Herausgegeben von Henrieke Stahl und Hermann Korte Neuere Lyrik INTERKULTURELLE UND INTERDISZIPLINÄRE STUDIEN 2 Neuere Lyrik · 2 Interkulturelle und interdisziplinäre Studien Neuere Lyrik Interkulturelle und interdisziplinäre Studien Herausgegeben von Dmitrij Bak, Hermann Korte, Hiroko Masumoto, Stephanie Sandler und Henrieke Stahl Band 2 Gedichte schreiben in Zeiten der Umbrüche Tendenzen der Lyrik seit 1989 in Russland und Deutschland Herausgegeben von Henrieke Stahl und Hermann Korte Leipzig 2016 Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. Anschrift der Herausgeber: Prof. Dr. Henrieke Stahl-Schwaetzer Universität Trier Fachbereich II Slavistik 54286 Trier stahl@uni-trier.de Covergestaltung unter Verwendung einer Bildvorlage von Holle Frank Umschlaggestaltung: Christopher Triplett, Marburg ISBN 978-3-86688-599-8 (Print) E-ISBN 978-3-86688-600-1 • DOI 10.3726/b11859 Open Access: Dieses Werk ist lizensiert unter der Creative Commons Lizenz Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0). Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by- nc-nd/4.0/deed.de © Henrieke Stahl, Hermann Korte, 2016 Biblion Media GmbH Leipzig www.peterlang.com Inhaltsverzeichnis Henrieke Stahl / Hermann Korte Vorwort 11 Henrieke Stahl / Hermann Korte Einleitung 13 I. Lyrikgeschichte seit 1989: Heterogenität und Ungleichzeitigkeit Hermann Korte (Siegen) Gedichtpoetiken in Zeiten der Umbrüche. Exemplarische Positionen seit 1990 53 Dirk von Petersdorff (Jena) Zur Pluralisierung formsprachlicher Optionen in der deutschen Lyrik nach 1989 81 Ilja Kukulin (Moskau) Zur Ungleichzeitigkeit der russischen Gegenwartsdichtung 93 Robert Hodel (Hamburg) Russische Lyrik nach dem Moskauer Konzeptualismus 115 Elena Seifert (Moskau) Die russlanddeutsche Literatur in Deutschland an der Schwelle zum 21. Jahrhundert 129 Willem G. Weststeijn (Amsterdam) Das lyrische Ich in der russischen Gegenwartsdichtung 143 Juri Orlizki (Moskau) Die Spezifik des Verses in der neuesten russischen Dichtung 153 Inhaltsverzeichnis 6 Tatjana Andrejuschkina (Toljatti) Das gegenwärtige deutschsprachige Sonett (nach 2000): Altes in Neuem 179 Alexander Bierich (Trier) Substandardsprachliche Lexik in der russischen Gegenwartslyrik 195 Natalja Fatejewa (Moskau) Das metasprachliche Element im zeitgenössischen poetischen Text 207 II. Die Wende in der Lyrik Alexander Erochin (Ischewsk) Hans Magnus Enzensbergers Lyrik nach der Wende 1989: Die Gedichtbände „ Zukunftsmusik “ und „ Kiosk “ 231 Stefan Elit (Paderborn) Von der DDR in Gegenwart und Antike. Zur lyrischen Weltenreise des Uwe Kolbe 247 Hiroko Masumoto (Kobe) Intertextualität als poetische Strategie: Zur Analyse der Gedichte Volker Brauns 259 Frieder von Ammon (Leipzig) rolltreppe russland runter Thomas Kling und andere 1991 in Moskau und Leningrad 267 Rainer Grübel (Oldenburg) Reflektiert die Lyrik Gennadi Ajgis die Transformation der Sowjetunion zur Russischen Föderation? 285 Inhaltsverzeichnis 7 III. Lyrik nach 2000: Geschichte und Politik Heinrich Kirschbaum (Berlin) Ekphrasen einer Elegie. Sergei Gandlewskis Poetik der Stagnation 307 Marion Rutz (Passau) Max im Amelins „Verspätete Ode an Katharina die Große...“: Das Potential der literatur-historischen Retrospektive 327 Mirjam Springer (Münster) Lyrische Forensik: Marcel Beyers „Erdkunde“ (2002) 371 Peter Geist (Berlin) „Auf die schönen Possen“ (Volker Braun): Aspekte zivilisationskritischen Insistierens in deutschen Gedichten nach 2000 397 Inna Ganschow (Luxemburg) Poetik der Politik und Politik der Poetik: Bykow versus Putin 415 David Hock (Princeton) Truth-Tellin g in Putin’s Russia: Kirill Medvedev and the Post-Conceptualist Generation 429 IV. Lyrik in Transition Juliana Kaminskaja (St. Petersburg) Gedichte im Spiegel der Theorie – Theorie im Spiegel der Gedichte. Zeitgenössische poetische Experimente im russisch- und deutschsprachigen Raum 445 Natalija Asarowa (Moskau) Die poetische Grammatik Gennadi Ajgis: Vorzüge des intersprachlichen Denkens 463 Inhaltsverzeichnis 8 Svetlana Kirschbaum (Bochum) Algebra und Harmonie: Sergei Schestakows Gedicht она произносит : лес [sie sagt: wald] 483 Jisung Kim (Tokio) Poetologische Strategien des Fake. Eine Untersuchung zum Thema Subjektivität, Originalität und Autor- schaft in Clemens J. Setz’ Gedichtband „Die Vogelstraußtrompete“ 499 Valerij Gretchko (Tokio) Strategien des Primitivismus in der modernen russischen Poesie 513 Ekaterina Evgrashkina (Trier / Samara) Das nicht Zufällige im Zufall: über den Gedichtzyklus „Übergangenes“ v on R.-B. Essig und Fotographien von M. Koch im Kontext der früheren intermedialen Experimente von J. Kerner und P. Rühmkorf 525 Henrike Schmidt (Hamburg / Berlin) Doppelte Übersetzung. Zum intermedialen Dialog zwischen Text und Bild (Gaby Bergmann, Sergej Birjukov). Ein Werkstattbericht 541 Michail P. Odesski (Moskau) Iwan Wyrypajew: Richtung Rap 561 V. Lyrik zwischen den Kulturen Henrieke Stahl (Trier) Übersetzung als Dialog: Paul Celans Gedicht „Mandorla“ in russischen und polnischen Übersetzungen 577 Marion Rutz (Passau) Timur Kibirovs „Ab ovo“: P ostmodernes Spiel aus dem Geiste der englischen nicht-didaktischen Kinderliteratur 611 Inhaltsverzeichnis 9 Alexandra Tretakov (Trier) Die ungreifbare Seele in der leiblichen Hülle: Haiku in Boris Akunins Roman „ Das Diamantfahrzeug “ 637 Franziska Bergmann (Trier) Zur Produktivität eines kulturvergleichenden Ähnlichkeitsdenkens. Yoko Tawadas lyrischer Text „ Die Orangerie “ 663 Vorwort Die Konferenz „Gedichte schreiben in Zeiten der Umbrüche“, organisiert von Henrieke Stahl und Hermann Korte in Zusammenarbeit mit der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU) und dem Institut für Sprachwissenschaft an der Russischen Akademie der Wissenschaften, fand im Mai 2013 in Moskau an den beiden genannten Institutionen statt. Die von der DFG im Rahmen des Programms zum Aufbau von wissenschaftlichen Koopera- tionen geförderte Tagung erweitert das 2010 ebenfalls durch eine DFG-Tagung 1 konstituierte Trierer Forschernetzwerk zur russischen Gegenwartslyrik um die Germanistik. Flankiert wurde die Arbeit durch eine vom DAAD geförderte Ko- operation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der japanischen Uni- versitäten Waseda und Kobe 2015 – 2016, mit denen die Universität Trier eine Partnerschaft unterhält. Aus diesen internationalen Forschungsbeziehungen ging ein deutsch-russisches bilaterales Projekt hervor, das 2015 ‒20 18 mit Förderung durch die DFG und auf russischer Seite durch RGNF zur „Typologie des Sub- jekts in der russischen Gegenwartsdichtung“ arbeitet und den russischen Schwerpunkt um komparatistische Ausblicke in die deutsche Gegenwartslyrik ergänzt. Der vorliegende Band vereint Beiträge der Moskauer Konferenz 2013 mit ausgewählten Arbeiten, die im Rahmen der DAAD geförderten Kooperation und des Projekts zur „ Typologie des Subjekts “ verfasst wurden. Die Entstehung mehrerer Aufsätze verdankt sich außerdem einem von der Nikolaus Koch Stif- tung Trier geförderten Projekt zur russischen Gegenwartslyrik in Einzeldarstel- lungen. Nachdem mit dem Themenband zur Tagung von 2010 eine russischsprachige Publikation vorliegt, erscheint das vorliegende Buch auf Deutsch (mit der Aus- nahme eines englischen Beitrags), um die aktuelle Forschung zur russischen Gegenwartslyrik für das deutsche akademische Publikum zu erschließen. Diese Publikationsform begründet die Entscheidung, auf die wissenschaftliche Transli- teration der kyrillischen Buchstaben zu verzichten und stattdessen die deutsche Duden-Transkription zu verwenden. In Ausnahmen wurde die Schreibweise von kyrillischen Namen beibehalten, die ihren Ursprung in den Transkriptionsfor- men anderer Sprachen hat, aber auch in Deutschland üblich ist. In den bibliogra- phischen Angaben wird in den meisten Fällen das Russische in kyrillischer Schrift verwendet. An der formalen Redaktion des Bandes wirkten Frau Ekaterina Evgrashkina sowie Frau Alexandra Tretakov unterstützend mit, denen hierfür herzlich ge- dankt sei. Henrieke Stahl und Hermann Korte, Pfingsten 2016 1 Шталь / Рутц (ред ., 2013). Rezension des Bandes: Kukuj (2014), Hodgson (2015). Henrieke Stahl / Hermann Korte Einleitung 1 Gedichte schreiben in Zeiten der Umbrüche Der vorliegende Band fragt nach Spezifika der neueren Lyrik seit 1990, einer Zeit, die für Deutschland und Russland mit einem einschneidenden historischen Umbruch begann und die neben landesspezifischen Transformationsschritten mit der Digitalisierung eine weitere tiefgreifende Veränderung gebracht hat. Wie reagieren Lyrikerinnen und Lyriker auf diese Umbrüche? Haben sie eine Bedeu- tung für die Themenwahl, die kommunikativen und ästhetischen Funktionen, die poetischen Verfahren und Strategien? Können für die letzten 25 Jahre poetische und auch poetologisch reflektierte Veränderungen ausgemacht werden? Gibt es in Russland und Deutschland parallele Entwicklungen? Welche Differenzen prägen die Gegenwartslyrik beider Länder? Dabei wird davon ausgegangen, dass die Ebenen der Vergleichbarkeit selbstverständlich nicht länderübergrei- fend zu konstruieren und konzipieren sind. Ein wichtiger Unterschied liegt bei- spielsweise darin, dass Ostdeutschland, die ehemalige DDR, eine politische, so- ziale, ökonomische und kulturelle Zäsur erlebte – einen tiefgreifenden Umbruch mit Rückwirkungen auf die Literatur und ihren empfindlichsten Seismographen, die Lyrik – , während für Westdeutschland, die ‚alten‘ Bundesländer, zunächst kaum ein entsprechend nachhaltiger Umbruch bemerkbar war. Vor diesem Hin- tergrund fokussieren die meisten Einzelbeiträge zur deutschsprachigen Lyrik die Perspektive auf Lyrikerinnen und Lyriker der ehemaligen DDR. In den Beiträgen wird versucht, Perspektiven für mögliche Antworten auf die- se Fragen mit Hilfe der Beschreibung und Deutung von Funktionen und Sinn konkreter Gedichte zu eröffnen. Im Mittelpunkt stehen ausgewählte poetische Texte verschiedener Autorinnen und Autoren, die auf Russisch oder Deutsch schreiben, aber im Einzelfall auch aus anderen Ländern (Österreich, Japan) kommen. In methodischer Hinsicht werden die poetischen Texte unterschiedlich behandelt; neben hermeneutischen, formalästhetischen und kulturwissenschaftli- chen stehen linguistische Ansätze. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf der russischen Lyrik, während den Untersuchungen zur deutschen Lyrik die Aufga- be einer Vergleichsfolie zugedacht ist. 1 An der Recherche für diese Einleitung wirkten Ekaterina Evgrashkina, Marion Rutz und Alexandra Tretakov mit, denen für ihre Unterstützung gedankt sei. Einzelne Textbausteine der Einleitung weisen Überschneidungen mit der russischsprachigen Einleitung in den Band „Image – Dialog – Experiment“ auf (Шталь / Рутц 2013). Henrieke Stahl / Hermann Korte 14 Für diesen Band konnten ausgewiesene Spezialisten für die russische Litera- tur und insonderheit Lyrik der Gegenwart gewonnen werden. In Russland kon- zentrierte sich die Forschung zur Gegenwartslyrik zunächst in der Linguistik. Eine wichtige Rolle in der russischen Forschung zur Gegenwartslyrik spielen zwei Institute der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau: zum einen das W.W. Winogradow-Institut für russische Sprache ( Институт русско- го языка РАН ), das die internationale Forschung in regelmäßig stattfindenden Konferenzen bündelt und unter der Leitung von Natalja Fatejewa ein Zentrum für interdisziplinäre Untersuchungen künstlerischer Texte mit verstärkter Aus- richtung auf die Gegenwartslyrik eingerichtet hat; zum anderen das Institut für Sprachwissenschaft ( Институт языкознания РАН ), das unter Leitung von Na- talija Asarowa ein „Zentrum für linguistische Untersuchungen der Wel tpoe sie“ mit einem Schwerpunkt in der Gegenwartslyrik besitzt. 2 Auch die russische Literaturwissenschaft hat die Forschung zur Gegenwarts- lyrik institutionell verankert, wie zum Beispiel an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau (RGGU), die ein „Zentrum für neuere Literatur“ ( Центр новейшей литературы ) mit dem 2011 gegründeten Prigow-Labor 3 ausweist und turnusmäßig Sapgir-Tage ( Сапгировские чтения ) 4 durchführt. Von der RGGU beteiligen sich an diesem Band der renommierte Versspezialist Juri Orlizky sowie Michail Odessky und Elena Seifert. Die russi- sche Forschung zur Gegenwartslyrik zeichnet sich dadurch aus, dass sie bewusst den Kontakt zur Dichterszene pflegt und die beiden philologischen Teildiszipli- nen miteinander sowie mit der Literaturkritik und Dichtung interagieren lässt. 5 In der internationalen Slavistik dominiert der literaturwissenschaftliche Zu- gang zur Gegenwartslyrik. Mit Willem Weststeijn, dem langjährigen Herausge- ber der internationalen Fachzeitschrift Russian Literature und aktiven Übersetzer zeitgenössischer russischer Lyrik in das Niederländische, oder den Slavisten Rainer Grübel und Robert Hodel, der jüngst eine zweisprachige Anthologie zur russischen Gegenwartslyrik herausgebracht hat 6 , oder Mark Lipovetsky, bekannt für seine in Koautorschaft verfasste Geschichte der russischen Gegenwartslitera- tur (1950-90er 7 ), konnten besondere Spezialisten für die russische Gegenwarts- lyrik gewonnen werden. Henrieke Stahl machte in den letzten Jahren die Uni- 2 Sie veranstalten regelmäßig gemeinsam Konferenzen. Vgl. z.B. den Band: Степанов / Фа- теева ( ред ., 2007). 3 2011 wurde am Zentrum für die neuere russische Literatur der RGGU ein Prigow-Labor gegründet (siehe: http://www.cnrl.ru/prigov.html). 4 Die zwölften « Сапгировские чтения » haben am 20.-21. November 2015 stattgefunden. 5 Hier kann z.B. auf die folgende Anthologie verwiesen werden, die in der Kooperation von Wissenschaftlern der russischen und amerikanischen Literaturszene entstand: High (ed., 2000). 6 Hodel (2015). 7 Лейдерман / Липовецкий (2003). Einleitung 15 versität Trier mit seit 2010 drei DFG-geförderten internationalen Fachkonferen- zen 8 und einem bilateralen deutsch-russischen Projekt (DFG / RGNF) zu einem sichtbaren Ort zur Erforschung der Gegenwartslyrik, an dem über die Slavistik hinaus in der Kooperation mit Trierer Kolleginnen und Kollegen auch andere Philologien wie die Japanologie und Sinologie in die Forschungszusammenhän- ge integriert sind. 9 Auf Seiten der deutschen Germanisten versammelt der Band ebenfalls ausge- wiesene Experten. So ist Stefan Elit u.a. ein Kenner der Lyrik Uwe Kolbes, zu dem er einen Sammelband herausgab; 10 außerdem ist er Mitherausgeber des Ju- biläums- Sonderbands der „ Zeitschrift für deutsche Philologie “ zum Thema „ Deutschsprachige Literatur seit 1989 “ (zusammen mit Norbert Eke). Frieder von Ammon hat 2012 bei V&R unipress einen Kongressband anlässlich des 5. Todestages von Thomas Kling mitherausgegeben 11 und kennt als ehemaliger Mitarbeiter am Literaturhaus München die aktuelle Lyrik-Szene. Dirk von Pe- tersdorff – selbst Lyriker – hat eine Anzahl grundlegender Arbeiten zur Gegen- wartsliteratur verfasst. Peter Geist, der bei Erich Schmidt das voluminöse Grund- lagenwerk „ Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts “ herausgegeben hat (zusammen mit Ursula Heukenkamp), ist einer der maßgeblichen Experten für die Geschichte der DDR-Lyrik und hat zeitweilig als Mitarbeiter des Brecht- Hauses Berlin eine große Anzahl von Veranstaltungen zusammen mit Gegen- wartslyrikern durchgeführt. Hermann Korte schließlich ist ein durch entspre- chende Publikationen breit ausgewiesener Spezialist für deutsche Lyrik seit 1945 und insbesondere für die Geschichte der Lyrik seit 1945 und auch seit der deutschen Wiedervereinigung. 8 DFG- Konferenz „Image ‒ Dialog – Experiment. Felder russischen Gegenwartsdichtung“ 2010 (vgl. Шталь / Рутц [ ред .] 2013), DFG-Konferenz in Moskau Mai 2013 mit dem Thema des vorliegenden Bandes, Konferenz im Rahmen des DFG/RGNF- Projekts zur „Typologie des Subjekts“ mit dem Thema „Grundlagen: Theorie des Subjekts und die Gegenwartsdic h- tung in Russland und Deutschland“ im November 2015 in Trier (Pub likation in Vorberei- tung). Im Juli 2016 findet die vierte internationale Konferenz in Moskau an den Instituten für Sprachwissenschaft sowie der russischen Sprache der Russischen Akademie der Wissenschaf- ten statt, das Thema lautet: „ Typen des Subjekts und ihre Darstellungsformen in der neuesten Lyrik (1990 – 2015 )“ 9 Gegenwärtig befindet sich ein Band zum Thema „ Gegenwartslyrik in Asien – Spannungs- felder und Kreuzungspunkte von Tradition und Innovation “ in Vorbereitung ( herausgegeben von Andreas Regelsberger, Christian Soffel und Henrieke Stahl). 10 Vgl. Elit (Hg., 2012). 11 Vgl. Ammon / Trilcke / Scharfschwert (Hgg., 2012). Henrieke Stahl / Hermann Korte 16 Lyrik in Zeiten der Umbrüche: Russland Die Fragestellung des vorliegenden Themenbandes begründet sich durch die Sachlage, dass der historische Umbruch von 1990 einen Transformationsprozess auslöste, der für Russland die gesamte Struktur des Literatur- und Bildungsbe- triebes grundlegend veränderte: Der bürokratische Apparat zerfiel, die staatlich verordnete Literaturdoktrin bis hin zur Zensur wurde abgeschafft und der etab- lierte Bildungskanon einschließlich der zugehörigen Forschung verlor seinen Wert. 12 Der Buchmarkt konstituierte sich mit der Beendigung staatlicher Finan- zierung der Verlage 13 von Grund auf neu: Es entstanden andere Unternehmens- formen im Verlagswesen, und nicht zuletzt die Leserschaft musste sich in prak- tischer wie ästhetischer Hinsicht grundsätzlich umorientieren. In den 1990er Jahren lebten Autoren und Leserschaften gleichsam parallel in teils isolierten, teils sich überschneidenden, zumeist aber konfligierenden „Literaturen“. Mit dem Ende der Sowjetunion wandelten sich auch notwendig die ästheti- schen Prinzipien und der Literaturbegriff – die offiziell gültige Literaturdoktrin zu Form, Sprache und Funktion wurde außer Kraft gesetzt und die inoffiziellen, der Zensur sich entziehenden Formen wurden allgemein zugänglich. Die bisher marginalisierte oder zu großen Teilen der Öffentlichkeit vorenthaltene Literatur konnte sich erstmals breit entfalten: D er sog. „Untergrund“ bzw. die „andere“ oder „zweite Kultur“ wurde legal , die russis che Exilliteratur „kehrte heim“ und nicht zuletzt konnte nun die eigene verdrängte oder ideologisch vereinnahmte russische Literaturtradition auf neue Weise gelesen werden. Aus den Archiven wurde eine große Menge unbekannter Materialien zugänglich. Auch gelangte die neuere europäische und außereuropäische Literatur einschließlich ihrer theo- retischen und wissenschaftlichen Ansätze in einer Flut von Übersetzungen nach Russland. Die russische Gegenwartsliteratur ist daher allgemein und die Gegenwartsly- rik speziell durch einen hohen Grad an Inhomogenität und Komplexität ver- schiedener Sphären der Literatur gekennzeichnet. Im Laufe der 1990er Jahre bildete sich in Russland eine heterogene, durch agonale wie dialogische Interak- tionsformen geprägte plurale Literaturlandschaft, die sich zwischen sowjeti- scher, aber auch vorsowjetischer Tradition und Rezeptionsformen der Postmo- derne aufgespannt zeigt. Diese Spaltungen stellen die Weiterentwicklung der Situation der Literatur in der Sowjetzeit dar, in welcher zwei parallele und nur punktuell interferierende „Geschichten“ der russischen Literatur seit 1930 entstanden waren: die offizielle versus inoffizielle bzw. nicht der Zensur unterstellte Literatur . Diese beiden „L i- 12 Vgl. zu den Transformationsprozessen im Einzelnen: Menzel (2001) (in der russischen Übersetzung: Менцель 2006). 13 Vgl. genauer: Menzel (2001, S. 48 ff.) / Менцель (2006, v.a. S. 36 f.). Einleitung 17 teraturen“ verfügten jede über ihre eigenen „Klassiker“ , wiesen ein spezifisches Gattungsspektrum und eigene Formen der Interaktion mit anderen Literaturen auf. Diese „Einzelgeschichten“ der Literatur zeigten sich zunächst in den 1990er Jahren und nach der Jahrtausendwende eng verknüpft mit der Generationsfra- ge 14 Heute befinden sich diese Schichten in einem Auflösungsprozess. Denn die jüngeren Autoren knüpfen gleichzeitig an unterschiedliche, auch vorsowjetische Schreibweisen an. Es herrschen singuläre und in stetem Wandel befindliche Schreibweisen vor, welche Gruppenbildung zu einem primär sozialen Phänomen ohne ästhetische Bindung machen. Hinzu kommt, dass um die Jahrtausendwen- de der Einfluss der neuen Medien Computer und Internet für die Literatur 15 so- wie eine heute zunehmend sichtbarere transkulturelle 16 Orientierung hervortra- ten. Das digitale Zeitalter und die Globalisierung prägen nicht nur die Alltags- welt des literarischen Lebens bis in die Institutionen hinein und beeinflussen die Ausdehnung wie Strukturierung der Literatur, sondern begünstigen auch die Schaffung neuer Formen, Verfahren, Funktionen und Genres. 17 Die Lyrik nimmt innerhalb dieses skizzierten Rahmens eine Schlüsselstellung ein, denn sie ist, im Unterschied vor allem zur Prosa, abgekoppelt vom kommer- 14 Hodel (2015) legt seiner Anthologie die Generationszugehörigkeit zugrunde. 15 Bereits 1995/96 wurde der „Zhurnalnyj sal“ als Plattform für die Internetvariante der „d i- cken (Literatur)Zeitschriften“ eröffnet, die Seite vavilon.ru mit einem umfangreichen Texta r- chiv entstand 1997, das livejournal / zhiwoj zhurnal verzeichnete 2001 mit g r_l seinen ersten russischen Blogger. Vgl. zu „Zhurnalnyj sal “ u.a. Literaturseiten: Костырко (2011). Vgl. zur Entstehung des Vavilon-Projekts: Кузьмин (2001). Siehe auch zum „RuNet“: Schmidt / Te u- bener / Konradova (ed., 2006) und auf Russisch: Конрадова / Тойбинер / Шмидт ( изд ., 2009). 16 Zum Begriff der transkulturellen Literatur: Iljassova-Morger (2009). 17 Vgl.: „Anfang der 2000er Jahre hat si ch die Situation des persönlichen und schöpferischen Reifens durch das massenhafte Eindringen neuer Informations- und Kommunikationstechno- logien in das Leben der Menschen verändert. Die Rede ist nicht nur von Veränderungen in der Weltanschauung und den Ver haltensweisen, [...] sondern auch von einer neuen Sozialis ati- onsform des jungen Autors [...]“ [« В начале 2000 - х гг. ситуацию личностного и творче- ского созревания изменило массовое проникновение в жизнь человека новых информа- ционных и коммуникационных технологий. Речь идет не только о переменах в миро- восприятии и поведенческих моделях (...) но и о новой форме социализации молодого автора » ] (Кузьмин 2008, S. 37). Zu den neuen Formen gehört etwa die von Wernizki erfun- dene „tanketka“ . Vgl. die Internetseite http://26.netslova.ru/; vgl. auch: Верницкий (2008); siehe genauer die Arbeiten: Schmidt (2011, S. 13 ff. zu Tanketki) und Ткаченко (2013). Durch Internetformen von Literatur wie livejournal-Blogs wurden auch neue Leser und Dich- ter gewonnen, so beispielsweise die Schülergeneration, die bereits eigene Dichterkulte gene- riert (vgl. Вера „vero4ka“ Полозкова , Wera Poloskowa, die mittlerweile auch erfolgreich in Buchform publiziert, siehe z.B. Полозкова 2013). Dem auch in Russland verbreiteten poetry slams entstammen Dichter wie Andrei Rodionow ( dazu siehe Кузьмин 2008, S . 30; vgl. au- ßerdem Маурицио 2013), Anna Russ, Gennadi Kanewski u.a.; vgl. auch Ульянов (2007). Henrieke Stahl / Hermann Korte 18 ziellen Gewinn und daher potentiell besonders offen für Risiko und Experiment. Hinzu kommt, dass die Lyrik ihren Aktions- wie Rezeptionshorizont veränderte: In den 1990ern büßte sie ihren „breiten Leser“ ein. 18 Auf den Prestigeverlust, der die Lyrik stärker als andere Gattungen betraf, reagierte sie mit Strategien zu Neupositionierung und Selbstkanonisierung (Verlagsgründungen, Klubs und Salons, Festivals, Rankings 19 , Sponsoreneinwerbung, Präsenz im Internet auch mit interaktiven Formen usw.). Es entwickelte sich, begünstigt durch den im 18. Jahrhundert angelegten, in der Romantik entfalteten und gerade in der sowjeti- schen Zeit mit ihrer literarischen ‚Doppelkultur‘ (staatlich versus illegal) neu verankerten „Literaturzentrismus“ 20 , auf neue Weise ein elitärer Diskurs in der Dichtung 21 , der in Zirkeln und sozialen Netzen und schließlich vor allem im In- ternet in lyrischer, aber auch literaturkritischer Form lebhaft geführt wird 22 . Als hochgradig reflexives Medium findet die Lyrik in Russland heute erneut bei In- tellektuellen als Lesern wie Dichtern besondere Aufmerksamkeit, was u.a. in einem neuen Aufschwung politischer Lyrik resultiert. Diese Wertschätzung fin- det Ausdruck auch in einem neuen Mäzenatentum 23 . Lyrik wird – ohne das Be- wusstsein der Sonderstellung des Ästhetischen aufzugeben bzw. gerade dank des ästhetischen Sonderstatus – als Teil sozialen, gesellschaftlichen und heute zu- 18 Dies bedeutete z.B. den breit beklagten „Verlust der Leserschaft“, d.h. den Verlust eines ‚gebildeten‘ Standardlesers, an dessen Stelle ein konsumierendes Mas senpublikum trat, und die Ausgliederung einer schmalen Schicht intellektueller Leser mit elitärem Anspruch. Vgl. dazu: Menzel (2000) sowie zur Wandlung von Schriftstellerbild und Leserschaft in Russland und der SU: Witte (1996). 19 Проект «110 к 10 с чем - то » [110 zu 10 mit etwas]: http://www.guelman.ru/slava/10/10p.htm. Siehe auch Вестстейн (2013). 20 Der Terminus geht zurück auf I. Kondakow ( Кондаков 2004, S. 232; Кондаков 2008). Vgl. zur spezifischen Rolle der Literatur in Russland seit dem 18. Jh. genauer: Лотман (1996, v.a. S. 84-123). Vgl. zur Entwicklung des russischen Dichterbildes und seinen verschiedenen Ausprägungen den Band von Sandler (ed., 1999). 21 Vgl. zur neuen ‚ Dichtung für Dichter ‘ etwa: Алехин (2006). Es ist insgesamt eine starke Intellektualisierung der Dichtung zu beobachten, indem viele Wissenschaftler zugleich als Dichter bzw. Dichter als Akademiker tätig sind (dies gilt auch für eine Reihe der an diesem Band beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler). Diesem Trend stehen jüngere Lyrikerinnen und Lyriker mit provokativ vulgären, subkulturellen oder (pseudo-)neoprimiti- vistischen Texten entgegen (vgl. z.B. hierzu: Мауриццио 2013 und den Beitrag von Gretchko in diesem Band). 22 Vgl. z.B. die Internetzeitschriften: „text only“: http://textonly.ru/titlePage/ (in der Redakti- on sind u.a. Ajsenberg, Dawydow, Kukulin, Lipovetsky), « РЕЦ »: http://polutona.ru/ (geführt von u.a. Anna Golubkowa). 23 So finanzieren sich z.B. die Poesiezeitschriften „ Arion “ und „ Wosduch “ über private Spon - soren; dies gilt auch für Literaturpreise wie die (mit 50.000$ dotierte) „Premija Poet “ und literarische Wettbewerbe wie den für den Nachwuchs vorgesehenen „Debjut“ (mit Po esie- sparte), Festivals usw. Jewgeny Stepanow fördert z.B. eine Reihe von Literaturzeitschriften und - zeitungen: z.B. „Deti Ra“, „Futurum Art“, „Sinsiver“ (siehe: http://www.futurum-art.ru). Einleitung 19 nehmend auch wieder politischen Handelns 24 begriffen und als intellektueller Freiraum geschätzt. Die skizzierte Situation bildet eine Schwierigkeit für Überblicksdarstellungen der Lyrik seit 1990 25 . In Anlehnung an die historischen Zäsuren bietet sich eine Gliederung in zwei Phasen (1990er, Neues Jahrtausend) an, deren Kohärenz in paradigmatischer Hinsicht damit aber nicht präjudiziert ist. 26 Es hat sich bisher kein übergreifender Name für diesen Zeitraum in der russischen Philologie etab- liert. Der gelegentlich anzutreffende Begriff „Bronzezeit“ 27 ist, wie Willem West- steijn ausführt 28 , in seiner zeitlichen Rahmung mehrdeutig und bezüglich seiner inhaltlichen Impl ikationen im Vergleich mit dem „Goldenen“ und „Si lbernen Zeitalter“ umstritten. Auch die Gültigkeit des Begriffs des Postmode rnismus ist problematisch sowohl für die Gattung Lyrik 29 als auch für den hier zur Diskus- sion stehenden Zeitraum, auch wenn unbestrittenerweise ganze Lyrikrichtungen oder auch nur einzelne Gedichte durchaus (noch oder wieder) Züge postmoder- nistischer Denk- und Schreibweisen zeigen. Lyrik in Zeiten der Umbrüche: Deutschland Die Aporien des Postmoderne-Etiketts gelten erst recht auch für die deutsch- sprachige Lyrik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise hat es keine vertiefte Diskussion darüber gegeben: weder unter Lyrikerinnen und Lyri- ker noch innerhalb der sich mit Gegenwartslyrik näher befassenden Literatur- wissenschaft. Doch lässt sich der Begriff noch am ehesten pragmatisch verwen- den: Er grenzt die aktuelle Lyrik insgesamt von emphatischen Moderne-Poe- tiken ab, wie sie beispielsweise noch für Paul Celan nachweisbar sind, dessen frühe Texte unmittelbar an surrealistische Traditionen anschlossen. Einer der ersten Dichter, der in der Rezeption nordamerikanischer Poesie postmoderne Denkweisen entdeckte, war Rolf Dieter Brinkmann (1940 – 1975), der einen ge- 24 So betreibt z.B. der Dichter Kirill Medvedev (siehe Hock in diesem Band) einen „ freien marxistischen Verlag “ und ist Aktivist der linken Plattform „W pered “ ([Vorwärts]; seit 2011: « Российское социалистическое движение » [Russische sozialistische Bewegung]). Vgl. den Beitrag von Lipovetsky zu Jelena Fanajlowa: Липовецкий ( 2013). Vgl. auch Meindl / Witte (2011). Vgl. zu neuerer politischer Lyrik auch: Barkovskaya (2014), Bozovic (2015), Leibov (2014), Schmid (2015, S. 368-371), Stahl (2015). 25 Rutz (2011). 26 Historische Einschnitte und Paradigmenwechsel müssen nicht koinzidieren. Vgl. hierzu Korte (2004a, S. 2 f.). 27 Vgl. Len ( Лен 1985), der zwar die Bezeichnung „Steinzeit“ bevorzugt, aber di ese mit der Zeitspanne der 1960 ‒19 80 Jahre verbindet. Vgl. zur Definition des Jahres 1960 als der Gren- ze einer neueren Dichtungsepoche: Каломиров < Кривулин > (1979). 28 Вестстейн (2013). 29 Hierzu: Рутц (2013, S. 45).