts. Kein Gold, kein Eisen, nicht mal Kohle. Sehen Sie sich um, nicht mal mehr genug Fische gibt es im Meer. Diese Bataks frittieren inzwi- schen sogar Quallen, weil sie keine Fische mehr inden«, lachte der Mischling widerwärtig. Er trank sein Glas Wein auf Ex aus. Der Kapitän hätte ihm am liebsten den Kopf eingeschlagen, aber für Mord an einem Fremden bekam man in Tana Masa seit einer Verschärfung des Strafrechtes inzwischen bis zu fünf Monate Haftstrafe, und so lange wollte Valloni sicher nicht hierbleiben. Der Mischling war so besofen, dass er schon während des Gesprächs wieder vergaß, was er gerade gesagt hatte. Warum er überhaupt hier in Tana Masa blieb? So wie alle europä- ischen Aussteiger in Asien hätten ihn zu Hause Probleme 23 erwartet. Der Staatsanwalt von Mailand ermittelte gegen ihn wegen nicht bezahlter Alimente. Valloni selbst hatte übrigens auch zwei Kinder. Hübsche Zwillinge. Obwohl man es ihm vielleicht auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte, war Valloni ein sehr liebevoller Vater, der voll in seiner Rolle aufging. War inzwischen aber auch schon fast 30 Jahre her, seit seine beiden Kinder daheim in Österreich bei einem Brand des Schulbusses in Hohenau an der March ums Leben gekommen waren. Valloni erreichte die Nachricht damals mitten im Indischen Ozean erst fünf Tage später per Funk. Der Kapitän bestellte sich einen Tee und beäugte den Mischling, dessen Jesus am Halsband inzwischen im Wein- glas baumelte und der knietief im Wein schwamm. Würde dem Herren über dir nicht schaden, wenn du den Wein wieder in Wasser zurückverwandelst, dachte der Kapitän, und sah vom kleinen Jesus hinauf in die geröteten glasigen Augen des Mischlings. »Gibt es nicht einen Streifen Küste hier, der noch zu haben ist? Wo noch kein Schild mit der Aufschrift ExxonMobil oder WWF oder Remax oder Zollamt steht? Irgendwas Uner- forschtes?«, fragte Valloni. »Die Maturanten wollen hier Rohstofe suchen.« Der Mischling schüttelte den Kopf. »Nein. Also vielleicht die Teufelsbucht, aber das wird Sie nicht interessieren.« »Warum nicht?«, fragte Valloni. »Weil es niemandem erlaubt ist, dort hinzugehen. Bestellen wir doch noch einen Drink, Capitano? Sie zahlen!« Der Kapitän hakte nach: »Warum geht dort niemand hin?« »Die Bataks mögen es nicht, wenn man zur Teufelsbucht fährt.« »Gibt es Haiische dort?« »Schlimmer. Dämonen, Capitano. Meeresdämonen.« 24 »Was soll das sein? Eine Fischart?« Der Mischling schwieg. »Teufelsbucht! Was für ein idiotischer Name. Wenn ein Ort schon Teufelsbucht heißt, kommt mir ja schon das Lachen«, fauchte Valloni. Der Kapitän musterte die Jesusigur an der Halskette des Mischlings. Klar, dachte Valloni. Wer an einen Typen glaubt, der über Wasser gehen kann, der glaubt wahrscheinlich auch an Dämonen im Wasser. »Und wie schauen sie aus, diese Dämonen?«, fragte der Kapitän. »Na, wie Dämonen eben aussehen, Capitano. Einmal sah ich einen. Ich ruderte mit dem Boot aus Larantuka zurück. Da ragt auf einmal dieser Kopf aus dem Wasser. Sah aus wie der Kopf eines Bataks, aber ganz ohne Haare. Man sagt, sie haben im Wasser sogar eigene Städte.« »Dämonen sehen also aus wie glatzköpige Bataks?«, lachte Valloni. »Sie brauchen mir nicht zu glauben, aber ich bin sicher, das war kein Batak, Kapitän. An diesem Ort geht kein Batak ins Meer. Seit Generationen nicht. Noch einen Drink?« Der Kapitän bestellte dem Mischling noch einen Wein, denn er wollte die lächerliche Geschichte nun zu Ende hören. »Und dann blinzelte dieser Dämon mich an. Aber von unten nach oben!« »Von unten nach oben?« »Das Augenlid ging von unten nach oben! Ein Tier war das, dieser Dämon. Aber er stand da wie ein Kind. Auf zwei Beinen! Er gingt auf zwei Beinen. Watschelte herum.« Der Mischling zitterte. Kapitän Valloni schwenkte das Teeglas zwischen seinen Fingern und betrachtete die fünf leeren Weingläser vor dem Mischling. »Und Sie sind sicher, dass Sie damals nicht betrunken waren?« 25 »Natürlich war ich besofen, Capitano. Nüchtern wäre ich doch niemals die Abkürzung durch die Teufelsbucht gefahren!« Der Mischling erzählte Kapitän Valloni die Sage, wonach die ganze Menschheit untergehen würde, sobald es auf dieser Insel einmal mehr Fremde als Einheimische geben sollte. Die Teufelsbucht sei eng verknüpft mit diesem Mythos. Einheimische singen Lieder über den Schrecken der Teu- felsbucht und es gibt sogar ein eigenes Schulfach, das sich mit der Sage und der Bucht befasst. Kein Einheimischer geht dort hin. Nicht einmal als Mutprobe. In die Teufelsbucht zu fahren wäre so, als würde man in eine Starkstromleitung springen. »Ich fahre zur Teufelsbucht«, meinte der Kapitän nüchtern. »Hören Sie zu, das mit den Dämonen ist Unsinn. Das muss eine Art Fisch gewesen sein, den Sie gesehen haben. Dämo- nen existieren nicht. Und wenn sie existieren würden, dann würden sie wie Europäer aussehen.« Der Mischling fühlte sich beleidigt. »Scuse Capitano, aber halten Sie mich für dumm? Ich bin doch kein Eingeborener. Ich habe daheim in Italien Bildung genossen, bin mehr als sechs Jahre zur Hauptschule gegan- gen. Capitano, ein gebildeter Mann wie ich kennt ja wohl den Unterschied zwischen einem Tier und einem Dämonen!« Valloni schmetterte seine Hand auf den Tisch. »Teufelsbucht! Pah! Wahrscheinlich hat sich vor tausenden Jahren mal ein Dorhäuptling dort heimlich mit seiner Lieb- schaft getrofen, und weil er nicht wollte, dass man ihn beim heiligen Sakrament stört, hat er die Dämonen erfunden und die Bewohner abgeschreckt. Das wird dieser ganze Mythos sein, mehr nicht. So, und jetzt ruf mir den Bürgermeister!« Der Mischling sprang sofort auf und schrie durch die Bar: »Noch ein Drink!« 26 Der gewünschte Würdenträger musste nicht lange gesucht werden. Wie sich herausstellte, war der Bürgermeister bereits von den Einheimischen informiert worden, betrat nun die Veranda der Bar und setzte sich alleine an einen Plastiktisch. Der Kapitän stand auf und setzte sich neben ihn. Nach und nach versammelte sich die halbe Insel im Garten der Bar rund um Valloni und den Bürgermeister. »Schon mein Vater war Bürgermeister und mein Großvater auch!«, begrüßte der Mann Valloni stolz. »Sie sehen also, bei uns war Demokratie immer schon wichtig. Jeder Mann mei- ner Familie hat das gleiche Recht, einmal Bürgermeister zu werden.« Was für ein komischer Bürgermeister, dachte Valloni. Der Dorfpolitiker hatte sich für diesen oiziellen Anlass seine schönsten gefälschten Designerjeans angezogen. Das Armanni-Logo funkelte groß auf seiner rechten Arschbacke. »Wir brauchen keine Fremden in Tana Masa«, sagte der Bür- germeister scharf. »Fremde dürfen hier nicht übernachten. Fremde dürfen nur einen Tag bleiben. Aber ich kann ihnen da so ein Package anbieten ... Interesse?« »Was für ein Package?«, fragte Valloni und betrachtete diese Parodie eines westlichen Bürgermeisters, der seine Gestik und Mimik anscheinend aus Hollywood-Filmen kopierte, denn er verhielt sich exakt wie Politiker in schlechten Acti- on-Filmen aus den 80er Jahren. »Ja, ein Package«, sagte der Bürgermeister und zwinkerte Valloni dabei mit einem Auge zu, während er sich breitbei- nig auf den Stuhl fallen ließ und sich eine Zigarre anzündete. »Für 50 Dollar die Stunde ziehen wir Samtröcke an. Für 100 Dollar machen wir es sogar ohne und ganz nackt. Für 300 Dollar stecken sich die Frauen dabei einen Knochen ganz tief ins Haar. Und für 500 Dollar behaupten wir, dass Men- schenleisch gut schmeckt. Aber wenn es dunkel wird, seid ihr wieder weg!« 27 »Also das klingt nach einem tollen Hobby, das Sie da haben«, lachte der Kapitän. »Aber ich wüsste nicht, warum mich die- ses Package, oder wie sie dazu sagen, interessieren sollte.« »Sind Sie nicht vom Film?«, fragte der Bürgermeister. »Oh Gott, nein! Sehe ich aus wie ein Hippie? Ich habe einen legalen Beruf. Ich bin Kapitän!« Das Package, das der Bürgermeister meinte, war ein Angebot der Gemeinde Tana Masa an TV-Teams. Alle paar Jahre ver- irrte sich nämlich ein Dokumentarilmer auf die Insel, der dachte, er fände irgendwo noch Eingeborene ohne Kontakt zur Zivilisation. Die Einheimischen trugen inzwischen auch schon Nike statt Adamskostüm und tranken Red Bull statt Menschenblut, aber für ein wenig Kleingeld inszenierte das Bürgermeisteramt den Ort gerne als wilde Kannibaleninsel. »Sie wollen nicht ilmen?«, seufzte der Bürgermeister. »Schade, dabei habe ich drunter extra schon das Baströck- chen an.« Der Bürgermeister öfnete seine Jeans und präsen- tierte dem Kapitän mehr Bast, als diesem lieb war. »Ich suche Männer, die mit mir zu See fahren«, warf Valloni in die Runde. Sofort scharrten sich junge Männer um den Kapitän, präsentierten ihre kräftigen Körper wie Nutten im Bordellfenster. »Nimm mich, lass mich für dich arbeiten, ich will weg von hier, ich tue alles!«, schrie jeder einzelne Mus- kel an diesen jungen Männern. Egal wie schlecht der Ruf des Westens war, jeder hier wollte hin. »Also gut«, freute sich Valloni und klatschte ihnen erfreut auf ihre durchtrainierten Schultern. »Ich zahle drei Dollar die Stunde. Wir fahren heute Abend zur Teufelsbucht!« In dem Moment, als Valloni das Wort Teufelsbucht ausge- sprochen hatte, passierte innerhalb von nur fünf Sekun- den Folgendes: Sämtliche jungen Männer liefen nach ihrer Mama schreiend davon. Die alten Frauen gingen auf die Knie und begannen, irgendeinen Gott um Gnade anzulehen. Der Bürgermeister, der zugleich auch Dorfpolizist war, packte