Universitätsverlag Göttingen Göttinger Juristische Schriften Keiichi Yamanaka, Frank Schorkopf, Jörg-Martin Jehle (Hg.) Präventive Tendenzen in Staat und Gesellschaft zwischen Sicherheit und Freiheit Ein deutsch-japanisches Symposium 国家・社会における安全と自由 ―その予防的傾向 Keiichi Yamanaka, Frank Schorkopf, Jörg-Martin Jehle (Hg.) Präventive Tendenzen in Staat und Gesellschaft zwischen Sicherheit und Freiheit Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz. erschienen als Band 16 in der Reihe „Göttinger Juristische Schriften“ im Universitätsverlag Göttingen 2014 Keiichi Yamanaka, Frank Schorkopf, Jörg-Martin Jehle (Hg.) Präventive Tendenzen in Staat und Gesellschaft zwischen Sicherheit und Freiheit Ein deutsch-japanisches Symposium Ehrenpromotion von Keiichi Yamanaka Göttinger Juristische Schriften, Band 16 Universitätsverlag Göttingen 2014 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Kontakt Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Martin Jehle Email: abtkrim@uni-goettingen.de Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den Göttinger Universitätskatalog (GUK) bei der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar. Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Satz und Layout: Lorenz Bode © 2014 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-86395-168-9 ISSN: 1864-2128 Vorwort der Herausgeber Die Umwelt-und Atomkraftwerkkatastrophe in Fukushima oder auch Finanzkri- sen, ausgelöst von der Lehman-Insolvenz oder der Zahlungsunfähigkeit Griechen- lands, haben in den letzten Jahren verdeutlicht, dass wir in hochkomplexen risiko- anfälligen Systemzusammenhängen leben. Damit drohen uns wirtschaftliche und gesellschaftliche Großrisiken überregionalen oder gar globalen Ausmaßes, die nach funktionierenden Sicherheitssystemen verlangen. In Verfolgung dieser Si- cherheitsbedürfnisse entsteht freilich die Gefahr, die freie Betätigung der Indivi- duen einzuschränken und so die Basis unserer freiheitlichen Gesellschaften zu beschädigen. Wie kann man dieses Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und individuel- ler Freiheit in der gegenwärtigen Risikogesellschaft lösen? Die in diesem Band versammelten Beiträge von japanischen und deutschen Rechtswissenschaftlern diskutieren Fragestellungen, die paradigmatisch das moderne Problem der Risiko- bewältigung in der Spannungslage von Sicherheit und Freiheitsgewährleistung behandeln. Die Beiträge nehmen rechtsphilosophische, verfassungsrechtliche und rechtspolitische Perspektiven ein, sind bezogen auf den konkreten Bereich des Internets und der Elektrizitätsversorgung, nehmen Bezug auf das Wirtschaft- und Privatrecht sowie das Medizin- und Strafrecht. In einem weiteren Abschnitt werden schließlich die japanischen Erfahrungen mit der Law School als neuer Form der juristischen Ausbildung bilanziert. Die abgedruckten Beiträge gehen zurück auf das Dritte Rechtswissenschaftli- che Symposion, das im Rahmen einer langjährigen Kooperationsbeziehung zwi- schen der Juristischen Fakultät und Law School der Kansai Universität Osaka und der Göttinger Juristischen Fakultät im September 2012 stattfand. Im Namen aller teilnehmenden Kollegen sei der gastgebenden Fakultät und Law School herzlich gedankt. Dank gebührt auch der Abteilung Göttingen International der Georg- August-Universität für die finanzielle Unterstützung. In erster Linie haben wir allen Kollegen zu danken, die sich der Mühe unterzogen haben, ihr Referat in eine Schriftfassung zu bringen. Es fügt sich glücklich, dass kurz vor Drucklegung dieses Bandes ein akademi- sches Ereignis stattfand, welches den gelungenen rechtswissenschaftlichen Aus- tausch und Dialog zwischen Deutschland und Japan und speziell Göttingen und Osaka unterstreicht: Am 5. Mai 2014 hat der Dekan, Frank Schorkopf, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Keiichi Yamanaka die Urkunde der von der Göttinger Juristischen Fakultät verliehenen Ehrendoktorwürde in einer Feierstunde über- reicht. Der Geehrte hat sich mit einer Rede bedankt, die ebenso wie die Laudatio von Jörg-Martin Jehle am Ende des Bandes abgedruckt ist. Osaka, Göttingen, Keiichi Yamanaka, Frank Schorkopf, Jörg-Martin Jehle im Juni 2014 Inhalt Vorwort der Herausgeber .................................................................................... 5 I. Sicherheit und Risiken aus rechtsphilosophischer, verfassungsrechtlicher und rechtspolitischer Perspektive Vorsorgeprinzip und Ausnahmezustand Eine rechtsphilosophische Betrachtung Ken Takeshita ......................................................................................................... 13 Verfassungsrechtliche Direktiven für die Risikoprävention Werner Heun .......................................................................................................... 21 The Precautionary Principle and Japanese Constitutional Scholarship Satoshi Kinoshita ..................................................................................................... 37 Politische Gestaltung und die normative Begrenzung von Schulden Frank Schorkopf ..................................................................................................... 45 II. Sicherheit und Risiken im Internet und in der Elektrizitätsversorgung The Unbundling of Electricity Transmission A Comparative Analysis of Regulatory Methods in the US, EU and Japan Toshiaki Takigawa ................................................................................................. 65 Netzneutralität im Regulierungsrecht. Zum Spannungsfeld von Freiheit und Versorgungssicherheit mit Internetdiensten Torsten Körber ......................................................................................................... 77 III. Sicherheit und Risiken im Privat- und Wirtschaftsrecht Prevention and Safety in Corporations and Corporate Groups Gerald Spindler ....................................................................................................... 99 The Right to Self-Determination Regarding Property Right in Japanese Civil Law Hiroyuki Kubo ...................................................................................................... 109 Inhalt 8 IV. Sicherheit und Risiken im Medizinrecht Ärztliches Ermessen und Aufklärungspflicht in der japanischen Judikatur Vom Fürsorgeprinzip zur Patientenautonomie Keiichi Yamanaka ................................................................................................. 119 Begrenzung der ärztlichen Aufklärung aus therapeutischen Gründen? Renaissance eines alten Thema im neuen Patientenrechtegesetz Gunnar Duttge ...................................................................................................... 143 V. Sicherheit und Risiken im Strafrecht Punishment without a Sovereign? The Ius Puniendi Issue of International Criminal Law A first Contribution towards a Consistent Theory of ICL Kai Ambos ............................................................................................................ 163 Enemy and Criminal. Analysis of the Different Structures of Legal Protection Taira Nishi ........................................................................................................... 189 Der Sicherheitsgedanke im Strafrecht und seine Grenzen Jörg-Martin Jehle .................................................................................................... 223 Betrug als schlichte Willensverletzung? Erweiterungstendenzen der Strafbarkeit des Betrugs in der japanischen Rechtsprechung Rikizo Kuzuhara ................................................................................................... 239 VI. Juristenausbildung in Japan Das Juristenausbildungssystem Japans in der Krise Wie geht es mit der sog. Law School weiter? Mitsuru Iijima ...................................................................................................... 251 Die Praxisausbildung im Referendariat Junko Yamanaka .................................................................................................. 265 Inhalt 9 Ehrenpromotion Laudatio für Prof. Dr. Dr. h.c. mult Keiichi Yamanaka Jörg-Martin Jehle ................................................................................................... 275 Ein kurzer Rückblick auf die Beziehung zwischen der deutschen und der japanischen Strafrechtswissenschaft Keiichi Yamanaka ................................................................................................. 279 Verzeichnis der Autoren .................................................................................. 291 I. Sicherheit und Risiken aus rechtsphilosophischer, verfassungsrechtlicher und rechtspolitischer Perspektive Vorsorgeprinzip und Ausnahmezustand Eine rechtsphilosophische Betrachtung Ken Takeshita I. Einleitung Der Unfall des Kernkraftwerks Fukushima Nr. 1 ist von einem Tsunami, der durch ein Erdbeben auf hoher See im pazifischen Ozean vor dem japanischen Tohoku Gebiet entstanden ist, verursacht worden. Die Zahl der Toten durch diese Katastrophe beläuft sich auf 16.000, die der Verschollenen auf 3.000, es gab über 380.000 vollständig bzw. teilweise zerstörte Gebäude und 400.000 Flüchtlin- ge. Das Erdbeben hatte eine Stärke von 9.0 Mw (Magnituden) und der Tsunami erreichte eine maximale Höhe von 40 Metern Das Kernkraftwerk Fukushima Nr. 1 hatte durch den Tsunami sogar seine Notfallkraftquelle verloren und einer Kernschmelze mit radioaktiver Verseuchung gegenübergestanden. Es ist kurz nach dem Unfall bekannt geworden, dass der Betreiber des Kernkraftwerks den Unfall als „außerordentliches Ereignis“ einge- ordnet hat. Aufgrund dieser öffentlichen Äußerung kann man daran denken, dass im Fall dieser Art das Ereignis eines ungesetzlichen Zustandes aufgetreten ist. Ken Takeshita 14 Hier möchte ich den Streitpunkt „außerordentliches Ereignis“ und seine Ana- logie zu „Ausnahmezustand“ thematisieren, und zwar unter einem rechtsphiloso- phischen Gesichtspunkt. Hierbei ist es nicht einfach, eine Grenze zwischen Recht und Unrecht zu ziehen. Wir können eher eine Stufenstruktur in der Grundlage der gesetzespositivistischen und außerhalb der rechtspositivistischen Rechtsordnung finden. II. Vorsorgeprinzip auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts Im neueren Umweltrecht ist das Vorsorgeprinzip als Hauptprinzip schon weltweit bekannt. Dieses Prinzip stellt ein neues, aber dennoch typisches Prinzip von Um- weltstaatlichkeit dar, welches die Prinzipien des Rechts- und Sozialstaates modifi- ziert. Es zielt darauf ab, umweltfeindliches Verhalten zu verhindern. 1. Die fundamentale umweltschutzrechtliche Bedeutung des Vorsorgeprinzips Der 15. Grundsatz der Erklärung des Umweltschutzkongresses in Rio de Janeiro der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1992 ist ein typischer Ausdruck des Vorsor- geprinzips. Dieser besagt, dass die Unzulänglichkeit wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund für die Verschiebung einer umweltschützenden Maßnahme sein soll, wenn ein Eingriff in die Umwelt tief und irreversibel ist. Dabei wird der Mangel vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit durch eine Einschätzung des statisti- schen Risikos für nachteilige Umweltauswirkungen ersetzt. Ein solches Risiko bedeutet grundsätzlich eine Gefahr im Sinn einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Das Vorsorgeprinzip bezieht sich mit seinen präventiven Gesichtspunkten e- her auf die Gesetzgebung bzw. Verwaltung als auf die juristische Praxis. So wird dieses Prinzip von mehreren Staaten der Welt als politisches Prinzip anerkannt. Nach Artikel 4 des japanischen Umweltgesetzes von 1993 soll die Erhaltung der Umwelt durch die nachhaltige Entwicklung einer Gesellschaft mit weniger Um- weltbelastungen, durch die Beseitigung von umweltschädlichen Faktoren und mit Hilfe fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnisse geschehen. Genau in dieser Bestimmung kann man das Vorsorgeprinzip verwirklicht finden. Des Weiteren sieht Artikel 3 des Gesetzes über den Artenreichtum aus dem Jahr 2008 „präven- tive Maßnahmen“ vor, bei deren Durchführung die vielen ungelösten Fragen der Wissenschaft und die Gefahren für den Artenreichtum in Betracht gezogen wer- den müssen. 2. Das geltende Rechtssystem betreffend Atomkraftwerke Wir wollen uns nun mit der Auswirkung des Vorsorgeprinzips auf das geltende Rechtssystem betreffend Atomkraftwerke beschäftigen. Das Kernenergiegesetz aus dem Jahr 1955 legt den Rahmen für die japanische Kernenergienutzung fest. Dies betrifft die fundamentalen Grundlagen für die Nutzung der Kernenergie, die Vorsorgeprinzip und Ausnahmezustand – Eine rechtsphilosophische Betrachtung 15 Bildung von Ausschüssen für Kernenergie und ihre Sicherheit und die Regelung des Atombrennerausbaus. Es gibt zwei ergänzende Gesetze: Das Gesetz für Kernstoffmaterialien, Kernbrennstoffe und Atombrenner (aus dem Jahr 1957) und das Gesetz für elektronische Unternehmen (aus dem Jahr 1964), die beide konkretere Bestimmungen an die Hand geben. Das Ziel des ersten Gesetzes besteht in der friedlichen und geplanten Nutzung von Kernstoffmaterialien, Kernbrennstoffen und Atombrennern. Es dient ferner der Vorbeugung von Unfällen und regelt die Aufbewahrung von Kernbrennstof- fen. Regelungsgegenstand sind außerdem Unternehmen für die Raffination, Bear- beitung, Aufspeicherung, Wiedernutzung, Entsorgung sowie Bau und Betrieb von Atombrennern. Das Gesetz für elektronische Unternehmen regelt die Kontrolle und enthält Regelungen über den Bau bis zum Abriss von Kraftwerken einschließ- lich der Kernkraftwerke. Bestimmungen hinsichtlich des konkreten Verfahrens in Bezug auf die Bauplanung und Bauüberprüfung sowie den Betrieb von Kern- kraftwerken sind auch im Gesetz für elektronische Unternehmen enthalten. In Japan gibt es ein Gesetz aus dem Jahr 1961, das Vorsichtsmaßnahmen ge- gen Katastrophen im Allgemeinen regelt und auch Notstandsregelungen enthält. Aus Anlass des kritischen Unfalls im Atombrenner Tokai Dorf wurde 1999 das Gesetz für spezielle Vorsichtsmaßnahmen gegen Kernkatastrophen verabschiedet. Nach diesem Gesetz muss der Betreiber eines Kernkraftwerks dem Minister für Wirtschaft, Handel und Industrie über Kernunfälle, die einen bestimmten Grad überschreiten, informieren. Bei Erreichen eines Kernnotstandes verkündet der Ministerpräsident diesen Kernnotstand und errichtet eine Zentrale für Gegen- maßnahmen unter seiner Führung. 3. Tragweite des Vorsorgeprinzips als Rechtsprinzip Bei diesem Rechtssystem geht es um die Tragweite des Vorsorgeprinzips als Rechtsprinzip beim Unfall des Kernkraftwerks Fukushima Nr. 1 am 11.3.2011. Wie am Anfang gesagt, hat der Betreiber des Kernkraftwerks kurz nach dem Un- fall diesen als „außerordentliches Ereignis“ eingeordnet. In Bezug auf das Vorsor- geprinzip ist folgender (Streit-)Punkt wichtig: Hat die Einstufung des Unfalls als „außerordentliches Ereignis“ die Bedeutung, dass die Vorbeugungsmaßnahmen ausreichend waren oder nicht? Dabei ist zu klären, welche Vorbeugungsmaßnah- men gegen Kernunfälle mangelhaft gewesen sein könnten. Nach dem Gesetz für Kernstoffmaterialien usw. gibt es die vom Kernkraft- komitee festgesetzte Sicherheitsrichtlinie, nach der das Funktionieren der be- troffenen mechanischen Einrichtungen sogar unter härtesten natürlichen Bedin- gungen erforderlich ist. Zu solchen Bedingungen gehören nicht nur Erdbeben, sondern auch Hochwasser, Tsunamis, starker Wind, Gefrieren, Schnee etc. Seit das Kernkraftwerk Fukushima Nr. 1 die Erlaubnis zur Errichtung hatte (Ende der 1960er Jahre), wurde die damalige Richtlinie im Zusammenhang mit allen seitheri- gen durch regelmäßige Untersuchungen verbessert. Ken Takeshita 16 Besonders 2006 hat das Kernkraft-Sicherheitskomitee die Richtlinie für den Schutz gegen Erdbeben erneuert. Diese Richtlinie hat unter Berücksichtigung der Erfahrungen durch das starke Erdbeben in Hanshin aus dem Jahr 1995 den Be- griff vom „verbleibenden Risiko“ eingeführt. Die Einführung dieses Risikos ist für das Vorsorgeprinzip unter zweierlei Gesichtspunkten besonders wichtig. Erstens ermöglicht dies eine Klassifizierung solcher Katastrophen, die als außerordentliche Ereignisse einzustufen sind. Zweitens kann nun mit Hilfe der Wahrscheinlich- keitstheorie besser abgeschätzt werden, welche Sicherheitsmaßnahmen erforder- lich sind. So betont auch der Bericht des unabhängigen Untersuchungskomitees für den Unfall im Fukushima Kernkraftwerk, dass die Einführung des Begriffs vom „verbleibenden Risiko“ zu einer Veränderung der Kriterien für die Annahme außerordentlicher Ereignisse geführt hat. Den unvergleichbar großen Unfall hat man am Anfang als „außerordentliches Ereignis“ eingestuft. Besonders in Fachkreisen wurde danach die Meinung vertre- ten, dass unter das Vorsorgeprinzip auch Maßnahmen für die Sicherheit von Kernkraftwerken bei Katastrophen fallen, die „außerordentliche Ereignisse“ dar- stellen. Meines Erachtens hat die Einführung des Vorsorgeprinzips ins Rechtssys- tem zwar Sicherheitsmaßnahmen gegen außerordentliche Unfälle gefördert, je- doch ist dieses Prinzip auf der praktischen Ebene zu kurz geraten. Als Beispiel dafür können exemplarisch die Regierungsfehler bei den Maßnahmen zur Abwen- dung des Risikos herangezogen werden. Insbesondere bei einem als „außerorden- tliches Ereignis“ einzustufenden Unfall sind aber die administrativen Einrichtun- gen für das Abwenden eines Risikos ebenso unerlässlich wie die technischen Ein- richtungen. III. Die Rechtslage des Ausnahmezustands Durch diese Untersuchung über die wirksame Funktion des Vorsorgeprinzips im Gebiet des Verwaltungsrechts kann man die Notwendigkeit der Vorbeugungs- maßnahmen gegen „außerordentliche Ereignisse“ oder Ausnahmezustände erken- nen. Und nicht nur im gegenwärtigen Umweltrecht, sondern auch im allgemeinen Staatsrecht hat der Ausnahmezustand eine fundamentale juristische Bedeutung. Dabei müssen wir die Unterschiede jedes Ausnahmezustandes feststellen, weil jeder eine andere Rechtslage hat. 1. Staatsrechtliche Bedeutung des Ausnahmezustands Man findet das berühmte Zitat „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ in Carl Schmitts „Politischer Theologie“(1922). Er betont die grundle- gende Bedeutung des Ausnahmezustands in Bezug auf die Souveränität des Staa- tes. Nach der „Politischen Theologie“ wird dasjenige abstrakte Schema zwar tradi- tionell aufgestellt, das besagt, dass Souveränität die höchste, nicht abgeleitete Herrschermacht ist. Aber „es kann weder mit subsumierbarer Klarheit angegeben Vorsorgeprinzip und Ausnahmezustand – Eine rechtsphilosophische Betrachtung 17 werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt werden, was in einem solchen Fall geschehen darf, wenn es sich wirklich um den extremen Not- fall und um seine Beseitigung handelt“. Die fundamentale Bedeutung der Souve- ränität besteht in der konkreten Macht den Ausnahmezustand zu überwinden. Der Souverän „entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann“. Selbstverständlich gibt es auch eine Schmitts Souveränitätstheorie entgegen- stehende Lehrmeinung. Wie Schmitt selbst bemerkt, gehen „alle Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung dahin, den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen“. Diese Tendenzen zeigen rechtspositivistisches Begreifen, das das Recht vom Politischen ausschneidet und zu einem selbstständigen, aber unrealen Wesen ausmacht. Meines Erachtens kann man dieser Lehrmeinung nicht zustim- men, weil die Rechtsordnung einer bestimmten politischen Herrschermacht als Vorbedingung bedarf. Aber eine Frage entsteht hier: ob der Souverän gegen alle Ausnahmezustände einschließlich eines aus einem natürlichem Unglück entstan- denen Unfall gleicherweise vorgehen oder nicht. Diese Frage hat Schmitt ein Jahr vor seiner „Politischen Theologie“ beantwortet. 2. Souveräne und kommissarische Diktatur Nach Schmitts „Die Diktatur“(1921) kann man Diktaturen in zwei Arten eintei- len, nämlich die souveräne und die kommissarische Diktatur. Die Autorität, die mit Herrschermacht den souveränen Diktator beauftragt, ist die der Verfassung gegebene Macht. Dagegen ist dieselbe beim kommissarischen Diktator die von der Verfassung gegebene Macht. Der Staat, der dem kritischen Notfall begegnet, gibt diesem Diktator Vollmacht, um ihn zu vermeiden. Deshalb kann diese Vollmacht dahin reichen, bis zur Beseitigung der Krise sogar das verfassungsmäßige subjekti- ve Recht zu suspendieren. Demgegenüber ist die souveräne Diktatur zeitlich un- beschränkt, weil der Souverän das System der Diktatur zur Festsetzung der Grundlage seiner Staatsidee benutzt. Diese Lehre bietet uns zwei Stufen der Diktatur an, die vor und nach der Ver- fassung entstehen können. Wir können die Diktatur vor der Verfassung, das heißt die souveräne Diktatur, als die erste Diktatur, und die Diktatur nach der Verfas- sung, das heißt die kommissarische Diktatur, als zweite Diktatur bezeichnen. Auf der Ebene der zweiten Diktatur, wie oben gesagt, ist die Vollmacht des Diktators bis zur Beseitigung der Krise zeitlich beschränkt. Dabei kann man feststellen, dass Einführung dieser Beschränkung unter dem Ziel der zweiten Diktatur zum Schutz der festgesetzten Verfassung verständlich ist. Die zweite Diktatur ergreift unter Umständen verfassungswidrige Gegenmaßnahmen gegen einen Ausnahmezustand um die verfassungsmäßige Sachlage wiederherzustellen. Ken Takeshita 18 In diesem Kontext ist es bemerkenswert, was der Ausnahmezustand für Sch- mitt bedeutet. Er schreibt, dass alle Diktaturen Ausnahmen von Normen enthal- ten. Deswegen meint dieser Ausnahmezustand auch eine Sachlage der Normwid- rigkeit und typische Beispiele dafür sind ein Kampf gegen einreisende Feinde aus dem Ausland und die Niederschlagung von inneren Aufständen. Bei Überlegun- gen zu diesen Beispielen gibt es hier die Ausnahme von Normen durch normwid- rige Taten. Unter dem verwaltungsrechtlichen Ausnahmezustand wird die Aus- nahme von Normen dagegen durch natürliche Katastrophe herbeigeführt. Aber Maßnahmen können in beiden Fälle in verfassungsmäßig geschützte Menschen- rechte eingreifen. Das bedeutet eine Verletzung des Rechts zum Schutz des Rechts. IV. Ausnahme und Norm Nach Schmitt bedarf der Ausnahmezustand der Diktatur, deren zwei Arten man wie oben erläutert, vor und nach Verfassungsgebung finden kann. Dabei scheint der Ausnahmezustand außerhalb der Norm hier die Rechtsnorm zu meinen. Aber die zweite Diktatur nach der Verfassung hat eine bestimmte Beziehung zu dieser Rechtsnorm, die man darin sehen kann, dass die Verfassung oder das Gesetz un- ter ihr den Diktator mit Gegenmaßnahmen zum Schutz der Verfassungsordnung beauftragen, wobei er trotzdem Vollmacht hat, unter Umständen verfassungswid- rig handeln zu dürfen. Dieser Zustand ist Ausnahme unter der Norm, demgegen- über ist der Zustand vor der Verfassung eine Ausnahme außerhalb der Norm. Dass der Ausnahmezustand, den Schmitt untersucht hat, strafrechtlich ist, ergibt sich aus seinen Beispielen. Aber nicht nur der souveräne, sondern auch der kom- missarische Diktator unterwirft sich nicht den Strafgesetzen. Zwar enthalten die Strafgesetze der meisten Staaten Tatbestände der inneren Unruhe, des Aufstands und so weiter, aber der kommissarische Diktator (geschweige denn der souveräne Diktator) hat als die zweite Art von Diktatoren sogar unter der Verfassungsord- nung Vollmacht, alle Maßnahmen gegen Notstand ungeachtet des strafrechtlichen binomischen Schemas von Tatbestand und Strafe zu treffen. Wenn dem so ist, müssen wir dann überlegen, welche Rechtsnatur verwal- tungsrechtliche Gegenmaßnahmen gegen einen Ausnahmezustand treffen. Zu- nächst kann man feststellen, dass wie die strafrechtlichen Gegenmaßnahmen diese auch nicht zum Verwaltungsgesetz gehören. Das Subjekt, das beide Arten von Maßnahmen treffen kann, kann gleichzeitig souverän oder kommissarisch, prä- ventiv oder nachträglich tätig sein. Aber die Maßnahmen in verwaltungsrechtlicher Richtung neigen dazu, kommissarisch und präventiv zu sein, wie bei einem typi- schen Fall des Vorsorgeprinzips. In Bezug auf ein Kernkraftwerk, wie anfangs gesagt, ermächtigt ein bestimmtes Gesetz einen bestimmten Beamten, präventive Maßnahmen gegen einen möglichen Ausnahmezustand zu treffen. Dabei ist es problematisch, diesen Fall als kommissarische Diktatur zu verstehen, weil der