Stefan Malorny Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem Universitätsverlag Göttingen Göttinger Schriften zum Öffentlichen Recht Stefan Malorny Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem This work is licensed under the Creative Commons License 3 .0 “by - nd”, allowing you to download, distribute and print the document in a few copies for private or educational use, given that the document stays unchanged and the creator is mentioned. You are not allowed to sell copies of the free version. erschienen als Band 2 der Reihe „Göttinger Schriften zum Ö ffentlichen Recht“ im Universitätsverlag Göttingen 2011 Stefan Malorny Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem Eine systematische Darstellung und kritische Würdigung unter besonderer Berücksichtigung der rechtshistorischen Herausbildung sowie der institutionellen Einpassung in die parlamentarischen Demokratiestrukturen Deutschlands und Europas Universitätsverlag Göttingen 2011 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Herausgeber der Reihe „Göttinger Schriften zum Öffentlichen Recht“ Prof. Dr. Hans Michael Heinig, Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Heun, Prof. Dr. Christine Langenfeld, Prof. Dr. Thomas Mann Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den OPAC der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar und darf gelesen, heruntergeladen sowie als Privatkopie ausgedruckt werden. Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Es ist nicht gestattet, Kopien oder gedruckte Fassungen der freien Onlineversion zu veräußern. Satz und Layout: Stefan Malorny Umschlaggestaltung: Jutta Pabst © 2011 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-86395-002-6 ISSN : 2191-4583 Meinen Eltern Vorwort Die vorliegende Arbeit ist von der Juristischen Fakultät der Georg-August- Universität Göttingen im Sommersemester 2010 als Dissertation angenommen worden. Nachdem ich meine Studie über „Exekutive Vetorechte im deutschen Verfas- sungssystem“ erfolgreich abschließen konnte, möchte ich die Gelegenheit nutzen, bei denjenigen Dank zu sagen, ohne die das ‚ Projekt Promotion ‛ nur schwerlich zu bewältigen gewesen wäre: Zuvorderst zu nennen ist mein Doktorvater, Herr Prof. Dr. Thomas Mann . Ne- ben der Betreuung meiner Dissertation mittels offenen Gedankenaustauschs und konstruktiven Ideen, bin ich ihm für den eröffneten akademischen Freiraum dankbar, welchen gerade eine staatswissenschaftliche Promotion benötigt. Die Möglichkeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl in Forschung und Lehre tätig zu sein, hat mich zudem mit dem Handwerkszeug für die vorliegende Arbeit ausge- stattet. Herrn Prof. Dr. Hans Michael Heinig danke ich für die zügige Erstellung des Zweitvotums und seine wertvollen gutachterlichen Ratschläge. Den Herausgebern der „Göttinger Schriften zum Öffentlichen Recht“ danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe. Das Begabtenförderungswerk der Hanns-Seidel-Stiftung hat mein For- schungsprojekt dankenswerter Weise mit einem Promotionsstipendium unter- stützt. Nicht nur für wissenschaftliche Unterstützung gilt es zu danken, sondern auch den Beitrag meines privaten Umfelds möchte ich würdigen. Allen anderen voran, bedanke ich mich hier daher bei meinen Eltern Martina und Paul Malorny . Sie haben mich nicht nur zu demjenigen gemacht, der ich bin, sondern es war ihre, auf eigenem Verzicht basierende Großzügigkeit und Hilfsbe- reitschaft, die mir das Fundament und den Rahmen dafür gaben, Vorliegendes zu veröffentlichen. Danke dafür! Mein allergrößter Dank gilt auch der Unterstützung, die mir Miriam Spohr , die Frau an meiner Seite, zu teil werden ließ. Ihr Motto „Dein Projekt ist auch mein Projekt“ hat diese Promotion in jeder Phase geprägt. Göttingen, im Februar 2011 Stefan Malorny Inhaltsverzeichnis A. Einleitung...................................................................................................................... 1 B. Systematische und strukturelle Einordnung der Vetorechte ................................ 7 I. Ursprünge und Entwicklungslinien ..................................................................... 7 1. Fehlende Ansätze in der antiken Stadtstaatendemokratie ........................... 8 2. Das Phänomen in der Verfassung des Römischen Reiches ..................... 10 a. Entwicklungstendenzen bis zur Entstehung des Volkstribunats ... 10 b. Die Tribunizische Interzession ........................................................... 13 c. Das Verhältnis des „ius intercessionis“ zum Vetorecht .................. 14 aa. Reichweite und Folgen des allg. magistratischen Einspruchsrechts in Rom .............................................................. 14 bb. „ius intercessionis“ der Volkstribune ......................................... 15 cc. Vetorechtsnatur des „ius intercessionis“ .................................... 20 d. Konsequenzen ....................................................................................... 21 3. Monarchische Determinationen .................................................................... 22 a. Die Römischen Kaiser .......................................................................... 23 b. Vetovehikel im geschichtlichen Kontext ........................................... 25 c. Das narkotisierende Intermezzo des Absolutismus als Wiege des modernen Vetos .............................................................................. 27 d. Neue Ansätze im Konstitutionalismus .............................................. 29 aa. Konstitutionelle Grundstrukturen ............................................... 29 bb. Europäische Dimensionen des Konstitutionalismus .............. 32 cc. Der deutsche Konstitutionalismus .............................................. 33 aaa. Die Ausgestaltung der konstitutionellen deutschen Landesverfassungen ........................................................... 35 bbb. Zusammenfassende Wertung für die Vetofrage .......... 43 ccc. Gründe fehlender Vetostruktur im deutschen Konstitutionalismus ........................................................... 46 4. Inkarnationsansätze auf Reichsebene ........................................................... 52 a. Wiedergeburt in der Paulskirchenverfassung .................................... 55 aa. Die bürgerliche Revolution als Geburtshelfer ........................... 55 bb. Der streitbehaftete Entwicklungsprozess ................................. 57 b. Versandende Strukturen in der Reichsverfassung von 1871 .......... 60 aa. Das Scheitern der Paulskirchenverfassung ................................ 60 Inhaltsverzeichnis IV bb. Vermeintliche Vetofundstellen ................................................... 63 aaa. Die staatsrechtliche Stellung des Kaisers ........................ 64 bbb. Die Stellung von Art. 17 RV 1871 im Rahmen des Vetodiskurses ..................................................................... 68 ccc. Der Vetoverlust in der Reichsverfassung im Spiegel des monarchischen Prinzips – Eine Motivsuche .......... 73 II. Die These von der Sanktion als Veto .............................................................. 87 1. Die Sanktion als letzte Bastion des Vetogedankens? ................................. 88 a. Die Sanktionsdebatte im konstitutionellen Staatsrecht....................... 88 aa. Verfassungshistorische Ursprünge der „sanctio legis“............. 90 bb. Die Sanktionstheorie Labands .................................................... 92 aaa. Grundaspekte ...................................................................... 93 bbb. Motivlagen.......................................................................... 94 cc. Einwirkungen des Sanktionsbegriffs in die Reichsverfassung von 1871 .......................................................... 95 aaa. Der Labandsche Integrationsansatz für die Reichsverfassung .......................................................... 96 bbb. Zuordnungsansätze beim kaiserlichen Staatsoberhaupt ............................................................... 100 b. Kritikansätze in der Staatsrechtswissenschaft zur Kaiserzeit .......... 105 2. Fruchtbarkeit der Sanktionsdebatte für die Vetofrage............................. 107 III. Analyse der Weimarer Reichsverfassung als demokratischer Vorläufer des Grundgesetzes ........................................................................................... 116 1. Relevante verfassungsrechtliche Neujustierungen in der Weimarer Reichsverfassung ............................................................................................ 116 a. Reichstag und Gesetzgebung in der Weimarer Reichsverfassung .................................................................. 117 b. Der Reichspräsident in der Weimarer Reichsverfassung ................. 121 2. Vetoausprägungen im Wortlaut der WRV................................................. 123 a. Vetoaspekte auf Reichsebene ................................................................ 124 aa. Das Ausfertigungs- und Verkündungsrecht aus Art. 70 WRV .......................................................................... 124 bb. Art. 73 Abs. 1 WRV – Verbringung eines Gesetzes zum Volksentscheid .................................................................... 129 cc. Vetoreflektionen für die Reichsebene....................................... 133 aaa. Die Parlamentsauflösung als Vetoverstärker ............... 134 bbb. Die ministerielle Gegenzeichnungsnotwendigkeit aus Art. 50 WRV als retardierendes Moment? ........... 136 (1) Betrachtungen für Art. 73 Abs. 1 WRV............ 136 (2) Betrachtungen für Art. 70 WRV ........................ 143 ccc. Vetorechte als Systembruchindikatoren ....................... 146 Inhaltsverzeichnis V b. Vetoaspekte auf der Weimarer Länderebene ..................................... 150 aa. Verfassungsparameter der Reichsverfassung ........................... 150 bb. Einspruchsvariationen auf Länderebene ................................. 151 cc. Vetoreflektionen für die Länderebene ...................................... 157 aaa. Unterschiedlichkeiten der Vetoausprägung ................. 157 bbb. Fehlende Kohärenz zum Verfassungssystem ............. 159 3. Vetoeinflüsse über die Sanktionstheorie? .............................................. 162 IV. Zusammenfassende Wertung der Vetohistorie .......................................... 167 C. Definitorische Vetogrundsätze und deren Ausprägungen ................................ 171 I. Vetodefinition ..................................................................................................... 171 1. Zielbereich: Vetorechte als Aspekt der Gesetzgebung ........................ 172 2. Organzuordnung: Exekutive Organnatur.............................................. 172 3. Wirkweise: Abgrenzung negatives/positives Recht ............................. 173 4. Wirkrichtung: Abgrenzung externes/internes Recht ........................... 174 5. Zielobjekt: entstandenes Gesetz ............................................................. 175 6. Definitionsformulierung ........................................................................... 177 II. Vetoarten ............................................................................................................ 178 1. Absolute Vetorechte ................................................................................. 178 2. Suspensive Vetorechte .............................................................................. 180 3. Devolutive Vetorechte .............................................................................. 181 4. Gesamtschau der Vetoarten..................................................................... 181 D. Vetos im aktuellen deutschen Verfassungssystem ............................................. 183 I. Vetoansatzpunkte im Grundgesetz ................................................................. 184 1. Das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten – Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG ............................................................................. 184 a. Einordnung der Organstellung ....................................................... 185 b. Strukturelle Vetobestandsaufnahme .............................................. 188 c. Qualitative Vetobewertung.............................................................. 191 aa. Analyse des präsidentiellen Prüfrechts in formeller und materieller Dimension .............................................................. 192 bb. Vetocharakteristika................................................................... 196 d. Das Vetoprüfrecht im Spiegel der Sanktionsthese ...................... 199 e. Systemkonformität des präsidentiellen Prüfungsrechts – Analyse der verfassungs- und staatspolitischen Tauglich- keit des Präsidentenvetos im Parlamentarismus .......................... 204 Inhaltsverzeichnis VI aa. Monarchische Determinationen und politische Friktionslinien .......................................................... 205 bb. Bewertung und Lösungsansätze ............................................. 215 2. Haushaltsrelevante Zustimmungsvorbehalte – Art. 113 GG ................. 232 a. Motivlagen und Hintergründe ........................................................... 234 b. Systematik sowie Funktions- und Wirkweise von Art. 113 GG .......................................................................................... 237 aa. Grundaufbau von Art. 113 GG .............................................. 237 bb. Inhaltliche Ausformung der fünf Tatbestandsvarianten .... 240 c. Analyse der Vetoqualität des finanzverfassungsrechtlichen Zustimmungsvorbehalts ...................................................................... 246 d. Bedeutung und staatspolitische Realisierungsszenarien ................ 256 3. Einspruchs- und Zustimmungsrechte des Bundesrates – Art. 77 GG . 267 a. Verfassungspolitische Gemengelage ................................................. 272 b. Potentielle Vetorechte......................................................................... 274 c. Unvereinbarkeit der verfassungsrechtlichen Grundsystematik des Bundesrates mit der Vetodefinition ........................................... 276 aa. Klassifikation als suspensives und absolutes Vetorecht...... 277 bb. Fragliche Vetoqualität .............................................................. 279 II. Vetoansatzpunkte in den Landesverfassungen ............................................ 286 1. Homogenitätserwägungen ............................................................................ 287 2. Vetorechtinkludierende Länderverfassungen ............................................ 289 a. Art. 42 Abs. 2 Niedersächsische Verfassung ................................... 290 aa. 30-tägiges Aussetzungsverlangen des Landtagsbeschlusses ................................................................. 290 bb. Verfassungsrechtliche Einordnung ....................................... 295 cc. Vetorechtsqualität ..................................................................... 307 b. Art. 67 Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen ................... 311 aa. Gegenvorstellungskompetenz der Landesregierung ............ 311 bb. Verfassungsrechtliche Einordnung ....................................... 320 cc. Vetorechtsqualität ..................................................................... 328 c. Art. 119 Verfassung des Landes Hessen .......................................... 337 aa. Einspruchsrecht der Landesregierung ................................... 337 bb. Verfassungsrechtliche Einordnung ....................................... 341 cc. Vetorechtsqualität ..................................................................... 351 3. Resümee der Vetorechte auf Länderebene ................................................ 353 E. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Einpassung ......................... 365 I. Konfliktlinien zum Gewaltenteilungsprinzip ................................................. 366 1. Gewaltenteilungssystematik ......................................................................... 367 Inhaltsverzeichnis VII a. Gewaltenteilung im Allgemeinen ...................................................... 367 b. Die Gewaltenteilung in ihrer grundgesetzlichen Ausprägung ...... 373 aa. Die Gewaltenteilungsidee des Parlamentarischen Rates vs. Die Realität des Parlamentarischen Regierungssystems...... 374 bb. Gewaltenteilungsparameter im Schrifttum und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ................ 377 2. Vetos als systemimmanente Gewaltenteilungsaspekte? ...................... 379 a. Die Idee des immanenten Systembruchs ......................................... 379 b. Strukturelle Fehlanalysen bei der Vetoverortung im Gewaltenteilungssystem: Die Verwechslung der Zustimmung mit einem Veto ..................................................................................... 382 aa. Der Ausgangspunkt im Schrifttum zum konstitutionellen Staatsrecht .................................................................................. 386 bb. Manifestation der begrifflichen Ungleichheit ...................... 389 c. Zustimmungserfordernisse sind keine Vetorechte, aber Aspekte der Gewaltenteilung .............................................................. 398 3. Lösungsansätze .......................................................................................... 409 II. Das Spannungsverhältnis zum Demokratieprinzip und Parlamentarischen Regierungssystem ............................................................ 417 1. Der demokratische Rahmen von Grundgesetz und Länderverfassungen........................................................................... 418 a. Grundaussagen von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG ............................... 418 b. Ausgestaltung als parlamentarische Demokratie ............................ 421 2. Einpassung der Vetorechte in das Demokratiekonzept des Grundgesetzes ..................................................................................... 423 F. Exkurs: Europäische Vetorechte und ihre Zukunft ........................................... 427 I. Der bisherige europäische Vetohorizont ........................................................ 429 1. Verfassungs- und europarechtlicher Kontext ....................................... 429 2. Vetorechtliche Einfallstore bis zum Vertrag von Lissabon ................ 432 II. Neujustierung des Vetobodens ...................................................................... 435 1. Das neue europäische Gesetzgebungsverfahren nach Lissabon ....... 435 2. Die Vetothese aus europäischem Blickwinkel ...................................... 439 3. Die deutsche Vetorealität nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG ... 443 a. Das Konzept der Integrationsverantwortung ................................. 444 b. Die Umsetzung des Lissabon-Urteils als Veto-Todesstoß ........... 445 G. Innerstaatliche Zukunft der Vetorechte .............................................................. 451 Inhaltsverzeichnis VIII H. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen .................................................... 457 I. Anhang ....................................................................................................................... 469 J. Literaturverzeichnis .................................................................................................. 475 A. Einleitung „...conterriti patres cum trepidassent publicis privatisque consiliis, nullo remedio alio praeter expertam multis iam ante certaminibus intercessionem invento collegas adversus tribunicias roga- tiones comparaverunt... ...‚Bene habet‛ inquit Sextius; ‚quando quidem tantum intercessionem pollere placet, isto ipso telo tutabimur plebem. Agitedum, comitia indicite, patres, tribunis militium creandis; faxo, ne iuvet vox ita , ‚VETO‛, qua nunc concinentes collegas nostros tam laeti auditis‛...“ 1 Auch wenn Theodor Mommsen in seinem „Römischen Staatsrecht“ 2 vollkommen legitimer Weise auf die fragile Quellenlage hinweist, so kann doch im Verbund mit weiteren Ereignissen 3 der römischen Staatspraxis davon ausgegangen werden, dass die hier vorangestellte Überlieferung des römischen Geschichtsschreibers Livius Titus den ersten für einen Verfassungsstaat verifizierbaren und auch ausdrücklich als solchen bezeichneten „VETO-Einsatz“ beschreibt. Mithin erscheint diese als die Geburtsstunde eines nicht minder häufig verwendeten, wie missverständlich eingeordneten staatspolitischen Rechtes. Heute ist das Wort „Veto“ mehr oder weniger ein Schlagwort, welches primär mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 4 in Verbindung gebracht wird. Die Möglichkeit der dortigen fünf ständigen Mitglieder, Resolutionen des jeweils ande- ren im Zweifel mit dem eigenen Einspruch stoppen zu können, ist wohl die der- zeit weitläufig bekannteste Version der Vetoanwendung. Aber auch das für die europäischen Parlamentssysteme ungewohnte und den Besonderheiten des präsi- dentiellen Regierungssystems der Vereinigten Staaten geschuldete Vetorecht 5 des 1 Livius, Römische Geschichte, 6, 35, 9. „... und nachdem die Patrizier in offiziellen und privaten Beratungen hin und her überlegt hatten, fanden sie kein anderes Gegenmittel als den schon in vielen früheren Auseinandersetzungen erprobten Einspruch und boten gegen die Anträge der Volkstribunen deren eigene Kollegen auf... ‚Nun gut!‛, sagte Sextius, ‚Da es ihnen so sehr gefällt, dass der Einspruch seine Macht erweist, werden wir mit der nämlichen Waffe die Plebs verteidigen. Wohlan, setzt eine Versammlung für die Wahl der Militärtribunen an, ihr Patrizier. Ich werde dafür sorgen, dass ihr an diesem Wort ‚VETO‛ keine Freude mehr habt, das ihr jetzt mit solchem Vergnügen unsere Kollegen im Chor rufen hört.‛ ...“ 2 Mommsen, Römisches Staatsrecht II.1., Rn 280. 3 Vgl. Sueton, Die Kaiserviten – de vita caesarium, Berühmte Männer – de viris illustribus, Tiberius 2, S. 324 ff. 4 Zur Anwendung und Interpretation des für den Vetobezug relevanten Art. 27 Abs. 3 UN-Charta sei anstatt vieler exemplarisch verwiesen auf: Simma, in: The charter of the United Nations, Art. 27, Rn 39 ff, 109; Good- rich/Hambro/Simons, in: Charter of the United Nations, Art. 27, S. 227-231; Cede/Sucharipa-Behrmann, in: Die Vereinten Nationen – Recht und Praxis, S. 35 ff; Stein/von Butlar, in: Völkerrecht, Rn 411-416; Wolfrum, in: Handbuch der Vereinten Nationen, S. 767 (103/13); Seidl-Hohenveldern/Loibe, in: Das Recht der Internationa- len Organisationen einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, Rn 1149. Allumfänglich in das Vetothe- ma für den Weltsicherheitsrat einführend: Demme, Hegemonialstellungen im Völkerrecht: der ständige Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. 5 Der US-Präsident hat die Möglichkeit, ein von beiden Kammern des Kongresses (Repräsentantenhaus & Senat) verabschiedetes Gesetz abzulehnen. Dabei ist der Präsident der Vereinigten Staaten darauf beschränkt, das Gesetz im Ganzen abzulehnen oder anzunehmen. Binnen zehn Tagen nach dem der Präsident den Gesetzesvor- schlag erhalten hat, muss die Einlegung dieses Vetos erfolgen. Sollte sich der Kongress innerhalb dieses Zeit- raums vertagen, gilt das Gesetz der Verfassung entsprechend als endgültig abgelehnt. Andernfalls kann das Präsidentenveto mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern überstimmt werden. In diesem Fall wird das Gesetz am Tag der endgültigen Abstimmung rechtskräftig bzw. an dem Tag, der im Gesetz festgeschrieben A. Einleitung 2 amerikanischen Präsidenten, findet im Zusammenhang mit nachrichtentechnisch erwähnenswerten Fällen immer wieder unsere Aufmerksamkeit. 6 Es ist jedoch festzustellen, dass, über diesen Themenkreis internationaler Rechtsanwendung hinaus, mittlerweile schon dann von einem Veto gesprochen wird, sobald jemand, Kraft eigenen Rechtes, einem anderen das Wirken verbieten oder dessen Reichweite schmälern kann. Der manifestierte breite mediale Ge- brauch 7 dieses Wortes führt jedoch weg von seinem eigentlichen Ursprung und Sinn – Vetos entfernen sich mithin immer mehr von ihrem rechtswissenschaftli- chen Ausgangspunkt. Die Verwendung bedeutungsschwerer Vokabeln, wie sie die Vetorechte unzweifelhaft darstellen, sollte jedoch niemals ohne ein Bewusstsein wurde. – Vgl. dazu: v. Beyme, Das präsidentielle Regierungssystem der Vereinigten Staaten in der Lehre der Herrschaftsformen, S. 2. Diese Vetoregelung ist der Amerikanischen Verfassung nicht ausdrücklich zu entnehmen, wird jedoch aus Article I, Section 7 U.S. Constitution gelesen: “...All bills for raising Revenue shall originate in the House of Representatives; but the Senate may propose or concur with Amendments as on other Bills. Every Bill which shall have passed the House of Representatives and the Senate, shall, before it become a Law, be presented to the President of the United States; If he approve he shall sign it, but if not he shall return it, with his Objections to that House in which it shall have originated, who shall enter the Objections at large on their Journal, and proceed to reconsider it. If after such Reconsideration two thirds of that House shall agree to pass the Bill, it shall be sent, together with the Objections, to the other House, by which it shall likewise be reconsidered, and if approved by two thirds of that House, it shall become a Law. But in all such Cases the Votes of both Houses shall be determined by Yeas and Nays, and the Names of the Persons voting for and against the Bill shall be entered on the Journal of each House respectively. If any Bill shall not be returned by the President within ten Days (Sundays excepted) after it shall have been presented to him, the Same shall be a Law, in like Manner as if he had signed it, unless the Congress by their Adjournment prevent its Return, in which Case it shall not be a Law. Every Order, Resolution, or Vote to which the Concurrence of the Senate and House of Representatives may be necessary (except on a question of Adjournment) shall be presented to the President of the United States; and before the Same shall take Effect, shall be approved by him, or being disapproved by him, shall be repassed by two thirds of the Senate and House of Representatives, according to the Rules and Limitations prescribed in the Case of a Bill. ...“ Siehe dazu auch: Haas/Steffani/Welz, Der Gesetzgebungsprozeß, in: Jäger/Haas/Welz, Wolfgang, Regierungssystem der USA: Lehr- und Handbuch, S. 185-204; C. O. Johnson, Government in the United States, S. 313 ff; Kommers/Finn/Jacobsohn, American Constitutional Law Vol. 1-Governmental Powers and Democ- racy, S. 118 ff. 6 Als Beispiele seien hier die letzten aktuellen Vetoanwendungen des US-Amerikanischen Präsidenten G. W. Bush genannt, welche in der deutschen Medienlandschaft erheblichen Widerhall erfuhren. Beide eingelegten Vetos konnten vom Kongress nicht mittels der erforderlichen Zweidrittelmehrheit überwunden werden, die Gesetze scheiterten also am Veto des Präsidenten: Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 20. Juli 2006 zum Veto des US-Präsidenten gg. den ‚Stem Cell Research Enhancement Act of 2007‛ (Stammzellengesetz); Süddeut- sche Zeitung, v. 10. März 2008, S. 1 zum Veto des US-Präsidenten gg. das ‚Intelligence authorization bill‛ (in Deutschland als ‚Waterboarding-Gesetz‛ bekannt); ebenso: Frankfurter Allgemeine Zeitung-NET, v. 12. März 2008 – „Bushs Veto bleibt bestehen“; ebenso: Süddeutsche Zeitung, v. 13. März 2008, S. 10 – „Waterboarding ist weiter erlaubt“. 7 Zum Nachweis, der Häufigkeit der medialen Verwendung des Wortes „VETO“, losgelöst von seinem rechts- historischen oder rechtswissenschaftlichen Hintergrund, sei auf die Analyse der Beiträge der Frankfurter Allge- meine Zeitung im gesamten Jahr 2007 verwiesen, welche sich im Kapitel – I. Anhang – dieser Arbeit befindet. Über diese quantitative Eruierung der Vetoanwendungsdimension, welche der o.g. Jahresüberblick als Stichprobe aufzeigt, hinaus, erweist sich die Kernaussage jener These des breiten medialen Gebrauchs als fortwährend richtig. Dies legte nicht zuletzt der Verhinderungseinsatz des FDP-Vorsitzenden und deutschen Außenministers Guido Westerwelle in der sog. ‚Causa Steinbach‛ Ende 2009 offen. Im Rahmen des durch die Bundesregierung durchzuführenden Benennungsvorgangs deutscher Mitglieder für den Rat der Bundesstiftung „Flucht, Vertrei- bung, Versöhnung“ betrieb der Bundesaußenminister sein Verhinderungsansinnen bzgl. der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach derartig vehement und kompromisslos, dass dessen Destruktionsener- gie in der öffentlichen Wahrnehmung als seine Vetomacht und Vetorecht im Kabinett erschien und als solches konsequent tituliert wurde. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung-NET, v. 20. November 2009, 05. Januar, 11. & 16. Februar 2010. A. Einleitung 3 dafür erfolgen, auf welchen historischen und verfassungsgeschichtlichen Pfaden sich diese ihren Weg in die Neuzeit gebahnt haben. Aufgabe der hier vorliegenden Dissertation wird es daher sein, die Vetorechte auf ihren Ursprungspunkt zurück- zuführen, Anwendungsparameter zu definieren und mittels derer das aktuelle Verfassungsrecht nach Vetofundstellen zu durchforsten. Anhand der historischen Determinationen wird jedoch auch aufzuzeigen sein, dass die als VETO bezeichneten Einspruchsrechte in der Entwicklung moderner Verfassungsdemokratien, bis zum Grundgesetz unserer Tage, wichtige Menetekel für die Integration von der Macht entkleideter Herrschaftsstrukturen darstellten, welche verfassungsrechtlich bis heute fortwirken. Diese Studie soll einen Beitrag dazu leisten, die als VETO charakterisierten Einsprüche auf ihre rechtsgeschichtli- chen und rechtstheoretischen Determinanten zurückführen zu können, um über diesen Herkunftshorizont eine juristisch exakte Einordnung in der heutigen Staats- und Verfassungspraxis zu ermöglichen. Eine solche qualitative Gesamt- schau erweist sich bei der Analyse des rechtswissenschaftlichen Schrifttums als bisher nicht auffindbar. Lediglich ansatzweise und fragmenthaft werden einzelne Spektren des Themenkreises der Vetorechte tangiert. Dies jedoch regelmäßig in anderem Kontext und dann auch nur in verkürzender Art und Weise sowie die geschichtlichen Wurzeln verkennend. Dem möglicherweise aufkommenden Einwand, es handele sich bei den histori- schen Grunderwägungen doch nur um Geschichte, soll von Anfang an die sich hier einmal mehr bewährende Aussage Hartmut Maurers aus seinem Standardwerk des Staatsrechts entgegengehalten werden: „...Wer die Gegenwart verstehen will, muss ihre historischen Voraussetzungen und Bedingungen kennen. Die Geschichte ist zwar Vergangenheit, zugleich aber auch Teil der Gegenwart. ... Zahlreiche Regelungen und Institutionen des geltenden Verfassungsrechts werden nur dann recht verständlich, wenn man ihre historische Dimension in die Betrachtung einbezieht, sei es, dass sie traditionelle Inhalte übernehmen, sei es, dass sie alte Formen mit neuen Inhalten tradieren. ...“ 8 Auch wenn diese Sicht der Dinge im pragmatischen Juristenalltag oftmals nicht genügend gewürdigt wird, erweist sich insbesondere für das Forschungsfeld der Vetorechte ihre Richtigkeit. Eine Betrachtung vetoartiger Einspruchsrechte, ohne deren rechtshistorischen und systematischen Hintergrund zu würdigen, würde lediglich auf eine Aufzählung und Benennung jener Exekutivmöglichkeiten hin- auslaufen. Gerade aber die systematisierende Sondierung von Herkunft und Funk- tionsweise ermöglicht es, die Wirkbereiche der Vetorechte einzuordnen und ver- meintliche Fehlanalysen aufzuzeigen. Man kann sogar behaupten, die Vetofund- stellen im geltenden Verfassungsrecht lassen sich nur dadurch wirklich verstehen, dass man ihre Vorläufer beleuchtet und in den rechtshistorischen Kontext einord- net. Daher wird es neben der Darstellung des ‚Veto-Ist-Zustands‛ im deutschen 8 Maurer, Staatsrecht I, §2, Rn 1. A. Einleitung 4 Verfassungssystem auch darum gehen müssen, herauszuarbeiten, auf welchem Boden diese Vetorechte gediehen. Trotz dieser somit vorangekündigten histori- schen ‚Wurzelbehandlung‛ kann schon jetzt in Aussicht gestellt werden, dass Ve- torechte zwar eine lange Verfassungstradition aufweisen, sie deshalb jedoch noch lange kein ‚totes‛ Verfassungsrecht darstellen. Eine Befassung mit Vetorechten macht es zudem erforderlich, über die Dimensi- on des Rechtshistorischen und die Dimension der verfassungsrechtlichen Einord- nung hinaus, noch eine weitere Ebene zu beleuchten, ohne welche die Begutach- tung im kontextlosen Raum ohne Bezug zur Einsatzrealität stehen würde. Gerade die Forschung im Bereich der Vetorechte verlangt danach, einer der Rechtswis- senschaft – in vielen Fällen womöglich zu Recht – latent innewohnenden Tendenz zur Entpolitisierung entgegenzutreten. Weder kann es gelingen Vetorechte richtig einzuordnen noch wird es möglich sein, ihre wirkliche Bedeutung im Ganzen zu erfassen, wenn man sie ihrer politischen Dimension entkleidet auf ein staatsorgan- schaftliches Recht reduziert betrachtete. Denn im Rahmen der Vetoanwendung werden die Grenzen zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik fließend. In dieser Konstellation kristallisiert das Schmiermittel des Verfassungsalltags – nämlich das Politische – aus. Eine Befassung mit den Vetorechten gebietet es geradezu die Scheu davor abzulegen, diese andere Seite der verfassungsrechtlichen Medaille zu würdigen und dadurch erlangte Erkenntnisse seinen Analysen zu- grunde zu legen. Das Supprimieren des Politischen aber auch und gerade des Parteipolitischen würde im Bereich der Vetorechtsforschung zumindest Unvollständigkeit zur Fol- ge haben. Denn die juristische Figur des Vetorechts ist nicht nur exekutives In- strument mit Verfassungsrang, sondern über die Sphäre des Politischen erlangt sie Relevanz für über das verfassungsrechtliche hinausgehende, staatswissenschaftli- che Betrachtungshorizonte. Gerade dieser zu verfolgende staatswissenschaftliche Ansatz macht deutlich, das Erörterungen der Vetorechte ohne politische Hinter- grundbetrachtung nicht mehr als die legendäre ‚Dame ohne Unterleib‛ wären. Denn Vetorechte beinhalten sowohl Aspekte des Themenkreises ‚Politischer Füh- rung‛ 9 als auch des ‚Regierens‛ 10 als genuines aliud zur Verwaltung, somit also exemplarisch staatswissenschaftliche Fragestellungen. 9 Umfänglich zur politologischen Dimension des Themenkreises: Helms, „Politische Führung“ als politikwissen- schaftliches Problem, in: Politische Vierteljahresschrift, 41. Jg. (2000), Heft 3, S. 411 ff. 10 An dieser Stelle soll zur näheren Verdeutlichung des Spektrums ‚Regieren als genuines Staatshandeln‛ zunächst ein Blick in die Arbeiten zur Entstehung des Grundgesetzes auf der Siebenten Sitzung des Kombinierten Aus- schusses vom 29. Sept. 1948 genügen. – Vgl. Der Parlamentarische Rat, Band 13 Teilband 1 S. 209 : „Dr. Schmid: [...] ‚Le roi régne, mais ne gouverne pa. Le gouvernement gouverne, mais n‛administre pas. L‛administration adminstre, mais ne gouverne pas‛ (Der König herrscht, aber regiert nicht) . Wir haben das Regieren in Deutschland zu oft als eine Elongatur des Administrierens gesehen, während es in Wirklichkeit eine Tätigkeit auf ganz anderer Ebene ist. Der Verwaltung sind Ort und Zeit sowie Ziel und Mittel vorgegeben. Das charakterisiert sie. Der Mann, der regiert, ist aber der, der der Verwaltung diese Dinge vorgibt, und das geschieht nach sehr besonderen Kriterien und erfordert völlig andere Qualitäten...“