Elsa-Maria Tschäpe Die Großstadt als literarischer Raum in der römischen Dichtung Universitätsverlag Göttingen Elsa-Maria Tschäpe Die Großstadt als literarischer Raum in der römischen Dichtung Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz. erschienen im Universitätsverlag Göttingen 2015 Elsa-Maria Tschäpe Die Großstadt als literarischer Raum in der römischen Dichtung Universitätsverlag Göttingen 2015 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar. Anschrift der Autorin Elsa-Maria Tschäpe E-Mail: Elsa-Maria.Tschaepe@phil.uni-goettingen.de Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den Göttinger Universitätskatalog (GUK) bei der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar. Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Satz und Layout: Annett Eichstaedt Umschlaggestaltung: Jutta Pabst Titelabbildung: The Great “ Plastico ” , the model of ancient Rome in 1:250 by Italo Gismondi von seier+seier+seier [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons © 2015 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-86395-225-9 In memoriam Dr. Rudolf Tschäpe (1943-2002) Danksagung Diese Arbeit hat von den Gesprächen und der Unterstützung vieler Menschen außerordentlich profitiert. Ihnen allen möchte ich für die vielfältigen Anregungen und Hinweise wie auch für das Interesse an Inhalt und Gelingen meines Vorha- bens herzlich danken. Herrn Prof. Dr. Siegmar Döpp, der das Entstehen dieser Arbeit über seine Emeri- tierung hinaus begleitet hat, möchte ich an dieser Stelle im Besonderen danken, sowie Herrn Prof. Dr. Wilfried Barner für seine großzügige Gesprächsbereitschaft und für wertvolle Impulse und Herrn Prof. Dr. Peter Kuhlmann für die spontane und bereitwillige Erstellung des Zweitgutachtens. Darüber hinaus danke ich dem gesamten Kollegium des Seminars für Klassische Philologie Göttingen für eine äußerst angenehme Zusammenarbeit und dabei besonders Herrn Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath für seine Förderung und sein Interesse am Fortschreiten meiner Arbeit. Den Kolleginnen und Freundinnen Dr. Friederike von Criegern, Dr. Frauke Geyken, Dr. Aniela Knoblich, PD Dr. Meike Rühl und Dr. Anne Pinkepank dan- ke ich für ihre kritische Lektüre in verschiedenen Stadien dieser Arbeit und einen stets anregenden und ebenso vergnüglichen akademischen Austausch. Für eine derartige Unterstützung danke ich auch meiner Familie, insbesondere Frau Gu- drun Tschäpe. IV Darüber hinaus fühle ich mich den Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Göt- tingen zu großem Dank verpflichtet, vor allem Frau Sonnenberg, die mir wieder- holt und großzügig Arbeitsmöglichkeiten in der SUB zur Verfügung stellte, und Frau Pabst, die sich für die Übernahme in das Verlagsprogramm einsetzte und den gesamten Ablauf der Drucklegung begleitete. Das Korrektorat und das aufreibende Geschäft der Formatierung übernahm wohl gelaunt und umsichtig Frau Annett Eichstaedt (Karlsruhe), die lateinischen Zitate prüfte akribisch Frau Vanessa Engelbrecht (Bielefeld). Ihnen beiden meinen herz- lichen Dank für ihre Unterstützung. Elsa-Maria Tschäpe Inhaltsverzeichnis Danksagung ..................................................................................... III Inhaltsverzeichnis .............................................................................. V Vorbemerkungen ................................................................................ 1 1 Forschungsbeiträge zur Großstadt als Raum der römischen Literatur .......................................................................................... 5 1.1 ROM. Stadtrömische Topographie in der Dichtung der augusteischen und kaiserzeitlichen Epoche (Forschungsbericht I) .......................................................................... 5 1.2 RAUM. Untersuchungen zu Raumdarstellungen in der antiken Literatur (Forschungsbericht II) ...................................................... 10 1.3 STADT. Stadt und Land – Eine textübergreifende Dichotomie? (Forschungsbericht III) ............................................. 16 1.4 Die Großstadt in römischer Dichtung. Bestimmung des Untersuchungsgegenstands .............................................................. 17 VI 2 Kriterien der Textauswahl und methodische Überlegungen zur Analyse räumlicher Physis in narrativen Texten.................... 21 2.1 Referenzen auf den Großstadtraum. Kriterien einer Textauswahl ........................................................................................ 21 2.1.1 Urbs und Roma als Kernlexeme einer lateinischen Großstadt- Isotopie? ............................................................................................. 23 2.1.2 Die Verwendung von urbs und Roma in der römischen Dichtung ............................................................................................. 28 2.2 Die Analyse räumlicher Physis in narrativen Texten. Methodische Überlegungen .............................................................. 31 2.2.1 Die Raumwahrnehmung des Menschen........................................ 31 2.2.2 Verbale Wiedergabe räumlicher Eigenschaften ........................... 37 2.2.2.1 Die lexikalische Dimensionierung. Substantive und Adjektive .............................................................................. 37 2.2.2.2 Positionierung und Direktionalisierung. Die Entstehung von Räumlichkeit .......................................... 40 2.2.3 Literarisch gestaltete Wiedergabe des Raums ............................... 42 2.2.3.1 Beschreiben von Raum...................................................... 43 2.2.3.2 Erzählen von Raum ........................................................... 44 2.2.3.3 Erzählte Raumwahrnehmung: Panorama und Flaneur ................................................................................. 48 2.3 Zusammenfassung ............................................................................. 55 3 Der literarische Raum Großstadt in der augusteischen und kaiserzeitlichen Dichtung.............................................................57 3.1 Die Vielfalt räumlicher Inseln .......................................................... 58 3.2 Wege durch den Raum ...................................................................... 68 3.3 Formen der Ausdehnung. Die Größe einer literarischen Großstadt ............................................................................................ 81 3.3.1 Zu weit. Entfernungen in einer literarischen Großstadt............. 81 3.3.2 Mobilität als Lebensform. Bewegungsbereich Großstadt .......... 88 3.3.2.1 Ländliche Bewegungsarmut .............................................. 96 3.3.2.2 Tempo Großstadt. Schnelle und langsame Bewegungen in der Stadt ................................................. 101 3.3.3 Qualitätssprung. Die große Stadt – Die Großstadt ................... 105 3.3.4 Auswertung ...................................................................................... 111 Inhaltsverzeichnis VII 3.4 Formen der Begrenzung und des Übergangs. Räumliche Vereinnahmungen einer literarischen Großstadt ........................ 114 3.4.1 Aussichtspunkte. Panoramablick auf den Großstadtraum ....... 114 3.4.2 Natürliche und architektonische Grenzen. Mauern, Flussläufe und Grenzsteine ........................................................... 121 3.4.3 Grenzbereiche. Anzeichen der Verstädterung ........................... 127 3.4.4 Tiberim defluxit Orontes . Durchlässige Grenzen ............................ 136 3.4.5 Auswertung ...................................................................................... 139 3.5 Innere Strukturen. Raumnot in der literarischen Großstadt ..... 142 3.5.1 Dichte Bebauung............................................................................. 142 3.5.1.1 Gefährliche Enge I. Entgrenzungen von innen nach außen .................................................................................. 144 3.5.1.2 Klangteppich Großstadt. Entgrenzungen von außen nach innen ......................................................................... 147 3.5.1.3 Versperrte Sicht. Monumentale Beengtheit ................. 152 3.5.2 Densum volgus – Wahrnehmung der Masse................................... 157 3.5.2.1 Theater, Circus, Atrium – Städtische Konzentrationspunkte ..................................................... 160 3.5.2.2 Gefährliche Enge II. Die Widerständigkeit der Masse .................................................................................. 167 3.5.3 Auswertung ...................................................................................... 175 4 Die Großstadt als erklärter Gegenstand römischer Dichtung .... 181 4.1 Voraussetzungen der Großstadtdichtung .................................... 185 4.1.1 Rom als Lebenswirklichkeit. Biographien in der Großstadt .... 185 4.1.2 Vorprägungen im Rhetorikunterricht. Von der Schulaufgabe in die Literatur?................................................................................ 188 4.1.3 Die Poetisierung einer antiken Großstadt................................... 193 4.1.3.1 Der Stadt abgelauschte Dichtung. Ein poetologischer Essay über Dichtung und Großstadt (Mart. praef. XII) .............................................................. 193 4.1.3.2 Der Dichter, wie er im Buche steht. Mehrstimmigkeit als Merkmal der Fiktion .................................................. 199 4.2 Die Großstadt als Dichterlandschaft ............................................ 202 4.2.1 Eine Stadt, die nicht zum Aushalten ist. Der Dichter aus Empörung (Iuv. sat. 1) ................................................................... 203 4.2.1.1 Nonne libet medio ceras implere capaces quadrivio (...) ? – Großstadt und Dichtung ................................................. 204 VIII 4.2.1.2 Cum te summoveant, qui (...) – Großstadt und Dichter . 207 4.2.2 Mutatus locus . Die urbs Roma der Imagination und die Metamorphose des Stils (Ov. trist. 1, 1) ...................................... 213 4.2.2.1 (...) sine me, liber, ibis in urbem – Großstadt und Dichtung ............................................................................ 214 4.2.2.2 Tu tamen i pro me, tu, cui licet, aspice Romam – Großstadt und Dichter ....................................................................... 219 4.2.3 Der Einzug der Großstadt urbs Roma in die römische Dichtung ........................................................................................... 225 4.2.3.1 Ein programmatischer Antiurbanismus inmitten der literarischen Großstadt. Großstadt und Dichtung (Hor. sat. 1, 4) ................................................................... 228 4.2.3.2 Das Wogen der Großstadt. Ausreden eines Musensohnes (Hor. epist. 2, 2) – Die Großstadt und der Dichter I ...................................................................... 231 4.2.3.3 Der dichtende Stadtgänger. Die Großstadt und der Dichter II (Hor. sat. 1, 6; 1, 9)........................................ 239 4.3 Auswertung. Die Großstadt als Gegenstand neuartiger Literatur .............................................................................................245 5 Zusammenfassung...................................................................... 255 6 Bibliographie .............................................................................. 263 6.1 Quellen...............................................................................................263 6.2 Literaturverzeichnis .........................................................................266 6.2.1 Lexika und Wörterbücher .............................................................. 266 6.2.2 Sekundärliteratur und Kommentare............................................. 267 6.3 Glossar ...............................................................................................289 Vorbemerkungen Die Entdeckung der Großstadt für die Literatur gilt gemeinhin als besonderes Verdienst der Klassischen Moderne. Baudelaires Les Fleurs du Mal , James Joyces Ulysses oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz sind Paradebeispiele einer innova- tiven und hochgradig experimentellen Literatur, die mit dem Ende des 19. Jahr- hunderts die Spezifika der Großstadt als Lebensumwelt des modernen Menschen in den Blick nimmt. Vorläufer dieser literarischen Auseinandersetzung mit der „großen Stadt“ finden sich verschiedentlich bei den Literaten der Romantik und sind auch bereits in Texten des beginnenden 18. Jahrhunderts greifbar. 1 Nie ge- leugnete Traditionslinien dieser Literatur reichen bis zu den biblischen Beschrei- bungen von Jerusalem und Babylon sowie Sodom und Gomorrha zurück. 2 1 Vgl. Riha (1970). R.-R. Wuthenow, Die Entdeckung der Großstadt in der Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Meckseper/Schraut (1983), 7-27. Stierle (1993), 12 pointiert: „In Paris kommt die Stadt zu Bewußtsein. Die Stadt hat hier zuerst ihre Ausdrücklichkeit gefunden.“ Erste Anze i- chen eines Stadt-Bewusstseins erkennt er in der Literatur der Spätaufklärung, dessen Entfaltung jedoch erst in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Zur Vorgeschichte des Stadt-Bewusstseins, vgl. ebd., 53-87 und Corbineau-Hoffmann (2003). Die Studie von Lehan (1998), The City in Litera- ture beginnt zwar mit den historischen Ursprüngen städtischen Siedelns in Mesopotamien, Grie- chenland und Rom, bezieht aber die literarischen Texte der Epochen nicht ein. 2 Die neutestamentliche Gegenüberstellung der Hure Babylon und des heiligen Jerusalems (Off. 17-19; 21) stehen in der Literatur der Klassischen Moderne für die ambivalente Begegnung des Menschen mit der Stadt. Die doppelte Sicht auf die Stadt als Ort der Versuchung bzw. des Un- 2 Auf die Literatur der griechisch-römischen Antike dagegen haben sich die Auto- ren einer selbsterklärten Moderne kaum berufen. Literarische Stadterfahrungen aus griechischer Literatur werden nicht rezipiert. Aus römischer Literatur sind vor allem diejenigen Passagen gegenwärtig, die die antike Metropole Rom als Mittel- punkt eines gewaltigen Imperiums und als ewige Stadt feiern. 3 Diese marginale Bedeutung ist jedoch durchaus überraschend: Im späten 17. Jahrhundert nahmen französische und englische Autoren noch vielfach die Texte der augusteisch- kaiserzeitlichen Literatur für ihre eigene literarische Auseinandersetzung mit den gerade entstehenden Großstädten – Paris und London – auf und machten panegy- risch, aber auch satirisch ausgerichtete „Rom - Ansichten“ für ihre Literatur fruch t- bar. 4 Im 18. Jahrhundert begann aber eine Entwicklung, bei der die antike Metro- pole Rom als Ort der Literatur zunehmend zu einer Kontrast folie für eine eigene Gegenwart avancierte. Fortan versinnbildlichte sie in deutscher Literatur einen Ort der Musen, der Gelehrsamkeit, der Künste und Wissenschaften und verlor damit ihren einst ambivalenten Charakter. 5 Infolge dieser Entwicklungen ist es wohl nur wenig verwunderlich, dass in ein- schlägigen Handbüchern der Literaturwissenschaft für die Anfänge der literarischen Auseinandersetzung mit der (Groß-)Stadt zwar durchaus auf antike, wenn auch ausschließlich auf römische Autoren verwiesen wird, dass man es aber bei einer Nennung der Autoren Horaz und Juvenal und dem sehr allgemeinen Hinweis belässt: „Ansätze zu der Abwertung des Stadtlebens bestehen bereits im Alte r- tum“ 6 tergangs der Menschen (Babylonmythos) und als Ort der Freiheit bzw. Erlösung (Jerusalem- oder Romerwartung) bleibt bis in die Gegenwart vertrautes Muster. Der neutestamentliche Text (Abfassungszeit wohl 120 n. Chr.) wird in der klassischen Auslegung auf Rom bezogen. Vgl. Sim (1996), bes. 18-22. Der alttestamentliche Bericht vom Untergang der Städte Sodom und Gomor- rha gilt als Urbild derjenigen Stadt, die in ihrer Unheil bringenden Schrankenlosigkeit letztlich untergehen muss. Ausführlich dazu Karlheinz Stierle, Der Tod der großen Stadt. Paris als neues Rom und neues Karthago, in: Smuda (1992), 110. Zum Babylon-Vergleich vgl. auch Riha (1970), 52 f. und Conrad Wiedemann, Supplement seines Daseins, in: ders. (1988), 4. 3 Diese Vorstellungsmuster wurden in antiker Literatur angelegt, jedoch erst in christlicher Pane- gyrik verfestigt. Dazu Classen ( 2 1986), 10 f., 18 f., 27 f., 30 f., 34; Edwards (1996), 82-88. Vgl. auch Oesterle, Paris – das moderne Rom? in: Wiedemann (1988), 375-419. 4 Zur Rezeption in der englischen Literatur vgl. Werner von Koppenfels, Rom – London, oder die Hauptstadt als satirischer Ort, in: Mahler (1999), 86-103. 5 In deutscher Literatur der Neuzeit ist der Vergleich moderner Metropolen, etwa Paris oder London, mit Städten des Altertums, meist Babylon und Rom, durchaus verbreitet. Dabei sind al- lerdings die Zuschreibungen an die vormaligen Großstädte einseitig: Babylon gilt als verrufen, diesseitsverfallen und steht für lockere Sitten und sinnliche Freuden, Rom dagegen ist ein Ort der Bildung, Kunst und Kultur. Aus der Gegensätzlichkeit der Stadtbilder ergibt sich in der Konsequenz das einheitliche Bild der problematischen neuzeitlichen Stadterfahrung. Siehe dazu Oesterle (1988), 375-419. Zum Wechsel vom negativen zum positiven Rombild im 4. Jh. aus christlicher Sicht vgl. Walraff (2004), Fuhrmann (1968), Schmitzer (2005). 6 Daemmrich (1987), 297. Diese sehr allgemeine Feststellung kann jedoch auf zahlreiche literari- sche Werke der römischen und auch griechischen Literatur bezogen werden. Unterschiede zwi- Vorbemerkungen 3 Corbineau- Hoffmann beginnt ihre „Kleine Literaturgeschichte der Großstadt“ (2003) zwar mit einem Zitat aus den poetischen epistulae 2, 2 des Horaz , das sie als eine erste Auseinandersetzung mit der Großstadt und auch als deren „Einzug in die Literatur“ würdigt, konstatiert aber binnen Kurzem: „Dass die Großstadt selbst ein poetischer Gegenstand sein könnte, kommt Horaz schon gar nicht in den Sinn.“ 7 Dieses Ergebnis verallgemeinert sie für die gesamte antike Literatur und beschließt den Abschnitt mit der Ansicht, dass erst „im Laufe der Zeiten die Großstadt zu einem der ‚großen‘ Gegens tände der Literatur“ 8 wurde. Auch nach Meinung Stierles (1993) hatte „die Antike (... ) für das Bewußtsein der Stadt in ihrem konkreten Lebenszusammenhang keine Sprache, obschon die grie- chische polis und die römische urbs für die Stadtkultur Europas wegweisend wur- den.“ 9 Allein die Werke der Satiriker Juvenal und Horaz sind es seiner Einschätzung nach, die die Großstadt in der antiken Literatur, wenn auch „nur in partikularer Perspektive, zu Wort“ 10 brächten. Diese hier skizzierten Einschätzungen der Neuen Philologien zum Einzug der Großstadt in die Literatur haben das Interesse für die vorliegende Untersuchung geweckt, denn sie scheinen einem ersten, rein intuitiven Eindruck eines heutigen Lesers antiker Literatur zu widersprechen. Für den Gegenwartslyriker Durs Grün- bein etwa ist der römische Autor Juvenal „ein Dichter, der wie kein zweiter seiner Zeit instinktiv den wahren Minotaurus moderner Lyrik bei den Hörnern packte: die Großstadt selbst.“ 11 Ihm zufolge steht ein antikes Bewusstsein für die Groß- stadt und deren Einzug in die Literatur außer Frage. Er weist auf die geschichtslo- se Größe der Großstadt in den entsprechenden römischen Texten hin 12 und stellt ihre Aktualität in der Beschreibung einer menschlichen Grunderfahrung heraus. 13 Sichtet man Handbücher zur Literatur der augusteischen und kaiserzeitlichen schen einem im weitesten Sinne städtischen und ländlichen Leben finden sich bereits in der frühgriechischen Literatur. Tendenzen einer Abwertung des Stadtlebens lassen sich bereits in den griechischen Komödien (Aristophanes, Menander) ausmachen. Vgl. dazu Reinhardt (1988), 3-18 und Rosen/Sluiter (2006). 7 Corbineau-Hoffmann (2003), 7. 8 Ebd. 9 Stierle (1993), 53. Dabei denkt er vor allem an staats theoretische Schriften wie die von Platon, Aristoteles, Cicero und Augustin, aber auch an die geographischen Schriften von Pausanias und Strabo, die eine Stadt als Ansammlung denkwürdiger Kunstdenkmäler präsentierten. 10 Stierle (1993), 53. 11 Grünbein (2005), 329. 12 „Juvenal beschreibt um das Jahr 10 0 unserer Zeitrechnung ein Rom, das mir sehr ähnlich vor- kommt wie die Situation heute in New York, auch ein wenig wie in Berlin. Also dieses Ineinan- der vieler Kulturen, Religionen und neuer Lebensformen, die Arten des Verbrechens, der Ge- schäftemacherei, da zu alle möglichen Affekte des Menschen.“ Grünbein (1995), 224. Vgl. auch Grünbein (2005), 328-368. 13 Vgl. auch v. Albrecht (2002), 102: Die „Antike interessiert Grünbein nicht qua Vergangenes ( ...), sondern im Rahmen einer eigenständigen Sicht der Welt.“ 4 Literatur, so gehört laut ihnen die Großstadt Rom zum wichtigen „literaturwisse n- schaftlichen Rahmen“ 14 . Die Beziehung zwischen Literatur und Großstadt geht jedoch darüber hinaus. Stellt man die schlichte Frage, wo ein literarisches Werk spiele, so lautet die Antwort für die Dichtung dieser Epochen recht häufig: in Rom Naturbesonderheiten, zahlreiche Monumente und zentrale Platzanlagen, aber auch Einrichtungen einer großstädtischen Infrastruktur wie Theater, Circus, Stadttore, Aquädukte oder Straßennetze hielten durch entsprechende Referenzen 15 Einzug in die Dichtungen ihrer Zeit. 16 Gerade dieser außergewöhnliche Bezug auf eine reale Großstadt macht diese Texte für die Antike bereits einzigartig. 17 Einen „unmittelbaren Ausdruck römischer Urbanität“, in der sich der Dichter „unzählige Einzelheiten des alltäglichen Lebens zu eigen“ mache, gesteht zwar Stierle den Texten Juvenals zu. Jedoch nutzt der antike Dichter sie seiner Auffas- sung nach allein, um „sie zum imme r gleichen Zeugnis gegen die Stadt zu nötigen, deren negative Wirklichkeit am positiven Ideal des einfachen, unverkünstelten Landlebens tadelnd gemessen wird.“ 18 Was Stierle in den antiken Texten vor allem fehlt, ist die „Betrachtung und Wahrnehmung der Stadt selbst“ 19 , die genau dadurch zu einem Gegenstand der Literatur wird. Zentraler Unterschied zur Moder- ne ist für ihn, dass in der antiken Literatur die Großstadt nicht in ihrer Physis als Stadt, in ihrer räumlichen Ausdehnung oder inneren Struktur, gezeigt werde und sie in einen unmittelbaren Lebenszusammenhang der Figuren gestellt wird. Genau hier will die vorliegende Untersuchung ansetzen, deren Ziel es ist, diesem Eindruck Stierles nachzugehen und zu modifizieren. In den Blick genommen werden soll die erzählerische Ausgestaltung eines literarischen Raumes unter der Fragestellung, ob räumliche Eigenschaften und Strukturen einer Großstadt in augusteischer und kaiserzeitlicher Dichtung vergegenwärtigt werden und in wie- weit diese als eine spezifische Physis einer Großstadt bewertet werden können (Ka- pitel 3). Außerdem soll nach Anhaltspunkten dafür gesucht werden, ob die Groß- stadt für römische Autoren wie Juvenal, Horaz und womöglich auch weitere ein eigener, erklärter Gegenstand dichterischer Reflexion gewesen ist (Kapitel 4). Eine Sichtung zentraler Forschungsergebnisse über die antike Metropole Rom in der römischen Literatur, wie auch zur literarischen Darstellung von Raum und Räumlichkeit in der Antike und zu der von Stierle angesprochenen unausgewoge- nen Darstellung der Dichotomie Stadt und Land (1.1 – 1.3) soll dazu genutzt wer- den, diesen Untersuchungsgegenstand zu positionieren und schärfer zu konturie- ren (1.4). 14 Cancik (1974), 267-271. 15 Zum Begriff Referenz vgl. Vater (1991), 10-14. 16 Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 2.1. 17 Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 4. 18 Stierle (1993), 53. Vor allem Juvenals dritte Satire charakterisiert Stierle als „Antiverse“ ohne „einen Mehrwert über die bloße Negativität hinaus“, ebd., 54. 19 Stierle (1993), 56. 1 Forschungsbeiträge zur Großstadt als Raum der römischen Literatur 1.1 ROM. Stadtrömische Topographie in der Dichtung der augusteischen und kaiserzeitlichen Epoche (Forschungsbericht I) Die Versuchung, auf heutigen Stadtplänen Schauplätze römischer Literatur aufzufin- den oder Bewegungen der Figuren 20 durch den antiken Großstadtraum auf ihnen nachzuvollziehen, ist wegen der außergewöhnlichen Dichte an Referenzen auf die Topographie Roms in der augusteischen und kaiserzeitlichen Dichtung hoch. Und auch die Faszination, Orte, an denen die Literatur spielt, selbst aufzusuchen und ihren Genius loci auf sich wirken zu lassen, ist eine vertraute Kulturtechnik, die für die antike Metropole seit Jahrhunderten gepflegt wird und sich bis in die Gegen- wart hinein in der Herausgabe von literarischen Reiseführern spiegelt. 21 Die Be- 20 Fiktive Ereignisträger können Personen oder personenähnliche Entitäten (z. B. sprechende Tiere, Götter) sein. Sie werden als Figuren bezeichnet. Vgl. Zipfel (2001), 80. 21 Grundsätzlich zum Verhältnis von fiktionaler Literatur und Geographie vgl. Moretti (1999), Piatti (2008). Vorschläge zu einer Geographie über die Entstehungsorte (!) lateinischer Literatur unterbreitet Gualandri (1998). In griechischer Literatur Romm (1992), 183-214. Literarische Rei- seführer für Rom unter Berücksichtigung antiker Literatur Neumeister (1991), Giebel (1995), Waiblinger ( 3 2009) a, Waiblinger ( 3 2009) b. Am umfassendsten van Heck (1977). ROM. Stadtrömische Topographie in der Dichtung 6 rechtigung zu diesem Vorgehen provozieren die literarischen Texte selbst. Denn jeder literarische Text baut mehr oder weniger deutlich „Handlungsorte und - räume auf, wobei die Skala von gänzlich imaginär bis hin zu (...) präzise lokalisierbaren Schauplätzen mit hohem Wiedererkennungswer t reicht.“ 22 Zahlrei- che Autoren der augusteischen und kaiserzeitlichen Literatur haben sich damit absichtsvoll für einen Ort der tatsächlichen Welt, nämlich die Metropole Rom, ent- schieden, die somit in die Literatur, metaphorisch gesprochen, immigriert und zu einem „Ort der Literatur“, sprich zum Bestandteil der erzählten Welt der Dichtung wird. 23 Die Grenze zwischen erzählter und tatsächlicher Welt, zwischen Fiktionali- tät und Faktualität 24, wird in diesen Texten damit willentlich verwischt. 25 Bei der Verwendung von topographischen Referenzen, also Referenzen, die sich auf Naturbesonderheiten, Monumente oder zentrale Platzanlagen der antiken Metro- pole Rom beziehen, sind in den einzelnen Werken der augusteischen und kaiser- zeitlichen Epoche durchaus Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausgemacht worden. So weist Döpp ( 2 2003) darauf hin, dass die Dichter Vergil, Horaz und Ovid „ganz überwiegend das Zentrum der Stadt (...) dem Leser vor Augen fü h- ren“ 26 . Eine Untersuchung von Dyson und Prior (1995) legt offen, dass in den Epigrammen Martials der Gebrauch topographischer Referenzen stärker zu einer eindeutigen Lokalisierung im realen Stadtraum führt, während Horaz bei konkre- ten Ereignissen eher Referenzen auf eine allgemein städtische Infrastruktur wählt. 27 Diese Ergebnisse könnte man nach dem Vorschlag Piattis (2008) dahin- 22 Piatti (2008), 16. Die antike Rhetorik trägt dem Unterschied zwischen imaginierten und realen Orten bisweilen durch die Unterscheidung von Topothesie und Topographie Rechnung. Vgl. Laus- berg ( 4 2008), § 819. 23 Vgl. Zipfel (2001), 90- 97. Zipfel bezeichnet ‚reale Entitäten‘ in fiktiven Geschichten im A n- schluss an Parson als immigrant objects 24 Zu den Begrifflichkeiten vgl. Martinez/Scheffel ( 5 2003), 9-19. Die grundlegende Differenz zwischen Fiktionalität und Faktualität ist eine anerkannte Konvention, die auch für antike Dich- tung gilt. Vgl. dazu Rösler (1980), Liebermann (1989) zur möglichen „Enttäuschung des Erwa r- tungshorizontes“, ebd., 199, Hose (1996), der das Zugrundelegen von „Fiktionalität“ gerade für das Verständnis römischer Literatur als angemessen erklärt, ebd., 274. Bereits in frühen literatur- theoretischen Überlegungen wurde die Nachprüfbarkeit einer Erzählung mit einer außerhalb des literarischen Textes liegenden Wirklichkeit als unangemessen bewertet. Vgl. Arist. Poetik 1451 b. Dazu Büttner (2006), 86 und grundsätzlich Zipfel (2001). 25 Die Großstadt Rom in den Epigrammen Martials ist grundsätzlich fiktional wie die mythische Insel Ogygia in der Odyssee Homers. Der Unterschied zwischen diesen beiden Orten der Literatur liegt nach Ansicht Piattis allein darin, dass entsprechende Referenzen auf außerhalb der Literatur existierende Orte mit Nachdruck eine Faktualität suggerieren sollen. Legten Autoren jedoch Wert auf eine überprüfbare „Richtigkeit“ ihrer Angaben, sei es plausibel, diese dahingehend zu übe r- prüfe n. Abweichungen seien jedoch nicht „falsch“, sondern müssen in eine Interpretation ei n- bezogen werden. Vgl. Piatti (2008), 136 f. Man kann durch einen Vergleich lediglich nachweisen, dass eine Erzählung beispielsweise nicht so unverfälscht ist, wie es der Erzähler glauben machen will. Vgl. Maatje (1975), 392, Nerdinger (2006), 10 f. 26 Döpp ( 2 2003), 29. 27 Vgl. Dyson/Prior (1995), 255.