Vorwort mente und in ihrer Vollständigkeit aufschlussreiche Kulturdarstellungen, stammen sie doch aus einer Das Zusammentreffen von Menschen aus un- Epoche der Umbrüche, der Entkolonialisierung terschiedlichen Ländern, Ethnien und Kulturen bzw. der Unabhängigkeitsbestrebungen jener Re- manifestiert sich nicht zuletzt im gegenseitigen gionen. Die Sammlungen enthalten mit ihren Ob- Austausch, Kauf und Sammeln von materiellen jekten und den dazugehörigen umfangreichen Pu- Zeugnissen bzw. Objekten. Doch wie spiegeln sich blikationen, audiovisuellen Dokumentationen und in den musealen Erwerbungen von Gegenstän- Archivalien vielfältige Hinweise, Botschaften und den die Begegnungen der Menschen, die mit den Bedeutungen, an denen sich die kulturellen Trans- Dingen in Beziehungen standen oder noch stehen, formationsprozesse in den Regionen des Südpazi- wider? Dieser Frage geht ein seit 2014 laufendes fik und der Sahara über einen größeren Zeitraum Museums-Projekt in Form einer Erschließung und ablesen lassen. Beide Ethnologen reflektieren da- Auswertung der Sammlungen der beiden Göttinger bei im Rahmen des Forschens und Sammelns (ein- Ethnologen Erhard Schlesier und Peter Fuchs nach. schließlich daran angeknüpfter Re-studies) auch ihr Sowohl Erhard Schlesier als auch Peter Fuchs eigenes Gewicht, mit dem sie in situ, oft ungewollt, waren als Professoren am Institut für Ethnologie Einfluss auf indigene Lebenszusammenhänge ge- an der Georg-August-Universität Göttingen tätig nommen haben. und arbeiteten im Rahmen ihrer Feldforschungen In ihrer Zusammensetzung sind die Sammlun- eng mit dem einstigen Institut für den Wissen- gen mit dem dazu vorhandenen Quellenmaterial schaftlichen Film Göttingen (IWF) zusammen. geeignet, die gegenseitigen kulturellen Einflüsse Der Ozeanist Erhard Schlesier führte seine Feld- der sich in den genannten geographischen Räumen forschungen im südwestlichen Pazifik durch. Sein zu verschiedenen Zeiten begegnenden Menschen regionaler Schwerpunkt lag dabei auf Südost-Neu- zu erhellen: Herstellungsprozesse von Objekten, guinea in Melanesien. Das Forschungsinteresse des Materialität und Ikonographie, aber auch Umstän- Afrikanisten Peter Fuchs richtete sich auf das Ge- de des Sammlungserwerbs und Geschichten, die biet der Sahara und des Sahel. Beide Ethnologen sich ‚hinter den Objekten‘ verbergen, indizieren in haben im Zuge ihrer Feldforschungen systematisch Schrift, Bild und Ton die Intensität der Encouter- Sammlungen angelegt und dokumentiert. Insge- Situation und geben damit den beiden Sammlun- samt handelt es sich um ca. 900 ethnographische gen ihr besonderes Profil als Beiträge zur Trans- Objekte, die in der Zeit zwischen 1956 und 1991 kulturationsforschung. Schlesier ebenso wie auch zusammengetragen und für die Ethnologische Fuchs vertraten in Forschung und Lehre am Insti- Sammlung des Instituts für Ethnologie erworben tut für Ethnologie bereits in den 1970er Jahren im wurden. Bis heute überwiegend magaziniert und Unterschied zu manchen ihrer damaligen Fachkol- nicht ausgestellt, sind sie einzigartige Zeitdoku- legen die Auffassung, dass kulturelle Einflussnah- 9 men im Zuge einer fortschreitenden Globalisierung importierten Waren, überprüft. nicht einseitig als Akkulturation oder gar Assimi- Aus den Seminaren zur Ausstellungspraxis, lation im Sinne einer westlichen Modernisierung museumspädagogischen Praxis und zum ethno- zu betrachten seien. Beide Ethnologen waren sich graphischen Film entstand der nun vorliegende dahingehend einig, dass der Akkulturationsbegriff Begleitband zur Ausstellung unter Beteiligung als ein Terminus ad quem in der Forschungspraxis von Studierenden, einer Vielzahl von Helfern und unweigerlich zu ethnozentrischen Auffassungen Unterstützern sowie einiger Institutionen. Ihnen führen muss, außereuropäische Kulturen würden allen gilt der Dank! sich über kurz oder lang dem westlichen Impact Insbesondere geht der Dank an die Menschen anpassen. Schlesier und Fuchs hingegen sahen Be- jener Orte, von denen die Objekte stammen: gegnungen immer als einen Prozess von wechsel- kagutoki sinabwana – ăgoda – shukran. seitigen kulturellen Beeinflussungen, denen man im Für die freundliche Unterstützung von Ausstel- Hinblick auf ihre jeweilige Dynamik und Wirksam- lung, Begleitband und Begleitprogramm dankt die keit als Forscher auf die Spur kommen sollte. Ethnologische Sammlung im Einzelnen Edith und In Wertschätzung dieses Blickwinkels erfolg- Erhard Schlesier, Hille und Peter Fuchs, der Stif- te im Rahmen forschungsorientierter Lehre wäh- tung Niedersachsen, der Zentralen Kustodie und rend der letzten drei Semester unter der Leitung der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg- von Dr. Gundolf Krüger, Julia Racz und Dr. Rolf August-Universität Göttingen, dem Städtischen Husmann gemeinsam mit Studierenden eine Annä- Museum Göttingen, der Göttinger Gesellschaft herung an die Objekte der Sammlungen Schlesier für Völkerkunde e.V., der Dr. Walther Liebehenz- und Fuchs. Dies geschah auf drei Ebenen: Auf Stiftung, der Sparkasse Göttingen, der Edition regionaler Ebene wurden zunächst Tausch- und Perlhuhn sowie allen beteiligten Mitarbeitern und Handelsbeziehungen der Lokalgruppen in den Mitarbeiterinnen des Instituts für Ethnologie. zur Disposition stehenden Regionen des Südpazi- fik und der Sahara untersucht; die als bedeutsam Gundolf Krüger erscheinenden Objekte wurden dabei in ihrer Sym- (Kustos der Ethnologischen Sammlung) bolkraft und Wirkmacht besonders beleuchtet. Des Weiteren wurden die Beziehungen der beiden Göttingen, im Dezember 2015 Sammler zur indigenen Bevölkerung während ihrer Aufenthalte und im Hinblick auf Forschungsstrate- gien des Objekterwerbs reflektiert. Schließlich wur- den europäische Einflüsse auf die materielle Kultur, auch im Sinne spezifischer indigener Aneignungen, Umformungen und Neuschöpfungen von westlich 10 Einleitung bindung und stimulieren so einen Austausch über Über transkulturelle Begegnungen ihre kulturellen Werte. Mit dem Phänomen kultu- reller Begegnungen sowie deren Auswirkungen ha- ben sich viele verschiedene Disziplinen beschäftigt. Julia Racz Neben der Ethnologie sind dies etwa Kunst- und „Anschließend überdenke ich die Lage von Me’udana im Medienwissenschaften, die Soziologie oder Politik- kulturellen Wandel. In mancher Hinsicht kann man von einer und Wirtschaftswissenschaften. Bei der Untersu- Inkulturation mit positiven Zügen zu einer langsamen Ak- chung zur kulturellen Dynamik und Mobilität von kulturation sprechen; sie sind am angelsächsischen Kontakt- Menschen werden häufig die Migration und die partner nicht zerbrochen, sie könnten auch heute wieder ohne damit verbundene intensive Kontaktsituationen ins ihn leben, sie haben biologisch keinen Schaden genommen, die Visier genommen. Menschen zeichnen sich durch medizinische Hilfe wird zu einem Bevölkerungsanstieg führen“ eine mobile Lebensweise aus, dabei hat Mobilität (Schlesier 1994: 110). verschiedene Ursachen: Sie kann freiwillig oder er- zwungen sein. Sie kann über den Beruf, die Pflege Die Kulturen „Afrikas mußten sich des öfteren in ih- von Handelspartnerschaften oder die Aufrecht- rer Geschichte mit überlegenen Kulturen auseinanderset- erhaltung sozialer Beziehungen motiviert werden. zen, die abendländische Zivilisation ist nur das vorläufig Personen können als Nomaden, Immigranten, letzte Glied einer Kette, die bis in die antike Welt zurück- Gastarbeiter, freiwillige Helfer, Künstler, Flüchtlin- reicht. Sie haben diese Akkulturationsprozesse überstanden, ge, Exilanten oder Touristen unterwegs sein (Ap- ohne ihr eigenständiges „pattern“ zu verlieren, und ‚there padurai 1998: 12). Wenn sich Menschen bewegen, is no evidence which supports the assumption …that Af- nehmen sie ihre kulturellen Wertvorstellungen, Ide- rican culture …will shortly and inevitably disappear‘“ en und Visionen mit sich. Es können mitunter gan- (Fuchs 1970: 281). ze Systeme sein, die „mit unterschiedlichster Macht“ ausgestattet sind (Hauser-Schäublin/Braukämper Die oben angeführten Zitate stammen von zwei 2002: 10). Die Wahrnehmung einer global immer Göttinger Ethnologen, Erhard Schlesier, den seine mobiler werdenden Welt, findet ihren Ausdruck in Forschungen in den Südpazifik geführt haben und der vielfach verwendeten Metapher des „globalen Peter Fuchs, der sich intensiv mit den Sahara- und Dorfes“ (MacLuhan 1994). Damit verbinden sich Sahelkulturen beschäftigt hat. Aus ihren Ausfüh- auch Visionen einer fortschreitenden Homogeni- rungen lässt sich zunächst einmal folgendes able- sierung der Gesellschaften, die zu einer „McWorld“ sen: Kulturen sind dynamisch, sie verändern sich (Barber 2003) oder „McDonaldisierung“ (Ritzer permanent. Dieser Wandel erfolgt in Kontaktsitua- 2011) führen sollen. Das Eintreffen dieser Szena- tionen verschiedenster Art. Dabei treten Menschen rien, die das Bild einer fortschreitenden Homoge- unterschiedlichster Herkunft miteinander in Ver- nisierung von Gesellschaften heraufbeschwören, 11 lässt sich jedoch nicht bestätigen. Vielmehr wer- 2). Die Begegnungen fordern dazu auf, sich auf den Biografien und Lebensstile in unserer heutigen einen kreativen, emotionsgeladenen und mitunter Weltgesellschaft verstärkt als transkulturell wahrge- konfliktreichen Prozess einzulassen, um eine Iden- nommen. Damit werfen sie Fragen nach den Dyna- titätsstabilisierung zu gewinnen und zu erhalten miken kultureller Werte und Identitäten auf. (Wagner 2001: 15). Auch wenn Menschen ihre Heimat verlassen, bleiben sie emotional oder tatsächlich mit ihrem Zum Ausstellungskonzept Herkunftsort verbunden. Sie pflegen Beziehungen sozialer, wirtschaftlicher, kultureller oder politi- Idee und Ziel der Ausstellung „Transkulturelle Be- scher Art, wobei sie sich gleichzeitig um Zugehörig- gegnungen – Südpazifik und Sahara“ sind es, die keit vor Ort bemühen. Sie knüpfen neue Kontakte Motive der Mobilität, die Mechanismen der mul- und versuchen, sich in der lokalen Gemeinschaft tiplen Beziehungen sowie deren wechselseitige zu integrieren. Verbesserte Medien- und Trans- Beeinflussung auf kulturelle Erscheinungen nä- portmöglichkeiten haben die Kommunikation her zu beleuchten und bewusst zu machen. Der zwischen Menschen verändert. Sie ist intensiver Terminus Transkulturation geht auf den kubani- geworden und hat dazu beigetragen, neue Identi- schen Anthropologen und Politiker Don Fernando tätsmodelle zu entwerfen. Die Kulturwissenschaft- Ortiz und dessen Fallstudie zur wirtschaftsethnolo- ler Elisabeth Bronfen und Marius Benjamin (1997: gischen Bedeutung des Tabaks in Kuba (publiziert 18) sind davon überzeugt, dass es heute nicht län- 1940) zurück: Die theoretische Einbettung des ger darum gehe, „ob wir kulturelle Hybridität für Begriffs in diese Untersuchung verdankt er aber erstrebenswert halten oder nicht, sondern einzig Bronislaw Malinowski, der das Vorwort zu Ortiz’ darum, wie wir mit ihr umgehen“. Es ist dieses Studie geschrieben hat; hier bezieht sich dieser Wie, das bei der Betrachtung von transkulturellen auf ein „reziprokes Austauschverhältnis, bei dem Begegnungen bedeutungsvoll ist. Es geht darum, die kontaktierenden Kulturen gleichermaßen ak- wie sich Kontaktsituationen gestalten und wie sich tiv sind und zu einer neuen Realität verschmelzen“ ein Transfer von kulturellen Elementen vollzieht. (Krüger 1986: 21; vgl. auch Hermann 2007: 257- Materielle und immaterielle Kultur scheint sich in 259). Wie sich die Beziehung zwischen den kontak- einem grenzüberschreitenden Fluss zu befinden, tierenden Kulturen gestaltet, ist dabei ebenso von wobei sich Informationen und Objekte zu „Trans- Interesse wie der kulturelle Transformationspro- porteuren“ kultureller Elemente entwickeln. Bei zess selbst. Die Beobachtung des transkulturellen der Studie transkultureller Begegnungen geht es Austauschs erfolgt der Literaturwissenschaftlerin darum, zu ermitteln, welche kulturellen Elemente Mary Louise Pratt zufolge in einer Kontaktzone. In in einer intensiven Kontaktsituation übernommen ihrer Publikation „Imperial Eyes: Travel and Trans- und welche abgelehnt werden (Harmsen 1999: culturation“ (1992) definiert sie den Begriff der 12 Kontaktzone wie folgt: „One coinage that recurs schen Eigenkultur und Fremdkultur verloren. Die- throughout the book is the term „contact zone“, sen Prozess der Transkulturalität beschreibt Welsch which I use to refer to the space in which peoples geo- so: „Unsere Kulturen haben de facto längst nicht graphically and historically separated come into con- mehr die Form der Homogenität und Separiert- tact with each other and establish ongoing relations, heit, sondern sind weitgehend durch Mischungen usually involving conditions of coercion, radical und Durchdringungen gekennzeichnet. Diese neue inequality, and intractable conflict“ (1992: 6). Struktur der Kulturen bezeichne ich, da sie über den Die Transaktion von Ideen und Gegenständen traditionellen Kulturbegriff hinaus- und durch die ist immer in soziale Beziehungen eingebettet traditionellen Kulturgrenzen wie selbstverständlich (Reynolds Wyte 2002: 39). Die Interaktion mit hindurchgeht, als transkulturell“ (1999: 51). anderen Personen eröffnet dabei Handlungspers- Transkulturationsprozesse werden in der Aus- pektiven, die sich mit einem Akt kultureller Inter- stellung exemplarisch anhand der Sammlungen pretation und Umdeutung verbinden. Kulturelle zweier Göttinger Ethnologen – Prof. Dr. Erhard Erscheinungen, Informationen oder Gegenstände, Schlesier und Prof. Dr. Peter Fuchs – nachgezeich- die den Menschen im Zuge der Globalisierung über net, die sie im Zuge ihrer Feldforschungen während die neuen Kommunikationstechnologien über- der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts systema- all auf der Welt zugänglich sind, werden nicht in tisch für die Universität Göttingen erworben ha- identischer Weise übernommen, sondern kulturell ben. Die Sammlung Schlesier fokussiert dabei die umgedeutet und neu interpretiert: „Denn welche Region Südost-Neuguinea im Südpazifik, die Bedeutung Verhaltensweisen und Objekte haben, Sammlung Fuchs hingegen stammt aus dem Saha- mit welchem Sinn Menschen sie versehen, ist viel ra-Gebiet in Nordafrika. weniger offensichtlich als es oft den Anschein hat“ Bei der Entwicklung der Ausstellung wurden (Zukrigl 2001: 51). Transformationsprozesse ver- dabei einleitend folgende Fragestellungen zugrun- laufen dabei in der Regel nicht reibungslos, son- de gelegt: dern liegen aufgrund ihres sozialen Charakters in einem Spannungsfeld von Kreativität und Konflikt. • Wer sind die Ethnologen Erhard Schlesier In der Kontaktsituation prüfen die Beteiligten, wel- und Peter Fuchs (als Person, Sammler, For- che Kulturelemente sie akzeptieren und welche sie scher, Filmemacher und Hochschullehrer)? verwerfen wollen. Ist die Transformation erst ein- mal erfolgt, so gibt es dem deutschen Philosophen • Wie gestaltete sich ihre Forschungs- Wolfgang Welsch (1998: 52) zufolge nichts mehr situation? schlechthin Eigenes oder Fremdes. Insofern kann Fremdes auch ganz selbstverständlich für Eigenes gehalten werden und damit ist die Trennschärfe zwi- 13 Abb. 3 Melanesien, Papua-Neuguinea, Südpazifik, Robert Scheck • Nach welchen Kriterien haben sie • Welche Aussagen können sie über gesammelt? transkulturelle Begegnungen machen? Im Fokus der Ausstellung stehen die transkultu- Die Sammlungen, die in der Zeit zwischen 1956 rellen Begegnungen, die sich in den Objekten ma- und 1991 zusammengetragen wurden, umfassen nifestieren und an die sich die Erwartung richtete, einzigartige und heterogene Kulturerzeugnisse, die Antworten geben zu können auf: von Alltagsgegenständen, Wirtschaftsgeräten bis hin zu Devotionalien, Würdezeichen und Presti- • Welche Bedeutung haben die Objekte in gegütern reichen. Die Forschungssituation, in der ihrer Herkunftsgesellschaft? die Sammlungsaktivitäten stattgefunden haben, 14 reflektieren die beiden Ethnologen in Arbeits- und Reisetagebüchern (Schlesier 1994; Fuchs 1953, 1958). Zu ihren wissenschaftlichen Publikationen gehören auch audiovisuelle Dokumente, die im Kontext der Ausstellung als komplementierend zu den Expona- ten herangezogen werden, um ein tiefergehendes Verständnis der lokalen Beziehungen von damals zu ermöglichen. Der Analyse der Kontaktsituationen liegt ein dynamischer Kulturbegriff zugrunde, mit dessen Hilfe es gelingen soll, transkulturelle Identitäten und gesellschaftliche Prozesse abzubilden. Dies erscheint in der Ausstellungspräsentation als eine Herausfor- derung, da die in den Vitrinen oder Installationen verwendeten Exponate eine gewisse Statik der Kultur X vermuten lassen (Macdonald 2012: 282). Deshalb Abb. 4 A Karte Staaten im Sahara- und Sahelgebiet, bieten Interviewsequenzen, die mit beiden Forschern Robert Scheck während der Ausstellungsvorbereitungen durchgeführt worden sind, einen aktuellen Blick auf die Forschungs- situation. Eine Bewertung gegenwärtiger Ereignisse in den Herkunftsgesellschaften gewähren Ergeb- nisse derzeitiger Forschungen in den Regionen. Die Verknüpfung dieser verschiedenen Perspektiven wird im Ausstellungskonzept transparent gemacht und er- füllt damit die Forderungen der New Museology (Ver- go 1989: 9) zur Beantwortung der Frage „Wer spricht im Museum über wen und mit welcher Legitimation?“ Der Ethnologe James Clifford (1999: 212) geht davon aus, dass die Arbeit mit einer Sammlung einen interaktiven Prozess darstellt und sieht das Museum als einen Grenzbereich, in dem verschiedene Weltan- schauungen und Lebensformen über die Sammlung im musealen Prozess immer wieder neu ausgehandelt und Abb. 4 B Karte Lebensraum der Tuareg und Kanuri, interpretiert werden. Clifford (1999: 192) überträgt Robert Scheck den von Pratt kreierten Begriff der „Contact Zone“ 15 auf die Museumsarbeit, weil dieser über eine nä- Verwendete Literatur here Betrachtung der Objekte die Begegnung und den Austausch zwischen Menschen fördern kann. Appadurai, Arjun Er erkennt in dem Konzept der „Contact Zones“ 1998 Globale ethnische Räume. Bemerkungen aber auch die Möglichkeit, Aspekte von auftreten- und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen den Konflikten abzubilden, weshalb er die Kon- Anthropologie. In: Beck, Ulrich (Hrsg.): Perspek- taktzonen auch als Konfliktzonen bezeichnet. Ent- tiven der Weltgesellschaft. Frankfurt am Main: scheidend ist für Clifford, dass in den Kontakt- und Suhrkamp. S. 11-40. Konfliktzonen intensive Gefühle hervorgerufen werden, die eine Neuinterpretierung der Objekte Barber, Benjamin nach sich ziehen. 2003 Jihad vs. McWorld. London: Corgi. Die Ausstellung beabsichtigt, einen gesell- schaftlichen Beitrag zu leisten und den Dialog Bronfen, Elisabeth und Marius Benjamin für möglichst viele anzubieten, um im Rahmen 1997 Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo- eines partizipativen Museums die Teilhabe aller amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: gesellschaftlichen Gruppen zu fördern und „Inte- Bronfen, Elisabeth, Marius, Benjamin und Therese gration als wechselseitigen Prozess“ zu begreifen Steffen (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur (Deutscher Museumsbund 2015: 7). Die Ethnologi- anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. sche Sammlung der Universität Göttingen erscheint Band 4. Tübingen: Stauffenberg. S. 1-29 hier als geeigneter Ort der Auseinandersetzung, da er die Vielfalt von Lebensstilen und Herkünften Clifford, James berücksichtigen kann. 1997 Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Harvard: University Press. Deutscher Museumsbund e.V. 2015 „Museen, Migration und kulturelle Vielfalt. Handreichung für die Museumsarbeit“. Fuchs, Peter 1953 Im Land der verschleierten Männer. Wien: Amandus-Verlag. 16 1958 Weißer Fleck im schwarzen Erdteil. McLuhan, Marshall Meine Expedition nach Ennedi. Stuttgart: Engel- 1994 Understanding Media. London/New York: hornverlag. Routledge. Harmsen, Andrea Ortiz, Fernndo 1999 Globalisierung und lokale Kultur. Eine 1995 Cuban Counterpoint: Tobacco and Sugar. ethnologische Betrachtung. Hamburg: LIT. Durham/London: Duke Unviersity Press Hauser-Schäublin, Brigitta und Ulrich Braukämper Pratt, Mary Louise 2002: Einleitung. Zu einer Ethnologie der weltwei- 1992 Imperial Eyes. Travel Writing and Transcultu- ten Verflechtungen. In: Hauser-Schäublin, Brigitta ration. London und New York: Routledge. und Ulrich Braukämper (Hrsg.): Ethnologie der Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflech- Reynolds Whyte, Susan tungen. Berlin: Reimer. S. 9-14. 2002 Materia Medica. Ideen und Substanzen in verflochtenen Welten. In: Hauser-Schäublin, Hermann, Elfriede Brigitta und Ulrich Braukämper (Hrsg.): Ethno- 2007 Communicating with Transculturation. In: logie der Globalisierung. Perspektiven kultureller Douaire-Marsaudon, Françoise (guest ed.): Pacific Verflechtungen. Berlin. S. 15-30. Challenges: Questioning Concepts, Rethinking Conflicts. Special Issue of Journal de la Société Ritzer, George des Océanistes 125 (2): S. 257-260. 2011 The McDonaldization of Society g. Los Angeles: Sage/Pine Forge. Krüger, Gundolf 1986 »Sportlicher Wettkampf« auf Hawaii. Eine Schlesier, Erhard Konfiguration und ihr Wandel als Gegenstand 1994 Arbeits- und Tagebücher aus Me’udana ethnohistorischer Forschung. Göttingen: Herodot. 1961/62 und 1974/75. Göttingen: Kinzel. Macdonald, Sharon J. Vergo, Peter 2012 Museums, National, Postnational and 1989 New Museology. London: Reaktion Books. Transcultural Identities. In: Carbonell, Bettina Messias (Hrgs.): Museum Studies. An Anthology Wagner, Bernd of Contexts. Malden/Oxford: Wiley-Blackwell. 2001 Kulturelle Globalisierung: Weltkultur, Glokalität und Hybridisierung. Einleitung. In: Wagner, Bernd (Hrsg.): Kulturelle Globalisierung: 17 zwischen Weltkultur und kultureller Fragmentie- rung. Mit Beitr. von Elisabeth Beck-Gernsheim. Essen: Klartext. 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Schlesier „Aus einer fremden Kultur kommend sehe ich mich als beschreibt diese Entdeckung wie folgt: Begleiter auf einem Wege, den die Menschen in anderen Kulturen gehen wollen und den ich im konkreten Fall von „Es war wirklich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Me’udana wie jede andere Feldforschungssituation verstehen Ich war besessen von dem, was ich in dem Buch aus dem und für andere verstehbar dokumentieren und vermitteln Antiquariat las, sei es Thurnwald oder andere Autoren“ möchte. ‚Von innen heraus‘ zu urteilen schließt ein, die (Interview-Transkription nach Spilker 2008: 2). Meinung der Betroffenen ausführlich zu Worte kommen zu lassen“ (Schlesier 1990:1). Die Faszination für die Erforschung anderer Kul- turen war geweckt und bewegte Schlesier Anfang Die Wirkungszeit von Erhard Schlesier als Eth- 1948 zum Studium der Ethnologie und Ur- und nologe ist geprägt durch sein Forschungsinteresse Frühgeschichte an der Georg-August-Universität für Ozeanien. Die kleine Insel Normanby Island Göttingen. Der damalige Leiter des Instituts für mit ihrem Weiler Me’udana, in der weitläufigen Ethnologie, Prof. Dr. Hans Plischke, lenkte die Inselwelt südöstlich von Neuguinea gelegen, stand Interessen des jungen Studenten auf die Region lange Zeit im Mittelpunkt seines Forschens und ‚Ozeanien‘, bekannt auch unter den geographi- Sammelns. Sie beeinflusste maßgeblich seine Tä- schen Bezeichnungen ‚Südsee‘ bzw. ‚Pazifik‘. Mit tigkeiten als Hochschullehrer und Direktor des großem Enthusiasmus absolvierte Schlesier das Instituts für Ethnologie der Universität Göttingen. Studium der Ethnologie und promovierte bereits im Jahre 1951 mit einer Untersuchung zum The- Biographie ma „Erscheinungsformen des Männerhauses und des Klubwesens in Mikronesien“. Ausgehend von Im Jahr 1926 geboren verbrachte Erhard Schle- dieser eingeschlagenen sozialethnologischen Rich- sier seine Kindheit und Jugend in seiner Heimat- tung fokussierte er seine nachfolgenden Forschun- stadt Chemnitz, bis er kurz vor seinem Abiturab- gen konsequent auf soziale Organisationsformen schluss den Kriegsdienst (1943-45) antreten musste. und genealogische Zusammenhänge in ozeani- Nach kurzer Gefangenschaft in Tangermünde schen Gesellschaften, ausgeführt an vergleichen- und Braunschweig beschloss Schlesier nicht mehr den Fallbeispielen der dortigen Teilregionen von 20 Mikronesien, Melanesien und Polynesien. Erste Leiter der am Institut untergebrachten Ethnolo- Veröffentlichungen aus der Zeit der 1950er Jahre gischen Sammlung. Er baute den Lehrbetrieb aus, sowie seine Habilitationsschrift „Die melanesi- trieb den Sammlungsausbau voran und integrierte schen Geheimkulte“ (publiziert 1958), gehören zu die Arbeit an den Sammlungsobjekten vor dem den frühesten Beiträgen zur Sozialethnologie der Hintergrund der eigenen Feldforschungserfah- deutschen Nachkriegszeit. rungen in seinen Unterricht. Schlesier wurde Zeit Besonders prägend für Schlesiers Tätigkeit als seines Wirkens in Göttingen von seiner Frau Edith, Sammler, Forscher und Hochschullehrer waren sei- die er im Jahre 1951 heiratete, begleitet. Edith ne beiden Feldforschungsaufenthalte in Me’udana, Schlesier arbeitete selbst lange Jahre am Institut Normanby Island, Südost-Neuguinea, 1961-62 und für Ethnologie und unterstützte ihn bei der Arbeit 1974-75. sowie bei den Vorbereitungen und Auswertungen Beide Feldforschungen gewähren einen seiner Feldforschungen. einzigartigen Einblick in die genealogischen Strukturen Me’udanas sowie die dortigen sozialen Beziehungen im Rahmen zeremoniellen Tausches und gesellschaftlichen Wandels, insbesondere unter dem Eindruck der damals nahenden Unab- hängigkeit Papua-Neuguineas. Nach Abschluss sei- ner ersten Forschungsreise kehrte Schlesier nicht nach Göttingen zurück, sondern folgte im Jahre 1962 dem Ruf nach Hamburg an das dortige Mu- seum für Völkerkunde. Als Direktor und Dozent des Seminars für Völkerkunde (heute: Institut für Ethnologie) ermöglichte Schlesier in Hamburg den Ausbau der Museumsbibliothek, die Ergänzung des literarischen Bestandes um visuelles Datenma- terial sowie die Renovierung und Modernisierung der Ausstellungssäle (Museum für Völkerkunde Hamburg o.J.). Nach fünfjähriger Amtszeit in Hamburg kehrte Schlesier 1967 nach Göttingen zurück und übernahm die Stelle als Ordinarius am Abb. 6 Portrait von Institut für Völkerkunde (heute: Institut für Eth- Edith und Erhard Schlesier, 2015, wissenschaft- nologie). Knapp drei Jahrzehnte wirkte Schlesier liches Kulturarchiv am Institut für Ethnologie hier als Dozent und Direktor des Instituts sowie als 21 Sammeln sammenzustellen. Selbstkritisch reflektiert Schlesier seine Erwerbungen: Die akademische Tätigkeit Erhard Schlesiers zeich- net sich durch eine enge Verknüpfung des Sam- „Ich hoffe, dass ich beim Ankauf der Sammlungsstücke melns, des Forschens und des Unterrichtens aus. geduldig verhandelt und fair bezahlt habe. Hierbei hat Seine Aufenthalte in Me’udana legten dabei den mich Me’uyo (der Informant und Mitarbeiter Schlesiers, Grundstein für das Sammeln. Mit der Bezeichnung L.N.)…beraten und hat Faktoren wie Arbeitszeit und Me’udana wird ein Weiler der östlichen Bergregion Materialbeschaffung angemessen zur Geltung gebracht. auf Normanby Island im Südosten des seit 1975 Stücke zu erwerben, die im täglichen Leben benutzt und selbstständigen Staates von Papua-Neuguinea so- immer wieder hergestellt wurden, bereitete keine Schwie- wie die dort lebende Bevölkerung benannt (Schle- rigkeiten; von ‚Wertmessern‘ (kula-Objekten, wertvollem sier 1970: 21). Der Gebirgszug zieht sich entlang Schmuck) trennten sich die Me’udana um des augenblick- eines „500 bis 700 m hohen Bergrückens“, an dem lichen Vorteils willen… viel zu schnell, so dass ich bewusst sich einzelne Weiler befinden. Als Weiler wird auf auch auf andere Gebiete auswich. Das Problem, dass ich der Insel eine Ansiedlung von mehreren Hütten ein Stück gern erwerben wollte und der Verkauf mit ein- oder Häusern bezeichnet, in der mehrere Familien leuchtenden Gründen verweigert wurde, gab es nur einmal“ einer gleichen susu leben (National Cultural Council (Schlesier 1986: 10). 1980: 4). Susu hat eine ähnliche Bedeutung wie der Begriff ‚Lineage‘ (Gruppe einer Abstammungsli- Zur Auswahl der überwiegend 1961-62 erworbenen nie), bezeichnet bei den Me’udana aber vorwiegend und während seiner Re-study 1974-75 komplemen- die „Matrilineage/Matri-Sippe“ (Schlesier 1983: tierten Sammlung verhalfen Schlesier seine bei den 10). Während Schlesiers Feldforschungen lebten Forschungsvorbereitungen umfangreich durchge- ungefähr 500 Bewohner in Me’udana, die sich im führten Quellenstudien, seine über die in situ auf Rahmen der Subsistenzwirtschaft bis heute größ- der Grundlage der teilnehmenden Beobachtung tenteils vom Gartenbau ernähren. und der Durchführung von Interviews gewonnen- Auf seinen beiden Reisen sammelte Schlesier en Erkenntnisse sowie jene Informationen, die er eine umfangreiche Zahl an Kulturzeugnissen (etwa zwischen den Forschungen im Dialog mit seinem 250), die in ihrer Gesamtheit aus Sicht Schlesiers indigenen Mitarbeiter korrespondierend ausge- einen möglichst ganzheitlichen Einblick in die Kul- tauscht hat. Dieses so erzielte umfassende Wissen tur, Arbeits- und Lebensweise der Me’udana er- verschaffte ihm einen Überblick über soziale, wirt- möglichen sollten (Schlesier 1986: 8). Er verfolgte schaftliche und religiöse Zusammenhänge in ihrer bei dem Ankauf der Objekte das Ziel, eine kleine, Vernetzung zueinander und in ihrer verdinglichten in sich konsistente Sammlung für den Lehr- und Bedeutung als materialisierter Kulturbesitz. Forschungsbetrieb sowie für die Öffentlichkeit zu- 22 reichen Angebote ermöglichten nicht nur die regi- onale Fokussierung der Sammlung auf Me’udana, sondern auch auf angrenzende Berggebiete wie Siaussi und Sigasiga oder benachbarte Küsten- regionen wie Kelelogeya und Weyoko. Durch die unterschiedlichen Herkunfts- und Herstellungs- orte der Objekte stellte Schlesier eine Sammlung zusammen, „die den interinsularen Verkehr bzw. die interethnischen Beziehungen in vor-europäischer Zeit und erst recht in den letzten Jahrzehnten er- kennen lässt“ (Schlesier 1986: 9). Die diversen Gegenstände dokumentieren die transkulturellen Begegnungen der Me’udana mit anderen sozialen Gruppen in der Milne Bay Province. Darüber hinaus erweitern eine Vielzahl von ethnographischen Filmen, die er drehte, das Verständnis für die Arbeits- und Produktionsweisen sowie für die Ri- tuale der Me’udana. Diese Aufzeichnungen bilden auch heute noch eine wichtige visuelle Quelle zur Lebensweise auf Normanby Island, dokumentiert für einen Zeitraum, der nunmehr bis über fünfzig Jahren zurückliegt. Der Feldaufenthalt beinhaltete für Schlesier immer ein aktives Sammeln, gekoppelt an For- schungsfragen. Vor allem geleitet von theoreti- schen Diskursen der Sozialethnologie um klassi- sche Werke wie jenes von Marcel Mauss „Die Gabe“ Abb. 7 A Schlesier mit Trommel sinaha, (1968), musste für Schlesier der Anspruch auf wissenschaftliches Kulturarchiv am Institut für Sammeltätigkeit forschend so hinterfragt werden, Ethnologie dass Möglichkeiten und Grenzen des Sammelns Zu Beginn seiner Aufenthalte in Me’udana kommu- in situ erkannt und auch ethisch in die Waagschale nizierte er den Wunsch, Kulturzeugnisse kaufen zu geworfen werden konnten, wobei für Schlesier auch wollen und erhielt so über Gesprächspartner immer immer die Frage transkultureller Prozesse des Objekt- wieder neue Kontakte. Die damit verbundenen zahl- tausches berücksichtigt werden sollten. Bedenken 23 Abb. 7 B Karteikarte zur gesammelten Trommel, wissenschaftliches Kulturarchiv am Institut für Ethnologie zum Sammeln verknüpfen sich bei Schlesier so zeigt eine Textpassage aus Schlesiers Tagebuch: gesehen mit den Standardfragen: Was bedeutet das Sammeln für die Region? Warum werden Gegen- „Vor einigen Tagen hatte ich Christopher eine ‚Time‘ gegeben, stände gegen Geld getauscht? Welche Auswirkun- und seit heute prankt an der Stelle seines Hauses, wo die gen hat der Sammler beziehungsweise Forscher Keule hing (die nun in meinem Hause hängt), die farbige auf die Menschen und die Region? Welche Spuren Titelseite der ‚Time‘. So ist das nun: der Völkerkundler als hinterlässt die Sammeltätigkeit in der erforschten Sammler von Ethnographika im Akkulturationsgeschehen. Kultur? Welchen Einfluss dabei der Forscher auch Das ist eine wenig erfreuliche Seite meiner Arbeit“ (Schlesier im Alltag und im Kleinen auszuüben vermochte, 1994: 35). 24 Forschen Schlesier stellt in diesem Gedankengang entschei- dende Fragen der Ethnologie, die gegenwärtig Die Forschungen auf Normanby Island, der For- selbstverständlicher Teil der Disziplin sind, im schungsalltag in Me’udana, bilden zweifellos Jahre 1974 aber bemerkenswert neue Einsich- den Kern der Forschungstätigkeit von Erhard ten darstellen. Er hinterfragt die Objektivität des Schlesier. Sie finden ihren wissenschaftlichen Ethnologen, zweifelt an grundlegenden Konzep- Ausdruck in dem zweibändigen Werk über die ten wie ‚going native‘ und stellt das Forscher-Ich „soziale Struktur“ (Bd.1, 1970) und das „soziale in den Mittelpunkt der Betrachtung. Schlesier stellt Leben“ (Bd. 2, 1983) in Me’udana. Die über die fest, dass jeder Ethnologe mit Vorkenntnissen wissenschaftlichen Erkenntnisse hinausgehenden ins Feld geht, „die ‚Ballast‘ und ‚Erkenntnisquelle‘ persönlichen Überlegungen, Problematiken und zugleich sein können“ (Schlesier 1991: 1). Diese Fragen während seiner Feldaufenthalte dokumen- Vorkenntnisse geben eine Art Vorwissen, das wir tierte Schlesier eindrücklich in seinen Tagebüchern, innerhalb des Feldes anzuwenden versuchen. Wäh- die im Jahre 1994 veröffentlicht wurden: rend einer Feldforschung bewegt sich der Ethnolo- ge im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem „Ich kann die Lebensweise eines Europäers nicht so weit Verstehen und alltäglicher Lebensrealität (Schlesier aufgeben, daß ich mich nicht gut fühle, nicht arbeiten kann 1991: 1-2). Daraus entsteht eine Diskrepanz bei- oder krank werde. Die Frage ist eben, ob ich trotzdem ihr der Lebenswelten, die es seitens des Forschenden Wissen und ihre Alltagsprobleme verstehe. Ich meine, es oder Experten, innerhalb seiner Forschung, zu er- müßte erreichbar sein, jedenfalls sehe ich für mich keine klären gilt. Die Schwierigkeiten sieht Schlesier in Alternative, auch in der Bekleidung nicht, und wäre nicht der starren Struktur der Theorie und dem offenen die Tendenz zu ‚going native‘ (mehr als ‚Tendenz‘ könnte Charakter der Praxis. Das vorhandene Wissen es ohnehin nicht sein) Selbsttäuschung und Täuschung der sollte flexibel im Feld angewendet werden, um anderen zugleich? […] Wir können das Fremde nur auf emische Auslegungen begreifen zu können dem Hintergrund unserer eigenen Persönlichkeitsentwick- (Schlesier 1991: 1-7). Entscheidend ist, dass Verall- lung und unserer eigenen Lebenserfahrungen verstehen. Also gemeinerungen und vorherrschende „Theorien im- erfahren, deuten und verstehen wir das Fremde nicht auf mer neu an der ethnographische(n) Realität zu prü- gleiche, sondern auf unterschiedliche Weise. Wie würde ein fen und […] die jeweils emische Vorstellung […] zu anderer, wie würde eine Frau, sich in Me’udana, vielleicht erfassen“ (Schlesier 1991: 2) sind. Theoretische Be- in einem anderen Weiler, einleben, welche Akzente in seiner grifflichkeiten sollten im Kontext kritisch beleuch- (ihrer) Arbeit würde er (sie) setzen, würde ein ‚Betelkauer‘ tet und wenn nötig um die emische Perspektive besser zurechtkommen als ich?“ (Schlesier 1994: 166). erweitert werden. Der Ethnologe muss sich, so Schlesier, darüber im Klaren sein, dass er gesellschaftliche Prozesse 25 auslöst und „zur Desintegration der Gesellschaft beiträgt oder ganz allgemein Spannungen schafft“ (Schlesier 1964: 131). Er beeinflusst durch seine Arbeit und seinen Eintritt in eine fremde Kultur die Situation und seine Umgebung (Schlesier 1964: 128). Der transkulturelle Austausch zwischen For- scher und Beforschenden kann somit das Feld prä- gen und einen positiven wie negativen Handlungs- spielraum gewähren. Befindet sich der Ethnologe beispielsweise in einem Spannungsfeld zwischen einer lokalen Gruppe und der Regierung eines Staa- tes, ist es nach Schlesier sinnvoll, beide Seiten über die Art und Weise des Aufenthaltes zu unterrichten. Eine klare Artikulation des eigenen Standpunktes ist wünschenswert, sollte aber dem Spannungsfeld angepasst werden (Schlesier 1964: 129). Schlesier sieht in der Tätigkeit des kulturellen Kommunizieren und Vermittelns die wichtigs- te Aufgabe eines Ethnologen. In der Rolle des Kontaktpartners ist der Ethnologe in seinem For- schungsfeld kein Unbeteiligter. Als Kontaktpartner kann er die Kommunikation verschiedener Par- teien verbessern, kulturelles Erbe dokumentieren und so gegebenenfalls wieder aufleben lassen, Er- innerungsprozesse der lokalen Kultur fördern und eigenes Wissen in die Kultur einbringen (Schlesier Abb. 8 Tonbandaufnahme für Radio Milne Bay 1964: 134-135). Die Position als „Kontaktpartner“ in Liahane, Normanby Island, Erhard Schlesier, befähigt den Ethnologen als Vermittler zu fun- 1975, wissenschaftliches Kulturarchiv am Institut gieren und positiven Einfluss zu haben. Schlesier für Ethnologie nutzte seine Feldaufenthalte beispielsweise dazu, den Me’udana die politische Lage in Papua-Neugui- zuständigen Regierungsinstanzen (Schlesier 1963: nea kurz vor der Unabhängigkeit zu erklären und 725-729). ihre Wünsche und Forderungen zu dokumentie- Schlesier folgend beeinflusst die Forschungs- ren. Dieses Wissen übermittelte er ebenfalls an die und Sammlungsarbeit die Gesellschaft und Kultur, 26 was beispielsweise den gesellschaftlichen Wandel Lebensweise in dieser Region. Schlesier beschreibt verstärken kann. Beim Ankauf von traditionsrei- diese Zusammenarbeit in seinen Feldnotizen wie chen Gegenständen entsteht für den Geber ein folgt: Verlust, der durch den Kauf neuerer Waren aus anderen kulturellen Kontexten ersetzt wird. Finan- „Kurz: ich sehe wieder, was ich an Christopher in seiner zielle Reize führen nach Schlesier zur Aufgabe von Glanzzeit 1961/62 gehabt habe und auch jetzt noch an besonderen Gegenständen, was dann wiederum zu ihm habe, trotz der einen oder anderen Einschränkung „Störungen in der ethnischen Einheit“ (Schlesier aufgrund seines Alters. Nach wie vor und immer wieder 1964: 132) führen könnte. Um dies zu verhindern, muß ich feststellen, daß er hier der beste Mitarbeiter für sei es nötig die Sammeltätigkeit in die ethnologische einen Ethnologen ist, auch gegenwärtig“ (Schlesier 1994: Arbeit einzubetten. Durch die Kenntnis der Kultur 265-266). und der Menschen könnten negative Einwirkun- gen vermindert werden, wobei allerdings lokale Durch die Veröffentlichung seiner Tagebücher ge- Entscheidungsoptionen nicht durch den Eth- währte Schlesier einen sehr persönlichen Einblick nologen als Kontaktpartner oder Vermittler in seinen Forscher- und Sammelalltag. Das Leiden, eingeschränkt werden sollten (Schlesier 1964: 133). die gesundheitlichen Probleme, das Heimweh nach Die klare Verbindung von Theorie und Praxis, Frau und Kindern durchbricht das Konstrukt des die Integration emischer Perspektiven sowie die rationalen Wissenschaftlers und gibt einen priva- Vertretung lokaler Interessen sprechen für Schle- ten Einblick in die Erfahrungen eines Menschen. siers modernes, aufgeklärtes Ethnologie- und For- Fehler, Misstrauen oder Wut werden deutlich schungsverständnis, das besonders vor dem Hinter- dokumentiert und der Öffentlichkeit als erwei- grund seiner zeitlichen Einbettung bemerkenswert ternde Erkenntnisquelle zur Verfügung gestellt. ist. Kulturelle Unterschiede oder persönliche Abnei- Entscheidend für Schlesier als Kontaktpart- gungen werden somit sichtbar und innerhalb der ner und Vermittler und seine Forschungen war verschiedenen Rollen als Forscher, Sammler und seine Zusammenarbeit mit Christopher Obedi Privatperson diskutiert: Me’uyo, der aus Me’udana stammt. Während seiner beiden Feldaufenthalte arbeitete er mit Christo- „Ich denke heute viel über mein Verhältnis zu den Liahane pher zusammen. Er organisierte den Hausbau von und den Me’udana nach. Ich merke deutlich, daß es mir Schlesiers Unterkünften und half ihm bei Übersetz- schwerer fällt als vor zwölf Jahren, mich in das Leben hier ungen sowie bei der Kontaktaufnahme zu anderen hineinzufinden und mich mit Leben, Dasein und Proble- Me’udana (Schlesier 1982: 141-143). Christopher men der Me’udana zu identifizieren, die natürlich jetzt gewährte Schlesier den Eintritt in die Kultur der am Anfang spürbare Distanz zwischen ihnen und mir und Me’udana und vermittelte ihm ein Verständnis der zwischen mir und ihnen zu verringern, an überbrücken gar 27 nicht zu denken, daß ich unbewusst oder bewußt […] dazu Lehren neige, eine Distanz zu erhalten. Woran liegt das? Ist es nach einer Woche Wiederhiersein zu früh, darüber nachzuden- Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte auch ken, ist es mein höheres Lebensalter, ist es die Erfahrung für die Ethnologie die Verwerfung alter Prinzipien mit den Grenzen der Ethnologie […]. Mir ist es einfach der nationalsozialistischen Zeit und eine Öffnung unverständlich, warum sich hier die meisten Menschen nicht gegenüber anderen theoretischen Überlegungen sauber halten können. Daß es geht, zeigen Christopher und mit sich. Dieser Prozess beschäftigte die deut- seine größeren Kinder Anetti und Martin […]. Ich weiß, sche Ethnologie über einen langen Zeitraum. Für daß ich hier auf Dauer nicht leben könnte, ohne Änderung Schlesier war vor allem die British Social Anthro- der Körperhygiene der Me’udana zumindest nicht. Aber es pology von Bedeutung. Besonders die funktiona- kommt Anderes hinzu. Ich weiß, daß man mir im Falle listischen Theorien von Bronislaw Malinowski eig- einer viel weiter gehenden Identifizierung mit den Liahane nete er sich schon während seiner Studienzeit an – unabhängig von den Problemen, die sich für die Arbeit er- und verwendete deren Ansätze in seinen Arbeiten geben würden - hier das Hemd über den Kopf ziehen würde. (Interview-Transkription nach Spilker 2008: 2). Die Wünsche sind so zahlreich, daß ich gleich den Kopfstand Das Fach Ethnologie sah Schlesier in en- machen, alles Geld ausleeren und wieder abreisen könnte. ger Verknüpfung von Forschung und Leh- Es muß die Distanz auch aus diesem Grunde da sein, ich re. Die Aufgabe der Lehre lag für ihn in der kann nicht alles, was ich habe, sofort teilen, aufteilen, vertei- Ausbildung des Nachwuchses für Universitäten und len“ (Schlesier 1994: 164:f). Museen. Dabei sollten die Forderungen der Stu- denten beachtet werden, und die Ausbildung sollte Die Ehrlichkeit, das Distanzgefühl sowie die Ab- auf den Auslandaufenthalt vorbereiten. In seiner grenzung, die Schlesier in diesen Zeilen ausdrückt, Lehre vermittelte Schlesier das enge Zusammen- dokumentieren nicht nur seine persönliche Sicht- spiel von Theorie und Praxis, gestützt durch die in weisen, sondern zeigen auch einen Ethnologen, der Gestalt von empirischem Datenmaterial bei Feld- sich im Feld mit seinen Grenzen konfrontiert sieht. forsch-ungen gewonnenen und aus der „verglei- Schlesier beweist mit seinen Tagebüchern die Be- chenden Bearbeitung der ethnologischen Quellen reitschaft einer ständigen, ehrlichen Selbstreflexion. unter den verschiedensten Aspekten“ (Schlesier Die Einbindung dieser Erkenntnis in Forschung 1973: 2-3) zustande gekommenen Ergebnisse. und auch Lehre stimuliert zur Änderung des deut- Nicht nur Wissenschaft und Feldforschung sah er schen Ethnologie-Verständnisses. im Verbund, sondern auch die unbedingte Zusam- menarbeit der universitären Lehre und der Arbeit in einer Sammlung oder einem Museum. Diese Einsicht vermittelte er an seine Studenten weiter, führte Museumspraktika durch und beteiligte sie 28 senschaft von so hoher Bedeutung darstellt, die trotz einer allmählichen Auflösung von „Naturvöl- kern“ bzw. „schriftlosen Völkern“ weiterbestehen würde (Schlesier 1974: 71). Hierfür müssten aber die ethnologischen Methoden, Fragestellungen und Forschungen, die (zur Zeit Schlesiers) auf „Klein- gruppen, die in ihrem Wir-Bewußtsein ethnisch gebunden sind“ (Schlesier 1974: 72), durch neue Ansätze und Forschungsthematiken ergänzt und erweitert werden. Schlesier plädiert dafür, die Pro- blematiken der Gegenwart als Forschungsthemen aufzunehmen und sie dementsprechend in die Leh- re einzubinden. Die Unverzichtbarkeit des Faches Abb. 9 Schlesier im Presse-Gespräch, 1967, begründet er wie folgt: wissenschaftliches Kulturarchiv am Institut für Ethnologie „Keine deutsche Universität kann auf ein Fach verzichten, an Ausstellungsvorbereitungen. Ein Beispiel dafür das von seiner Struktur und von den Erfahrungen der ihm ist die im Jahre 1976 eröffnete Ausstellung ‚Papua- zugehörigen Wissenschaftler her wie kein anderes geeignet Neuguinea – Unabhängigkeit und kulturelles Erbe‘. ist, Kulturen in ihren historischen Bedingungen und unter- Die Ausstellung thematisierte, mit Fokus auf die schiedlichen Wertvorstellungen darzustellen, Begegnungs- Region Me’udana, die Veränderungen durch die schwierigkeiten zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Unabhängigkeit und die Problematik zwischen mo- Kulturbereiche zu mildern und kulturelle Distanzen zu derner und überlieferter Lebens- und Produktions- überbrücken“ (Schlesier 1973: 4). weise innerhalb der Gesellschaft. Sie zeichnete sich durch die studentische Mitarbeit und das Ausstel- Um diesen Weg zu einer neuen Ethnologie zu fin- lungsziel aus, ethnozentrische Vorurteile gegenüber den und zu meistern, benötige die Disziplin eine fremden Kulturen abzubauen (GT 1976; RP 1977). Erweiterung der interdisziplinären Zusammen- In den Zeiten der Lehrtätigkeit Schlesiers be- arbeit, die Verringerung des Personalmangels an fand sich die Ethnologie in einem stetigen Wandel, den Universitäten und Museen, den Ausbau der in dem alte Theorien verworfen, neue Schwerpunk- finanziellen Unterstützung von empirischen For- te und Forschungsziele formuliert wurden und die schungen sowie die Repräsentation des Faches an Frage nach der zukünftigen Existenz des Faches jeder deutschen Hochschule (Schlesier 1973: 2-4,7). aufgeworfen wurde. Für Schlesier stand dabei im- mer außer Zweifel, dass die Ethnologie eine Wis- 29 Eine kritische Würdigung Verwendete Literatur Es ist auffällig, wie Schlesier für eine gleichwertige Göttinger Tageblatt/Göttinger Presse (GT/GP) Kulturbetrachtung eintritt. Dies drückt sich nicht 1976 Die Probleme von Papua-Neuguinea: eine nur in seinen Forschungen und dem Umgang mit Ausstellung im Städtischen Museum. den Me’udana aus, sondern auch im Verständ- GT, 29. September. nis von der Ethnologie als einer über das Fremde aufklärenden Wissenschaft, die Kulturdifferenzen Interview mit Erhard Schlesier begreifen und auflösen kann. Schlesier vertritt 2008 Durchführung: Dieter Haller. zwar keine revolutionären neuen Ansichten in den Electronic Document. <http://www.ger- wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit, beein- mananthropology.com/video-interview/ druckt aber im Unterschied zu vielen seiner Zeit- interview-erhard-schlesier/82> [18.09.2014] genossen durch Selbstreflexion und Hinterfragung Transkription: Claire Spilker. Electronic Do- seiner Person als Ethnologe und Forscher. cument. <http://www.germananthropology. Seine Verdienste in der Ethnologie, besonders com/cms/media/uploads/4ddf90da8c3fe/ zu seiner Göttinger Schaffenszeit, liegen nicht interview_4e1f10307b42c.pdf> [18.09.2014] nur im museologischen Bereich in Bezug auf den Editierung: Vincenz Kokot. Ausbau der Sammlung, sondern in der Integrati- on von Selbstreflexion, Eigenerfahrung und der Mauss, Marcel Bedeutung der Forscherrolle in den Lehrbetrieb 1968 Die Gabe: Form und Funktion des Aus- sowie in das Verständnis der damaligen Ethnologie. tauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt/ Die stete Bereitschaft, sich von alten Prinzipien zu Main: Suhrkamp. lösen, ist in seinem Wirken besonders zu würdigen. Die Veröffentlichung seiner Tagebücher bewies, Museum für Völkerkunde Hamburg gerade in Hinblick auf die brisanten Diskussionen o.J. Geschichte. Electronic Document. <http:// um die Tagebücher von Bronislaw Malinowski, der www.voelkerkundemuseum.com/42-0-Geschichte. auf der benachbarten Inselgruppe, den Trobri- html> [18.09.2014] and Inseln, geforscht hatte, Mut und Offenheit gegenüber eigenen Fehlern. Schlesier unterstreichet National Cultural Council damit einmal mehr sein Verständnis der Ethnologie 1980 The Me’udana: People of Papua New als Disziplin, die von Eigen- und Fremderfahrung Guinea. Boroko: National Cultural Council. lebt und deren Ausübung immer eine Lernbereit- schaft gegenüber neuen Fremd-Erkenntnissen und Rheinische Post (RP) kulturellen Veränderungen beinhalten sollte. 1977 Ausstellung will auch Vorurteile abbauen: 30 Schau über die Papuas im Niederrheinischen 1991 Wege zum Verstehen einer matrilinearen Museum. 25. Februar. Gesellschaft: Erfahrungen in Me’udana, PNG. Abschiedsvortrag, gehalten aus Anlaß der Emeri- Schlesier, Erhard tierung am 01.07.1991. Göttingen. 1963 Kulturwandel in Südost-Neuguinea: völker- kundliche Aspekte zur Beurteilung der Situation. 1994 Arbeits- und Tagebücher aus Me‘udana. Die Umschau 23: S. 725-729. 1961/62 und 1974/75. Göttingen: Kinzel. 1964 Der Völkerkundler als Kontaktpartner: Erfahrungen in Neuguinea 1961/62. Sociologus: Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie 104: S. 128-136. 1970 Me’udana (Südost-Neuguinea): Teil 1 Die soziale Struktur. Braunschweig: Albert Limbach. 1973 Ethnologie: allgemeine Situationsbeschrei- bung des Faches. Göttingen 1974 Überlegungen zur gegenwärtigen Lage der Ethnologie. Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 104: S. 68-75. 1982 Abo’Agu Christopher Obedi Me’uyo: Eine Lebensgeschichte, aufgezeichnet in der Dobu- Sprache und übersetzt ins Deutsche. Sonderdruck 1983 Me’udana (Südost-Neuguinea): Teil 2 Das soziale Leben. Braunschweig: Albert Limbach. 1986 Eine ethnographische Sammlung aus Südost-Neuguinea. Göttingen: Ed. Herodot. 31 Gabentausch auf Normanby Island: Praxis zur Anbahnung und zur Stabilisierung sozi- zur kulturellen Praxis zeremonieller aler Beziehungen. Dort, auf der Insel Normanby, hat der zeremonielle Gabentausch, vor allem im Beziehungen Rahmen einer ausgeprägten Sepulkralkultur und im Rahmen des sogenannten kula-Tausches, eine Anna Charlotte Freya Grabow, Meret Hesse und zentrale Bedeutung für das soziale Leben. Rund Gundolf Krüger zwanzig Weiler hat Erhard Schlesier während sei- ner Feldforschungen auf Normanby Island in den Nach Grönland ist Neuguinea die zweitgrößte Insel Jahren 1961/62 und 1974/75 besucht. Der Ort der Welt. Seinem spitz zulaufendem südöstlichen namens Me‘udana mit seinen Bewohnern war sein Teil in nordöstlicher Richtung vorgelagert finden Lebensmittelpunkt, ebenso hinsichtlich der An- sich Inselgruppen, deren Bewohner in kleiner und knüpfung und der Festigung sozialer Beziehungen größer verflochtenen sozialen Beziehungen stehen wie auch der Beobachtung der Menschen im Rah- und die sich über unterschiedliche Formen des men ihrer zeremoniellen Transaktionen. Die fol- Gabentausches immer wieder begegnen. Das Leben genden Ausführungen erstrecken sich auf die von dieser Menschen im südwestlichen Pazifik ist durch Schlesier als konstituierend für die Generierung ein komplexes Gefüge streng regulierter Rituale des sozialer Beziehungen und Begegnungen erachteten gegenseitigen Austausches von kulturellen Zeug- Rahmenbedingungen und die charakteristischen nissen und zeremonieller Verteilung von Nahrung Merkmale des auf Normanby Island praktizierten gekennzeichnet. So, wie Wertgegenstände, die den Gabentausches. sozialen Status Einzelner steigern, als Gaben über verstreute Inselregionen großräumig zirkulieren, so Soziale Beziehungen im Zeichen von dienen im vergleichsweise kleinräumigen Rahmen Gartenbau und Pflanzenmagie einzelner Ansiedlungen Feste zur Erinnerung an Verstorbene dazu, das Prestige der veranstaltenden Normanby Island ist eine L-förmige Insel vulka- Gruppe der Familie des Toten durch Nahrungsga- nischen Ursprungs mit einer längs der Inseln ver- ben zu steigern. Allianzen zwischen Personen und laufenden Gebirgskette im Inneren. Sie befindet Gruppen entstehen dabei, können aber auch durch sich etwa 16 km nordöstlich des East Cape Neu- Eigennützigkeit in Mitleidenschaft gezogen werden. guineas und gehört zur Milne Bay Province als In der Weise, wie der Ethnologe Bronislaw Ma- Verwaltungsgebiet des seit 1975 selbständigen Staa- linowski das Gabentausch-System bereits in seinem tes Papua-Neuguinea. Die Insel ist geprägt durch Werk „Argonauts of the Western Pacific“ für die eine Zweiteilung von hohen Bergen und Küste, Trobriand-Inseln aus dem Jahr 1922 dargestellt hat, welche sich in der dichotomischen Weltsicht der begegnet man auch weiter südlich dieser kulturellen Bewohner von Normanby Island widerspiegelt. 32 Die überwiegend auf der östlichen und männlich Als wichtige und dem Klima angepasste Anbau- gedachten Seite der Insel siedelnden Menschen pflanze gilt der Yams. Er ist ebenso für die Ernäh- haben ihre Weiler vornehmlich in Küstennähe an rung wie auch für alle zeremoniellen Anlässe von den unteren Hängen der Berge errichtet. Aufgrund großer Bedeutung. Sein Anbau ist im Unterschied der häufigen Regenfälle sind die Häuser etwa einen zu anderen Pflanzen jahreszeitlich gebunden. Die Meter über dem Boden gebaut und die Dächer der Yamsknollen, nicht aber die Yamspflanzen, die von Häuser mit dichten Palmblättern gedeckt, denn Natur aus männliche und weibliche Blütenstände speziell der Südosten von Normanby Island gehört aufweisen, werden in Me’udana als „männlich“ und zu den regenreichsten Gebieten der Region. Nur „weiblich“ unterschieden: Die lang gewachsenen die etwas unterschiedliche Anzahl von Schlecht- sind demnach „männlich“, die rundgewachsenen wetter- und Gutwetter-Tagen lässt die Teilung der hingegen „weiblich“. Meist werden von einer Per- „Jahreszeiten“ in ‚Südostpassat‘ (eher schlechtes son „männliche“ als auch „weibliche“ Yamsknol- Wetter) und ‚Nordwestmonsun‘ (eher gutes Wetter) len angebaut. Zu Festgaben werden allerdings be- erkennen. Wetterwechsel innerhalb eines Tages oder sonders viele langgewachsene, also „männliche“ der schnelle Wechsel von sonnigen zu regnerisch- Yamsknollen angestrebt, denn man weiß, dass sich nebligen Tagen herrschen das ganze Jahr über vor. bereits die Form der zugeschnittenen Yamsstecklin- ge in den zu erntenden Yamsknollen widerspiegelt. Erhard Schlesier erfuhr in Gesprächen, dass 45 verschiedene Yamssorten in Me’udana zur Zeit seiner Forschungen unterschieden wurden. Davon werden 36 Sorten speziell bei Festen zum Geden- ken an eine verstorbene Person bzw. bei einem Festessen nach der Trauerzeit gegeben; die anderen neun Yamssorten jedoch nicht. Das Verhalten vor, während und nach einer Pflanzung von Yams folgt bestimmten Regeln und Vorschriften. Beispielsweise darf nach einer Pflanzung nicht mehr über das Feld gegangen werden und es müssen Ersatzpfade angelegt wer- Abb. 10 Der Weiler Wedona auf Normanby Island den (Schlesier 1990: 19). Auch gibt es keine Verwer- im Nebelregen, Erhard Schlesier, 1975, tung menschlicher oder tierischer Exkremente als wissenschaftliches Kulturarchiv am Institut für Dünger in der Pflanzung. Eine solche Praxis würde Ethnologie die Ernte und die Stecklinge über Jahre hinaus ver- derben. Gekoppelt an die Vorschriften unterschei- 33 det man in Me’udana fünf verschiedene Praktiken 4. Bei hegiyaso (oder ebaba) kann auch Baumrin- von Yams-Magie, denen unterschiedliche Materia- de benutzt werden, die mit einer Muschelschale lien als Kommunikationsmittel (Blätter, Baumrin- vom Baum abgeschabt und in den Händen weiter de, Liane), begleitet von magischen Sprüchen oba zerrieben wird; anschließend kann auch hier das zugrunde liegen und von denen jeweils nur eine daunahepa’i folgen. auf einer Pflanzung angewandt werden sollte. Die- se jeweilige praktische Ausführung der Magie kann 5. Matasipwa: eine Liane wird mit einem oba be- dabei nach eigenen Vorlieben ausgewählt werden: sprochen, in Stücke geschnitten und dem Steckling beigegeben. 1. Bwasi siwasiwa: Es wird ein Stein über dem Haufen der zum Auspflanzen bereitgelegten Steck- Bereits die Gewinnung von Blättern, Baumrinde linge gewaschen und dabei besprochen, während oder Liane, die als magische Kommunikations- das Wasser auf die Stecklinge herabtropft. Die- mittel dienen, ist ein geheimer Vorgang. Dieser se Steine befinden sich im individuellen Besitz, findet seinen Ausdruck in der magischen Formel werden aber an susu-Angehörige (susu: Mutters ya oba tanoha („ich fördere die Fruchtbarkeit in der Brust; Sippe) oder gute Freunde ausgeliehen, wenn Pflanzung und schütze die Stecklinge“). Jeder Be- diese sich bewährt haben. Die Steine entfalten teiligte hält seine oba für wirkungsvoll und hält sie ihre Wirksamkeit nur in Verbindung mit einem geheim. In den oba werden Hilfsgeister mwedimwedi magischen Spruch und mit Wasser. angerufen, die ihre Stellung in den religiösen Vor- stellungen von Me’udana zwischen den Menschen 2. Hegiyaso (oder ebaba): Baumblätter werden in und den „Bewohnern unter der Erde“ innehaben. den Händen zerrieben und besprochen während Schlesier hat insgesamt 14 verschiedene oba doku- sie mit Wasser begossen und ausgepresst werden, mentiert (Schlesier 1990: 22-25). Die Informati- so dass das Wasser auf die auf einem Haufen onen zum Thema oba erhielt er in seinem Hause liegenden Stecklinge tröpfelt. in Me’udana von Christopher Obedi Me’uyo, sei- nem Schlüsselinformanten, wichtigstem Mitar- 3. Daunahepa’i: dieses durch hegiyaso behandelte beiter und Übersetzer, der auch für die Interpre- Baumblattmaterial wird großen Yams-Stecklingen tation und Analyse kultureller Repräsentationen mit in das Pflanzloch gegeben. und sozialer Beziehungen auf Normanby Island gesprächsweise von Schlesier immer mit einbezo- gen wurde (Schlesier 1982: 141-154; 1991: 1, 117). Schlesier musste versprechen, die Namen der Ei- gentümer der oba nicht zu nennen, denn nicht nur im lokalen Rahmen bei Totenerinnerungsfesten war 34 dies verboten. Umso mehr noch durften die gehei- zu diesen Sagogebieten an der Küste, weil sie dort men oba niemals in die interinsularen Verbindungen Verwandte haben. Sago-Areale sind Eigentum der des zeremoniellen Tausches bis zu Bewohnern an- verschiedenen Lineages (Familienverbände), selbst derer Siedlungsgebiete gelangen und dort offen ge- ausgepflanzte Palmen gelten noch als Individualei- legt werden, denn alle zeremoniellen Transaktionen gentum und werden innerhalb der matrilinearen mit den dortigen Tauschpartnern wurden immer Verwandtengruppe susu vererbt. auch begleitet von einem utilitären und möglichst Die Bewohner von Me’udana verarbeiten Sago auf Erfolg setzenden Tausch des Handelsgutes hauptsächlich zwischen Februar und April, wenn ‚Yams‘. die Pflanzung von Yams beendet ist und man auf die Yamsernte zu warten beginnt. Die Sagopalme Die Sago-Palme und ihre Bedeutung im sammelt in ihrem Stamm große Mengen an Stärke sozialen Leben an und bildet erst nach langen Jahren Blüten und Früchte. Nach der Blütezeit und Fruchtbildung ist Sagopalmen finden sich von Südasien bis nach die Stärke verbraucht und der Stamm hohl und so- Zentralmelanesien in verschiedenen Arten. Teils mit für die Sagogewinnung wertlos. Das bedeutet, wachsen sie natürlich, teils von Menschen ange- dass der richtige Zeitpunkt für die Sagogewinnung pflanzt. Sie sind sowohl für die Ernährung als auch kurz vor der Blütezeit ist. Zu diesem Zeitpunkt für das soziale Leben der Menschen in Bezug auf wird die Sagopalme gefällt, ihr Stamm längs auf- rituellen Nahrungsaustausch von großer Bedeutung. gespalten und das Mark mit einem Sagohammer Art und Intensität der Sagonutzung in Neuguinea yuwao heraus gehämmert. In einem einfachen Pro- hängen dabei von den natürlichen Umweltvoraus- zess, das Kneten der Masse unter der Zugabe von setzungen im jeweiligen Siedlungsgebiet und dem Wasser sowie eines Pflanzenfasersiebs, wird die gegenseitigen Einfluss von miteinander in Kontakt Stärke heraus geschwemmt. stehenden Ethnien zusammen (vgl. Raabe 1990: 21, Eine Sagopalme liefert, je nach Spezies und 220-222, 253). Zeitpunkt des Fällens, 100 bis 200 kg „nassen“ Sago. Das zu Mehl verarbeitete Mark der Sago- Oft bedeutet das Wort „Sago“ deshalb zugleich Palme ist auf Normanby Island besonders ganz allgemein „Nahrung“ oder „essen“. Nach- beliebt. Es bringt bei seiner Herstellung und beim dem die Sagopalme gefällt und die Rinde entfernt Warentausch die Menschen aus dem Gebirge mit wurde, ist es Aufgabe der Männer, das Sago-Mark denen an der Küste, dort, wo sich die Sagosümpfe herauszuschlagen und zu waschen. Den Frauen ist hauptsächlich nahe der Flussmündungen befinden, lediglich erlaubt, das Sago-Mark von der Palme zu immer wieder in Kontakt und trägt so zur Festi- dem Waschplatz zu bringen, sowie die für die Ein- gung freundschaftlicher Verbindungen nicht uner- bündelung der Sagostärke benötigten Sagoblätter heblich bei. Nahezu alle Menschen haben Zugang zu entrippen. Um das Sago haltbar zu machen, wird 35 nige Verhaltensregeln befolgen. So sollen sie ihre Frauen meiden, dürfen ihren Körper und ihre Hän- de nicht mit Kokosmilch einreiben und müssen sich nach jeder Mahlzeit die Hände waschen, damit der Sago nicht verdirbt. Mittels Zaubersprüchen versucht man außerdem, die Qualität und Quantität der Sagostärke zu steigern, v.a. in Hinblick darauf, dass das Sago-Mehl als Nahrungsvorrat und Han- delsgut die oft weiten Reisen zu den Tauschpart- nern auf anderen Inseln übersteht. Betel: ein traditionelle Genussmittel für zu Hause und für die Reise Heute eher rückläufig, war Betel als Genussmittel unter der Bevölkerung Südostasiens, des indischen Subkontinents und des westlichen Pazifiks weit verbreitet. Vor allem in seiner soziale Bindungen festigenden Funktion war der Betelbissen, für des- sen stimulierende Wirkung das vom Kalkzusatz ausgelöste Alkaloid Arecolin der Arekanuss sorgt, Abb. 11 Sagogewinnung in Kelelogeya, Normanby in allen Schichten und bei beiden Geschlechtern Island, Erhard Schlesier, 1962, wissenschaftliches Bestandteil des täglichen Lebens. Betelkauen wird Kulturarchiv am Institut für Ethnologie als mildes Genussmittel betrachtet. Es reduziert Hungergefühle, erzeugt gute Stimmung und macht es in Bündel gepackt und über einem heißen Feuer arbeitsfähiger. Außerdem regt Betel die Speichel- getrocknet. Sagobündel sind bei Verwandtenbesu- produktion an, verbessert den Mundgeruch, färbt chen und im festlichen Geschenkverkehr zwischen aber zugleich die Zähne sowie den Speichel rot. den Weilern sehr willkommen. In Me’udana kauen auch heute noch viele Bei der Sagogewinnung unterstützen sich susu- Menschen Betel, Männer häufiger als Frauen. Die Angehörige untereinander. Auch unter Freunden Arekapalmen magi sind jedoch hier nicht – wie unterschiedlicher susu wird geholfen. Hier erhalten anderswo – im Übermaß vorhanden, so dass die die Helfer jedoch eine Abfindung, z. B. etwas Sago. Betelnüsse aus anderen Gebieten mitgebracht wer- Die Männer, die den Sago auswaschen, müssen ei- den und ein beliebtes Handelsgut sind. Die Are- 36 ka-Früchte werden mit dem Messer geöffnet, die Schlesier folgend daraus nicht geschlossen werden, Nüsse geteilt und zerkleinert und mit Blättern und dass die Stilmerkmale der Ornamente originär von Stängeln des Betelpfeffers tewa sowie mit gebrann- Normanby Island stammen mussten; denn die tem Kalk yaguma genossen. Zumeist besteht die Zu- Entscheidung des Schnitzers solcher Spatel kann sammensetzung des Betels aus einem in ein Blatt durchaus von Motiven, die er anderswo gesehen des Betelpfeffers (Piper betel) gewickelten Priems hatte und die ihm gefallen hatten, geleitet worden und den Scheiben der von der Betelpalme (Areca sein. catechu) stammenden Nuss, die zusammen mit Kalk Die interinsularen und interethnischen Be- aus Korallen oder Muscheln und anderen Zutaten ziehungen bereits in vorkolonialer Zeit, intensi- wie Tabak gekaut wird. Zur Aufbewahrung des viert ab der Zeit des zunehmenden westlichen Kalkes wurden früher Kalebassen und Bambusroh- Warenimports seit 1890, hatten über einen re benutzt. Betelkalk wurde entweder von Freunden mehr als hundertjährigen Transformationspro- und Verwandten an der Küste (als Geschenk, im zess zu kulturellen Aneignungen dieses künstle- Tauschhandel) bezogen oder bei gelegentlichen Be- risch besonders geschätzten Gegenstandes mit suchen an der Küste mit Freunden und Verwandten originellen formgebenden Ausprägungen und dort selbst bereitet. Eine kunstvolle Betelgarnitur damit einhergehenden gegenseitigen Beeinflussun- war dabei immer Ausdruck des Wohlstandes seines gen bei der Ornamentierung im gesamten Raum Besitzers. Durch den europäischen Einfluss haben von Südost-Neuguinea geführt (Schlesier 1986: 25- sich die Betelgeräte deutlich erkennbar verändert. 30). Ausgediente Bleistifte wurden zur Zeit Schlesiers Eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielte zunehmend als Betelspatel, Blechdosen anstelle Betel früher vor allem als Opfer- und Friedensgabe. von Kalebassen, Eisenstäbe als Betelstampfer im Aufgrund seiner Fruchtbarkeitssymbolik war die Alltag benutzt. Bei festlichen Anlässen indes sieht Betelnuss auch für die Brautschau und die Heirat man bis heute häufig noch die traditionelle Betel- von großer Bedeutung. Nicht zuletzt begründete garnitur. Insbesondere die oft reich verzierten Be- sich der religiöse Bezug des Betelkauens in zahl- telspatel werden dann öffentlich zur Schau getra- reichen Mythen (vgl. Raabe 1990: 184-188), denen gen. Nur wenige Kulturgüter wurden in der Zeit, zufolge die Entstehung des Menschen aus einer Be- als Erhard Schlesier auf Normanby Island forschte, telpalme oder die Entstehung der Betelpalme selbst im gesamten Inselraum Südost-Neuguineas noch einem mythischen Heroen zugeschrieben wurde. so weitläufig verhandelt wie traditionell gefertigte Auch wenn infolge des westlichen Einflus- Betelspatel. Wenn die Menschen von Me’udana ses heute das Tabakrauchen allgemein verbreitet Schlesier sagten, das Holz der Spatel käme von ist, hat das Betelkauen zu den verschiedensten anderen Inselgruppen, wie den Trobriand-Inseln, Anlässen, bei der Gartenarbeit ebenso wie beim Fest- die Spatel seien aber zuhause gefertigt worden, darf essen oder auf den langen Kanureisen zu Tausch- 37 Partnern auf anderen Inseln noch eine sozial integ- rative Funktion. Betel ist kurzum ein symbolischer Ausdruck von Geselligkeit im Insel-Alltag wie auch in den großräumigen Zusammenhängen sozialer Begegnungen von Insel zu Insel geblieben. „Wer gibt, gewinnt – wer behält, verliert“: der kula-Tausch „The Kula is a form of exchange, of extensive, inter-tribal character, it is carried on by communities inhabiting a wide ring of islands…Every movement of the Kula articles, eve- ry detail of the transactions is fixed and regulated by a set of traditional rules and conventions, and some acts of the Kula are accompanied by an elaborate magical ritual and public ceremonies“ (Malinowski 1922: 81). Geld dient in unserem Wirtschaftssystem zur Be- Abb. 12 A Halskette bagi, wissenschaftliches zahlung von Gütern und Dienstleistungen. Ne- Kulturarchiv am Institut für Ethnologie ben dieser ökonomischen Funktion gibt es auch kulturspezifische Gründe für den Umgang mit Geld bzw. geldähnlichen Wertmessern: Diese können sich in dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Auszeichnung, Rangerhöhung und Prestigege- winn widerspiegeln. Ein Beispiel für eine sol- che Praxis vorrangig kulturell determinierter Transaktionen mit Wertmessern ist der kula-Tausch. Von rituellen Praktiken und öffentlichen Zeremoni- en begleitet ist kula ein formalisiertes Tauschsystem, bei dem Wertobjekte innerhalb einer kula-Gemein- schaft bzw. zwischen benachbarten Inselgemein- schaften zirkulieren. Basierend auf dem Prinzip Abb. 12 B Oberarmringe mwali, Ethnologische von Gabe und Gegengabe ist der kula-Tausch so Sammlung, Harry Haase, 1991, wissenschaftliches gesehen ein Gefüge von sozialen Prozessen mit Kulturarchiv am Institut für Ethnologie 38
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