Budrich UniPress Organisationsgebundene pädagogische Professionalität Initiierter Wandel – Theoretisches Konstrukt – Narrative Methodologie – Interpretation Hildegard Schicke Erziehungswissenschaf ten Hildegard Schicke Organisationsgebundene pädagogische Professionalität Hildegard Schicke Organisationsgebundene pädagogische Professionalität Initiierter Wandel – Theoretisches Konstrukt – Narrative Methodologie – Interpretation Budrich UniPress Ltd. Opladen & Farmington Hills, MI 2011 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Die Veröffentlichung wurde im Dezember 2010 als Dissertation von Hildegard Schicke-Gerke an der Philosophischen Fakultät IV der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen. © Dieses Werk ist bei Budrich UniPress erschienen und steht unter folgender Creative Commons Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/. Verbreitung, Speicherung und Vervielfältigung erlaubt, kommerzielle Nutzung und Veränderung nur mit Genehmigung des Verlags Budrich UniPress. Dieses Buch steht im OpenAccess Bereich der Verlagsseite zum kostenlosen Download bereit (http://dx.doi.org/10.3224/86388002) Eine kostenpflichtige Druckversion (Printing on Demand) kann über den Verlag bezogen werden. Die Seitenzahlen in der Druck- und Onlineversion sind identisch. ISBN 978-3-86388-002-6 DOI 10.3224/86388002 Umschlaggestaltung: disegno visuelle kommunikation, Wuppertal – www.disenjo.de Korrektorat und Satz: Claudia Kühne, Berlin, librico.de Umschlagabbildung: © Gerd Altmann/www.pixelio.de Verlag Budrich UniPress Ltd. http://www.budrich-unipress.de V Zusammenfassung Die theoretische und empirische Studie zur organisationsgebundenen päda- gogischen Professionalität schlägt vor, das gesellschaftliche Arbeits- vermögen im Feld Lebenslangen Lernens in der Sozialform reflexiv indivi- dualisierter Beruflichkeit zu fassen, um anschließend den Fokus auf die strukturbildende Kraft von Organisation als Konstitutionszusammenhang von Professionalität zu richten. Empirische Basis der Studie ist ein vierjähriger Prozess der Mitarbeiter- entwicklung in einer Bildungseinrichtung zur Institutionalisierung kompe- tenzbasierter Lernformen in der beruflichen Weiterbildung. Das Forschungs- design integriert Beraten und Forschen und erschließt auf diese Weise den Entwicklungsverlauf für eine theoriegenerierende Rekonstruktion . Es wird davon ausgegangen, dass Professionalität als eine mehrdeutige und prozessu- ale Realitätsthematik aufzufassen ist. Zur Interpretation empirischer Konstel- lationen wird das theoretische Konstrukt ‚organisationsgebundene Professio- nalität’ entwickelt, dessen Beobachtungsperspektiven am kulturtheoretischen Paradigma interpretativer Sozial- bzw. Organisationsforschung ausgerichtet sind. So wird angenommen, dass Organisation und Professionalität innerhalb eines gesellschaftlich-historischen Möglichkeitsraums kontingent sind. Ent- sprechend werden plurale Konzeptualisierungen dessen entfaltet, was unter Professionalität und Organisation jeweils theoretisch verstanden und als sozi- ale Realität der Bildungseinrichtung gelebt wird. Die Fallstudie beobachtet also eine historisch und kontextuell situierte Weiterbildungseinrichtung im performativen Prozess der Bedeutungsbildung – d. h. in Bezug auf die bedeutungsbildenden Formen des semantischen Selbstausdrucks, der Selbstbeobachtung und der Selbstbeschreibung. Zuvor wird die Interpretation der narrativen und performativen Texte methodolo- gisch reflektiert . Die Rekonstruktion bringt anschließend zur Darstellung, wie Subjektbildung und Strukturbildung sich im Transformationsprozess wech- selseitig konstituieren, und zeigt die darin involvierten Bedingungen und Kräfte organisationsgebundener Professionalität auf. VI Summary The theoretical and empirical study on professionalism generated and speci- fied by organisation re-weighs the flexible form of individual competence development and subsequently focuses on the organisation and particularly on the structure-building power of organisations in order to constitute profes- sionalism. The empirical basis of the study is a change process of educators in an institute for further education aiming at the institutionalisation of compe- tence-based learning arrangements in further professional and vocational ed- ucation. The design of the study integrates counselling and research and thereby makes the four-year development accessible for theory-generating reconstruction. It is assumed that professionalism is an ambiguous and pro- cessual reality. For the interpretation of empirical constellations, the theoreti- cal construct of organisation-related professionalism is developed. Its per- spectives on observation are oriented towards the cultural paradigm of interpretive social, respectively organisational research. Thus, it is assumed that organisation and professionalism cannot be clearly defined but are in- stead contingent on a historical and social perspective. Accordingly, the study unfolds different concepts about what is professionalism and organisation in both theory and as a social reality in education institutes. The construct based on social theory focuses on the organisational pro- cess of creating meaning. Subsequently, the empirical study observes the in- stitute of further education in its performative process of creating meaning, i. e. in terms of the meaning-building forms of semantic self-expression, self- observation and self-description. Before, the interpretation of performative texts had been methodically reflected. Two case narrations reconstruct in which way formation of the individual and formation of the structure mutual- ly constitute themselves and show the conditions and powers of organisation- related professionalism. VII Inhalt Zusammenfassung V Summary VI Tabellen und Abbildungen XI Abkürzungen XII Pädagogische Professionalität – Eine organisationstheoretische Fragestellung 1 I Forschungsprofil 23 1 Reflexive Praxisforschung im Kontext der Re-Institutionalisierung Lebenslangen Lernens 24 2 Die Disziplin Erziehungswissenschaft als Bezugssystem reflexiver Praxisforschung 35 3 Übersetzen als Basisoperation – Translatorisches Handeln 50 II Theoretisches Konstrukt 61 1 Weiterbildung: Profession oder Professionalität? 61 1.1 Profession: Telos der Professionalisierung 63 1.2 Profession: Semantik in der Selbstauffassung personenbezogener Dienstleistungsberufe 67 1.3 Professionalität: Sozialform des Arbeitsvermögens 70 2 Von der professionstheoretischen zur kulturtheoretischen Sicht 87 2.1 Professionalität: Die professionstheoretische Perspektive 88 2.2 Professionalität: Die wissenstheoretische Perspektive 101 2.3 Modellierung pädagogischen Handelns: Metatheoretische Reflexion 117 2.4 Professionalität: Die kulturtheoretische Perspektive 140 2.5 Feldgebundene pädagogische Professionalität 173 2.6 Lose Koppelung sozialer Praktiken und Universalisierung des Erwachsenenlernens 178 3 Organisationsgebundene Professionalität 181 3.1 Institutionstheoretische Deutung von Bildungsorganisation 184 VIII 3.2 Institutionalformen Lebenslangen Lernens 189 3.3 Mehrebenenphänomen ‚organisationsgebundene Professionalität’ 197 3.4 Der Lernkontext 202 3.5 Von der autoritativen Form der Sinnstiftung zur Konstitution von Sinn- und Bedeutungskontexten des Lernens 207 4 Organisationsgebundenes Wissen 211 4.1 Empirische Rekonstruktion des Wissens pädagogischer Organisationen 212 4.2 Das lebendige Wissen der Community of Practice 218 4.3 Zum Zusammenhang von Wissen und Entscheiden 221 5 Interpretatives Paradigma: Kontingenz von Organisation und Professionalität 226 5.1 Pädagogisches Handeln: Die vor-organisationale handlungstheoretische Dimension des Organisierens 234 5.2 Projektorganisation: Die vor-organisationale projektförmige Dimension des Organisierens 235 5.3 Professionsorganisation: Die vor-organisationale administrative Dimension des Organisierens 237 5.4 Die Weiterbildungseinrichtung als Funktionalstruktur: Die soziotechnische Dimension des Organisierens 241 5.5 Weiterbildungseinrichtung als komplexes soziales System: Die systemische Dimension des Organisierens 249 5.6 Weiterbildungseinrichtung als Lernkultur: Die kulturelle Dimension des Organisierens 257 5.7 Weiterbildungseinrichtung als intermediäre Funktion: Die institutionelle Dimension des Organisierens 263 5.8 Weiterbildungseinrichtungen als Netzwerkstruktur: Die transformatorische Dimension des Organisierens 268 6 Interpretatives Organisationsparadigma: Pädagogische Organisation als performativer Prozess der Bedeutungsbildung 273 6.1 Prozess des Organisierens nach Weick 280 6.2 Organisieren als Kommunizieren 290 6.3 Performativ eine Geltung in Kraft setzen 293 IX 7 Kompetenz: Strukturationstheoretisches Verständnis ‚organisationsgebundener Professionalität’ 305 III Fallstudie 321 1 Der Fall: Das SOL-Projekt des IT-Zentrums 321 1.1 Das Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ 322 1.2 Das SOL-Projekt 325 1.3 Wissensproduktion im Projektverbund 345 1.4 Professionalität und Professionalisierung: Suspendierung der Begrifflichkeiten 351 1.5 Selbstorganisiertes Lernen im Kräftefeld der Professionalisierung 354 2 Narrative Methodologie 365 2.1 Generalisierbarkeit und Zielsetzung der Fallstudie 366 2.2 ‚Performativ’ und ‚narrativ’: Zur Methodizität des Feldes 370 2.3 Die Bildungsorganisation im performativen Prozess der Bedeutungsbildung 376 2.4 Die narrative Methodologie bei Czarniawska 380 2.5 Zur Konstitution der ex post interpretierbaren performativen Zeichen und Texte 384 2.6 Narrative Wahrnehmungsperspektive und Analyseeinstellung 400 2.7 Performative und narrative Darstellung 416 3 Interpretation 420 3.1 Entwicklung organisationsgebundener Professionalität: Die Spannung zwischen Anschlussfähigkeit und Abschlussfähigkeit von Kompetenzen 420 3.2 Management – Lernbegleitung: Zwei Sprachspiele 499 IV Zonen der Transformation. Eine konzeptionelle Narration 557 1 Der sinnerfüllte intersubjektive Raum 564 1.1 Philosophie des Dialogs 566 1.2 Anerkennungshandeln und Anerkennungsraum 569 1.3 Soziale Selbstreflektion: Fallrekonstruktionen 575 2 Zur Integration von Subjektbildung und Strukturbildung 585 2.1 Die Organisationswirklichkeit der Startphase 586 X 2.2 Integrationsfähigkeit und die Integrationskapazität der Bildungsorganisation 591 2.3 Prozessdynamik 595 2.4 Strukturbildung 604 3 Reflexiv individualisierte Beruflichkeit 617 3.1 Beruflichkeit als konstitutives Außen des SOL-Prozesses 620 3.2 Die Sphäre des eigenen Berufs 622 3.3 Reflexive Akteure und Akteurinnen 624 3.4 Personalsituation, Personalentscheidung und Individualisierung des Arbeitsvermögens 628 3.5 Wandel der rollentypischen Kombination von Tätigkeitsmerkmalen und Kompetenzen 631 V Anhang 635 1 Interviewleitfaden 635 2 Leistungen der Lernbegleitung 639 3 Transkriptionsregeln 647 4 Tabelle: Dimensionen des Organisierens und Ansätze pädagogischer Organisationsentwicklung 649 Literaturverzeichnis 650 XI Tabellen Tabelle II-1: Die sechs Dimensionen des praktischen Wissens 107 Tabelle II-2: Kulturelle Zeichen als Dokument und Monument 143 Tabelle II-3: Professionalität als kulturelle Praxis 169 Tabelle II-4: Polaritäten des praxistheoretischen Professionalitätsverständnisses 177 Tabelle II-5: Modelle struktureller Transformation nach Schäffter 193 Tabelle II-6: Konfigurationen von Institutionalformen nach Schäffter 195 Tabelle II-7: Semantiken des Organisierens und das darin angelegte Verhältnis von Organisation und Professionalität 231 Tabelle II-8: Semantiken des Organisierens – ergänzende Teilaspekte 233 Tabelle II-9: Semantik der handlungstheoretischen Dimension des Organisierens 234 Tabelle II-10: Semantik der projektförmigen Dimension des Organisierens 236 Tabelle II-11: Semantik der Professionsorganisation 240 Tabelle II-12: Semantik der soziotechnischen Dimension des Organisierens 249 Tabelle II-13: Semantik der systemischen Dimension des Organisierens 256 Tabelle II-14: Semantiken der kulturellen Dimension des Organisierens 262 Tabelle II-15: Semantiken der institutionellen Dimension des Organisierens 266 Tabelle II-16: Semantik der transformatorischen Dimension des Organisierens 270 Tabelle II-17: Kompetenzvokabulare im Vergleich 308 Tabelle III-18: Funktionale Bereiche des IT-Zentrums und personenbezogene Qualifikationen der Beschäftigten des IT-Zentrums zum Zeitpunkt des Projektabschlusses 331 Tabelle III-19: Interpretation als Basisoperation – Wahrnehmungsperspektiven und Analyseeinstellungen 404 Tabelle IV-20: Paradigmatische Differenz der Formate selbstorganisierten Lernens 616 XII Abbildungen Abbildung I-1: Forschungsprojekt „Nutzung neuer Konzepte der Mitarbeiterentwicklung – Weiterbildner lernen selbst organisiertes Lernen“/Forschungsvorhaben „Organisationsgebundene pädagogische Professionalität“ 31 Abbildung II-2: Gegenstandskonstitution als Polykontexturalität und Relationierung binärer Kontexturen 80 Abbildung II-3: Heuristik der relationalen Gegenstandkonstitution von Professionalität in einer reflexionslogischen dreiwertigen Polykontexturalität 82 Abbildung II-4: Erwachsenenbildungs-Professionalität 99 Abbildung II-5: Wissenssoziologisches Modell des Konzepts reflektierter Subjektivität 110 Abbildung II-6: Professionalität als doppelseitiges Repertoire 143 Abbildung II-7: Pädagogische Institutionaltypen nach Schäffter 185 Abbildung II-8: Das organisationale Feld als Rahmen pädagogischer Institutionsanalyse kombiniert mit einzelnen Analyseinstrumenten 191 Abbildung II-9: Der Lernkontext als konstituierende Rahmung der Handlungskoordination von Lehrenden und Lernenden 204 Abbildung II-10: Ebenen des Sinns nach Weick 277 Abbildung II-11: Der Prozess des Organisierens 281 Abbildung II-12: Mustersatz der retrospektiven Sinngebung 286 Abbildung II-13: Institutionalisierung organisationsgebundener Sinn- und Bedeutungsstrukturen 298 Abbildung III-14: Beratungssystem als Kontext für die Ko-Produktion in Sinnbildungsprozessen 335 Abbildung III-15: Various uses of narrative and its analysis in social science studies 384 Abbildung III-16: Struktur der SOL-Dokumentation 385 Abbildung III-17: Akteursposition und Akteursperspektiven der Gesprächsteilnehmerinnen 397 Abbildung III-18: Ausgangsposition der Teilhabe am SOL-Projekt und Veränderung der Teilhabe im SOL-Prozess 399 XIII Abbildung IV-19: Heuristik zur Beobachtung der mehrdeutigen und prozessualen Realitätsthematik Professionalität 560 Abbildung IV-20: Sinnerfüllter intersubjektiver Raum und Zonen des Übergangs 584 Abbildung IV-21: Brückensemantik – SOL als Lernkultur 592 Abkürzungen ABWF e. V. Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e. V. CoP Community of Practice DV Datenverarbeitung FOBILE Gruppe der Fortbildungsleiterinnen und -leiter, die sich im SOL-Prozess zu einem Team entwickeln IuK Informations- und Kommunikationstechnologien OE Organisationsentwicklung PE Personalentwicklung QUEM Qualitäts-Entwicklungs-Management SLZ-IT Selbstlernzentrum-IT SOL selbstorganisiertes Lernen Pädagogische Professionalität – Eine organisationstheoretische Fragestellung Die vorliegende theoretische und empirische Studie zur organisationsgebun- denen pädagogischen Professionalität setzt sich mit der Verhältnisbestim- mung von Organisation und Professionalität auseinander und schlägt vor, das gesellschaftliche Arbeitsvermögen im Feld Lebenslangen Lernens in der So- zialform reflexiv individualisierter Beruflichkeit zu fassen. Da sich im Pro- zess der Verberuflichung des Lebenslangen Lernens weder eine pädagogi- sche Profession noch ein einheitliches akademisches Qualifikationsmuster herausgebildet hat, andererseits aber der Erwerb pädagogischer Professionali- tät durch individuelle und kollektive Formen der Selbstbeobachtung empi- risch rekonstruiert werden konnte (Kade und Seitter 2007), ist es an der Zeit, Professionalität theoretisch neu zu denken und zu beschreiben. Die For- schungsarbeit leistet dazu einen Beitrag und setzt zwei Perspektiven in Be- ziehung: Sie greift ein neues Konzept zur Bestimmung des Begriffs ‚Beruf- lichkeit’ auf, das die flexible Form subjektiver Kompetenzentwicklung besonders gewichtet (Kutscha 2008). Daran anschließend richtet die For- schungsarbeit den Fokus auf Organisation – insbesondere auf die strukturbil- dende Kraft von Organisation als Konstitutionszusammenhang von Professi- onalität . Für diese Perspektive spricht Stichwehs Zeitdiagnose, derzufolge Professionen heute ihre Sonderstellung in der Gesellschaft nicht mehr vertei- digen können, weil die Profession ihre vitale, strukturbildende Kraft einge- büßt hat – Profession als gesellschaftlich institutionalisiertes Muster der Strukturbildung aus der Zeit der ständischen Gesellschaft, das die Kontinuität im Übergang zur Moderne des 19. Jahrhunderts sicherte. Wissen und Organi- sation, zwei universelle Ressourcen bzw. Mechanismen, die orthogonal zur funktionalen Differenzierung stehen, haben die Professionen im Prozess ihrer Universalisierung ausgehöhlt (Stichweh 2005:42). Im Gegenzug scheint Or- ganisation als gesellschaftlich institutionalisierte Sozialform die Funktion der Strukturbildung auch in monoprofessionellen Funktionssystemen zu über- nehmen, sofern das Management von Krankenhäusern, Kanzleien, Bildungs- einrichtungen im Kontext des sozioökonomischen Wandels den erforderli- chen Strukturwandel organisiert. Eine Bildungsorganisation entfaltet strukturbildende Kraft, indem sie sich über die betriebsförmige Dimension der Koordination professioneller Arbeit hinaus – eingebettet in einen überge- ordneten gesellschaftlichen Strukturzusammenhang – selbst beobachtet und die Re-Institutionalisierung von Lerninfrastrukturen und Lernkulturen refle- xiv als eine organisationale Aufgabe gestaltet. Eine organisationstheoretische Frage 2 In den Diskursen zur pädagogischen Professionalität trifft man auf die Vorstellung, dass es sich bei Organisation und Profession um eine Struktur- differenz zwischen unterschiedlichen Sinnsystemen und konkurrierenden Ra- tionalitätsmustern handelt, die dem Handeln sowie seiner semantischen Be- schreibung vorausgeht. In der Studie zum Stand und zu den Perspektiven der Verberuflichung in der Erwachsenenbildung stellt Nittel beispielsweise fest: „Professionalisierungshemmend wirkt sich weniger die Differenz als solche aus, sondern der Umgang mit dieser Unterscheidung durch die Akteure, ins- besondere die notorische Vermischung der Ebenen und die damit verbunde- nen Kategorienfehler “ (Nittel 2000:226; Hervorh. H. S.). Der Kontext seiner Diagnose ist die Institutionalisierung des Qualitätsmanagements in Weiter- bildungseinrichtungen, die in den 1990er Jahren begann. Der Qualitätsdiskurs setzt aus Nittels Sicht die „Reinheit“ 1 einer gesellschaftlichen Strukturdiffe- renz und als Folge davon auch die Professionalisierung der Erwachsenenbil- dung aufs Spiel. Harney hat die Reinheit der Strukturdifferenz zum Maßstab für die Rekonstruktion betrieblicher Weiterbildung gemacht. Sie beruht auf einer Entgegensetzung von zwei Handlungsebenen und zwei Handlungslogi- ken: die organisatorische Handlungsebene der Koordination und der Distribu- tion von Befehlsgewalt und die Handlungsebene der Profession, die eine vom Mitarbeiter selbst hergestellte Bindung und seine Fachkompetenz voraussetzt (Harney 1998:179). Wissen und Kompetenz gehören als persönlicher Besitz des Professionellen zur Umwelt der Organisation und sind Bestandteil des professionellen Interaktionssystems – nicht der Organisation (ebd.:180). Deshalb sind Professionalität und Organisation aus Harneys Sicht auch wechselseitig unzugänglich. Im Kontext des Organisationswandels der Schu- le mahnt Tacke einige Jahre später an, dass die strukturell bedeutsamen Un- terscheidungen von Erziehung und Organisation – und somit von Profession und managerialer Koordination – in der Semantik der Lernenden Bildungsor- ganisation „verschwimmen“ und dass dies auf die Auflösung einer gesell- 1 Die Metapher der Reinheit ist insofern gerechtfertigt, als Nittel Harneys Unterscheidung von der Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit in Anspruch nimmt, um die Differenz des Professions- und Organisationsbezugs im Weiterbildungshandeln zu klären: „Professionalität ist nur durch Professionalität bearbeitbar. [...] Organisationshandeln ist nur durch Organisationshandeln zugänglich“ (Harney 1998:179). Nittel argumentiert, dass der Organisations- und der Professionsbezug zwei Sphären der Zugänglichkeit konstituiert (Nittel 2000:223). Zur Sphäre der Organisation gehören die Ebenen der Kontrolle, der organisatorischen Verankerung und der Formalisierung der Weiterbildung (Harney 1998:179). Aufgespürt wird die Differenz in der Struktur (Logik) des Handelns. Die Gegenüberstellung der beiden Handlungslogiken (Organisationshandeln und Professionshandeln) wird vom Standpunkt rationalistischer Bürokratietheorie und vom Standpunkt der soziologischen Professionstheorie bestimmt (Nittel 2000:224f). Im Qualitätsdiskurs bezieht man sich später reflexiv auf das Argument komplementärer Handlungslogiken und setzt die Unterscheidung zwischen Interaktion (Profession) und Organisation fort (Zech 2006:18f). Eine organisationstheoretische Frage 3 schaftlich institutionalisierten Strukturdifferenz hinausführt, deren Ausmaß und Folgen noch unabsehbar sind (Tacke 2005:194; Hervorh. H. S.). Strukturen existieren nicht außerhalb ihrer performativen Hervorbrin- gung durch kollektive wie individuelle Akteure und Akteurinnen. Auch der Sinn und die Bedeutung sowie die Gegenstände von Begriffen – wie ‚Profes- sion’ und ‚Organisation’ – werden in performativen Sprechakten und ent- sprechendem konkludentem Handeln der Akteure konstituiert (Ortmann 2005:285). Da die sozialen Kräfte des Feldes Lebenslangen Lernens beweg- lich sind, sind auch die der symbolischen Ordnungen des Sinns kontingent (wenngleich auch nicht beliebig) und ihr Wandel nicht kontrollierbar. 2 Erzie- hungswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Forschung und Theorie- entwicklung sind Resonanzraum und reflexiver Mechanismus des Bedeu- tungswandels in ihren kulturellen Praxisfeldern. Und so ist einerseits die Kulturbedeutung eines Forschungsgegenstands ausschlaggebend für das Er- kenntnisinteresse der Forschenden (Rosa 1995:83) – andererseits wirkt ihr „sinnorientiert-intentionales Beschreibungsvokabular“ (Reckwitz 2000:111) reflexiv auf die Transformation der Strukturen zurück (Schäffter und Schicke 2009:105). Anlass zur Fragestellung der vorgelegten Forschungsarbeit – d. h. Professionalität, Organisation und gesellschaftliche Funktion/Institution Le- benslangen Lernens zu relationieren – gab ein mehrjähriges Projekt zur Mit- arbeiterentwicklung in einer Weiterbildungseinrichtung: „Begleitung eines organisationalen Lernprozesses mit integrierter Mitarbeiterentwicklung zur Entwicklung von Lernformen mit erhöhtem Anteil an Selbststeuerung in Weiterbildungseinrichtungen, die im Bereich der IuK 3 Berufs- und Tätig- keitsfelder qualifizieren – am Beispiel des IT-Zentrums“ 4. An diesem Projekt 2 Nur wenn sich eine Sinnverschiebung zu einer symbolischen Alternativlosigkeit verdichtet, ist die Omnipräsenz der Beweglichkeit sozialer Kräfte in einer bestimmten historischen Phase unterdrückt (Moebius und Reckwitz 2008:15). 3 Die Abkürzung IuK bezeichnet Informations- und Kommunikationstechniken/-techno- logien. 4 Es handelt sich um den Projekttitel des Projektantrags, den das Beratersystem beim Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ einreichte. Das Beratersystem war deshalb auch Auftragnehmerin der Projektförderung. Die Auftragnehmerin ist eine Beratungsorganisation der Region, die auf Laufbahnentwicklung spezialisiert ist und zusätzlich in einem geringeren Umfang für Kleine und Mittlere Unternehmen tätig wird. Im IT-Zentrum wurde das Projekt „SOL-Projekt“ genannt. Die Abkürzung SOL steht für „ s elbst o rganisiertes L ernen“. Es war ein Teilprojekt des Projektverbunds „Nutzung neuer Lernformen zur Mitarbeiterentwicklung in beruflichen Weiterbildungseinrichtungen – Weiterbildner lernen selbstorganisiertes Lernen“. (ABWF/QUEM 2000b:16). Das Projekt wurde von 2001 bis 2004 im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprogramms „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ der Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e. V. gefördert. Das Programm wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie des Europäischen Sozialfonds’ gefördert. Eine organisationstheoretische Frage 4 war ich von Anfang an in der Funktion der externen Beraterin beteiligt. Es integrierte die Entwicklung von neuen Lernformen (Institutionalisierung Le- benslangen Lernens), Organisationsentwicklung und Mitarbeiterentwicklung, sodass die Projektbeteiligten die Bildungsorganisation als Konstitutionszu- sammenhang ihrer Professionalität erfahren konnten. Offensichtlich sind zentrale Fragen der Verhältnisbestimmung von Orga- nisation und Profession bislang nicht hinreichend beantwortet. Zu dieser Ein- schätzung kommen Helsper, Busse, Hummrich und Kramer (2008:109), die den Bereich schulischer Bildung im Auge haben. Die Forscher und Forsche- rinnen der Universität Halle-Wittenberg führen das gewachsene Interesse an einer Fragestellung, die schon als ausreichend aufgeklärt und bestimmt galt, auf die grundlegenden Veränderungen in der Steuerung der Schulorga- nisation zurück. Die unterschiedlichen theoretischen Positionen seien außer- dem noch nicht zufriedenstellend zueinander vermittelt – man habe es mit einem „theoretisch und empirisch unabgeschlossenen Themenfeld“ zu tun (Helsper u. a. 2008:10). Angeregt durch das empirische Praxisprojekt entwickelt die Forschungs- arbeit ein theoretisches Konstrukt von Professionalität, das auf ein relationa- les Denken (Emirbayer 1997) ausgerichtet ist und entsprechend ein begriffli- ches Instrumentarium zur Relationierung mehrerer Kontexturen anbietet, die Professionalität historisch und kontextuell situiert konstituieren: reflexiv-individualisierte Beruflichkeit Betrieb: Organisation professioneller Arbeit Strukturation eines organisationalen Feldes Lebenslangen Lernens Relationales Denken verzichtet darauf, eine Realitätskomponente (Professio- nalität) identitätslogisch zu bestimmen (z. B. als gekonnter Beruf); es erwei- tert stattdessen die Fähigkeit, eine mehrdeutige und prozessuale Realitäts- thematik zu beobachten. Professionalität berührt oder involviert nämlich mehrere Kontexturen, die je spezifisch relationiert sind und deren Relationie- rung sich im Prozess emergenter Strukturen verändert. Statt also eine Vor- stellung von einer gefestigten Strukturdifferenz zu erwecken, wird eine Vor- stellungskraft für die „Omnipräsenz einer Beweglichkeit von sozialen Kräften“ (Moebius und Reckwitz 2008:15) erzeugt. Ein prominentes Beispiel für ein historisch und kontextuell neues Muster der Relationierung sind die neuen Praktiken kooperativen und systemischen Lernens in Weiterbildungseinrichtungen, die in der Metapher von der Ler- nenden Bildungsorganisation eine kulturelle Bedeutung erhielten. In aller Konsequenz haben sie zu einer Veränderung selbstverständlicher Wahrneh- mungshorizonte von Lernen, von Organisation und des Verhältnisses von Organisation und Professionalität geführt, die heute Bestandteil des wissen- schaftlichen Wissens über das Management von Bildungsorganisationen sind. Eine organisationstheoretische Frage 5 Offensichtlich ist weder eine notorische Vermischung als Kategorienfehler zu kritisieren noch sind die Folgen des Strukturwandels gänzlich unabsehbar. In der Fortsetzung kultureller pädagogischer Praxis wird außerdem erkennbar, dass sich die konstitutiven Kontextbedingungen – nämlich des Lernens, der Beruflichkeit von Arbeit sowie der Organisiertheit Lebenslangen Lernens grundlegend wandeln. Der damit einhergehende Bedeutungswandel von Ler- nen, des professionellen Handelns und der Organisation impliziert auch eine Veränderung der Wahrnehmungshorizonte. Diese Veränderung der Wahrnehmungshorizonte wurde im ersten For- schungsmemorandum für die Erwachsenen- und Weiterbildung im Jahr 2000 kommuniziert. Im Herbst 2000 wurde das o. a. Praxisprojekt auf den Weg gebracht; es steht im Kontext der im Memorandum formulierten Forschungs- fragen: Das Forschungsmemorandum für die Erwachsenen- und Weiterbil- dung entwirft erstmals ein Koordinaten- und Koordinationssystem für die Forschung zur Erwachsenen- und Weiterbildung und benennt Schwerpunkte und notwendige Fragestellungen der empirischen Bildungsforschung (Arnold u. a. 2000, im Auftrag der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Ge- sellschaft für Erziehungswissenschaft). Ein zentrales Forschungsthema ist aus Sicht der Autoren das professionelle Handeln , denn die Funktionen und Tä- tigkeitsmerkmale professionellen Handelns haben sich mit der Ausdifferen- zierung des Bildungsmanagements in Weiterbildungseinrichtungen und im Zuge einer stärkeren Selbstverantwortung der Lernenden verändert: Professi- onelles Handeln lasse sich nicht mehr unter dem zeitweilig favorisierten Be- griff des didaktischen Handelns zusammenfassen, argumentieren die Autoren und führen fort: Über die unmittelbare Instruktion hinaus werden verstärkt Kompetenzen der Bildungs- beratung und Bedarfserschließung, des Lernarrangements mit unterschiedlichen Medien, der Lernberatung und der Supervision benötigt (Arnold u. a. 2000:15). Die Erweiterung und Verlagerung des Handlungsspektrums verlangten nach Überprüfung, Modifikation und Verstärkung bisheriger Aus- und Fortbil- dungsangebote. Ein weiteres zentrales Forschungsthema sind laut Memorandum die un- terschiedlichen Organisationsformen der Institutionalisierung des Lebenslan- gen Lernens. Erziehungswissenschaftliche Organisationsforschung soll ei- nerseits auf die Spezifika von Bildungseinrichtungen fokussieren – etwa auf das Zustandekommen und die Gestaltung von Lerngelegenheiten inner- und außerhalb genuiner Bildungseinrichtungen. Andererseits soll der Betrach- tungsrahmen so weit gefasst sein, dass die Zusammenhänge zwischen Institu- tion, Organisation, gesellschaftlichem Wandel und individuellen Lernprozes- sen bearbeitbar werden (Arnold u. a. 2000:19). Die empirische Forschung zur Institutionalisierung Lebenslangen Lernens soll dem Eigengewicht und den besonderen Funktionen der Bildungseinrichtung gerecht werden: der Reprä-