Ottmar Ette ReiseSchreiben Ottmar Ette ReiseSchreiben Potsdamer Vorlesungen zur Reiseliteratur ISBN 978-3-11-065310-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065068-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065070-9 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommericial- NoDerivatives 4.0 Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Library of Congress Control Number: 2019944156 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Ottmar Ette, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Coverabbildung: Lorenzo Costa, „ La spedizione degli argonauti “ (1484 – 1490), © Musei Civici agli Eremitani, Padova www.degruyter.com Für unsere Familie und die Freuden des gemeinsamen Reisens Vorwort Lehre und Forschung, Forschung und Lehre sind eng miteinander verklammert. Die heute vorzulegenden Vorlesungen sind daher Ausdruck dieses Prozesses der Wechselwirkungen, aber sie moderieren und modellieren ihn zugleich. Das gesprochene Wort sowie die physische Präsenz und Interaktion im Raum ver- mögen sie zwar nicht wiederzugeben, doch bieten sie das Vorlesungsmanu- skript, das die Grundlage jeden Sprechens war. Mit der Veröffentlichung dieser Vorlesungen verbinde ich die Hoffnung, dass nicht zuletzt die Freude, die Lust an den Vorlesungen auf diesen Seiten erkennbar wird. Kolloquia und Seminare sind aus meiner Sicht sehr wichtige akademische Veranstaltungsformen; doch in der Vorlesung besteht die Auf- gabe darin, die Perspektiven zusammenzuführen und ineinander zu reflektie- ren. Das kubistische Gemälde, welches daraus entsteht, sollte dabei stets offen und verständlich bleiben, ohne die Studierenden zu unterfordern. Ob dies ge- lungen ist, vermag nur das Lesepublikum zu entscheiden. Der Band ist das Ergebnis dreier Vorlesungszyklen zur Reiseliteratur, die ich an der Universität Potsdam 2002/03, 2012 sowie 2018/19 durchgeführt habe. Dabei wurden jeweils eigene Akzente gesetzt, die in der vorliegenden Fassung zusammengeführt wurden. Diese Fassung bildete die Grundlage, wenn auch noch nicht den Schlusspunkt für die erwähnte dritte und letzte Vorlesung zu den Beziehungen zwischen Reisen und Schreiben. Die Zitate in den ersten bei- den Teilen des Bandes wurden von mir ins Deutsche übersetzt, für den histori- schen dritten Teil habe ich mich dafür entschieden, die Texte der Leserin und dem Leser im französischen, spanischen und englischen Original zur Verfü- gung zu stellen. Meine Frau Doris hat den Impuls für die Veröffentlichung meiner Vorle- sungsskripte gegeben. Ihr gilt mein tiefster Dank: Ohne sie hätte es diesen Band niemals gegeben. Ich danke Markus Alexander Lenz für die kluge redak- tionelle Bearbeitung der in diesem Band vereinigten Texte: Ohne ihn wäre die- ser Band niemals in seiner konkreten Form zum Abschluss gekommen. Mein Dank gilt Pauline Barral für die Illustrationen sowie den Assistentinnen und As- sistenten, welche an der Entstehung der ersten Vorlesungen mitgewirkt haben. Es war eine lange gemeinsame Reise. Und schließlich danke ich den glückli- cherweise so unterschiedlichen Generationen von Studierenden an der Univer- sität Potsdam: Ihre Fragen und Anregungen habe ich einzuarbeiten versucht und zugleich viel von ihnen über die Jahre gelernt. Ottmar Ette Potsdam, im Sommer 2019 Open Access. © 2020 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommericial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110650686-201 Inhaltsverzeichnis Vorwort VII Zur Einführung 1 Hape Kerkeling und sein Band „ Ich bin dann mal weg. “ 3 Teil I: Allgemeines Hauptstück. Annäherung an den (literarischen) Reisebericht Wie man von der Totalität der Welt erzählt 19 Kartenwelten: Von Kontinenten und Archipelen 35 Juan de la Cosas Weltkarte: Finden – Erfinden – Erleben 57 Itinerarium, Netzwerk und Bewegung 70 Teil II: Systematisches Hauptstück. Der literarische Reisebericht in seinen Dimensionen und Figuren Die Dimensionen des Reiseberichts 103 Reisen / Schreiben 131 Diktion, Fiktion: Friktion 141 Die Orte des literarischen Reiseberichts: Abschied – Höhepunkt – Ankunft – Abreise vom Ziel – Rückkunft 150 Erstens: Der Abschied 152 Zweitens: Der Höhepunkt 159 Drittens: Die Ankunft 185 Viertens: Abreise vom Zielort 189 Fünftens: Die Rückkunft 191 Hermeneutische Bewegungsfiguren des Reiseberichts: Kreis – Pendel – Linie – Stern – Springen 194 Erstens: Der Kreis 196 Zweitens: Das Pendeln 207 Drittens: Die Linie 210 Viertens: Der Stern 216 Fünftens: Das Springen 222 Ende und Zukunft des Reiseberichts: ein Reisebericht ohne Reise? 236 Teil III: Historisches Hauptstück. Literarische Untersuchungen und Querschnitte Cristóbal Colón alias Christoph Columbus und der erste europäische Blick auf die Neue Welt 255 Hans Staden oder das Leben an den Rändern einer sich globalisierenden Welt 297 Alvar Núñez Cabeza de Vaca oder der fortgesetzte Schiffbruch 309 Johannes Leo Africanus alias al-Hassan al-Wazzan 319 Giacomo Casanova oder das Europa der Liebe 341 Charles-Marie de La Condamine oder die Erde als ausgebeulte Kugel 368 Antoine-Joseph Pernety, Cornelius de Pauw und die Berliner Debatte um die Neue Welt 396 Georg Forster oder die Reise um die Welt 438 Alexander von Humboldt oder die Suche nach dem Ganzen 458 Reisen nach Brasilien auf den Spuren Humboldts 497 Ida Pfeiffer oder die Eroberung der Frauenreise 510 X Inhaltsverzeichnis Fredrika Bremer oder die Tropen zwischen Paradies und Hölle 528 Flora Tristan oder die Wallfahrten einer Ausgestoßenen 543 Johann Moritz Rugendas oder die Malerei auf Reisen 556 Lafcadio Hearn oder die Welt als Archipel 562 Claude Lévi-Strauss oder das Reisen nach dem Ende der Reisen 571 Roland Barthes oder der Reisebericht ohne Reise 582 Jean Baudrillard und das Verschwinden Europas 609 Arnold Stadler und die Reise nach Feuerland 628 Edouard Glissant oder eine Reiseliteratur ohne Reisenden 646 Abbildungsverzeichnis 662 Inhaltsverzeichnis XI Zur Einführung Die Reiseliteratur, die als Genre bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhun- derts als weitgehend marginal galt und bestenfalls dokumentarisch oder fak- tenorientiert sozialwissenschaftlich „ ausgewertet “ und gelesen wurde, gehört heute zweifellos zu jenen literarischen Schreib-, Erlebens-, Erfahrungs- und Vermittlungsformen, in denen sich am eindringlichsten die Probleme der (eu- ropäischen) Moderne, aber auch die aktuellen (inter-, multi- und transkultu- rellen) Herausforderungen, Erfahrungsmodi, Projektionen und Sehnsüchte ihrer Leserinnen und Leser reflektieren beziehungsweise reflektieren lassen. Die hier vorgelegten Potsdamer Vorlesungen zur Reiseliteratur fragen nach den kulturellen, historischen, ökonomischen, sozialen und politischen Hin- tergründen des Reisens, nach der Entwicklung der Gattung seit der frühen Neuzeit (und insbesondere seit dem 18. Jahrhunderts), nach den Strukturen und Strukturierungen der reiseliterarisch dargestellten hermeneutischen Be- wegungen, aber auch nach ihren impliziten und expliziten Figuren von Rei- senden und Lesenden. Im Zentrum der Vorlesung stehen französisch-, spanisch- und italienischsprachige Reisen(de), aber auch deutschsprachige wie englischsprachige Texte seit der Frühen Neuzeit sowie neueste reiselitera- rische Ausdrucksformen des ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhunderts. Kartographien und mental maps gilt unsere spezielle Auf- merksamkeit. Sagt uns die Reiseliteratur, wohin die Reise unserer Literaturen, ja unserer Gesellschaften geht? An diesem Auftakt unserer Vorlesung möchte ich Ihnen zunächst ganz kurz den Aufbau und die Anordnung der nachfolgenden Vorlesungen vorstel- len und erläutern. Sie ordnet sich – wie das bei wohlerzogenen französischen Wissenschaftlern immer der Fall ist – in drei Teile, ganz comme il faut . Diesen drei Teilen ist ein kleines Vorspiel vorgeschaltet, das Ihnen einige Elemente meiner konzeptionellen Herangehensweise vor Augen führen und zugleich ganz leicht, vielleicht auch etwas verspielt, den Blätterwald eröffnen soll, durch den wir uns bewegen werden und der sich uns entgegenstellt. Lassen Sie uns also in das dichte Geflecht der Reiseberichte lustvoll und beispielhaft eindringen! Wir werden uns mit einer großen Zahl an reiseliterarischen Texten ausein- andersetzen. Dabei soll unser Schwerpunkt jedoch nicht auf einer ohnedies nicht zu erreichenden Vollständigkeit liegen, sondern auf einer exemplarischen Repräsentativität, die wir nach Möglichkeit theoretisch durchdringen wollen. Reiseliteratur ist ein Sonderfall von Literatur, der uns Auskünfte über die Ent- wicklungen der Literaturen der Welt insgesamt liefern soll. Es wird daher nicht Open Access. © 2020 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommericial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110650686-001 an Ausblicken über diese Literaturen insgesamt, wie auch – so hoffe ich – an Einblicken und vor allem Einsichten fehlen. Reiseliterarische Texte erzählen uns viel über die jeweils bereisten Länder und Regionen, aber auch über die Herkunftsgesellschaften derer, die sich auf den Weg gemacht haben. Nach diesem Vorspiel zur Einführung beginnen wir mit einem Allgemeinen Teil, der uns anhand unterschiedlicher Exempla Einblicke in die Grundpro- bleme der Behandlung von und Auseinandersetzung mit Reiseliteratur vor Augen führen soll, setzen unseren Weg durch die Reiseliteratur dann mit einem zweiten Teil fort, den ich den schematischen Teil nennen möchte und der das Einleitungskapitel meines Bandes Literatur in Bewegung stark modifiziert, um schließlich in einem Dritten Teil historische Studien in einer Abfolge zu betrei- ben, die insgesamt chronologisch angeordnet ist und von der Frühen Neuzeit bis hinein in die Gegenwartsliteraturen unserer Tage reicht. Dies also ist unser dreigestaltiges Programm! Ich hoffe, Sie haben viel Spaß auf unserer gemeinsa- men Reise! Im ersten Vorlesungszyklus beginnen wir mit der allgemeinen Einführung in einige grundlegende Betrachtungen zur Reiseliteratur. Diese Betrachtungen gehen von der Reiseliteratur (insbesondere der ersten Phase beschleunigter Globalisierung) aus, verbinden dies aber immer mit allgemeinen Fragestellun- gen zu den Literaturen der Welt. Topographische Karten und andere Visuali- sierungen von Bewegungen werden hierbei eine wichtige Rolle spielen, die uns zu allgemeinen Einsichten in die Grundlagen und Mechanismen von Rei- seliteratur führen werden. Wir erarbeiten uns danach dann den zweiten, den schematischen Teil, anhand von verschiedenen Beispielen, die vorwiegend, aber nicht ausschließlich aus der zweiten Phase beschleunigter Globalisie- rung stammen. Am Ende dieses zweiten Teiles wird es um die Frage gehen, ob wir heute, in unserer Zeit, an ein Ende der Reisen und des Reiseberichts gelangt sind und wie die Antworten auf diese Herausforderung um die Mitte des 20. Jahrhunderts und später aussehen. Danach folgt schließlich der dritte Teil der Vorlesungen, der mit historischen Beispielen beginnt und von Cristóbal Colón eröffnet wird. Denn mit dieser Reise begann ein Zyklus nicht nur des Reiseberichts, sondern vor allem der global history überhaupt: ein Zyklus, an dessen Ausgang wir heute möglicherweise stehen. An eben dieser Nahtstelle nicht nur der europä- ischen Geschichte, sondern der Globalgeschichte oder der Weltgeschichte, wie man früher sagte, möchte ich den historischen Teil unserer Vorlesung aufgrei- fen und durch die Jahrhunderte beispielhaft verfolgen. So, dies ist also im Groben unser Reiseprogramm – Ihren Reiseleiter ken- nen Sie ja schon. Der steht Ihnen auch am Ende jeder einzelnen Vorlesung für 2 Zur Einführung Fragen aller Art bereit. Unsere Reise ist mit einem Rundum-sorglos-Paket aus- gestattet: Bitte machen Sie davon Gebrauch! Vor dem eigentlichen Beginn unserer Reise aber ist es aus konzeptionel- len, aber gewiss auch aus didaktischen Gründen mein Ziel, eine allgemeine Einführung an einem konkreten Beispiel zu entwickeln, das Sie vielleicht ver- blüffen, vielleicht aber auch amüsieren wird. In jedem Falle soll uns dieses Beispiel dazu dienen, allgemeine Fragestellungen terminologischer und theo- retisch-epistemologischer Art an den Gegenstand der Reiseliteratur heranzu- tragen und in einem ganz konkreten, grundlegenden Sinne zu diskutieren. Nun also unser erstes Exemplum, eine vorgeschaltete Einführung in die The- matik der Reiseliteratur anhand eines Beispiels aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hape Kerkeling und sein Band „ Ich bin dann mal weg. “ Es mag Sie vielleicht ein wenig verwundern, dass ich einen Text als Einstieg in diese Vorlesung wähle, der sicherlich nicht von einem der großen Autoren des 21. Jahrhunderts stammt. Es ist das Beispiel einer Reiseliteratur, die von einem Schriftsteller herrührt, der schlicht gar keiner ist und den – ich zögere an dieser Stelle, weil man ja nie weiß, ob man nicht doch einen so bekannten Menschen irgendwann in der Flimmerkiste erlebt hat – noch niemals in ir- gendeiner seiner Shows oder seiner Auftritte bewusst gesehen habe und der mir eigentlich nur als Name bekannt war: Hape Kerkeling. Hans-Peter Kerke- ling ist 1964 in Recklinghausen geboren und wurde als Entertainer, Moderator und Kabarettist unter anderem ausgezeichnet mit der Goldenen Kamera, dem Bambi, dem Adolf-Grimme-Preis, dem Deutschen Comedy-Preis und dem Deutschen fernsehpreis, und damit wissen Sie, dass der in Düsseldorf und Berlin lebende Künstler ein Mann des Fernsehens und der hohen Einschalt- quoten ist. Und Einschaltquoten hatte Hape Kerkeling auch mit seinem Band Ich bin dann mal weg: Meine Reise auf dem Jakobsweg , der 2006 erstmals im Piper Ver- lag erschien und mir in der neunzehnten Auflage im Taschenbuch aus dem Jahre 2012 vorliegt. 1 Sie sehen: Ich habe mir den Band gerade erst gekauft. Und der Band verkauft sich wahrlich gut. 1 Vgl. Kerkeling, Hape: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg . München: Piper 2009. Hape Kerkeling und sein Band „ Ich bin dann mal weg. “ 3 Zunächst jedoch muss ich Ihnen etwas gestehen: Auf meinen eigenen Reisen lese ich nicht am liebsten Bachelorarbeiten, Masterarbeiten oder Magisterarbei- ten, auch keine Dissertationen oder Habilitationsschriften. Denn auf meinen ei- genen Reisen lese ich am liebsten – aber das ist meist ein Luxus – Reiseliteratur. Das Wunderbare daran: Eine Reise überlagert sich einer anderen, die beiden oder mehreren reisen verwickeln sich ineinander, die eine Reisebewegung gibt der anderen so etwas wie Impulse, Anstöße und empfängt umgekehrt auch wieder Anregungen von der anderen. Es ist ein Gewirr von Pfaden, die sich aufteilen, ein jardín de senderos que se bifurcan , wie Jorge Luis Borges sagen würde. Ich habe es immer als eine Intensivierung meiner eigenen Reisen empfun- den, während der Reisen zu lesen beziehungsweise zu hören, also eine Art Ver- doppelung und Vervielfachung der Reise in der Reise in der Reise zu unternehmen. Dies ist Genuss pur. Ich komme eigentlich gerade erst von einer kleinen Reise durch Argentinien zurück, die mich nach Buenos Aires, in den Norden Argentiniens und in die Hochanden geführt hat, und auf einem Teil die- ser Reise habe ich den Band von Hape Kerkeling gelesen, von dem ich eigent- lich nur die ersten 100 Seiten lesen wollte. Aber ich habe dann schließlich doch die ganzen 346 Seiten komplett verschlungen, weil ich bemerkte, dass in die- sem Band etwas sehr gut greifbar wird, was ich Ihnen als Grundschemata in dieser Vorlesung vermitteln möchte. es war in gewisser Weise eine kleine Ent- deckung für mich – aber damit Ende dieser kleinen autobiographischen Remi- niszenz. Obwohl die Autobiographie – das werden wir noch sehen – die große Schwester des Reiseberichts ist. Daher habe ich mich noch während der Reise bemüht, den Eröffnungsteil für diese Vorlesung umzugestalten, neue Elemente einzubauen und etwas zu formulieren, mit dem ich Sie sozusagen auf die Reise durch diese Vorlesung im Wintersemester mitnehmen kann. Die Vorlesung selbst also ist ohne die Reise- erfahrung im Grunde gar nicht vorstellbar; in die heute beginnende Vorlesung Abb. 1: Hape Kerkeling (Recklinghausen, 1964). 4 Zur Einführung über Reiseliteratur ist auch selbst Reise und Literatur und Reiseliteratur in gro- ßem Umfange eingegangen. Ich gebe zu: Ich reise gerne. Und das Verhältnis zwischen Reisen und Schreiben ist ein in der Tat gelebtes und sehr lebendiges: Objekt und Subjekt der Vorlesung haben also etwas miteinander zu tun. Und das Lebenswissen der Literatur geht ein in Überlegungen, deren Gegenstand die Reiseliteratur ist. Mit dem Band Ich bin dann mal weg – Meine Reise auf dem Jakobsweg lassen sich viele Elemente aufzeigen, die wichtig für meine Konzeption von Reiseliteratur sind und an deren Beispiel ich gleichsam in einem Vorspiel einmal durchexerzieren kann, wie sich Reiseliteratur konzeptionell fassen lässt. Das heißt nicht, dass ich in diesem Band sozusagen einen Höhepunkt der Reiseliteratur sehen würde, weit gefehlt. Nein, ganz und gar nicht. Aber dieses Buch hilft uns zu verstehen, dass Reiseliteratur eine ganz eigenartige und eigenständige Faszinationskraft ausübt, dass die Reiseliteratur ein Fas- zinosum ist, und dass sie dies in keinem geringeren Maße als das Reisen selbst ist. Und schließlich muss man auch eingestehen: Dies ist ein reiselite- rarisches Buch, das viele Menschen ihrerseits zum Reisen auf dem Jakobs- weg beflügelt hat. Die konzeptionelle Bedeutung und Relevanz dieses Bandes hat mit einer Vielzahl von Elementen zu tun, die ich hier nur ein erstes Mal kurz erwähnen kann. Zum einen mit der Tatsache, dass das Lesen selbst ein Reisen ist. Wenn wir lesen, dann reisen unsere Augen auf dem Papier, über das Papier. Es ist eine Literatur in Bewegung. Egal, ob wir von links nach rechts und von oben nach unten oder von rechts nach links und von unten nach oben, von oben nach unten oder in Ackerfurchenmanier mit dem Pflugwenden lesen oder gar – wie bei Laurence Sterne – quer über das Blatt: In jedem Falle reisen wir auch und insbesondere mit den Augen, eine Tatsache, die sich die Kognitionswissen- schaften zunutze machen, um mit Hilfe von eye trackers die Augenbewegun- gen, die eye movements, genau festzuhalten, alle Sakkaden auszuwerten und damit auf die Verstehensbewegungen zurückzugreifen. Lesen heißt sich bewe- gen, in Bewegung sein. Und dann sind da ja die unterschiedlichsten Bewegungen explizit in der Li- teratur selbst auf der Ebene der Thematik: Was wäre die göttliche Commedia von Dante Alighieri ohne den Weg, ohne die Reise durch die verschiedenen Sphären, die von Beginn an vorhanden sind? Wie wäre ein Verstehen möglich, wenn wir es nicht prozessual anordneten und es in gewisser Weise als eine Reise verstünden? Wie könnten wir verstehen, ohne uns zu bewegen, ohne un- sere Bewegungen selbst in den eigenen (oder fremden) Verstehensprozess einzubinden? Hape Kerkeling und sein Band „ Ich bin dann mal weg. “ 5 Lassen Sie mich an dieser Stelle also als allererstes Zitat die berühmten An- fangsverse der Commedia von Dante Alighieri anführen: Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, che la diritta via era smarrita. E quanto a dir qual era è cosa dura esta selva selvaggia e aspra e forte che nel pensier rinnova la paura! Tant ’ è amara, che poco è più morte; ma per trattar del ben ch ’ io vi trovai, dirò dell ’ altre cose ch ’ io v ’ ho scorte. I ’ non so ben ridir com ’ io v ’ entrai [ . . . ] 2 [Es war in unseres Lebensweges Mitte, Als ich mich fand in einem dunklen Walde; Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege. Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald, Abb. 2: Dante Alighieri (Florenz, 1265 – Ravenna, 1321). 2 Alighieri, Dante : La Divina Commedia. Inferno , a cura di Umberto Bosco e Giovanni Reggio. Florenz: Le Monnier 1979, S. 7. 6 Zur Einführung Der wildverwachsen war und voller Grauen Und in Erinnrung schon die Furcht erneut: So schwer, daß Tod zu leiden wenig schlimmer. Doch um das Heil, das ich dort fand, zu künden Will, was ich sonst gesehen, ich berichten. – Wie ich hineingelangt, kann ich nicht sagen, ...] 3 Das Ich weiß hier also nicht, wie es in diesen wilden Wald hineingeraten ist, der sich auf der Mitte des Weges unseres Lebens plötzlich auftat oder eröffnete – oder gewiss auch um das Ich schloss. Der Wald umschloss das Ich, das in ihm wie in einem Labyrinth gefangen war, und lenkte es vom geraden Wege ab, dem nicht länger zu folgen war. Eine Reise, eine Erkenntnis- und Verstehens- reise beginnt durch die Hölle, das Fegefeuer und durch den Himmel – mit einem glücklichen Ausgang, wie es die Gattungsbezeichnung Commedia von Dante Alighieris „ Göttlicher Komödie “ bereits ankündigt. Zugleich halten wir neben allen anderen Bewegungen, wie ich schon bei an- derer Gelegenheit festgehalten habe, ein Zweites fest: Und zwar die Tatsache, dass nicht nur das Lesen, sondern auch das Leben selbst eine Reise ist. Und dass es innerhalb dieses Lebensweges, dieses cammin di nostra vita , viele Gründe für das Reisen, für das Verlaufen, gibt – für Umwege, Abkürzungen, Holzwege und was dergleichen mehr sind. Wenn Literatur ein interaktiver Speicher von Lebenswissen ist, wenn also die Literaturen der Welt ein Wissen vom Leben im Leben und für das Leben enthalten, dann hat dies mit der nicht unbedeutenden Tatsache zu tun, dass das Leben – ganz wie in Dantes durch die Schlussbetonung noch hervorge- hobenem Lexem am Ende des ersten Verses seines großen Werkes – eine Sache des Lebens, der vita also, ist. Es geht nun einmal in der Literatur nicht um mehr und nicht um weniger als um das Leben selbst: Wir haben auf Schritt und Tritt mit dem Leben, ja mit unserem Leben, zu tun. Dieses Leben – und diese Suche nach dem Leben und dem Lebensweg – sind dem Reisen zutiefst eingeprägt und eingebrannt. Zugegeben: Von Dante ist es ge- wiss ein weiter Weg zu Hape Kerkeling. Aber es gibt Traditionen in der abendländ- ischen Literatur, die uns aus tausenden von Jahren zukommen und in die wir uns einschreiben, auch in einem für ein breites Publikum geschriebenen und mit aller- lei werbewirksamen Maßnahmen versehenen Reisebuch über und für den Jakobs- weg. Denn das Interessante an Hape Kerkelings Band ist ja nicht die Originalität seines eigenen Reiseberichts, sondern die Art und Weise, wie er die Topoi der Rei- seliteratur geradezu schulmäßig – und bisweilen auch schülerhaft – abspult und 3 Alighieri, Dante: Inferno. Die Göttliche Komödie. Aus dem Italienischen von Karl Witte. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch. München: C.H. Beck 2007, S. 5. Hape Kerkeling und sein Band „ Ich bin dann mal weg. “ 7