Andreas Pott Orte des Tourismus Andreas Pott (Dr. phil.) ist Professor für Sozialgeographie an der Universi- tät Osnabrück. Seine Forschungsschwerpunkte sind Migrationsforschung, Raumtheorie, Tourismusforschung und kulturelle Geographien der Stadt. Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geistes- wissenschaften in Ingelheim am Rhein. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2007 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung vorne: kriegsflocke, »da hat eiffel gebaut!«, © Photocase 2007 Umschlagabbildung hinten: Wetzlarer Dom, © Tourist-Information Wetzlar 2007 Lektorat & Satz: Andreas Pott Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-763-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zell- stoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an un- ter: info@transcript-verlag.de This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License. This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License. F Ü R S T AM AT I A I N H AL T T OURISMUS UND R AUM ALS GESELLSCHAFTSTHEORETISCHE H ERAUSFORDERUNG 9 S TÄDTETOURISMUS UND R AUM 17 Städtetourismus als Untersuchungsgegenstand 17 Raum im Städtetourismus 25 Systemtheoretische Raumkonzeption 25 Methodologische Vorbemerkung 26 Raum als Medium der Wahrnehmung und der Kommunikation 28 Forschungspraktische Konsequenzen 42 D ER T OURISMUS DER G ESELLSCHAFT 47 Tourismus und moderne Gesellschaft 47 Tourismus als Folge entfremdeter Arbeit? 54 Das gesellschaftliche Bezugsproblem des Tourismus 62 Tourismus als organisierte Strukturlockerung durch Ortswechsel 73 Zur Entwicklungsgeschichte des Tourismus 82 Ist der Tourismus ein Funktionssystem? 94 D IE F ORM DES S TÄDTETOURISMUS 103 Städtetourismus als eine Form des Tourismus 103 Städtetourismus als Kulturtourismus? 107 Die vergleichende Perspektive des Beobachtungsschemas Kultur 109 Städtetourismus, Kultur und Raum 111 Regionalisierung 111 Historisierung 116 Heterogenisierung 121 Kultur als Modus sowie Raum und Stadt als Medien städtetouristischer Strukturbildung 127 Städte des Tourismus als kultur- und raumbezogene Semantiken 133 Kritik an Konstruktion und Reduktion? 137 S TÄDTE DES T OURISMUS UND S TÄDTETOURISTEN 147 Erholung im Städtetourismus 147 Site-Seeing: Zur räumlichen Form des städtetouristischen Blicks 153 Touristenkörper 160 Verdinglichung und Verortung 164 Alltagsdistanz durch Flächenräume 177 O RTSSEMANTIK UND STÄDTETOURISTISCHE E NTWICKLUNG 187 Semantik und Struktur 187 Zur Auswahl des Fallbeispiels 190 Fallbeispiel Wetzlar 191 Wetzlar als städtetouristisches Ziel 191 Touristische Grundlegung (bis 1939) 199 Touristischer Dämmerschlaf (1945 bis 1980) 224 Touristisches Erwachen (1980 bis 1995) 239 Touristische Wachstumsanstrengungen (seit 1995) 267 Raumreflektierendes Fazit 285 Z USAMMENFASSUNG UND A USBLICK 289 L ITERATUR 297 9 T O U R I S M U S U N D R AU M AL S G E S E L L S C H AF T S - T H E O R E T I S C H E H E R AU S F O R D E R U N G Zwischen Tourismus und Raum scheint ein Zusammenhang zu bestehen. Wer an Tourismus denkt, denkt an Urlaubsreisen, Ortswechsel, Erho- lung in alltagsfremden Räumen, an die Besichtigung und Erfahrung von Orten, an Strände, Länder oder Regionen, an Landkarten oder Stadtplä- ne. Auch in der interdisziplinären Tourismusforschung ist viel von Räumen und räumlichen Formen die Rede. Regionen, Orte und räumli- che Grenzen gehören zu ihren zentralen Gegenständen. Tourismus gilt als „Raumphänomen“ (Wöhler 1997, 10). Deshalb verwundert es kaum, dass gerade die Geographie – als raumbezogene Sozialwissenschaft – eine lange und ausgeprägte Tradition in der Untersuchung tourismusbe- zogener Fragestellungen aufweist. Neben der Beobachtung, dass die Begriffe Tourismus und Raum häufig zusammen oder doch in enger Verknüpfung auftreten, fällt an ih- nen noch etwas anderes auf. Bei aller Unterschiedlichkeit dessen, was Tourismus und Raum bezeichnen, haben die Begriffe eine Gemeinsam- keit: Beide standen lange nicht auf der gesellschaftstheoretischen Agen- da. Im Falle des Raums hat sich diese Situation in den vergangenen Jah- ren deutlich geändert. Im Zuge des fachübergreifenden spatial turn widmen sich seit den 1990er Jahren auch viele deutschsprachige Arbei- ten der theoretischen Bestimmung des Verhältnisses von Gesellschaft und Raum. Auf die längste Beschäftigung mit dieser Problematik kann sicherlich die Geographie zurückblicken. Doch mit dem Globalisie- rungsdiskurs entdecken auch die Soziologie und andere Sozial- und Kul- turwissenschaften die Raumkategorie wieder, nachdem ihr dort jahr- O RTE DES T OURISMUS 10 zehntelang nur ein Schattendasein beschieden war. Das neue Interesse am Raum motiviert verschiedene Versuche einer angemessenen theore- tischen Fassung. 1 Diese vielstimmige und anregende Debatte erinnert an etwas, was schon Simmel (1995/1908) betonte: Raum, wie immer neut- ral und natürlich er daherkommt, ist nichts selbstverständlich Gegebe- nes, das unabhängig von Sozialem besteht oder gar ‚von außen‘ auf Handlungen und soziale Strukturbildung wirkt. Wie alles Gesellschaftli- che unterliegt auch Raum Prozessen der gesellschaftlichen Konstruktion und Konstitution. Räumliche Strukturen sind immer soziale Strukturen. Mit ihrer Betonung, dass räumliche Formen und ihre Bedeutungen nur als soziale Herstellungsleistungen angemessen zu verstehen sind, ver- weist die gegenwärtige Debatte auf die gesellschaftlichen Handlungs-, Kommunikations- und Beobachtungskontexte, von denen die soziale Relevanz des Raums abhängt. Mit anderen Worten: In der sozialwissen- schaftlichen Analyse sind nicht Handlungen, Kommunikationen, Be- obachtungen, soziale Prozesse, Beziehungen o.Ä. im Raum zu untersu- chen, sondern genau umgekehrt: Raum und räumliche Unterscheidungen in oder als Bestandteil von Handlungen, Kommunikationen, Beobach- tungen, sozialen Prozessen, Beziehungen o.Ä. Im Vergleich zum Raum ist das Verhältnis zwischen Gesellschafts- theorie und Tourismus bis heute distanziert. Die gesellschaftstheoreti- sche Diskussion spart den Tourismus fast vollständig aus. Dass dies an- gesichts seines dynamischen globalen Wachstums, seiner enormen öko- nomischen Bedeutung und seiner sozialen Folgen nicht nur überrascht, sondern auch kaum zu rechtfertigen ist, ist oft bemerkt worden. Trotz dieser Kritik bleiben Anstrengungen, Tourismus als gesellschaftliches Phänomen genauer zu untersuchen, bis heute die Ausnahme. 2 Umge- kehrt arbeitet die tourismusbezogene Forschung – als interdisziplinärer und stark empirisch ausgerichteter Zusammenhang verschiedener so- zialwissenschaftlicher Subdisziplinen – typischerweise ohne größere theoretische Ansprüche. Insbesondere verzichtet sie weitgehend auf eine gesellschaftstheoretische Einbettung ihrer Arbeiten. Sie begnügt sich mit auf die jeweilige Fragestellung bezogenen Theorien „mittlerer Reich- weite“ (Becker 2002, 4). Dafür kennzeichnet die Tourismusforschung ein umso stärkeres „Räumeln“ (Hard 2002, 296). In ausgesprochen vielfältiger Weise wer- den in der Literatur, und nicht selten innerhalb einzelner Texte, physi- sche, natürliche, gebaute, bereiste, sozial angeeignete, inszenierte, ästhe- 1 Vgl. z.B. Döring/Thielmann 2007, Krämer-Badoni/Kuhm 2003, Löw 2001, Redepenning 2006, Schroer 2006, Werlen 1995 u. 1997. 2 Vgl. als solche: Armanski (1986/1978); Scheuch 1969, 799ff.; Urry 1990. G ESELLSCHAFTSTHEORETISCHE H ERAUSFORDERUNG 11 tisierte, imaginäre, symbolische und einige andere Räume thematisiert. Der mehrfache Bezug auf sozial konstruierte Räume bleibt allerdings überwiegend metaphorisch. Der Raumbegriff wird gerade nicht gesell- schaftstheoretisch abgeleitet oder fundiert. Er fungiert nicht als analyti- scher Begriff, mit dem nach der Bedeutung von Raum im Tourismus ge- fragt wird. Stattdessen wird die metaphorische Raumbegrifflichkeit mit einer alltagsontologischen Vorstellung von Raum als physisch-territoria- ler Umwelt kombiniert. Dabei wird Raum zu einem sehr unspezifischen Totalitätsbegriff: Alles Gesellschaftliche, also auch jeder Tourismus, findet immer im (physischen) Raum statt. Diese Dualität des Raums rahmt die Forschung. Denn bei allen Hinweisen auf die soziale Kons- truktion touristischer Räume (bzw. ihre Produktion, Gestaltung, Regu- lierung usw.) untersucht die Tourismusforschung regelmäßig Tourismus in Räumen (im Ort X, in der Region Y) bzw. die Folgen touristischer Entwicklungen für Räume. In dieser Orientierung an so genannten Des- tinationen sieht Urry ein grundlegendes Problem der Tourismusfor- schung. Während touristische Destinationen und die Form ihrer Berei- sung durch entterritorialisierte, flexible Netzwerke von Organisationen – i.e. die Tourismusindustrie – produziert würden, bleibe die Tourismus- forschung in der territorialen Falle und in linearen Maßstabsmetaphern gefangen (vgl. Urry 2003, 122). Ohne gesellschaftstheoretische Fundie- rung und ohne eine hinreichend abstrakte Konzeption von Raum wird sich dies, so kann man vermuten, nicht ändern. Die Forschungslücken sind also unübersehbar. Gesellschafts- und raumtheoretische Debatten auf der einen Seite sowie tourismusbezogene auf der anderen halten noch weitgehend Distanz zueinander. Ebenso sel- ten, wie gesellschaftstheoretische Studien das touristische Phänomen be- rücksichtigen, sind die tourismusbezogenen Arbeiten gesellschaftstheo- retisch gerahmt. Auch die gestiegene Aufmerksamkeit für die soziale Relevanz des Raums hat an dieser beidseitigen Zurückhaltung wenig ge- ändert. So, wie der Bezug der jüngeren gesellschaftstheoretisch orien- tierten Raumdebatte auf den Tourismus noch aussteht, so ist die Bereit- schaft der tourismusbezogenen Forschung bislang gering, Konsequenzen aus der Theoriediskussion zu ziehen. Dies würde bedeuten, die theoreti- schen Einsichten zur sozialen Konstruktion des Raums, d.h. zur Kontin- genz und Kontextabhängigkeit dieser Konstruktion, auch forschungs- praktisch umzusetzen. Diese wechselseitigen Blindstellungen nimmt die vorliegende Arbeit zum Anlass, den Zusammenhang zwischen Gesellschaft, Tourismus und Raum zu beleuchten. Als gesellschaftstheoretischen Rahmen für dieses Unterfangen wählt sie die soziologische Systemtheorie, wie sie vor al- lem von Niklas Luhmann entwickelt und im Anschluss an seine Arbei- O RTE DES T OURISMUS 12 ten weiterentwickelt worden ist. Diese Wahl ist mehrfach motiviert. Zu- nächst reizt der Nachweis, dass die Systemtheorie auch für die Behand- lung raumbezogener Fragestellungen fruchtbar gemacht werden kann. Erwartet wurde dieses Potential von der Systemtheorie bis vor kurzem nicht. Sieht man von frühen Ausnahmen (z.B. Klüter 1986) ab, schien die selbsternannte Universaltheorie vielen Wissenschaftlern doch gerade für die Untersuchung von Raumfragen ungeeignet zu sein. Nicht nur sa- hen Systemtheoretiker ihrerseits von der Berücksichtigung der Raumka- tegorie ab. Auch auf Geographinnen, Stadt- und Regionalsoziologen oder Tourismusforscherinnen hat die Theorie wenig bis keine Attraktion ausgeübt. Vielleicht zu explizit hatte Luhmann neben den Menschen auch alles Physisch-Materielle – und damit auch viele der Räume, auf die die Alltagssprache referiert – in die nicht-kommunikative Umwelt der Gesellschaft ‚verbannt‘. Als Grenzziehungskriterium für soziale Sys- teme und im Besonderen für die (Welt-)Gesellschaft als alle Kommuni- kationen umfassendes Sozialsystem lehnte er den Raum konzeptionell ab. Luhmann verfolgte das Ziel, „die Systemtheorie als Grundlage der Gesellschaft so zu formulieren, dass sie in der Bestimmung der Gesell- schaftsgrenzen nicht auf Raum und Zeit angewiesen ist“ (Luhmann 1998, 30, Fn. 24). Mit dieser Ablehnung eines territorialen oder regiona- listischen Gesellschaftskonzepts bleibt aber ungeklärt, „ob die soziale Funktion des Raums tatsächlich in seiner Rolle in der Grenzbildung so- zialer Systeme aufgeht, und dies zudem noch in der hochgradig spezifi- schen Form der Grenzbildung, die durch die Territorialität politischer Systeme definiert wird“ (Stichweh 2003a, 94). Die Anlage der System- theorie, der zufolge Raum keine zentrale Dimension der Strukturbildung in der (Welt-)Gesellschaft ist, impliziert eben nicht, dass ihm für die Genese und Reproduktion sozialer Systeme und Strukturen keine Bedeu- tung zukommt. Luhmann selbst hat wenig unternommen, sein Desinteresse am Raum zu verbergen. In einem Interview antwortete er auf die Frage, ob es bestimmte Gegenstandsbereiche gebe, die ihn nicht interessieren: „Ich will nicht apodiktisch ein für alle Mal ‚nicht interessieren‘ sagen, aber z.B. habe ich immer Schwierigkeiten mit räumlichen Ordnungen. So gern ich in Brasilien bin und mich für die politischen Verhältnisse dort interessiere, aber Brasilien als Einheit interessiert mich nun wieder nicht. Oder nehmen Sie die Stadt Bielefeld, das ist kein System. Also al- le räumlichen, regionalisierenden Einheiten interessieren mich nicht so sehr. Wie man sich über Raum im Verhältnis zu Kommunikation Ge- danken machen kann, das ist z.B. so ein Bereich“ (Huber 1991, 131f.). Erst die Weiterentwicklung der Systemtheorie in der jüngsten Vergan- genheit zeigt, dass diese Gesellschaftstheorie, gerade weil sie in der G ESELLSCHAFTSTHEORETISCHE H ERAUSFORDERUNG 13 Identifikation der Gesellschaftsgrenzen vom Raum absieht und Raum nicht zum zentralen Theoriebegriff erhebt, dabei helfen kann, gesell- schaftsintern erzeugte Räume und raumbezogene Differenzen zu analy- sieren (vgl. Kuhm 2000a, 324). Radikaler als in anderen Ansätzen be- zeichnet Raum aus systemtheoretischer Perspektive nur eine soziale Konstruktion, eine Form der Unterscheidung oder Beobachtung der Welt, die getroffen werden und folgenreich sein kann, aber nicht muss. Damit tritt deutlich eine Leitfrage systemtheoretischen Nachdenkens über den Raum hervor: Welche Bedeutung haben Räume und räumliche Unterscheidungen (als soziale Konstruktionen) für den Aufbau und die Stabilisierung sozialer Strukturen? Anders formuliert: Welche soziale Funktion erfüllt die Raumkategorie? Oder noch pointierter: Wozu Raum? Mit dieser Zuspitzung ist die systemtheoretische Debatte zu Gesell- schaft und Raum an einem Punkt angekommen, an dem sie ihre Frucht- barkeit an Phänomenen zu erweisen hat. Zugleich drängt sich der Ein- druck auf, dass sie auch nur durch Auseinandersetzung mit phänomen- bezogenen Fragestellungen wirklich weitergeführt werden kann. Für diese Aufgabe bietet sich der Tourismus nicht nur wegen seines offen- sichtlichen Raumbezugs an. Er markiert auch ein Themenfeld, das von der Systemtheorie – wie von anderen Gesellschaftstheorien – vernach- lässigt worden ist. Die Möglichkeit, dass eine gesellschafts- und raum- bezogene Betrachtung des Tourismus mit Hilfe systemtheoretischer Mit- tel ebenso Impulse und Reflexionsmöglichkeiten für die Tourismusfor- schung und die Tourismusgeographie eröffnet, ist ein zusätzlicher An- reiz. Im Hinblick auf die praktische Durchführbarkeit wird sich die Un- tersuchung besonders auf einen Teilbereich des modernen Tourismus konzentrieren: den Städtetourismus . Für die herkömmliche Erforschung des Städtetourismus gelten die für die Tourismusforschung im Allge- meinen genannten Merkmale entsprechend. Trotz seines deutlichen Be- deutungszuwachses in den letzten Jahrzehnten ist das soziologische, auch das stadtsoziologische, Interesse am Städtetourismus auffallend ge- ring. Spiegelbildlich ist der Gesellschaftsbezug der geographischen und sonstigen Städtetourismusforschung nur schwach. Empirische Fallstu- dien dominieren die Forschungslandschaft. Anschluss an gesellschafts- theoretisch rückgebundene Raumdebatten wird nur in Ausnahmen ge- sucht. 3 Die vorangehenden Ausführungen verdeutlichen, dass der Städtetou- rismus dieser Untersuchung nicht als Beispiel im Sinne eines empiri- 3 Vgl. z.B. Shields 1998, Wöhler 2003. O RTE DES T OURISMUS 14 schen Tests theoretischer Annahmen oder Modelle dient. Vielmehr zielt der exemplarische Bezug auf Schärfung und Weiterentwicklung der so- zialwissenschaftlichen Erforschung des Verhältnisses von Gesellschaft und Raum. Am Beispiel des Städtetourismus geht die Untersuchung der Frage nach, ob und, wenn ja, inwiefern Raum für dieses gesellschaftli- che Phänomen von Bedeutung ist: Inwiefern fungiert Raum im Städte- tourismus strukturbildend? Wie wird seine Entwicklung durch die Raumkategorie strukturiert und beeinflusst? Welche Rolle spielen räum- liche Unterscheidungen und Formen für die Entstehung, die Reproduk- tion und die Veränderung städtetouristischer Strukturen? Um diese Fragestellung behandeln zu können, geht die Arbeit fol- gendermaßen vor. Nach einer ersten Annäherung an den Untersu- chungsgegenstand Städtetourismus wird als Grundlage seiner genaueren Analyse eine systemtheoretische Konzeption des Raums entwickelt (Kapitel Städtetourismus und Raum ). Dabei wird unter anderem die Be- deutung sichtbar, die der Kontextualisierung raumbezogener Beobach- tungen zukommt. Die Relevanz räumlicher Unterscheidungen und For- men erschließt sich erst vor dem Hintergrund ihres Mobilisierungs- und Herstellungszusammenhangs. Dazu ist der Blick auf Städtetourismus al- lein nicht ausreichend. Denn als touristischer Teilbereich lässt sich der Städtetourismus strukturtheoretisch nur bestimmen, wenn auch geklärt ist, was Tourismus ist. Erforderlich ist daher eine eingehendere Beschäf- tigung mit dem Verhältnis von Tourismus und Gesellschaft (Kapitel Der Tourismus der Gesellschaft ). Nach diesen Vorarbeiten kann der Städte- tourismus systematisch als ein spezifischer Sinnzusammenhang der mo- dernen Gesellschaft untersucht werden (Kapitel Die Form des Städtetou- rismus ). Im Rahmen dieser Analyse wird gezeigt, dass und in welcher Weise Städte im Tourismus und mit ihnen der Städtetourismus primär auf dem Beobachtungsschema Kultur beruhen. Aber auch die mehrfache Relevanz räumlicher Unterscheidungen und Formen wird nun deutlich. Die Städte des Tourismus lassen sich daher insgesamt als besondere, nämlich kultur- und raumbezogene, Semantiken deuten. Damit ist eine theoretische Beschreibungsform des Städtetourismus gefunden, die es erlaubt, die Behandlung der Frage nach der strukturbildenden Funktion des Raums in zwei Richtungen weiter zu vertiefen. Zum einen stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen städtetouristischen Kommunika- tionen und Städtetouristen (Kapitel Städte des Tourismus und Städte- touristen ). Zum anderen wird die Frage aufgeworfen, inwiefern städte- touristische Semantiken auch die Entwicklung und (Re-)Produktion städtetouristischer Destinationen strukturieren. Aufbauend auf der er- folgten Untersuchung des Zusammenhangs von städtetouristischen Se- mantiken und Städtetouristen wird dieser Frage durch die exemplarische G ESELLSCHAFTSTHEORETISCHE H ERAUSFORDERUNG 15 Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des städtetouristischen Rei- seziels Wetzlar nachgegangen (Kapitel Ortssemantik und städtetouristi- sche Entwicklung ). Wie die Untersuchung des Städtetourismus insge- samt verfolgt auch diese Fallstudie eine theoretische Problemstellung: die Frage nach der Bedeutung des Raums für das Verhältnis von (städte- touristischer) Semantik und Struktur. Die Zusammenfassung der zentra- len Untersuchungsergebnisse und die durch sie angeregten Ausblicke bilden den Abschluss der Arbeit (Kapitel Zusammenfassung und Aus- blick ). 17 S T ÄD T E T O U R I S M U S U N D R AU M S t ä d t e t o u r i s m u s a l s U n t e r s u c h u n g s g e g e n s t a n d Für eine erste Annäherung an den Untersuchungsgegenstand bietet sich ein entwicklungsgeschichtlicher Rückblick an. Folgt man der touris- musbezogenen Forschungsliteratur, wird deutlich, dass der Städtetou- rismus eine ebenso lange Geschichte wie der Tourismus insgesamt hat. Wie die Urlaubsreisen an Meeresküsten oder in Bergregionen hat auch der Städtetourismus schon adelige Vorläufer. Die Grand Tour der jungen europäischen Adeligen des 16. bis 18. Jahrhunderts umfasste typischer- weise historisch-kulturelle Zentren wie Paris, Rom, Florenz, Venedig und Wien (vgl. Brilli 1997). Diese und andere Metropolen und histori- sche Städte Italiens, Griechenlands und Frankreichs wurden dann fester Bestandteil der Bildungsreisen des gehobenen Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert (vgl. Feifer 1985, 137ff.). Auch für den modernen Tou- rismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren Städte von Anbeginn an wichtige Reiseziele. Gerade die Großstädte waren Touristenmagne- ten. Allen voran dominierten die Weltstädte London, Paris und New York, die nicht nur in den Jahren der populären Weltausstellungen (1851 in London, 1889 und 1900 in Paris sowie 1939 in New York) Hundert- tausende Besucher anzogen und schon um 1900 in den Reiseführern von Murray und Baedeker ausführlich portraitiert wurden (vgl. Syrjämaa 2000, 181ff.). Städte wiesen mit ihrer vergleichsweise langen Besucher- tradition stets eine Fülle an Besichtigungsmöglichkeiten sowie eine tou- rismusbegünstigende Übernachtungs- und Bewirtungsinfrastruktur auf. Sie waren aber vor allem leicht (und billig) mit der Eisenbahn zu errei- chen (vgl. ebd., 185). Aus diesem Grund entwickelten sich sowohl in den USA als auch in Europa die Eisenbahngesellschaften schnell zu den O RTE DES T OURISMUS 18 wichtigsten Veranstaltern von Städtereisen. Auch die ersten Reisen, die Thomas Cook in den 1840er Jahren organisierte, waren mit der Eisen- bahn durchgeführte Städtereisen (vgl. Krempien 2000, 108f.). Er führte die durch die Industrialisierung zu einigem Wohlstand gelangte neue Mittelschicht, insbesondere aber die Industriearbeiter aus Leicester, Sheffield und York nach Liverpool, Cardiff, Dublin, Newcastle, Edin- burgh und Glasgow. Das Beispiel der frühen Cook’schen Reisen zeigt damit auch, dass der Städtetourismus, wenngleich aus der Tradition des Bildungsbürgertums hervorgegangen und bis in die jüngste Vergangen- heit von höher gebildeten Schichten geprägt, schon im 19. Jahrhundert in Ansätzen auch schichtübergreifend organisiert war. Mit einem in Konkurrenz zum Angebot der Eisenbahngesellschaft Northern Railway ‚geschnürten‘ attraktiven ‚Zwei-Tages-Paket‘, das „Bahnfahrt, Über- nachtung, Handtuch, Seife und Frühstück“ beinhaltete und mit Blaska- pellen vor den Fabriktoren beworben wurde, brachte Cook 1851 allein im Jahr der Weltausstellung ca. 165.000 Arbeiter nach London (vgl. ebd., 110). Neben den Eisenbahngesellschaften und anderen Reiseveranstaltern erkannten auch Lokalpolitik und Stadtverwaltungen sehr schnell das Po- tential des neuen Reisephänomens. Mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Städte richteten sich daher gerade Stadtverwaltungen bald am Tourismus aus. Sie gründeten Verkehrsämter und initiierten o- der unterstützten die Gründung privater Verkehrs-, Geschichts- und Ver- schönerungsvereine. Die in den Städten lokalisierten Einzelhändler, von denen sich manche in Verkehrs- oder anderen Vereinen organisierten, versprachen sich ebenfalls viel von der touristischen Entwicklung. Alle dieser Akteure bemühten sich mit Werbung und der Veranstaltung von Festen aktiv um touristische Besucher. Cocks (2001) zeigt dies ein- drucksvoll in ihrer materialreichen Untersuchung der Entstehung des Städtetourismus in den USA zwischen 1850 und 1915 am Beispiel von New York, Chicago, Washington D.C. und San Francisco. Das gleiche Zusammenspiel von Tourismus, kommunaler Politik und Verwaltung, Einzelhändlern, Vereinen und Transportgesellschaften (bzw. Reisever- anstaltern) demonstriert Keitz am Beispiel des florierenden Städtetou- rismus in der Weimarer Republik, der bereits eine breite Palette von Klein- und Mittelstädten umfasste (vgl. Keitz 1997, 21ff.). Keitz sieht in den Bemühungen, den „Fremdenverkehr“ von kommunaler Seite zu för- dern, sogar ein „konstitutives Merkmal des modernen Tourismus“ (ebd., 69). In Deutschland reichen die Wurzeln dieser Entwicklung ins 19. Jahrhundert zurück, als mit der Reichsgründung 1870/71 auch die Grün- dungsphase der städtischen Verkehrs- und Verschönerungsvereine be- gann. Für England lässt sich anhand stadtgeschichtlicher Unter- S TÄDTETOURISMUS UND R AUM 19 suchungen bereits für das 17. und 18. Jahrhundert nachweisen, dass man den Ausbau eines Ortes zum Freizeitort als bewusste Alternative zur Entwicklung als Markt-, Industrie- oder Hafenstadt vorantrieb (vgl. McInnes 1988, McIntyre 1981). In Deutschland brachten die 1920er Jahre tiefgreifende Veränderun- gen für die Beziehung von Städten und Tourismus. Die Nivellierungen in der sozialen Zusammensetzung und im Verhalten der Reisenden ver- ringerten die Unterschiede zwischen Kurorten und Seebädern, Städten und Sommerfrischen. Ein bis dahin unbekannter Konkurrenzkampf aller gegen alle war ausgelöst. Traditionelle Kurorte wie zum Beispiel Baden- Baden oder Wiesbaden mussten ihre Gäste jetzt gezielt umwerben und abwerben. Das Monopol einiger weniger Kurorte verblasse, stellte im Sommer 1929 die Stadtverwaltung Wiesbaden fest und erklärte: „Der Reisende kann dank des vorzüglichen modernen Verkehrswesens auch die entferntesten Plätze aufsuchen. So konkurrieren heute alle Badeorte untereinander, der Wettbewerb ist damit notwendigermaßen ein viel schärferer als früher“ (Löwer 1929; zitiert nach Keitz 1997, 69f.). Außerdem sah sich – ähnlich wie heute – schon in den 1920er Jahren eine Vielzahl von Kommunen durch Wirtschaftskrise und wirtschaftli- che Umstrukturierungen gezwungen, nach neuen Einnahmequellen zu suchen (vgl. Institut für Kommunikationsgeschichte 1995). Insbesondere die Mittel- und Großstädte konnten den Fremdenverkehr als Wirtschafts- faktor nicht mehr sich selbst überlassen. Denn ihnen hatte die Erzberger- sche Finanzreform von 1919/20 in besonderem Maße staatliche Steuer- gelder entzogen und sie gleichzeitig durch erhöhte Sozialausgaben stär- ker belastet (vgl. Hansmeyer 1973, 35ff.). „Heute“, wurde daher 1929 in den ‚Kommunalpolitischen Blättern‘ festgestellt, ringe „jeder Chef einer gut geleiteten größeren Kommunalverwaltung um die Hebung des Fremdenverkehrs“ (Geßner 1929; zitiert nach Keitz 1997, 70f.). Ge- zwungen, die Wirtschaftskraft zu verbessern, begann damit eine Phase der Kommunalpolitik, die durch den Übergang zur aktiven Lenkung der Stadtentwicklung gekennzeichnet war, bei der die Kommunalpolitiker die Richtung vorgaben: Industriestandort oder Fremdenverkehrsgemein- de (ebd.). Freilich hat immer ein Großteil der touristischen Mobilität gerade hinaus aus den Städten der industrialisierten Länder geführt – in die Na- tur, ans Meer, in die Berge, in den Süden. Dies zeigen so unterschiedli- che Beispiele wie die kommerziellen Arbeiter- und Mittelstandsreisen, die Thomas Cook schon in den 1840er und 1850er Jahren nach Schott- land und an die Seebadeorte an der englischen Küste organisierte (vgl. Krempien 2000, 109), die Angebote von Arbeiterreiseorganisationen in der Weimarer Republik (vgl. Keitz 1997, 129ff.) oder die Geschichte