Maria A. Wolf eugenische vernunf t Eingriffe in die reproduktive Kultur durch die Medizin 1900–2000 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar gedruckt mit der unterstützung durch den fonds zur förderung der wissenschaftlichen forschung Bibliografische information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. isBn 978--20-77761-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten rechte, insbesondere die der Über- setzung, des nachdruckes, der entnahme von Abbildungen, der funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im internet und der speicherung in Datenver- arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser verwertung, vorbehalten. © 2008 by Böhlau verlag ges.m.b.h. und co. Kg, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : Prime rate kft., Budapest Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. „OrgAnIschEs K ApItAl“ und r AtIOnAlIsIErung dEr gEsEllschAf tlIchEn VErWEndung dEs MEnschEn Wie die alte eugenik auf dem Boden einer Medikalisierung der sozialen frage groß wird und der geschlechter- und generationenordnung einen neuen sinn gibt, an deren Kreuzungspunkt die „wissenschaftliche Mutterschaft“ des 20. Jahrhunderts konzipiert wird: 1900–19 8 . . . . . . . . . 1 Bevölkerungsbewegung, geburtenrückgang und staatliche Politik zur neuorganisation der reproduktiven Kultur im gebiet des heutigen Österreich in den Jahren 1900–19 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 eugenisierung der Medizin in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1. „Qualität statt Quantität“: Eugenisierung der reproduktiven Kultur in medizinischen Konzepten der Bevölkerungspolitik, Konstitutions- und Vererbungslehre, Sozialmedizin und Rassenhygiene . . . . . . . . . . . . . 8 1.1 „Menschenökonomie“: rationelle verwendung und einsatz des Menschen 9 1.2 Bevölkerungspolitik: „verwaltungskunst des organischen Kapitals“ . . . . 80 1. Der freie Lohnarbeiter und sein „organisches Kapital“: verlust des väterlichen erbes und neuordnung der geschlechter- und generationenordnung durch eugenische sinngebung . . . . . . . . . . . . . 92 1.4 geburt des „sozialen Körpers“ aus dem elend der kapitalistischen Ökonomie und Medizin als Politik und sozialtechnik . . . . . . . . . . . . 101 1. Konstitutions- und vererbungslehre: Medikalisierung der Menschenökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1.6 soziale hygiene des Lebenslaufes und der Aufstieg der „prophylaktischen gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.7 rassenhygiene und eugenik: „Ausgleichende Pflege des Lebensstammes“ 149 Inhalt 1.8 Wissenschaft und männliche selbstbehauptung: Die verarbeitung der niederlage, den „erbgang“ beim Menschen naturwissenschaftlich nachweisen zu können, durch medizinische eingriffe in die reproduktive Kultur . . . . 161 2. Wehrtauglichkeit und Gebärtauglichkeit: Eugenisierung der Geschlechterverhältnisse und Auslese legitimer Reproduzenten „organischen Kapitals“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.1 Krieg und erwerbsarbeit als funktionsprüfung von Männlichkeit: „reproduktionswert“ der Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2.2 gebär- und nährfähigkeit als funktionsprüfung von Weiblichkeit: „reproduktionswert“ der frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2. „Zuchtwahl“ und „gesundheitspaarung“: Die „sakralisierung“ des geschlechtsaktes auf grundlage einer eugenisch begründeten trennung von sexualität und Zeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 3. Erhaltung des gesund geborenen Nachwuchses als wichtigste Maßnahmen des Volksaufbaus: Eugenisierung der Generationenverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 .1 Kampf gegen die säuglingssterblichkeit und Ausbau der Kinderheilkunde . 2 2 .2 Die „eroberung der Mutterbrust“ durch die Pädiatrie: Medikalisierung der säuglingsernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Der Arzt als besserer vater: säuglingsschutz und -fürsorge als pädiatrische Belagerung von schwangerschaft, Wochenbett und früher Mutter-Kind-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 .4 Wissenschaftliche Mutterschaft: Der Arzt als erzieher der Mütter und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 . e rziehungskindheit: „Künstliche Auslese“ als voraussetzung einer erfolgreichen Kindererziehung und die soziale Organisation von Kindheit durch die Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 02 II B IOlOg Isc h E WI E dE r h E r stE llu ng dEs dE utsc h E n VOlKEs u n d dE r n M E nsc h Als sAc hWAltE r sE I n Es E r B g utEs Wie die alte eugenik ihre niederlage, den erbgang wissenschaftlich nachweisen zu können in der vernichtung von als „lebensunwertem Leben“ diagnostizierten Menschen entsorgt und als teil der nationalsozialistischen gesundheitsführung erziehungsprojekt bleibt: 19 8–194 . . . . . . . . . . . . 17 Inhalt 1. Aufstieg des männlichen deutschen Arztes zum „Gesundheitsführer der Nation“: Politische Ermächtigung und Professionalisierung der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.1 von der theorie zur Praxis: Die neue Medizin auf dem Weg in die Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Die erhöhung des männlichen Arztes zum „gesundheitsführer“ des volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 1. e rziehung der Ärzte zu „erb- und erziehungsbedingter gemeinschaftsethik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.4 Das männliche Prinzip in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Probieren geht über studieren“: führung statt forschung . . . . . . . . . . 7 2. Entprivatisierung der Gesundheit, Verstaatlichung der Generationskraft der Geschlechter und der Aufstieg der prophylaktischen Gesellschaft: Eugenische Medizin als exekutive Gewalt eines nationalsozialistisch- männerstaatlichen Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2.1 „Periodische gesundenuntersuchung (p.gu)“, „gesundheitspaß“, „erbbiologische Bestandaufnahme“ und motorisierte Mütter- und gesundheitsberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.2 „geschlechtergesundheitsführung“: eugenische und medizinische Disziplinierung der generativen reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . 9 ehe als „biologische Zelleinheit“ u. die familie als „organisches Zentrum“ des nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 „reproduktionswert“ des Mannes: „Kampfspiel“ – „ernster Kampf “ – „Arterhaltungskampf “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 „reproduktionswert“ der frau: „fruchtbarkeitsbereitschaft“ und Arbeitseinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Angewandte eugenik, männliche reproduktionsinteressen und gewalt gegen frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 2. „Kindergesundheitsführung“: eugenische und medizinische Überprüfung des „Aufzuchtswertes“ der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 „Positive elektion“ anstelle „eliminativer selektion“ und die „grenzen der erziehung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 3. Das Vorrecht des „kommenden Geschlechts“. Verhütung erbkranken Nachwuchses und der Aufstieg des Menschen zum Sachwalter seines „Erbgutes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 6 Inhalt .1 Die wissenschaftliche ungewissheit des „erbganges“ und die praktische gewissheit der „erbpflege“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 8 .2 Das vorrecht der „kommenden Zeit“ und die angewandte eugenik („erbpflege“) als individualisierungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . 4 . v ernichtung und Kinderraub: Die verschwiegene Wirklichkeit eugenischer Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 4. Medizin als politische Interventionstechnik, wissenschaftlicher „Fortschritt“ als Legitimationsressource und die Organisation männlicher Konkurrenz und Selbstbehauptung in der Wissenschaft . . . 466 4.1 Männliche nachwuchswissenschaftler als medizinische elite und die verführungskraft des „wissenschaftlichen fortschritts“ . . . . . . . . . . . 470 4.2 verführbare Wissenschaft – verführbare Politik: homosoziale Machtbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 4. Die „freiheit der Wissenschaft“ und verwissenschaftlichung als Übertragung männlich-akademischer selektionsprozeduren auf gesellschaftliche existenzweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 III dIE nEuE sAchlIchKEIt EInEr EugEnIsIErtEn rEprOduK tIOnsMEdIzIn, dIE nOrMAlIsIErung dEr prOphyl AK tIschEn gEsEllschAf t und dEr IndIVIduAlIsIErtE MEnsch Wie die alte eugenik als erziehungsprogramm weiterlebt und die neue eugenik die geburt von Menschen pränatal oder auf Zellstufe präventiv verhindert, deren Leben „nicht als mit dem Leben zu vereinbaren“ gilt oder die als „sozial untragbar“ betrachtet werden: 194 –2000 . . . . . . . . . . . . . 197 1. „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag“: Rückzug der Eugenik ins Labor als Ort des kommenden Ruhmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 00 2. „... das Banner der Eugenik wieder hochzureißen und von Spuren geschehener Versudelung zu säubern“ um das „Uebel der Erbkrankheit auf ethisch einwandfreie Weise“ zu sanieren: Rehabilitierung der Eugenik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Inhalt 3. Pränatale Pathologie als Niemandsland zwischen Geburtsmedizin und Pädiatrie: Die wissenschaftliche Suche nach den Missbildungsursachen und die „angewandte Humangenetik (Eugenik)“ als Bestandteil prophylaktischer Eingriffe der Vorsorgemedizin im Dienste der Gesundheit der nächsten Generation . . . . . . . . . . . . . . 18 .1 erforschung exogener und endogener angeborener Missbildungsursachen durch geburtsmedizin, Pädiatrie, Pathologie und humangenetik . . . . . 24 .2 verhinderung der geburt von Kindern mit angezeugten Missbildungen: Pränatale Diagnostik und Aufstieg der Medizinischen genetik . . . . . . . 41 . g enetische familienberatung als eckpfeiler der Präventivmedizin . . . . . 47 4. Herstellung physisch und psychisch gesunder Nachkommen durch eine eugenisch motivierte und legitimierte Gynäkologie, Geburtsme- dizin, Pädiatrie und Humangenetik als interdisziplinär kooperierender Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Produktion der „hormonalen“ frau im Dienste der klinischen Zeugung ohne frau: steuerung der Ovulation, Zeugung im Labor und operative herstellung der schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 4.2 empfängnisverhütung im Körper der frau: familienplanung durch hormonelle sterilisierung der frau zur „förderung des Wunschkindes“ und „Beherrschung der Bevölkerungsexplosion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 4. s chwangerenscreening und fötometrie: immunologische und sonographische Überwachung der schwangeren, vermessung und Prüfung der fötalen entwicklung und normalisierung des eugenisch legitimierten schwangerschaftsabbruches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 4.4 Die verbesserung des „fetal outcome“: geburtsmedizin als elektrotechnisches und biochemisches intensivüberwachsungssystem. . . 64 4. „children’s health, tomorrows wealth“: neugeborenenscreening, früherkennungsuntersuchungen und Präventionsmaßnahmen und die Kreation neuer fachrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 4.6 Medizinisch angeleitete erziehung als instrument einer prophylaktischen Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 5. Der „wissenschaftliche Fortschritt“ als unausweichliches Schicksal, der leibliche Vater als Statist der Reproduktionsmedizin und die auf Dauer gestellte Simulation der sexuellen Initiation . . . . . . . . . . . . 696 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 Inhalt 10 „hauptsache gesund“: Die sanitäre Perspektive auf Menschen und gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 sozialstaatliche entprivatisierung der reproduktion und die transformation des privaten in einen öffentlichen Patriarchalismus . . . . . . 717 Männliche reproduktionszyklen und Life-sciences als verselbständigung männlicher selbstbehauptung . . . . 720 Menschliches Leben als sexuell übertragene Krankheit und die eugenische Organisation von Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Die reproduktion des frauenkörpers als Material und ressource und die eugenische Organisation von Mutterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 Wissenschaftsgesellschaft, verwissenschaftlichung sozialer sinngebung und eugenisierung als erziehungsprojekt und Pädagogisierungsprozess . . . . . . 746 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 6 lItErAturVErzEIchnIs Gedruckte Quellen der Jahrgänge 1900–2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 9 gedruckte Quellen 1900-19 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 9 gedruckte Quellen 19 8-194 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 gedruckte Quellen 1946-2000. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 gedruckte Monographien, sammelwerke und Aufsätze in Zeitschriften und sammelwerken, ungedruckte Dissertationen und Diplomarbeiten . . . . . . . . 778 Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816 Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Onlinedatenbanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Dokumentarfilme und Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 „Was uns alle angeht (...) ist der Bezug zwischen erwachsenen und Kindern überhaupt, oder noch allgemeiner und genauer gesprochen, unsere haltung zur tatsache der natalität: daß wir alle durch geburt in die Welt gekommen sind und daß diese Welt sich ständig durch geburt erneuert. in der erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die verantwortung für sie zu übernehmen und gleichzeitig vor dem ruin zu retten, der ohne erneuerung, ohne die Ankunft von neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre und in der erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustoßen und sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre chance, etwas neues, von uns nicht erwartetes zu unternehmen, aus der hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten.“ Hannah Arendt, 2000 [1958]: 276 Einleitung Was bedeutet es für den Menschen heute, lebendig zu sein ? Wie viel und welche natur des Menschen ist im Zeitalter der Biotechniken der gesellschaft noch zumutbar, wel- che gilt noch als „gesellschaftsfähig“? Diese fragen werden heute in einer neuen Weise virulent aufgrund eines rationalisierungsprozesses, der im zwanzigsten Jahrhundert das gesellschaftliche verhältnis zur natur des Menschen grundlegend verändert hat und ge- nerative reproduktion wie reproduktive Kultur nachhaltig einer eugenischen vernunft unterstellt. unter dem Begriff der generativen Reproduktion werden in dieser studie zwei Aspekte zusammengefasst: alle natürlichen Momente der an die geschlechtlichkeit gebunde- nen generativen Potentiale und die gesellschaftliche vermitteltheit dieser natürlichen Momente. Die generative natur von frauen und Männern ist insofern gesellschaftlich vermittelt, als dass generative Prozesse, die ihrerseits die materielle grundlage der hi- storischen formen sozialer Beziehungen darstellen, einem sozialen sinngebungsprozess unterstellt sind, der seinerseits ein historisch sich verändernder ist. Der Analyse der transformation generativer reproduktion und reproduktiver Kultur durch eugenische eingriffe, die in der vorliegenden untersuchung geleistet wird, ist damit die theoretische Annahme vorausgesetzt, dass reproduktion und menschliches Bewusstsein der repro- duktion untrennbar verbunden sind. Der terminus reproduktive Kultur verweist auf den kulturellen und gesellschaftlichen umgang mit der reproduktiven natur des Menschen und den darin historisch geschaffenen Beziehungen und Praktiken, die zur hervor- bringung und herstellung einer generationenfolge notwendig sind. Die reproduktive Kultur einer gesellschaft wird im Kern durch eine gesellschaftliche Organisation von geschlechter- und generationenbeziehungen historisch hervorgebracht, mit der auf die notwendigkeit der generativen reproduktion von gesellschaft geantwortet wird. Die reproduktive Kultur stellt damit auch eine historisch jeweils gegebene gesellschaftliche Antwort auf die existenzielle herausforderung von Leben und tod dar. eine Antwort, mit welcher die Aufgabe menschlicher gemeinschaften und gesellschaften, den tod auszugleichen und für nachkommende zu sorgen, organisiert wird. Zentrale spur, wel- che die vorliegende studie durchzieht, ist damit das mit dem generationenverhältnis untrennbar verbundene und der herstellung einer generationenfolge vorausgesetzte geschlechterverhältnis. gegenstand und die mit ihm verbundenen eugenisierungspro- Einleitung 14 zesse ist damit der des geschlechts, das von der tatsache der natalität oder davon, „dass Menschen bis heute alle durch geburt in die Welt kommen“ (Arendt), nicht ge- trennt werden kann. und die Art und Weise, wie Menschen durch geburt in die Welt kommen, wird im letzten Jahrhundert von grund auf umgestaltet. Denn der Menschen gerät im Zuge der Modernisierung unter das Zeichen seiner rationellen verwendung. Die technische Beherrschung der äußeren natur und die An- eignung ihrer ressourcen, die ab dem 18. Jahrhundert realisiert werden, werden im 20. Jahrhundert auf den Menschen selbst übertragen. Dabei rückt der Bereich der ge- nerativen reproduktion und mit ihm die gegebene generative Potenz und produktive Differenz beider geschlechter unter den Zugriff wissenschaftlicher forschung und ent- wicklung. im rahmen dieses Zugriffes steht die eugenik paradigmatisch für den wissen- schaftlichen ehrgeiz, den gesellschaftlichen fortschritt, der um 1900 u.a. als „höherent- wicklung der Menschheit“ konzipiert wird, durch sozial- und biotechnische eingriffe in die reproduktive natur und Kultur zu sichern. etymologisch setzt sich der Begriff eugenik aus „eu-„ und „gen“ zusammen. Das griechische „ eu-“ umschließt die Bedeu- tung von „wohl“, „gut“ und „tüchtig“, der Begriff gen verweist auf das, was die entste- hung von Leben betrifft und als erblich bedingt vermutet wird. Ziel der eugenik war und ist es dementsprechend, generative Prozesse, die bislang der menschlichen gestal- tungsmacht entzogen sind, wie z. B. die vererbung, durch wissenschaftliche forschung und entwicklung unter menschliche verfügungsgewalt zu bekommen, die ihrerseits auf die herstellung des „guten“ und „tüchtigen“ Menschen zielt. Dieses „verbesserungs“- Projekt am Menschen kann im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts erfolgreich wer- den, weil die eugenische Vernunft , die aus umfangreichen verwissenschaftlichungs- und verstaatlichungsprozessen der generativen reproduktion und reproduktiven Kultur hervorgebracht wird und hervorgegangen ist, teil eines umfassenden Modernisierungs- prozesses im hinblick auf das gesellschaftliche verhältnis zur menschlichen natur dar- stellt und weil die gesellschaftsfähigkeit der eugenischen vernunft ein effekt komplexer Wechselwirkungen ist. Die eugenische vernunft kann sich nur – wie in der vorliegen- den studie nachgezeichnet wird – durch ihre unterschiedlichen verbindung und Alli- anzen mit nachhaltigen entwicklungen in Wissenschaft und gesellschaft durchsetzen. ihr erfolg ist nicht erklärbar, wenn eugenik als singuläres Phänomen untersucht wird. Diesbezüglich ist exemplarisch und vorwegnehmend hervorzuheben, dass die eugenik dabei nicht nur jene klinischen fächer als Mittel für die erreichung eugenischer Ziele nutzt, welche die so genannte reproduktionsmedizin 1 bilden, sondern diese haben auch 1 reproduktionsmedizin stellt heute ein multidisziplinäres unterfangen dar, an dem verschiedene medizi- nische fächer konkurrierend zusammenarbeiten: gynäkologie und geburtsmedizin mit Zeugungsmedizin 15 Einleitung ihrerseits zu eugenischen Argumenten gegriffen, um ihre Ziele zu legitimieren und ihre professionellen interessen zu behaupten. eugenik und reproduktionsmedizin haben sich wechselseitig gestärkt und ihren Aufstieg befördert und sind bis heute untrennbar miteinander verbunden. Diese Allianzen begründen sich nicht zuletzt also darin, dass der medizinische einsatz eben immer auch auf eigene Professionalisierungs- und Profi- lierungsbestrebungen von Wissenschaftsdisziplinen und Wissenschaftlern und den mit ihnen verbundenen Ökonomien zielt. Die eugenik beginnt sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als transdisziplinäre Wissenschaft zu formieren, entfaltet sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als eine sozialtechnologie, die sich auf biologische vererbungslehre, darwinistisches selektionsdenken und psychiatrische „entartungslehre“ stützt und deren Paradigma sich in einer gefährdungs- und Präventionstheorie erschöpft. gefährdet erscheint die Zukunft von Mensch und gesellschaft einerseits aufgrund der natürlichen herkunft des Menschen, womit sie der gestaltungsmacht menschlicher vernunft entzogen ist. Andererseits gehen die eugeniker aber auch davon aus, dass die „naturauslese“, von der sie annehmen, dass sie das Überleben der „tüchtigsten“ gewährleistet, durch den gesell- schaftlichen fortschritt, den Aufbau der sozialen Wohlfahrt und den Ausbau der medi- zinischen versorgung, aus dem gleichgewicht gebracht wird. Daraus leiten sie eine die gesellschaft gefährdende „entartung“ der Menschen ab und begründen diese vermu- tung damit, dass mit hilfe der Medizin und der sozialen Wohlfahrt auch „untüchtige“, „Minderwertige“ und „Kranke“ überleben würden. Diesem Problem will von seiten der eugenik durch eine medizinisch angeleitete entkoppelung von fortpflanzung und se- xualität und – darauf aufbauend – eine eugenisch reglementierte Zeugung präventiv begegnet werden. Die prognostizierte gefährdung von Mensch und gesellschaft soll also durch naturwissenschaftliche eingriffe in die natur der generativen reproduktion und die reproduktive Kultur präventiv verhindert werden. naturwissenschaftlicher for- schung und klinischer Praxis wird dabei ein hervorragender stellenwert zugewiesen. sie sollen im stande sein, die „Möglichkeiten der künstlichen Auslese der Keimzellen zu entwickeln und das Ausjäten minderwertiger Keimzellen schon vor ihrer vereinigung vorzunehmen“, so 1904 der deutsche Arzt Alfred Ploetz (1860–1940), rassenhygieni- ker und Begründer der „Deutschen gesellschaft für rassenhygiene“ (Ploetz 1904 zit. in: Janssen-Jurreit 1989: 147). Mit der entwicklung der naturwissenschaftlich-geneti- schen eugenik verbindet Ploetz die hoffnung, dass sie die Medizin befähigen werde, die „Ausmerzung von der Personenstufe auf die Zellstufe“ abzuwälzen, denn „wenn keine (ivf, icsi, etc) und Pränatalmedizin, Perinatalmedizin, Pädiatrie mit neonatologie, embryologie und hu- mangenetik. Einleitung 1 schwachen mehr erzeugt werden, brauchen sie auch nicht mehr ausgemerzt werden“ (ebd.). Die „künstliche selektion“ soll zukünftig – so die wissenschaftliche vision – die „natürliche selektion“ ersetzen und die naturwissenschaftliche Auslese gesellschaftlich akzeptierter, also in der regel „verhältnismäßiger“ Menschen, ermöglichen. im rah- men dieser Bemühungen um eine eugenisch reglementierte herstellung der gene- rationenfolge werden bis heute neue soziale Kategorien von norm und Abweichung hervorgebracht. Die eugenik verbindet dazu in einem Projekt des wissenschaftlichen „social engineerings“ vorstellungen von gesundheit, Wohlbefinden, Lebensqualität und fitness mit urteilen hinsichtlich sozialer Akzeptiertheit. sie stellt bis heute ein Projekt dar, das – im weitesten sinne – die herstellung „legitimer nachkommen“ zum thema hat und – auf Basis einer medizinischen und eugenischen neuordnung der generativen reproduktion – geschlechter- und generationenverhältnisse naturwissenschaftlich or- ganisiert. eine naturwissenschaftlich-genetische Eugenik will das „erbmaterial“ einer Person durch Ausschaltung schlechter oder zu Krankheiten führenden „erbanlagen“ verbessern, um potentiell zukünftiges Leid von „erbkranken“ oder Menschen mit „gen-Defekten“ wie deren familien zu verhindern und den Kostenaufwand für die Betreuung lebenslang fürsorgebedürftiger Menschen einzudämmen. eine sozial-politische Eugenik zielt auf die reglementierung der fortpflanzung im Dienste der reduktion von sozialausgaben und der unterstützung des gesellschaftlichen fortschrittes. eine positive Eugenik will die fortpflanzung „höherwertiger“, „erbgesunder“ oder „genetisch einwandfreier“ Men- schen fördern, eine negative Eugenik die Zeugung und/oder geburt von „minderwer- tigen“, „erbkranken“ oder „gendefekten“ Menschen verhindern. Die alte Eugenik (vgl. reyer 199 ), die in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts im Bereich der Medizin als „fortpflanzungshygiene“ praktiziert wird, erfährt durch den ökonomi- schen wie politischen Wandel und den naturwissenschaftlichen fortschritt im Bereich der Biologie im Laufe des Jahrhunderts dermaßen an gesellschaftlichem einfluss, dass die reproduktionsgenetik als neue Eugenik (angewandte eugenik) heute zu einem zen- tralen Bestandteil der rationalisierten und durchmodernisierten, reproduktiven Kultur aufsteigen kann, wie noch zu zeigen sein wird. Die „neue“ oder „angewandte eugenik“ ist gegenwärtig zentraler Bestandteil der medizinischen rationalisierung generativer Prozesse und stellt eine allgemeine einflussgröße von elternschaft und Kindheit dar. Kinder können heute nicht mehr „erwartet“ werden als neue und fremde, sondern werden im hinblick auf ihre Lebenschancen, je nach Abweichungen von einer bio- logischen und sozialen norm, bewertet. Die neuen Biotechniken der Zeugung und selektion greifen dazu im rahmen der schwangerenvorsorge und humangenetischen Beratung durch künstliche Zeugung, durch verhinderung der Zeugung, durch selektion 1 Einleitung der eltern, durch pränataldiagnostische selektion von embryonen wie feten und eu- genisch (im heutigen sprachgebrauch embryopathisch) indiziertem schwangerschafts- abbruch bis zum geburtstermin 2 , in den Prozess der generativen reproduktion ein, um die Zeugung oder geburt von Kindern mit „gen-Defekten“ oder „Missbildungen“ zu verhindern. Die verhinderung der Zeugung wird mittels hormoneller oder operati- ver sterilisation realisiert. für die selektion der eltern wird nach gendefekten auf der ebene der DnA von Kinderwunschpartnerinnen und bei der pränataldiagnostischen selektion der embryonen wird nach Missbildungen mit hilfe des ultraschalls, bioche- mischer tests, chromosomenanalyse und DnA-Analyse gesucht. Künstliche Zeugung wird mittels insemination oder in-vitro-fertilisation durchgeführt. sie ist voraussetzung für den einsatz der Präimplantationsdiagnostik (PiD), bei der ein in-vitro erzeugter em- bryo nur dann in die gebärmutter einer biologischen oder Leihmutter eingesetzt wird, wenn die gen-checks negativ waren. Die Präimplantationsdiagnostik ist in Österreich noch verboten. heute aber können gynäkologinnen schon auf unterhalt geklagt wer- den, wenn sie schwangere frauen im rahmen der Mutter-Kind-Pass-untersuchungen nicht ausreichend über eine mögliche Behinderung ihres erwarteten Kindes informie- ren. Diesbezüglich hat der Oberste gerichtshof (Ogh) in Österreich, im Juli 2006, ein richtungsweisendes urteil ( Ob 16 /0 h) gefällt: ein/e gynäkologin, der/die eine werdende Mutter nicht ausreichend über erkennbare Anzeichen einer drohenden Be- hinderung aufklärt, haftet demnach grundsätzlich für den gesamten unterhaltsaufwand für das behinderte Kind (vgl. Ladstätter 2006). Die Kennzeichnung dieser entwicklung mit Begriffen der alten und neuen Eugenik darf aber nicht als chronologie missverstanden werden. Beide unterscheiden sich – wie in dieser studie nachgezeichnet wird – im einsatz von sozial- und biotechnischen Mittel zur erreichung eugenischer Zielsetzungen und beide sind historisch mit völlig unter- schiedlichen gesellschaftlichen wie politischen verhältnissen konfrontiert. Dennoch bleibt der erkenntnis- und handlungsleitende Zugriff der alten eugenik auf die repro- 2 nach strafgesetzbuch § 97,1 (2) kann in Österreich ein schwangerschaftsabbruch auf grundlage einer „em- bryopathischen (Krankheiten den embryo betreffend) indikation nach dem . schwangerschaftsmonat bis zur geburt des Kindes durchgeführt werden. Diese spätabtreibung bleibt dann straffrei, wenn „ernste ge- fahr“ besteht, dass der embryo „geistig oder körperlich“ schwer geschädigt sein wird. e ine Mehrheit von expertinnen des Bioethikbeirates des österreichischen Bundeskanzlers hat sich im August 2004 für die freigabe der PiD ausgesprochen. für diese Mehrheit käme eine PiD auch dann in frage, wenn die diagnostizierte erkrankung prinzipiell „mit dem Leben vereinbar wäre“, wie z.B. bestimmte stoffwechselerkrankungen. Begründet wird dies damit, dass die PiD den schwangerschaftsabbruch bei einer so genannten „schwangerschaft auf Probe“ verhindern helfe, bei der frauen nach einem positiven Befund der pränatalen Diagnostik (PD) ihre schwangerschaft abbrechen lassen (vgl. http://science.orf.at/science/ news/118797). Einleitung 1 duktive natur und Kultur auch für die neue eugenik bestimmend: ein jeweiliger stand vererbungsbiologischen Wissens soll mit hilfe von selektionstechniken zur Lösung so- zialer Probleme beitragen. im rahmen der sozial- und biotechnischen eingriffe in die reproduktive natur und Kultur werden die alten techniken der vererbungsforschung, z. B. stammbaumana- lysen, durch neue techniken, z. B. genanalysen, zwar erweitert, aber nicht abgelöst. Denn noch immer sind stammbaumanalysen Bestandteil humangenetischer Beratung im Bereich der Pränataldiagnostik. und bezogen auf das 20. Jahrhundert hat die Konti- nuität des rhetorischen einsatzes für die Durchsetzung einer eugenisch rationalisierten fortpflanzung größere erfolge zu verzeichnen (vgl. samerski 2002) als der naturwissen- schaftliche erkenntnisfortschritt, der im verhältnis zu den propagierten forschungszielen relativ erfolglos bleibt. Denn trotz intensiver forschungsbemühungen und humanexpe- rimenten im großen stil stehen die realisierbaren Möglichkeiten weit hinter den „erwar- tungen“. Die humangenetischen testverfahren zur identifikation von „normabweichun- gen“ sind nachhaltig mit einer biologisch bedingten unsicherheit der Diagnostik und mit erheblichen gesundheitsschädigenden und sozial problematischen Auswirkungen konfrontiert (vgl. Kollek 2000 ; samerski 2002). und die wissenschaftlichen fachleute wissen das. so haben in einer deutschen studie der Aussage „Personen mit einem ho- hen risiko für schwere fehlbildungen sollten keine Kinder bekommen, es sei denn, sie machen gebrauch von der pränatalen Diagnose und dem selektiven schwangerschafts- abbruch“ 64,8 % der befragten schwangeren, 61, % der erwerbstätigen Bevölkerung, aber nur 11,2 % der humangenetiker zugestimmt (nippert 1997: 122). Die angeblich aufgeklärte Bevölkerung bewertet auch in Österreich die neuen reprogenetischen tech- niken der medizinischen schwangerenvorsorge als instrument vernünftiger und rationa- ler mütterlicher Praxis. so findet hierzulande der schwangerschaftsabbruch infolge eines positiven testergebnisses bei der Pränataldiagnostik bei 20- bis 4-Jährigen eine Akzep - tanz von 69,9 %, wie eine studie zum Konzeptionsverhalten und der einstellung zum schwangerschaftsabbruch 1997 gezeigt hat (tazi-Preve et al. 1999: 7 ). Angesichts der tatsache, dass heute nur ca. % aller wirklich schweren Behinderungen (ab einem grad von 0 %) biowissenschaftlich als vererbt beurteilt werden und davon lediglich 0, % prä- nataldiagnostisch „entdeckt“ werden können (vgl. reprokult 2000: 1 0), erweist sich die allgemeine Aufgeklärtheit aber als (selbst)täuschung, welche den versprechen der Zeugungs- und selektionstechniken einen viel zu hohen Kredit einräumt. Kritikerinnen verweisen angesichts dieser Zahlen auch darauf, dass das durch die neuen Biotechniken der Zeugung und selektion heute in Bewegung gehaltene „schreckgespenst Behinde- rung“ vielmehr auf die herstellung einer gesellschaftlichen Akzeptanz von technologien abzielt, die wesentlich wissenschaftlichen und marktwirtschaftlichen interessen dienen. 1 Einleitung vor diesem hintergrund richtet sich das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit darauf, die Be- dingungen der Möglichkeit für entstehung und Durchsetzung der eugenischen vernunft im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts nachzuzeichnen. forschungsleitende fragen dazu sind: Welche gesellschaftlichen veränderungen befördern die eugenisierung der reproduktionswissenschaften, wie und wozu werden medizinische eingriffe in gene- rative Prozesse und die reproduktive Kultur eugenisch motiviert und legitimiert, wel- che Kontinuitäten und welchen Wandel haben diese Motivation und Legitimation im verlauf des letzten Jahrhunderts erfahren, welchen sozialen sinn erhält die generative reproduktion auf grund der eugenischen eingriffe in die reproduktive natur und Kul- tur durch die Medizin, welche interessen welcher gesellschaftlichen gruppen prägt das vorherrschende, kollektive Wissen über generativität, in welches verhältnis zum repro- duktionsbereich setzt sich eine eugenisch motivierte und/oder legitimierte Medizin als Wissenschaft, welche Werte und Kulturen artikulieren sich im eugenisch-medizinischen eingriff in die Kultur und natur der generativen reproduktion, welches gesellschaftli- che verhältnis zur menschlichen natur wird darin konzipiert, welche geschlechter- und generationenverhältnisse werden hervorgebracht oder tradiert bzw. verändert, wie und wozu wird Mutterschaft und vaterschaft von seiten einer eugenisierten klinischen for- schung und Praxis institutionalisiert, in welches verhältnis werden Mütter und väter, Mütter und Kinder so wie väter und Kinder zueinander gesetzt, welche normativen idealbilder von familie, elternschaft und Kindheit werden durch die eugenischen ein- griffe in generative Prozesse und in die gesellschaftliche Organisation der reproduktion durch die Medizin hervorgebracht, welche idealbilder von Mutterschaft, vaterschaft und Kindheit werden in die entwicklung von Biotechniken der Zeugung und selektion selbst eingearbeitet und wie tragen diese techniken ihrerseits dann wiederum zur Bildung der reproduktiven Kultur und der umbildung tradierter reproduktiver Kulturen bei, wie wir- ken sie ihrerseits auf die geschlechter- und generationenverhältnisse zurück? Die studie folgt in der Beantwortung dieser fragen dem Anspruch, die untersuchte entwicklung nicht auf ein Prinzip oder eine universalistische gesamtsicht zu reduzie- ren, sondern die vielfalt von Anschlussstellen für eine eugenisierung der reproduktiven Kultur und die eugenischen effekte in ihrer vielgestaltigkeit aufzuzeigen und transpa- rent zu machen, wie die wechselseitigen Durchdringungsprozesse zustande kommen und wie darin die reproduktive Kultur von grund auf umgestaltet wird. Die klinische forschung, die dabei ins Zentrum der Analyse gestellt wird, ist selbstverständlich nicht der einzige wissenschaftliche Bereich, der einen eugenischen Diskurs führt, aber der „erfolgreichste“. 4 4 so sind für die Analyse des eugenischen Diskurses in der Pädagogik (sozialpädagogik, Behindertenpäd- Einleitung 20 Materiale Grundlage der Studie sind medizinische fachartikel der „Wiener Klinischen Wochenschrift“ (WKW) der Jahrgänge 1900–2000, die in Österreich nach Zitations- analysen führende fachzeitschrift der Medizin. Zusätzlich wird das „Archiv für frau- enheilkunde und eugenetik“ (Afe), das von 1914 bis 1922 bei Kubitzsch in Würzburg erschienen ist, als Quellenmaterial für die ersten Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts mit aufgenommen, weil namhafte österreichische universitätsprofessoren der Medizin zu den ständigen Mitarbeitern des Archivs gehörten (vgl. Kap. i.2.2.). Wissenschaftliche fachzeitschriften stellen für diese untersuchung ein geeignetes Quellenmaterial dar, weil in ihnen sowohl die historisch unterschiedlichen grenzzie- hungen im inneren des wissenschaftlichen feldes wie die versprechen nach Außen, an Menschen und gesellschaft, verhandelt werden. Diese Auseinandersetzungen er- öffnen die Möglichkeit, Motivation und Legitimation von eugenisch motivierten me- dizinischen eingriffen in generative Prozesse, wie auch standpunkt und Perspektive der fächer zu erforschen. Wissenschaftliche fachzeitschriften haben in der regel die funktion, sachnahe Kommunikation zu sichern, auszuwählen und bestimmte themen- bereiche auszugrenzen (vgl. stichweh 1988: 64). Die herausgeber und gutachter wer- den daher auch als „torwächter“ der Wissenschaft identifiziert (Merton 198 : 169). sie greifen auswählend, ordnend und steuernd in den wissenschaftlichen Diskurs ein und bestimmen die richtung wissenschaftlicher Produktion mit. Doch die Macht der Kontrolle und Disziplinierung von gegenstandsauffassungen und forschungsmethoden der Wissensproduktion durch einen herausgeberkreis ist wie- derum mit internen und externen Zwängen konfrontiert. Denn die herausgeber sind daran interessiert, einen etablierten Autorinnenkreis und Leserinnen-/Abonenntinnen- kreis zu erhalten und auszubauen. Wissenschaftliche fachzeitschriften sind daher auch indikatoren für die reaktion wissenschaftlicher Disziplinen auf thematische neuorien- tierungen und umgewichtungen. Die herausgabe der Wiener Klinischen Wochenschrift wird bei der Publikation des ersten heftes am . April 1888 mit dem Ziel begründet, „die heimische periodische agogik) exemplarisch die studien von Manfred Kappeler „Der schreckliche traum vom vollkommenen Menschen. rassenhygiene und eugenik in der sozialen Arbeit“ (2000), von Werner Brill „Pädagogik im spannungsfeld von eugenik und euthanasie“ (1994), von Jürgen reyer „Alte eugenik und Wohlfahrts- pflege“ (1991) und „eugenik und Pädagogik“ (200 ) zu nennen. Über den eugenischen Diskurs in der Alten Frauenbewegung gibt gerburg treusch-Dieter in „Die sexualdebatte in der ersten frauenbewegung“ (199 ) Auskunft. für den eugenischen Diskurs in der Anthropologie in Österreich ist die studie von Brigitte fuchs „rasse – volk – geschlecht“ (200 ) aufschlussreich, für den eugenischen Diskurs in der österreichischen sozialdemokratie die studie von Doris Byer „rassenhygiene und Wohlfahrtspflege“ (1988). Wiener Klinische Wochenschrift wird in der folge mit WKW abgekürzt.