María Laura Böhm Der ‚Gefährder‘ und das ‚Gefährdungsrecht‘ Göttinger Studien zu den Kriminalwissenschaften Universitätsverlag Göttingen María Laura Böhm Der ‚Gefährder‘ und das ‚Gefährdungsrecht‘ This work is licensed under the Creative Commons License 3.0 “by-nd”, allowing you to download, distribute and print the document in a few copies for private or educational use, given that the document stays unchanged and the creator is mentioned. You are not allowed to sell copies of the free version. erschienen als Band 15 in der Reihe „Göttinger Studien zu den Kriminalwissenschaften“ im Universitätsverlag Göttingen 2011 María Laura Böhm Der ‚Gefährder‘ und das ‚Gefährdungsrecht‘ Eine rechtssoziologische Analyse am Beispiel der Urteile des Bundesverfassungsgerichts über die nachträgliche Sicherungsverwahrung und die akustische Wohnraumüberwachung Göttinger Studien zu den Kriminalwissenschaften Band 15 Universitätsverlag Göttingen 2011 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Herausgeber der Reihe Institut für Kriminalwissenschaften Juristische Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen Profs. Drs. Kai Ambos, Gunnar Duttge, Jörg-Martin Jehle, Uwe Murmann Anschrift des Autors María Laura Böhm E-mail: Maria-Laura.Boehm@jura.uni-goettingen.de Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den OPAC der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar und darf gelesen, heruntergeladen sowie als Privatkopie ausgedruckt werden. Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Es ist nicht gestattet, Kopien oder gedruckte Fassungen der freien Onlineversion zu veräußern. Satz und Layout: María Laura Böhm Umschlaggestaltung: Kilian Klapp © 2011 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-86395-004-0 ISSN: 1864-2136 Für Rubén, voller Liebe und Dankbarkeit Vorwort Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit neuen Adressaten des Strafrechts auseinander, deren Konstruktion im Strafrechtsdiskurs zunächst an Transfor- mationen des Rechtsstaatskonzeptes denken lassen könnte. Eine genauere Betrachtung enthüllt jedoch alt bekannte Komponenten des Strafrechtes, die diesen neuen Figuren, den ‚Gefährdern‘, innewohnen. Eine Analyse von Urtei- len des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung und zur akustischen Wohnraumüberwachung verdeutlicht, dass rechtsstaatli- che Prinzipien und Mechanismen nicht etwa obsolet, sondern vielmehr um- formuliert und praktiziert werden. Das Strafrecht agiert – rechtsstaatskonform – immer aggressiver und immer zerstreuter. Diesen Manifestationen des ge- genwärtigen Strafrechts, das sich gegen jegliche Gefährdung der Sicherheit richtet – und welches hier als ‚Gefährdungsrecht‘ bezeichnet wird –, ist dezi- diert entgegenzutreten. Die Arbeit wurde dem Institut für kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg im Wintersemester 2009/2010 als Dissertation vorgelegt. Für diese Veröffentlichung wurden Rechtsprechung, Literatur und Gesetz- gebung bezüglich der nachträglichen Sicherungsverwahrung aktualisiert, nach- dem jeweils im Dezember 2009 und im Dezember 2010 ein Urteil des Europä- ischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ein Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung die Regulierung dieser Maßnahme stark beeinflusst und verändert haben. Die reformierte Rechtslage bestätigt die mit dieser Arbeit präsentierte Kritik, die somit auch im Hinblick auf andere dubiose Manifesta- tionen im deutschen Strafrecht an Bedeutung gewinnt. Bei meiner Erstgutachterin, Prof. Dr. Susanne Krasmann, möchte ich mich herzlich für ihre ständige Unterstützung, für aufklärende Gespräche und insbesondere für ihre Bereitschaft, mehrere frühere Versionen der sprachlich nicht korrigierten Kapitel ausführlich zu lesen und zu kommentieren, bedan- ken. Im gleichen Sinne möchte ich meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Jörg Arnold, herzlich dafür danken, dass er mir in ausführlichen Gesprächen am Max-Planck-Institut bei Freiburg bereichernde Kommentare gemacht hat. Die Konrad Adenauer Stiftung ermöglichte diese Arbeit durch ihre fi- nanzielle Unterstützung (zwischen Februar 2004 und September 2008). Dafür mein Dank an diese Institution, und auch deshalb, weil ich bei der Stiftung einen exzellenten Raum für Diskussion und Freundschaft gefunden habe. Die Vorwort II Konfrontation mit den unterschiedlichsten Meinungen bei Seminaren und Treffen haben ohne Zweifel meinen kritischen Geist gefördert. In diesem Zusammenhang möchte ich mich insbesondere bei vier Personen bedanken, die vor und während meiner Promotion mich nicht nur institutionell, sondern vor allem menschlich begleitet haben. Meine Dank geht an Frau Monika Bing, an Herr Walter Fuchs, an Herr Dr. Detlev Preuße und an Herr Dr. Berthold Gees. Diese Untersuchung ist auch nicht denkbar ohne kritische Anregungen und unmittelbare Unterstützung, die ich von vielen anderen Seiten erhalten habe. So danke ich insbesondere meinen sehr guten Freunden Ximena Useche Gómez aus Kolumbien und Prof. Dr. Armando Fernández Steinko aus Ma- drid, die immer ein Ohr für meine Zweifel und ein intelligentes Wort zum Nachdenken und zur Verbesserung meiner Arbeit parat hatten; mit der Ersten habe ich insbesondere meine Neigung zum postmodernistischen Denken ge- teilt, mit dem Letzteren habe ich grundsätzlich wegen dieses postmodernisti- schen Denkens gestritten. Für ihre Unterstützung möchte ich auch meinen lieben Freunden Karo- lina Víquez aus Costa Rica und Dr. Pablo Galain Palermo vom MPI Freiburg danken, sowie Prof. Dr. Sebastian Scheerer, der nicht nur ein Leiter, sondern vielmehr das Alma Mater des Instituts für kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg ist und immer herzlich unterstützende Worte für meine Arbeit gehabt hat. Besondere Erwähnungen verdienen ferner meinen lieben Professoren, Kollegen und Freunden aus Buenos Aires, die mir schon vor dem Beginn meiner Promotion in Deutschland und dann immer wieder aus der Distanz ihre uneingeschränkte Unterstützung bewiesen haben. Unter ihnen möchte ich insbesondere den Öffentlichen Strafverteidiger vor dem Bundesge- richtshof Argentiniens, Herr Julián Horacio Langevin, sowie Prof. Dr. Juan Pegoraro, Prof. Dr. Juan Félix Marteau, Prof. Dr. Pablo de Marinis, Prof. Dr. Stella Maris Martínez, und nicht zuletzt mis queridísimos amigos Mariano Gutié- rrez und Claudia Cesaroni erwähnen. In den vergangenen Jahren – und noch! – sind sie alle ständiges Vorbild, Unterstützung und Inspiration für mich ge- wesen. Herrn Prof. Dr. Kai Ambos, Herrn Prof. Dr. Jörg-Martin Jehle, Herrn Prof. Dr. Gunnar Duttge und Herrn Prof. Dr. Uwe Murmann verdanke ich die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe des Instituts für Kriminalwis- senschaften der Universität Göttingen. Für die geduldige Revision und Kor- rektur der Sprache in unterschiedlichen Phasen der Arbeit möchte ich mich herzlich insbesondere bei meinem Vater, Herr Günter Böhm, und bei meinem sehr guten Freund Herr Christian Alexander Arndt, sowie bei Frau Sabine Klein, Frau Uta Nolte, Frau Anina Timmermann, Herr Alper Tasdelem und Herr Dr. Florian Putzka bedanken. Vorwort III Meine Dankworte gehen ebenso an meine Eltern. Ich bedanke mich bei meinem Vater, der seit jeher mit seiner ausdauernden deutschen Strenge und voller Liebe aus mir eine nützliche hartarbeitende Person machen wollte. Mei- ner Mutter, Señora Gloria Marañón, danke ich herzlich für ihr absolutes Ver- trauen und ihrer alleskönnende Liebe. Beiden danke ich dafür, dass ich mich immer unterstützt gewusst habe und erfolgreich studieren durfte. Die letzte und wichtigste Danksagung richte ich an die Person, die mich seit siebzehn Jahren unterstützt, und die mich trotz Verlust ihres eigenen be- ruflichen Wegs in den ersten Jahren in Deutschland dennoch immer bedin- gungslos nach vorne gebracht hat. Ohne die Liebe, Aufopferung und Vertrau- en von meinem Mann Rubén Parmigiani, der bereit war, für einige Jahre Ar- gentinien gegen Deutschland zu tauschen, hätte ich von dieser Arbeit nicht mal träumen können. Ihm meine vorbehaltlose Liebe und ewige Dankbarkeit. María Laura Böhm Göttingen, im März 2011 Inhaltsverzeichnis Vorwort ... ................................................................................................................................ I Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................ V Einleitung ....................................................................................................... 1 1. Kriminologische Grundlagen und Fragestellung ....................................... 15 1.1. Der ‚Verbrecher‘ aus kriminologischer Perspektive........................................ 16 1.2. Kriminologische Ansätze zum ‚Feind ‘ und zum ‚Risiko‘ ............................... 29 1.2.1. Kriegsparadigma ............................................................................................ 30 1.2.1.1. Der ‚Feind‘ in der Kriminologie ............................................. 30 1.2.1.2. Das Feindstrafrecht .................................................................. 39 1.2.2. Risikomanagement ........................................................................................ 44 1.2.2.1. Risikogesellschaft ...................................................................... 44 1.2.2.2. ‚Risiko‘ und ‚Gefahr‘ ................................................................ 47 1.2.2.3. Risikostrafrecht ......................................................................... 57 1.3. Zwischenstand: Ist das Strafrecht immer noch Recht ? .................................... 61 2. Diskursanalytische Grundlagen ................................................................. 63 2.1. Zur Diskursanalyse ............................................................................................... 63 2.2. Diskurs ................................................................................................................... 65 2.2.1. Sprache ............................................................................................................ 68 2.2.2. Wahrheit und Wirklichkeit ........................................................................... 77 2.2.2.1. Wahrheit ..................................................................................... 78 2.2.2.2. Diskursivität und Nichtdiskursivität ...................................... 80 2.2.2.3. Materialität ................................................................................. 83 2.3. Methodisches Vorgehen ...................................................................................... 87 3. Diskursanalyse I: Nachträgliche Sicherungsverwahrung .......................... 93 3.1. Kurze Entstehungsgeschichte der Maßnahme ................................................ 94 3.2. Analyse ................................................................................................................. 104 Inhaltsverzeichnis VI 3.2.1. Problematik .................................................................................................. 104 3.2.2. Die Schutzfunktion des Staates bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung ............................................................................ 107 3.2.3. Figuren .......................................................................................................... 115 3.2.3.1. Entrechtlichung ....................................................................... 115 3.2.3.2. Entsubjektivierung .................................................................. 123 3.2.4. Grenzdiskurse .............................................................................................. 130 3.2.4.1. Die Sicherungsverwahrung als reaktive sicherungspolizeiliche Maßnahme .................................... 132 3.2.4.2. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung: Ultima Ratio oder Notmaßnahme? .......................................................... 134 3.2.5. Rechtsform ................................................................................................... 136 3.2.5.1. Wer entscheidet im Abstrakt? ............................................... 137 3.2.5.2. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts ........................... 141 3.3. Zwischenstand..................................................................................................... 145 4. Diskursanalyse II: Die Änderung des Art. 13 GG und die akustische Wohnraumüberwachung ......................................................................... 151 4.1. Entstehungsgeschichte der Maßnahme ........................................................... 153 4.2. Analyse ................................................................................................................. 155 4.2.1. Problematik .................................................................................................. 155 4.2.2. Staatliche Schutzaufgabe und Ziele der akustischen Wohnraumüberwachung ........................................................................ 158 4.2.2.1. Aufhellung der Strukturen der Organisierten Kriminalität .......................................................................... 159 4.2.2.2. Schutz der Gesellschaft .......................................................... 161 4.2.2.3. Schutz des Rechtsstaates ........................................................ 162 4.2.2.4. Fortsetzung einer Bekämpfungsgesetzgebung ................... 163 4.2.2.5. Terrorismusbekämpfung ....................................................... 165 4.2.3. Figuren .......................................................................................................... 166 4.2.3.1. Deutungsmuster der ‚Organisierten Kriminalität‘ ............. 166 4.2.3.2. Adressaten der repressiven akustischen Wohnraumüberwachung .................................................... 170 4.2.4. Grenzdiskurse .............................................................................................. 175 4.2.4.1. Die akustische Wohnraumüberwachung im Vergleich zu anderen Ermittlungsformen .............................................. 175 4.2.4.2. Die akustische Wohnraumüberwachung und der präventive Strafprozess ...................................................... 178 Inhaltsverzeichnis VII 4.2.5. Rechtsform ................................................................................................... 181 4.2.5.1. Artikel 13 GG und die Grundrechte ................................... 181 4.2.5.2. Die Verfassungsänderung ...................................................... 189 4.2.5.3. Die Form der Verhältnismäßigkeitsüberprüfung .............. 197 4.3. Die Online-Durchsuchung................................................................................ 201 4.3.1. Die Maßnahme ............................................................................................ 202 4.3.2. Die Online-Durchsuchung vor dem Bundesverfassungsgericht ......... 205 4.3.2.1. Figuren ...................................................................................... 207 4.3.2.2. Die Begründung für die Novellierung ................................. 210 4.3.2.3. Die Frage der Verhältnismäßigkeit ...................................... 211 4.4. Zwischenstand .................................................................................................... 215 5. Zwischenergebnisse ................................................................................. 221 5.1. Der ‚Gefährder‘ ................................................................................................... 223 5.1.1. „Islamistischer Gefährder“ in der Terrorismusbekämpfung ............... 223 5.1.2. Der ‚Gefährder‘ als eine Figur des Strafrechts ....................................... 229 5.1.2.1. Die Figur ‚Gefährder‘ ............................................................. 230 5.1.2.2. Das Recht, das ‚Gefährder‘ schafft ...................................... 236 5.2. Strafrecht im Kontext: Sicherheit, Rechtsstaat, und das Bundesverfassungsgericht ................................................................... 239 5.2.1. Sicherheit ...................................................................................................... 240 5.2.2. Rechtsstaat .................................................................................................... 243 5.2.3. Die wahren Aussagen des Bundesverfassunsgerichts ................................ 248 5.3. ‚Gefährdungsrecht‘? ........................................................................................... 249 6. Angewandte Rechtskritik ......................................................................... 251 6.1. Walter Benjamin ................................................................................................. 253 6.1.1. Rechtmäßige und verurteilte Gewalt ........................................................ 256 6.1.2. Polizei und Recht ........................................................................................ 259 6.2. Jacques Derrida ................................................................................................... 266 6.2.1. To enforce the law ...................................................................................... 267 6.2.2. Das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit ......................................... 268 6.2.3. Recht und Gewalt........................................................................................ 272 6.3. Michel Foucault .................................................................................................. 276 6.3.1. Souveräne Macht ......................................................................................... 277 6.3.2. Gouvernementalität .................................................................................... 278 Inhaltsverzeichnis VIII 6.3.3 Norm statt Recht .......................................................................................... 281 6.3.4. Souveräne Ausnahme ................................................................................. 287 6.4. Giorgio Agamben ............................................................................................... 290 6.4.1. Bíos und Zōé ................................................................................................... 290 6.4.2. Ausnahmezustand ....................................................................................... 295 6.4.3. Glück ohne Recht........................................................................................ 299 7. Schlussbetrachtung und Ausblick .............................................................301 Literatur ....................................................................................................... 309 Einleitung In der Kriminalpolitik finden seit einigen Jahren fachliche sowie öffentliche Diskussionen statt, die nicht zuletzt durch einige Skandalfälle und Gesetzes- novellen vorangetrieben worden sind. In diesen Diskussionen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Grenzlinien und Ziele des gegenwärtigen Strafrechts und Strafprozessrechts verwischen, während staatliche Instrumen- tarien und Interventionsmethoden aggressivere Formen annehmen. Anlass zu diesen politischen, kriminologischen und schließlich auch rechtswissenschaftlichen 1 Diskussionen gaben sowohl deutsche als auch inter- national geprägte Fälle: der Daschner-Fall in Frankfurt, 2 die Diskussion um 1 Die Tagung Herrschaft und Verbrechen: Die Konstruktion von Feindbildern als Leitmotiv einer modernen Kriminal- und Sicherheitspolitik? , die im April von 2005 in Hamburg stattfand, macht beispielsweise die Beschäftigung mit dem Thema ‚Feind‘ in der gegenwärtigen Kriminologie deutlich. 2 Der stellvertretende Polizeipräsident Frankfurts, Wolfgang Daschner, ordnete nach eigenen Angaben an, der Vernehmungsbeamte solle dem festgenommenen Magnus Gäfgen androhen, dass ein polizeilicher Kampfsportler ihm Schmerzen zufügen wer- de, wenn er nicht den Ort nennen würde, an dem er das entführte Kind Jakob von Metzler versteckt hielt. Der nach Übergabe des Lösegelds festgenommene Jurastudent Einleitung 2 das deutsche Luftsicherheitsgesetz, 3 das Bekanntwerden der Verschleppung von Khaled El Masri, 4 die Gefangennahme von Murat Kurnaz 5 durch den US- Geheimdienst CIA, Überflüge während eines Treffens der G-8-Staaten in Ros- tock, 6 die Einführung eines biometrischen Passes 7 und ferner das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung staatsgefährdender schwerer Gewalttaten. 8 Gäfgen hatte in der Nacht zum 1. Oktober 2002 mehrere falsche Verstecke genannt. Die Polizei ging zum Zeitpunkt der Androhung davon aus, dass Jakob von Metzler noch am Leben sein würde. Tatsächlich jedoch hatte Gäfgen den Jungen bereits vier Tage zuvor getötet und die Leiche an einem kleinen See unweit von Frankfurt abge- legt. Gäfgen nannte den tatsächlichen Ort, nachdem ihm Folter angedroht worden war. Er wurde im Juli 2003 zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Fall löste eine heftige Diskussion um das Thema Folter aus. Für einen Überblick zu dieser Diskussion siehe Platzdasch 2005; aktueller über die Verbindung des Daschner Falls mit der Feindstraf- rechtsdiskussion, Heinrich 2009: 128. 3 Das Luftsicherheitsgesetz – deutsches Bundesgesetz – wurde am 11. Januar 2005 zugunsten der Luftsicherheit und mit dem Ziel der Verhinderung von Flugzeugent- führungen, terroristischen Anschlägen und Sabotageakten gegen den Luftverkehr ver- abschiedet. Die äußerste Maßnahme des Gesetzes ermöglichte eine „unmittelbare Ein- wirkung mit Waffengewalt“ gegen ein Flugzeug, „wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie [die Maß- nahme] das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist“ (§ 14 Abs. 3). Am 15. Februar 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass § 14 Abs. 3 gegen das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) und gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG) verstößt und deshalb verfassungswidrig und nichtig ist. Über das Luftsicherheitsgesetz siehe Archangelskij 2005 (bes. S. 85 f.). Für eine kritische Analyse des Bundesverfas- sungsgerichturteil siehe Winkeler 2007 (bes. Teil 5). 4 Der Deutsch-Libanese Khaled el-Masri wurde von der CIA als mutmaßlicher Terrorist entführt und nach Afghanistan verschleppt, wo er verhört und gefoltert wurde. Seit 2007 ist er wieder frei. Zu diesem Fall siehe Steiger 2007. 5 Der Bremer Murat Kurnaz war mehr als vier Jahre ohne formelle Anklage eingesperrt und u.a. von deutschen Beamten in Guantanamo verhört worden. Siehe dazu den Be- richt „Zurück aus Guantanamo“ (24.08.2006), in: http://www.zeit.de/2006/35/Kurnaz (zuletzt abgerufen am 10.12.2010). Siehe auch das Buch vom Murat Kurnaz zu seiner Erfahrung im Guantanamo („Fünf Jahre meines Lebens: Ein Bericht aus Guantanamo“, Berlin, Rowohlt, 2007). 6 Siehe dazu kritisch Stolle 2008. 7 Siehe dazu Bundesministerium des Innern http://www.epass.de (zuletzt abgerufen am 10.12.2010). Vgl. grundlegend dazu Meuth 2006; kritisch auch Hornung 2007. 8 Gesetzentwurf eines „Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren Ge- walttaten“ (Entwurf beschlossen am 14.01.2009 vom Bundeskabinett). Im Gesetz ist die Schaffung von zwei neuen Straftatbeständen vorgesehen: Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a StGB) und Anleitung zur Begehung einer schweren staatsge- fährdenden Gewalttat (§ 91 StGB). Diese Tatbestände stellen die Vorverlagerung der Strafbarkeit von organisatorisch nicht gebundenen Gewalttätern fest. Siehe kritisch dazu Walter 2008; Prantl 2009: „Die neuen Paragraphen 89a und b sowie 91 im Straf- Einleitung 3 Betrachtet man diese Fälle im Kontext des Straf(prozess)rechts, scheint die Figur des ‚Verbrechers‘ zu verschwimmen: ‚Verbrecher‘ sollten nicht unter Folter aussagen und auch nicht ohne eine ordnungsgemäße Anklage inhaftiert werden; gegenüber ‚Verbrechern‘ sollten keine militärischen Mittel zur Früher- kennung möglicher Straftaten bzw. zur Identifizierung potentieller Straftäter eingesetzt werden; Vorbereitungen einer Handlung sollten nicht als ‚verbre- cherisch‘ gelten, solange sie keine Handlungen im strafrechtlichen Sinne sind. Der Strafrechtsdiskurs scheint bei diesen Fällen mit anderen Diskursen ver- flochten zu sein – etwa mit denen des Polizeirechts, der Gefahrenabwehr und der Risikoprävention, die eigentlich nicht mit einem vom Strafrechtsdiskurs adressierten ‚Verbrecher‘ zu tun haben scheinen. 9 Diese Beispiele zeigen, dass feindliche Figuren 10 und deren soziales Umfeld als gefährdende Ereignisse und Gruppen 11 wahrgenommen werden. Zwei dieser Fälle – die nachträgliche Sicherungsverwahrung 12 und die akustische Wohnraumüberwachung – werden in der vorliegenden Arbeit aus- führlich untersucht. Nachfolgend wird der von diesen Maßnahmen adressierte ‚Verbrecher‘ als ‚Gefährder‘ und das Strafrecht, welches den ‚Gefährder‘ adressiert, als ‚Gefährdungsrecht‘ bezeichnet. 13 Anhand kriminologischer bzw. gesetz sind so vage und konturlos, dass man sich nicht vorstellen kann, ein deutsches Gericht würde nach diesen Vorschriften Beschuldigte verurteilen. Das ist aber auch gar nicht die Absicht von Schäuble, Zypries & Co – deren wirkliche Absicht spiegelt sich schon im Titel des Gesetzes wider.“. 9 Die vorliegende Studie bewegt sich innerhalb des kriminologischen und strafrechtli- chen Diskurses. Daher habe ich eine methodologische Beschränkung vorgenommen, die zwangsweise zu einer gewissen Vernachlässigung führt: Das Recht der Gefahren- abwehr und das Polizeirecht werden in der vorliegenden Arbeit als Grenzdiskurse des Strafrechts betrachtet und nur in dieser Form erörtert. Ihnen wird kein spezieller Ab- schnitt gewidmet. 10 Im gleichen Sinne siehe Haffke 2005: 16 f.; Kötter 2004. 11 Siehe dazu Stolle 2008. 12 Analysiert wird hier die Gesetzgebung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung und ihrer Entstehung sowie die entsprechenden Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom Jahr 2004. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 2009 (EGMR, M. v. Germany, Entscheidung 17.12.2009, Nr. 19359/04) sowie das neue Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung vom 2010 ( Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. 12. 2010 (BGBl. I S. 2300), welche eine neue Rechtslage in Deutschland geschaffen haben, werden nur zum Zweck der Aktualisierung erwähnt und nicht diskursanalytisch berücksichtigt. Auch wenn die nachträgliche Sicherungsverwahrung abgeschafft wurde, bleibt sie als strafrechtliche Konstruktion diskursiv bestehend. 13 Gegen eine solche Äußerung spricht sich Jörg Arnold aus, da er Feindstrafrecht, Risiko- strafrecht und Interventionsstrafrecht als „Fassaden“ versteht, hinter denen sich ei- gentlich dasselbe Feindstrafrecht versteckt ( Arnold 2006: 309). In der vorliegenden Ar- Einleitung 4 rechtssoziologischer Theorien soll in dieser Studie der strafrechtliche Diskurs dieses ‚Gefährdungsrechts‘ dechiffriert werden. Im Folgenden wird der Kon- text dieser Diskussion näher erläutert. Über den ‚Verbrecher‘ äußern sich Strafrechtstheoretiker (etwa Günther Jakobs mit seinen umfassenden Thesen zum ‚Feindstrafrecht‘ 14 ), politische Entscheidungsträger (Innenminister Wolfgang Schäuble über den Abschuss zivi- ler Flugzeuge 15 oder Innenexpertin Kristina Köhler über jugendliche Straftäter 16 ) und Medien 17 mit einem ausdrücklich feindlichen Vokabular. 18 Dabei scheint es schwierig zu sein, die Figur eines „herkömmlichen“ Verbrechers zu identifi- zieren. Dies zeigt sich in mehreren Bereichen, beispielsweise wenn bestimmte „Tätertypen“, wie etwa Sexualtäter, zu Gefahrenträgern und zu Feinden ge- macht werden 19 oder wenn Ausländer so viele Risikofaktoren zu erfüllen scheinen, 20 dass sie ständig der Bedrohung ausgesetzt sind, in die Maschen der beit wird dagegen behauptet, dass das Feindstrafrecht und Risikostrafrecht gewisse Ausdrucksformen teilen und miteinander agieren können, aber nicht als Äquivalente zu verstehen sind, wie noch ausführlich darzustellen sein wird. 14 Jakobs 2000, 2004, 2005. 15 Vgl. dazu Prantl 2007. 16 Die CDU-Politikerin hat gefordert, „jugendliche Intensivtäter aus dem Verkehr zu ziehen, bevor sie jemanden totschlagen“ ( Süddeutsche Zeitung vom 3. Januar 2007). 17 Das Wissen der Kulturindustrie entwickelt in Filmen und Kriminalgeschichten einen bestimmten Charakter über die Figur des ‚Verbrechers‘, die den Merkmalen eines ‚Feindes‘ sehr nahe kommt. „Sie muß so monströs sein, daß man sich eine andere ‚Lö- sung‘ als das Eliminieren gar nicht denken kann“ ( Cremer-Schäfer/Steinert 2000: 48). „The fantasy of ‘crime and punishment’ is“, so Steinert ( 1998: 410), „patriarchal and privileges masculinity –not necessarily the masculinity of the (old and wise) patriarch himself, but that of the younger, still aspiring or already resigned, fighting, ‘warrior’ position“. Für eine ausführliche Analyse der männlichen Kriegerfigur in Filmen siehe Steinert 1996. 18 Diese Situation ist allerdings kein speziell deutsches Phänomen. Ähnliche Einstellun- gen sind z.B. in Großbritannien zu beobachten, wo bei der Setzung der politischen Ziele die scharfe Trennung zwischen der Gesellschaft und den diese Gesellschaft ge- fährdenden Verbrecher explizit gezogen wird. Siehe dazu etwa das Dokument vom 2006 „ Rebalancing the criminal justice system in favour of the law-abiding majority“ vom britischen Home Office (www.homeoffice.gov.uk). 19 In Bezug auf einen Terrorismusverdacht sind Entführungen von Verdächtigen (Murat Kurnaz u.a.) paradigmatisch. Im angelsächsischen Raum wird in den Überschriften von Gesetzen häufig von den Sexualtätern als „sexually violent predators“ gesprochen (vgl. Walther 1997). 20 In der Forderung nach einer „Gewaltverzichtserklärung“ von Muslimen in Deutsch- land lässt sich deutlich eine vorsorglich feindliche Einstellung gegenüber Migranten erken- nen (vgl. Weihnachtsrede vom 24. Dezember 2007 von Bayerns Innenminister Joa- chim Herrmann). Dieses Phänomen lässt sich mit dem „ethnic profiling“ vergleichen, das Cole (2002) ausführlich beschreibt: „Federal and local officials have engaged in