Gunnar Duttge, Wolfgang Engel, Barbara Zoll (Hg.) „Behinderung“ im Dialog zwischen Recht und Humangenetik Göttinger Schriften zum Medizinrecht Band 17 Universitätsverlag Göttingen Gunnar Duttge, Wolfgang Engel, Barbara Zoll (Hg.) „ Behinderung “ im Dialog zwischen Recht und Humangenetik This work is licensed under the Creative Commons License 3 .0 “by -sa ” erschienen als Band 17 der Reihe „Göttinger Schriften zum Medizinrecht “ im Universitätsverlag Göttingen 2014 Gunnar Duttge, Wolfgang Engel, Barbara Zoll (Hg.) „ Behinderung “ im Dialog zwischen Recht und Humangenetik Göttinger Schriften zum Medizinrecht Band 17 Universitätsverlag Göttingen 2014 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Herausgeber der Reihe Zentrum für Medizinrecht Juristische Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Volker Lipp Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den OPAC der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar. Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Satz und Layout: Leon Heyne Umschlaggestaltung: Kilian Klapp, Margo Bargheer © 2014 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-86395-150-4 ISSN: 1864-2144 Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber VII Thematische Einführung Prof. Dr. jur. Gunnar Duttge 1 Typologie aus der Perspektive der Humangenetik. Was versteht der Humangenetiker unter Behinderung? Prof. Dr. med. Tiemo Grimm 9 Therapie und Prävention von genetischen Behinderun- gen Prof. Dr. med. Klaus Zerres 17 Rechte und Ansprüche behinderter Menschen – nach geltendem Recht in der Bundesrepublik Deutschland Prof. Dr. jur. Felix Welti 35 Behinderung als soziale Konstruktion und Pränataldiag- nostik Prof. Dr. med. Jeanne Nicklas-Faust 59 Die UN-Behindertenrechtskonvention und der An- spruch behinderter Menschen auf gesellschaftliche An- erkennung – sozialethische Überlegungen zur Praxis der Pränatal- und der Präimplantationsdiagnostik Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. Sigrid Graumann 71 Behinderte Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt. Innovationspotential der UN-Behindertenrechtskon- vention für den Dialog zwischen Recht und Humange- netik Prof. Dr. phil. Marianne Hirschberg 83 Anhang 1: Übereinkommen über die Rechte von Men- schen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskon- vention – UN-BRK) mit Fakultativprotokoll 101 Anhang 2: Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) – Auszug 143 Anhang 3: Gesetz zur Gleichstellung behinderter Men- schen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) – Auszug 145 Anhang 4: Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG) – Auszug 147 Anhang 5: Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskon- fliktgesetz – SchKG) – Auszug 149 Anhang 6: Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – Auszug 151 Anhang 7: Strafgesetzbuch (StGB) – Auszug 155 Autorenverzeichnis 159 Vorwort der Herausgeber An die Humangenetik ist der gesamtgesellschaftliche Auftrag adressiert, qua zu- nehmender Mehrung des diesbezüglichen Wissens (genetisch bedingte) Krank- heitsrisiken präventiv ausfindig zu machen, damit sie sich nach Möglichkeit gar nicht erst realisieren. Im vorgeburtlichen und neuerdings pränidativen Bereich (letzteres bei künstlich befruchteten Embryonen) hat die humangenetische Dienst- leistung jedoch im Falle eines positiven Befundes zumeist tödliche Folgen. Zu- gleich betont dieselbe Gesellschaft zunehmend die Wichtigkeit, dass körperlich oder geistig gehandicapte Menschen („Behinderte“) nicht benachteiligt, sondern gerade umgekehrt in ihrer sozialen Existenz gefördert werden („Inklusion“). Es liegt auf der Hand, dass beide Anliegen tendenziell gegenläufig sind und sich nicht ohne Weiteres miteinander vereinbaren lassen. Diese Gegenläufigkeit und die hier- für maßgeblichen Gründe haben die Herausgeber dieses Bandes durch Anfragen an Experten aus dem Gebiet der Humangenetik, der Sozialwissenschaften, der Medizinethik und des Rechts näher zu ergründen versucht. Die Beiträge sind aus einem Expertenworkshop hervorgegangen, den das Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Göttingen gemeinsam mit dem Göttinger Zentrum für Medi- zinrecht im Januar 2013 veranstaltet hat. Unser Dank gilt allen Mitarbeitern/Innen, die bei der Organisation des Workshops helfend mitgewirkt haben, vor allem aber Herrn stud. iur. Leon Heyne, der sich bei der redaktionellen und organisatorischen Wegbereitung dieses Bandes verdient gemacht hat. Göttingen, im November 2013 Die Herausgeber Thematische Einführung Prof. Dr. jur. Gunnar Duttge I. Pränataldiagnostik zwischen „Nutzen“ und „Schaden“ Die kürzliche Etablierung eines neuen pränataldiagnostischen Testverfahrens zwecks nicht-invasiver Feststellung des sog. Down-Syndroms (Trisomie 21), in seinem Detektionsspektrum mittlerweile um weitere Trisomien (13 und 18) erwei- tert (vgl. Klinkhammer/Richter-Kuhlmann 2013), hat das spezifische Spannungs- feld im Dialog und Selbstverständnis von Recht, Ethik und Humangenetik noch einmal in besonderer Schärfe veranschaulicht. Aus einer kundenorientierten, ganz auf die Wünsche der Schwangeren bzw. des Paares ausgerichteten Perspektive lässt sich gegen das neue Angebot prima vista wenig einwenden: Es ist für die betroffe- nen Frauen weniger eingriffsintensiv und reduziert damit auch für das ungeborene Leben vordergründig – eingriffsbezogen – die Risiken einer evtl. Schädigung. Es liegt zudem ganz auf der Linie der schon bisher die (euphemistisch-einäugig) sog. „Mutterschaftsvorsorge“ prägenden Logik, wonach ein Mehr an Wissen (durch Pränataldiagnostik) niemals schaden, sondern nur nützen könne. Dies ist aber be- kanntlich bestenfalls die halbe Wahrheit: Denn gerade in Bezug auf das ungebore- ne Kind laufen die pränataldiagnostischen und die therapeutischen Möglichkeiten seit langem weit auseinander, so dass sich eine Erweiterung des Diagnosespekt- rums und Effektivierung der Diagnosemethoden keineswegs wie sonst im klini- schen Alltag in der Alternativenstellung zwischen (potentiellem) therapeutischem Benefit und Beibehaltung des status quo erschöpft (evtl. weitere negative Auswir- kungen durch sog. „Nocebo-Effekte seien hier ausgespart, dazu Duttge 2013a sowie zum daraus fundierten „Recht auf Nichtwissen“ bereits Duttge 2011 sowie Gunnar Duttge 2 2013b), sondern die Anknüpfungsbasis für vorsätzliches existenzvernichtendes Entscheiden (in Gestalt des sog. Schwangerschaftsabbruchs) verbreitert. Daran ändert eine womöglich hohe „Treffsicherheit“ (wichtig aus der Schädigungsper- spektive: unter Ausschluss von falsch-positiven Testergebnissen) ebenso wenig etwas wie der Umstand, dass der Anbieter des „Praena-Tests“ sicherheitshalber eine nochmalige Abklärung im Rahmen der tradierten Pränataldiagnostik empfiehlt und damit implizit vor vorschnellen Konsequenzen warnt (http://lifecodexx.com/lifecodexx-praenatest.html). Diese Schädigungsperspektive wird in der aktuellen Debatte signifikant häufig ausgeblendet, wohl weil der mühsam gefundene politische Kompromiss zum Schwangerschaftskonflikt (§§ 218 ff. StGB) qua nachdrücklich praktizierter Tabui- sierung gleichsam als ewiges „Naturgesetz“ gilt und durch Veränderungen in der pränataldiagnostischen Praxis normativ unberührt bleibt. Beschwichtigend wird zugunsten einer vermeintlichen Bewertungs-„Neutralität“ des neuen Testverfah- rens mitunter noch hinzugefügt, dass die individuelle Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch noch keineswegs determiniert sei. Dabei gilt – inzwischen hinreichend empirisch abgesichert – gerade das Down-Syndrom (nicht zuletzt vor dem Hintergrund der dabei gemeinhin zugeschriebenen „geistigen Stö- rung“, die von betroffenen Eltern nur selten toleriert wird) paradigmatisch als selbstverständliches Anwendungsfeld für einen Abbruch, wie gerade das neue Testverfahren mit seiner daher nicht überraschenden Fokussierung belegt. Deshalb äußert die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik in ihrer Stellungnahme vom 12.11.2012 mit Recht die Sorge, dass „durch die Entwicklung derartiger Diagnose- verfahren die gesellschaftliche Bewertung von erkennbaren Behinderungen und Entwicklungsstörungen beeinflusst werden könnte“. Eine quantitative wie auch konstellationsbezogene Ausweitung des Anwendungsfeldes geltender Rechtsvor- schriften lässt zwar deren aktuelle normative Geltung unberührt, vermag es jedoch, deren Legitimität zunehmend in Frage zu stellen. Dies gilt um so mehr, wenn sich jene Veränderung auf eine Fragestellung bezieht, die normativ derart umstritten ist wie die nach der Legitimität einer „embryopathischen Indikation“. Bekanntlich findet sich im geltenden Recht des Schwangerschaftsabbruchs – anders als noch bis 1995 – keine explizite Erlaubnis, vorgeblich mit Rücksicht auf den 1994 neu eingefügten Verfassungsartikel, wonach „niemand ... wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ dürfe (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG). Gleichwohl geht die nahezu einhellige Rechtsauffassung de facto von einem dahingehenden – ungeschriebenen – Rechtfertigungsgrund aus, wenngleich „nur“ als Anknüpfungspunkt für die sog. „medizinisch-soziale Indikation“ des § 218a Abs. 2 StGB (Duttge 2011b) – ein Unterschied, der in der Rechtspraxis wohl gerne übersehen oder ignoriert wird –, und kann sich darin neuerdings durch die (in ihrer Reichweite kaum absehbare) Freigabe der Präimplantationsdiagnostik (§ 3a ESchG) nachdrücklich bestätigt sehen (zur Kritik zuletzt Duttge 2013c). Somit liegt die hochgradige Ambivalenz der Pränataldiagnostik im Allgemeinen wie im Besonderen ihrer erleichterten Nutzbarmachung auf der Hand und lässt sich auch durch Ignorieren ihrer potenti- Thematische Einführung 3 ellen Schadensdimension nicht aus der Welt schaffen. Diese hat im Übrigen der Gesetzgeber zuletzt durchaus eingeräumt, indem er in § 2a SchKG (durch Gesetz v. 26.08.2009, BGBl. I 2990; eingehend zur Zielsetzung Woopen/Rummer 2009; siehe auch § 15 Abs. 3 GenDG) die ärztliche Verpflichtung zu einem sozial- psychologischen Beratungsangebot bzw. zur Vermittlung eines solchen nach Vor- liegen eines embryopathischen Befundes sowie eine dreitägige Bedenkzeit vor ärzt- licher Indikationsstellung (§ 218a Abs. 1 StGB) implementiert hat – zum Wohle der Schwangeren selbst, nicht minder aber zugleich des ungeborenen Lebens vor irreversiblen Kurzschlussentscheidungen. II. „Selektion“ versus „individueller Verantwortung“? Ihre spezifische rechtsethische Brisanz erfährt die Pränataldiagnostik (und gleich- ermaßen auch die Präimplantationsdiagnostik) jedoch erst durch die Sorge, dass hierdurch die Büchse der Pandora in Richtung einer Diskriminierung behinderten menschlichen Lebens geöffnet sein könnte. Bekanntlich zählt die (vorstaatlich verbürgte und daher nicht disponible, sondern anzuerkennende) prinzipielle Gleichwertigkeit menschlichen Lebens „ohne Ansehen der Person“ auf dem Bo- den eines je Individuum verbürgten Subjektstatus zur Essenz der Menschenwürde- garantie (Art. 1 Abs. 1 GG), die Ungleichbehandlungen allein bei Nachweis eines (hinreichend gewichtigen) sachlichen Differenzierungsgrundes unter Beachtung der in Art. 3 Abs. 2, 3 GG benannten Anknüpfungsverbote, darunter u.a. das Ver- bot der Benachteiligung Behinderter, toleriert. Art. 21 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta, der normenhierarchisch seit dem Lissaboner Vertrag der höchste Geltungsrang europäischen Primärrechts zukommt, bestätigt dieses be- hindertenspezifische Benachteiligungsverbot und ergänzt es – über das deutsche Verfassungsrecht hinausgreifend – explizit um das Verbot einer Diskriminierung „wegen der genetischen Merkmale“. Gerade die Einsicht in die besondere Miss- brauchsanfälligkeit einer Kenntniserlangung von der genetischen Ausstattung an- derer Menschen war wiederum tragendes Motiv, nicht erst die Verwertung, son- dern bereits die Gewinnung genetischer Daten spezifischen Rechtsregeln (in Ge- stalt des GenDG v. 31.7.2009, BGBl. I 2529; zum Für und Wider des „genetischen Exzeptionalismus“ näher Duttge 2013d) zu unterwerfen. Daher kann es nicht überraschen, dass diese gewachsene Sensibilität zunehmend auch die Pränataldiag- nostik in den Fokus rücken lässt als eine Methode, die manchen vor dem Hinter- grund der jüngsten Entwicklungen mehr und mehr als eine solche der „genetischen Selektion“ gilt (z.B. Nagel, zit. nach DÄBl. v. 10.12.2012). Der Behindertenbeauf- tragte der Bundesregierung spricht angesichts der expandierenden Tendenz des neuen Testverfahrens davon, dass das „Fahndungsnetz“ absehbar immer engma- schiger werde dürfte (Hüppe, FAZ v. 20.08.2012). Der Deutsche Ethikrat hat freilich in seiner jüngsten Stellungnahme zur „Zu- kunft der genetischen Diagnostik“ (April 2013) mehrheitlich keine grundsätzlich Gunnar Duttge 4 ablehnende Position formuliert, sondern lediglich „besondere Herausforderungen“ hinsichtlich einer die psychische Situation der Schwangeren einfühlsam in den Blick nehmenden Aufklärung und Beratung gesehen. Damit eine evtl. Inanspruch- nahme des „Praena-Tests“ schon vor der 12. Schwangerschaftswoche (wie in den USA angeboten) nicht dazu führe, dass Schwangere sich ohne Feststellung einer Indikation ad hoc zum Abbruch entschlössen, bedürfe es (keines strikten – wenigs- tens insoweit limitierten – Verbots, sondern) allenfalls eines „über die Pflichtbera- tung nach § 218a Abs. 1 StGB hinausgehenden Schutzkonzepts“ (soweit nicht bereits das Beratungsangebot nach § 2a SchKG ausreiche, Deutscher Ethikrat 2013: S. 180). Zudem sei die Akzeptabilität auch nicht-invasiver Pränataldiagnostik daran geknüpft, dass ähnlich wie bislang schon bei der Chorionzotten-Biopsie und der Amniozentese ein „erhöhtes Risiko für eine genetisch bedingte Erkrankung oder Fehlbildung“ vorliege (Deutscher Ethikrat 2013: S. 179). Die letztgenannte Einschränkung mag man prima vista als pragmatischen Kompromiss deuten (auch wenn es der postulierten Vergleichbarkeit mit den tradierten Methoden in Bezug auf die dort relevante körperbezogene Schutzbedürftigkeit der Schwangeren an der nötigen Überzeugungskraft fehlt); im Ganzen ist die Mehrheitsposition des Deut- schen Ethikrates offensichtlich von dem Leitgedanken getragen, dass die Inan- spruchnahme pränataldiagnostischer Optionen letztlich in die Alleinverantwortung der Schwangeren bzw. des Paares falle und die gesamtgesellschaftliche Verantwor- tung gegenüber Behinderten sich im „Ausbau von leicht zugänglichen Beratungs- und Erziehungsmaßnahmen“ zugunsten von behinderten Kindern sowie darin erschöpfen dürfe, dass im Kontext einer Schwangerschaft auch die „Nichtinan- spruchnahme der Diagnostik sowie die Möglichkeit, den Umfang der mitzuteilen- den Informationen einzuschränken, als verantwortliche Optionen zu erwähnen“ seien (S. 178 f.). Rätselhaft ist, wie sich der angemahnte „Einstellungswandel gegenüber Men- schen mit Behinderung“ (ebd.) eigentlich realisieren lassen soll, wenn es de jure letztlich bei der allein individuell „verantworteten“, geschädigtes Leben ggf. abwer- tenden und äußerstenfalls existenzzerstörend exkludierenden Entscheidung bleiben soll. Immerhin ist es doch nicht zuletzt Aufgabe auch des Rechts, im Grundsatz allgemein geteilte Wertprinzipien wie die fundamentale Gleichwertigkeit menschli- chen Lebens in den verschiedensten sozial relevanten Lebensbereichen auszubuch- stabieren und gesellschaftlich unerwünschtes, diskriminierendes Verhalten notfalls zu untersagen. Gewiss ist in Bezug auf die „Mutterschaftsvorsorge“ anzuerkennen, dass die Schwangere wohl so gut wie nie von einer Art „Diskriminierungsabsicht“ motiviert sein wird, sondern ihre Intention allein auf eine beruhigende Abklärung gerichtet ist, dass der Fötus gesund ist; im Falle eines positiven Befundes mündet jedoch die Diagnose „geschädigt“ unvermittelt und unausweichlich in einen di- lemmatischen Gewissenskonflikt, ob die zunächst meist fraglose „Annahme“ des entstehenden Kindes auch unter diesen Umständen noch aufrechterhalten werden soll oder nicht – und jede Entscheidung, die ein Weiterlebendürfen dezidiert von dem Faktum einer (genetisch bedingten) „Behinderung“ abhängig macht, ist im Thematische Einführung 5 Lichte der grundsätzlich (bis zur Grenze tatsächlicher Unzumutbarkeit) gebotenen Annahme des Kindes ebenso fragwürdig wie etwa eine Haltung, die dem Hilfsbe- dürftigen notwendigen Beistand deshalb verweigern will, weil er keine weiße, son- dern eine schwarze Hautfarbe hat. Zwar ist das individuelle Votum gegen ein (schwer) geschädigtes Kind selbst dann, wenn dies allein aufgrund dieses Umstands hin ergangen ist („embryopathi- sche Indikation“), vom Bundesverfassungsgericht erstaunlicherweise – freilich ohne jedwede Vertiefung – unbeanstandet belassen worden (BVerfGE 88, 203, 257), mutmaßlich in der Annahme, dass eine derartige Situation per se und genera- liter eine Unzumutbarkeit begründe. Weil sich diese pauschale Annahme aber kaum in allen Fällen als begründet erweisen dürfte – sonst bedürfte es im Übrigen des Ausweises eines gesonderten Abbruchgrundes neben der ohnehin anerkannten „medizinischen Indikation“ gar nicht –, steht das dezidierte Anknüpfen der Ab- bruchsentscheidung am Faktum der kindlichen Schädigung unweigerlich im Ver- dacht, die verfassungsrechtlich vorgegebene Wertentscheidung der gesamten Rechtsgemeinschaft zugunsten einer Gleichbehandlung, wenn nicht sogar Gleich- stellung Behinderter zu missachten. Hiergegen ist insbesondere von Taupitz ein- gewandt worden, dass zum einen die Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch auf ungeborenes Leben in der Verfassungsrechtslehre höchst umstritten sei und überdies in der individuellen Entscheidung der Schwangeren niemals ein (ggf. diskriminierendes) Werturteil über andere Menschen liege (Vortrag und Diskussi- onsbeitrag anlässlich des Leopoldina-Gesprächs vom 16./17.2.2013, zit. nach Propping/Schott 2013, S. 56 f.). Letzteres dürfte schon lebensweltlich in dieser Pauschalität – im Lichte des gesamtgesellschaftlich längst spürbaren Bestrebens nach physischer wie psychischer „Optimierung“ des Menschens – eine simplifizie- rende Annahme sein, bei allem Respekt gegenüber dem Faktum verantwortungs- bewusster Einzelfallentscheidungen in höchst schwieriger, belastenden Lage; da- rauf kommt es aber gar nicht an, denn es entspricht doch dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Auftrag an die Rechtsgemeinschaft, sich schützend vor behindertes Leben zu stellen, das allein der Behinderung wegen benachteiligt oder gar getötet wird (insoweit zutreffend Gärditz 2012, S. 5 f.; siehe auch BVerfGE 96, 288, 304; 99, 341, 356 f.). Und dieser Auftrag resultiert, unabhängig vom personellen An- wendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, bereits aus der Menschenwürdegaran- tie des Art. 1 Abs. 1 GG. Es verfehlt daher von vornherein den entscheidenden Aspekt, wer allein auf die (tatsächliche oder vermeintliche) Motivation der Indivi- duen, nicht aber auf die rechtlichen Rahmenbedingungen blickt, die von der Rechtsgemeinschaft verantwortet werden müssen. Wenn jene die fundamentale Gleichheit menschlichen Lebens missachten, verletzen sie das Diskriminierungs- verbot – unabhängig von der jeweiligen Intention konkret handelnder Individuen, die von einem Handlungsraum Gebrauch machen, den es insoweit gar nicht geben dürfte. Gunnar Duttge 6 III. Auf dem Weg zu einem konsistenten Selbstverständnis... Die viel zitierte „Einheit der Rechtsordnung“ verbürgt nicht etwa nur die Bere- chenbarkeit und Voraussehbarkeit des Rechts, sondern zugleich die Hoffnung auf eine „gerechte“ Rahmenordnung: Dort, wo sich Regelungen oder Regelungsberei- che nicht widerspruchsfrei zusammen denken lassen, beginnt das Reich der Will- kür, in welchem die Angemessenheit menschlichen Verhaltens und Entscheidens allenfalls das Resultat eines seltenen Zufalls, nicht aber guter Gründe sein kann. Wenn das geltende Recht auf der einen Seite das Anliegen der Inklusion behinder- ter Menschen endlich ernst nehmen will, nicht zuletzt in Erfüllung jener sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergebenden Verpflichtungen, jedoch auf der anderen Seite die Exklusion Ungeborener allein aufgrund ihrer (mutmaßlichen) Schädigung toleriert, haftet ihm das Signum eklatanter Wertungswidersprüchlich- keit an – sofern man ungeborenem Leben nicht bloß den „Wert“ einer dem Belie- ben anderer unterworfenen Sache zuschreiben will, sondern als Teil der Mensch- heitsfamilie betrachtet. Dieser Bruch in der Konkretisierung der an sich ganz un- streitigen Wertebasis zwingt auch die Humangenetik in ein widersprüchliches Selbstverständnis: sich einerseits mit Nachdruck von einer lebensfeindlichen Eu- genik zu distanzieren und andererseits gleichwohl individuellem Entscheidungs- verhalten Vorschub leisten zu müssen, das letztlich die gezielte Tötung eines im Werden begriffenen Menschens zur Folge hat. Mit Blick auf ihren Untersuchungs- auftrag müsste es ihr in der Tat merkwürdig vorkommen, mehr oder weniger leicht gewinnbare Informationen absichtsvoll nicht zu erheben oder den betroffenen Paaren oder Frauen bereits vorhandene Informationen entgegen deren „Recht auf Wissen“ (dazu Hufen 2013, S. 23 f.) vorzuenthalten; damit ist freilich über deren normativen Handlungsspielraum noch nichts entschieden. Die Grenzen angemes- senen Verhaltens werden nicht durch die technischen Möglichkeiten gezogen, sondern am Ende einer Selbstvergewisserung der Gesellschaft, was sie zu tolerie- ren (nicht) bereit ist. Eine solche wird freilich allenfalls dann gelingen, wenn einst nicht mehr Tabus, sondern die ergebnisoffene Suche nach allseits vernünftig er- scheinenden Lösungen die innergesellschaftliche und insbesondere rechtspolitische Debatte leiten wird. Literatur Deutsche Gesellschaft für Humangenetik (2013): Stellungnahme zur Analyse fetaler DNA aus dem mütterlichen Blut vom 12.11.2012, http://www.gfhev.de/de/leitlinien/LL_und_Stellungnahmen/2012_11_12_G fH_Stellungnahme_Analyse_fetale_DNA.pdf [Zugriff am 16.10.2013]. Thematische Einführung 7 Deutscher Ethikrat (2013): Stellungnahme: Die Zukunft der genetischen Diagnostik – von der Forschung in die klinische Anwendung, http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-zukunft-der- genetischen-diagnostik.pdf [Zugriff am 16.10.2013]. Duttge, Gunnar (2011): The Right to Ignorance in Medicine. In Duttge/Lee (Hrsg.), The Law in the Information and Risk society, Göttingen: Universitätsverlag (Göttinger Juristische Schriften Bd. 10), S. 41-48. Duttge, Gunnar (2012): Kommentierung der §§ 218 ff. StGB. In: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2. Aufl., Köln: Luchterhand. Duttge, Gunnar (2013a): Begrenzung der ärztlichen Aufklärungspflicht aus therapeutischen Gründen? Renaissance eines alten Themas im neuen Patientenrechtegesetz. In: Jehle/Yamanaka (Hrsg.), Präventive Tendenzen in Staat und Gesellschaft zwischen Sicherheit und Freiheit, Göttingen: Universitätsverlag (im Erscheinen). Duttge, Gunnar (2013b): Rechtlich-normative Implikationen des Rechts auf Nichtwissen in der Medizin. In: Wehling (Hrsg.), Vom Nutzen des Nichtwissens. Interdisziplinäre Perspektiven und Deutungen [im Erscheinen]. Duttge, Gunnar (2013c): Wider den prinzipienvergessenen Zeitgeist bei der rechtsethischen Bewertung der Präimplantationsdiagnostik. In: ZStW 125 [im Erscheinen]. Duttge, Gunnar (2013d): Die Schutzbedürftigkeit genetischer Daten – der genetische Exzeptionalismus. In: Hakeri/Rosenau (Hrsg.), Gendiagnostik und Recht [im Erscheinen] Gärditz, Klaus Ferdinand (2012): Gutachtliche Stellungnahme zur Zulässigkeit des Diagnostikprodukts „PraenaTest“, http://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Pra enaTest.pdf?__blob=publicationFile [Zugriff am 16.10.2013]. Hufen, Friedhelm (2013): Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung frühzeitiger pränataler Diagnostik, http://lifecodexx.com/fileadmin/lifecodexx/pdf/Rechtsgutachten/Zur_verfa ssungsrechtlichen_Beurteilung_fruehzeitiger_praenataler_Diagnostik_Friedhel m_Hufen.pdf [Zugriff am 16.10.2013]. Klinkhammer, Gisela/Richter-Kuhlmann, Eva A. (2013): Praenatest: Kleiner Test, große Wirkung. In: Deutsches Ärzteblatt 110: A-166-168. Propping, Peter/Schott, Heinz (2013): Auf dem Wege zur perfekten Rationalisierung der Fortpflanzung? Perspektiven der neuesten genetischen Diagnostik. Dokumentation des Leopoldina-Gesprächs am 16. und 17. Februar 2013 in Halle [im Erscheinen]. Gunnar Duttge 8 Woopen, Christiane/Rummer, Anne (2009): Beratung im Kontext von Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch. In: Medizinrecht 27, S. 130- 138. Typologie aus der Perspektive der Humangenetik. Was versteht der Humangenetiker unter Behinderung? Prof. Dr. med. Tiemo Grimm I. Grundlagen der Humangenetik Im Jahr 1859 schrieb Charles Darwin (1809-1882) „Die Gesetze der Vererbung sind größtenteils unbekannt“. Einige Jahre später, 1866, hat Gregor Johann Men- del (1822-1884) zwei wichtige methodische Ansätze der Genetik in seinem Werk „Versuche über Pflanzen-Hybriden“ benutzt, einmal die Wahl von klar gegenei- nander abgrenzbaren Merkmalen bei den Erbsen und zum anderen die Anwen- dung statistischer Methoden bei der Auswertung seiner Versuche. Mit Hilfe seiner Kreuzungsexperimente an Erbsen konnte Mendel (1866) zeigen, dass Eigenschaf- ten nach festen Regeln von Generation zu Generation weitergegeben werden. Heute weiß man, dass nicht die Eigenschaften oder Erbkrankheiten (= Phänotyp) von den Eltern an die Kinder vererbt werden, sondern die Erbanlagen, die seit 1909 Gene genannt werden. Durch Mutationen können verschiedene Varianten eines Gens entstehen, die man als Allele bezeichnet. Solche Varianten können Ursache sowohl normaler Phänotypen (= Normvarianten) als auch pathologischer Phänotypen (= Erbkrankheiten) sein. Allerdings ist das alte Dogma „ein Gen – ein Protein – eine Erbkrankheit“ überholt. Es gibt inzwischen genügend Beispiele Tiemo Grimm 10 dafür, dass unterschiedliche Mutationen zur gleichen Erbkrankheit führen oder dass Mutationen in einem Gen unterschiedliche Erbkrankheiten verursachen kön- nen. Der Name Genetik wurde zuerst 1906 von dem englischen Biologen William Batseon (1861-1926) geprägt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts legten Hugo de Vries (1848-1935), Carl Erich Correns (1864-1933) und Erich von Tschermak- Seysenegg (1871-1962) die heute noch allgemeingültigen Vererbungsregeln fest, die bereits in der Arbeit von Mendel praktisch enthalten waren und daher ehrenhalber seinen Namen erhielten. Die Bedeutung der Humangenetik als klinisches Fach entwickelte sich in den 1960er Jahren mit der Entdeckung von Chromosomena- nomalien als Ursachen von Fehlbildungen (z.B. Trisomie 21 als Ursache des Down-Syndroms, Lejeune et al. 1959). Seit 1970 erlaubt die Technik der Chromo- somenbänderung die genaue Identifizierung aller menschlichen Chromosomen. Unzählige chromosomale Anomalien wurden inzwischen als Ursache von Fehlbil- dungssyndromen entdeckt. Mit der Einführung molekulargenetischer Methoden in den 1970er Jahren begann eine revolutionäre Entwicklung in der Humangenetik und in der gesamten Medizin. Das Kerngenom besteht aus ca. drei Milliarden Basenpaaren; etwa 25.000 Ge- ne sind im Genom verteilt, die für Proteine kodieren. Die kodierenden Sequenzen (cDNA) machen jedoch nur einen geringen Anteil des Gesamtgenoms aus. In den Mitochondrien befindet sich zusätzlich ein extrachromosomales Genom, das eine Länge von 16,6 Kilo-Basenpaaren aufweist. Es wird nur maternal vererbt. Im Jahr 2000 erfolgte die Sequenzierung des gesamten menschlichen Genoms (Lander et al. 2001; Venter et al. 2001). Viele Krankheiten, die eine genetische Ursache haben, sind in den letzten Jahr- zehnten beschrieben worden. Victor McKusick von der Johns Hopkins Universität in Baltimore begründete 1966 den Katalog monogen vererbter Merkmale des Men- schen (Mendelian inheritance in man, MIM). Während in der ersten Auflage 1.487 Erbkrankheiten mit einem monogenen Erbgang aufgeführt werden, sind heute bereits über 20.000 Eintragungen vorhanden. Dieser Katalog wird von einem Her- ausgebergremium ständig aktualisiert und steht über das internationale Datennetz jedem Anwender zur Verfügung (http://www3.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/). Neben diesen monogen vererbten Krankheiten gibt es eine große Anzahl von Normvarianten und pathologischen Merkmalen, die nicht durch ein einziges Gen, sondern durch mehrere Gene und Umweltfaktoren bedingt sind (multifaktorielle bzw. komplexe Vererbung; z. B. Körpergröße, Intelligenz, Psychosen, viele For- men der Epilepsie, Herzfehler, Lippenkiefer-Gaumen-Spalten, Hüftluxation). Der Begriff „Mutation“ wurde 1901 von de Vries geprägt. Mit Hilfe molekulargeneti- scher Analysen konnten für viele Krankheiten, deren Gene bekannt sind, Mutatio- nen identifiziert werden. Die Mutationsraten liegen in der Größenordnung von 1 auf 10.000 bis 1.000.000 je Gen-Ort und Generation.