Kay Junge, Daniel S ^ uber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Kay Junge, Daniel S ^ uber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Daniel S ^ uber, Gerold Gerber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-829-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@transcript-verlag.de This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License. Inhalt Vorwort der Herausgeber ...........................................................................11 K AY J UNGE /D ANIEL Š UBER /G EROLD G ERBER Einleitung ...................................................................................................15 Ideengeschichte / Ideologiekritik Z YGMUNT B AUMAN Eine Welt voller Erlebnisse........................................................................45 A RPAD S ZAKOLCZAI Sinn aus Erfahrung .....................................................................................63 D ANIEL Š UBER Soziologiegeschichtliche Anmerkungen zur Karriere des Lebensbegriffs in der Soziologie .......................................................101 K ARL -S IEGBERT R EHBERG ›Erlebnis‹ versus ›Erfahrung‹? Motive soziologischer Krisenbewältigung...............................................133 Soziologie / Anthropologie S HMUEL N. E ISENSTADT Das ›dialogische Moment‹. Martin Bubers Konzeption sozialer und kultureller Kreativität...........................................................157 S TEPHAN M OEBIUS Entwurf einer Theorie der Praxis aus dem Geist der Gabe. Die Praxistheorie von Marcel Mauss und ihre aktuellen Wirkungen ..................................................................171 J OHANNES W EISS Freundschaft in Einsamkeit. Eine soziologische Grenzbetrachtung ........201 C LAUS L EGGEWIE Brüder im Geiste. Kleine Soziologie wissenschaftlicher Kollegenschaft .............................215 H EINZ B UDE Die Evidenz der Phänomene ....................................................................229 M ICHAEL S CHMID Rationalität, Emotion und Solidarität. Bemerkungen zum Forschungsprogramm von Randall Collins ..............235 Ästhetik / Materialität J EFFREY C. A LEXANDER Ikonisches Bewusstsein: Die materiellen Grundlagen von ›Gefühls-Bewusstsein‹ ........................275 A NDREAS R ECKWITZ Elemente einer Soziologie des Ästhetischen............................................297 A LBRECHT K OSCHORKE Nicht-Sinn und die Konstitution des Sozialen .........................................319 G ÜNTER O ESTERLE Unvorhergesehenes Ereignis – unberechenbares ›Punctum‹ bei Walter Benjamin und Roland Barthes................................................333 A LEIDA A SSMANN Sammeln, Sammlungen, Sammler ...........................................................345 Identität / Intention J AN A SSMANN Sakralkönigtum und Gemeinschaftskunst. Der Alte Orient und das Politische...........................................................357 W OLFGANG S EIBEL Übergangsidentitäten und Täterbiographien: Verwaltungseliten am Ende der Nazi-Diktatur ........................................373 H ELMUT D UBIEL Das postnationale Syndrom......................................................................389 A LOIS H AHN Zentrum und Peripherie ............................................................................411 K LAUS E DER Kollektive Identitäten als Netzwerke. Der Fall Europa ...........................433 R ICHARD M ÜNCH Politik in einer entgrenzten Welt: Unerwünschte Folgen guter Absichten ....................................................465 W OLFGANG L UDWIG S CHNEIDER Planungs- und Steuerungsoptimismus als Auslöser für die Evolution ungeplanter Strukturen. Das Beispiel der zentralwirtschaftlichen Planung in der DDR ................483 Autorinnen und Autoren...........................................................................505 für Bernhard Giesen Vorw ort der Herausgeber Die unterschiedlichen Modalitäten des Erlebens und der Erfahrung sowie die in der Erfahrung des Unverfügbaren begründete Genese, aber auch permanente Fragilität personaler und kollektiver Identität will der vorlie- gende Band ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Er ist Bernd Giesen gewidmet und erscheint aus Anlass seines 60. Geburtstags. Die mit den drei Stichworten ›Erleben‹, ›Erleiden‹ und ›Erfahren‹ be- nannte Thematik spielt in der Soziologie, so scheint es wenigstens auf den ersten Blick, nur eine randständige Rolle. Die Heterogenität subjektiven Erlebens und die Diversität individueller Erfahrung, so man sich überhaupt ein Bild davon machen kann, scheint soziale Ordnung eher zu gefährden als sie zu tragen. Ob sich diese Heterogenität aber hinweg sozialisieren und durch einheitliche Norm- und Wertvorstellungen, also ein gemeinver- bindliches Über-Ich ersetzen lässt, dürfte heute mehr als fraglich sein. Das Individuum bleibt vielleicht doch, wie es bei Simmel heißt, eine Imponde- rabilie, und es wäre deshalb zu klären, wie trotz aller Diversität ein halb- wegs berechenbares Miteinander möglich ist. Die drei Stichworte bezeich- nen aus soziologischer Sicht also bislang eher ein Syndrom, dessen einge- hende Untersuchung noch aussteht. Zahlreiche Ansätze dazu finden sich in den Arbeiten unseres Jubilars. Das hier vorerst nur benannte Syndrom kann als Stachel und Ansporn seiner Analysen und Reflexionen betrachtet werden. Bernd Giesen hat sich bis heute vor allem für Phänomenkomplexe in- teressiert, die sich dem instrumentellen Zugriff der involvierten Parteien auf charakteristische Weise entziehen, sich dabei aber weder einfach als nicht-intendierte Folge sozialen Handelns erklären, noch allein auf die primär von psychologischer Seite untersuchten kognitiven, emotionalen oder motivationalen Voraussetzungen sozialen Handelns reduzieren las- sen. Um zu sehen, dass dies in der Tat ein durchgehendes, wenn auch stre- ckenweise latentes Motiv in den Arbeiten Bernd Giesens war und bis heute 12 | V ORWORT DER H ERAUSGEBER ist, mag man diese kurz Revue passieren lassen. Zu Beginn seiner Karrie- re, vor mehr als dreißig Jahren, hat er sich zunächst nicht nur mit der Er- fahrung von Inkonsistenz, sondern ganz allgemein mit Fragen der Wissen- schaftstheorie, mit den Normen wissenschaftlichen Erlebens und Urteilens beschäftigt, also mit einer Normierung von Verhaltensweisen, die sich, wie angedeutet, eben gerade nicht ohne Weiteres unter den Begriff zweck- rationalen Handelns subsumieren lassen, gleichwohl aber von einem insti- tutionell vermittelten subjektiven Sinn bestimmt sind. Wenig später be- gann er sich aus gesellschaftstheoretischer Perspektive der Evolutionstheo- rie und der Evolution von Kulturmustern und Gesellschaftsstrukturen zu widmen. Unterschiede der situativen Angemessenheit verschiedener Ver- haltenscodes und Handlungsheuristiken wurden dabei als das ausschlagge- bende, aber auf charakteristische Weise hinter dem Rücken der Betroffe- nen wirkende Selektionskriterium bestimmt. Auch hier rückte also eine Kategorie in den Status eines Grundbegriffs auf, die sich nicht ohne Wei- teres handlungstheoretisch auflösen und reformulieren ließ. In seinen dann deutlicher konstruktivistisch inspirierten Arbeiten zum Faszinosum der Kontingenz im Diskurs der Postmoderne und wenig später zur Genese na- tionaler Identität haben wir es wiederum mit Problemen zu tun, die sich einem instrumentellen Zugriff und damit einer handlungstheoretischen Rekonstruktion zu verweigern scheinen, geht es hier doch immer auch darum, sich mit dem Unverfügbaren, der unvermeidbaren Kontingenz der Gegenwart oder der Unwiederbringlichkeit der eigenen Vergangenheit ins Verhältnis zu setzen. In seiner letzten Monographie zum Thema ›Triumph und Trauma‹, die sich unter Fruchtbarmachung des Traumabegriffs auf identitätsbestimmendes, aber gleichwohl der bewussten Reflexion unzu- gängliches Erleben und Erleiden konzentriert, wird in dramatischer Weise deutlich, dass sich eine kultursoziologisch argumentierende Gesellschafts- theorie nicht auf das Problem der Aggregation einzelner Handlungen be- schränken kann. Auch die in Einzelfallanalysen vor wenigen Jahren begonnene und erst in Aufsatzform vorliegende Rekonstruktion generati- onsspezifischer Erfahrungszusammenhänge zeigt, dass diese sich der Ver- fügbarkeit des Einzelnen weitestgehend entziehen und sich nicht ohne Rest in Handlungen auflösen lassen. Schließlich verweigern sich auch die The- men der jüngsten Arbeiten von Bernd Giesen, das Tremendum religiösen Erlebens sowie das Erhabene in der ästhetischen Erfahrung, einer geradli- nigen handlungstheoretischen Rekonstruktion, und dies, obwohl die solche Erfahrungen auszeichnenden Qualitäten durchaus performativ in Szene ge- setzt und artikuliert werden müssen, um sozial relevant und soziologisch beobachtbar sein zu können. Analoges gilt zu guter Letzt, um auch die allerjüngsten, demnächst wohl unter dem Titel »Zwischenlagen« erschei- nenden Arbeiten nicht außen vor zu lassen, für die soziologische Untersu- chung des Ekels und unseres deutlich affektiv besetzten Verhältnisses zum Müll, unseres Erlebnishungers und der Beweislastprobleme als Reisende V ORWORT DER H ERAUSGEBER | 13 und Touristen, unsere Verführbarkeit und Verletzbarkeit in Anbetracht erotischer Verlockung und Abenteuer oder auch des Lachens als einer so- zialen, auf der Scheidelinie von Erleben und Handeln changierenden Grenzreaktion. Der Begriff des ›Erlebens‹, oder, wem dies mit Gadamer zu roman- tisch klingt, der Begriff der ›Erfahrung‹ bezeichnet ein notwendiges Kom- plement sozialen Handelns. Die konstitutive Rolle sozialen, aber auch äs- thetischen Erlebens, individueller und kollektiver Erfahrung sowie die dar- auf aufbauenden Formen individueller wie vor allem auch sozialer Selbst- beschreibung sollen im vorliegenden Band exemplarisch und explorativ zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Zunächst haben wir den hier versammelten Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge zum Gelingen dieses Projekts herzlich zu danken. Für ihre Unterstützung bei der Formatierung einzelner Texte und der Vervoll- ständigung mancher Literaturangaben sind wir darüber hinaus auch den Hilfskräften des Lehrstuhls des Jubilars zu Dank verpflichtet. Vor allem möchten wir auch Herrn Wierichs vom transcript -Verlag, der nicht zöger- te, dieses in seiner Anfangsphase zunächst durchaus riskant wirkende Un- ternehmen zu betreuen, unseren Dank aussprechen. Konstanz, den 28. Mai 2008 Kay Junge, Daniel Šuber und Gerold Gerber Einleitung K AY J UNGE /D ANIEL Š UBER /G EROLD G ERBER Di boni, quantum hominum unus venter exercet! (Seneca) I . ›Erleben‹, ›Erleiden‹, ›Erfahren‹, die drei titelgebenden Worte des vorlie- genden Bandes, beziehen sich auf ein und denselben sprachlichen Sinnbe- zirk. Sie heben dort aber jeweils spezifische Aspekte hervor und gewinnen ihr spezifisches Profil, trotz wichtiger Überlappungen, vor allem in Ab- grenzung zueinander. Dass ›Erlebnis‹ und ›Erfahrung‹ im Deutschen keine Synonyme sind, gleichwohl sich in dem, was sie bezeichnen, tendenziell decken, macht sich sofort bemerkbar, wenn man nach einem passenden Pendant dieser Termini in anderen Sprachen, beispielsweise im Englischen sucht. Was bei Dilthey ›Erlebnis‹ heißt, wird in amerikanischer Überset- zung zu ›experience‹, was bei Dewey ›experience‹ heißt, erscheint in deut- scher Übersetzung unter dem Titel ›Erfahrung‹. Erfahrungen aber kann man sammeln, Erlebnisse hingegen nicht, und diese metaphorische Ab- grenzung ist aufschlussreich. Ein Mensch mit Erfahrungen in einem be- stimmten Bereich, beispielsweise im Bäckerhandwerk oder in der universi- tären Lehre, oder auch im Großen und Ganzen, also mit ›Lebenserfah- rung‹, dürfte immer innerhalb des mit der Rahmenangabe mehr oder weni- ger eng umgrenzen Bereiches die unterschiedlichsten Dinge erlebt haben. Umgekehrt muss aber derjenige, der vielerlei erlebt hat, nicht auch not- wendigerweise ein erfahrener, und sei es nur ein bereichsspezifisch erfah- rener Mensch sein. Erfahren setzt Erleben voraus, umgekehrt gilt dies nicht. 16 | K AY JUNGE /D ANIEL Š UBER /G EROLD G ERBER Es scheint uns ratsam, hier kurz und eher tentativ die drei im Titel ge- nannten Begriffe zu definieren. Damit wäre ein erster Ausgangspunkt markiert, zu dem zurückzukehren natürlich niemand verpflichtet ist. ›Erle- ben‹ heißt zunächst einmal nur denkend und fühlend oder auch mitden- kend und mitfühlend anwesend und dabei zu sein. Das Verb hat zwei Va- lenzen, die zu besetzen gezwungen ist, wer es grammatikalisch korrekt verwenden will. Zum einen muss immer ›jemand‹ benannt werden, der etwas erlebt. Dabei handelt es sich typischerweise um ein menschliches Wesen; Dingen, Maschinen und auch den allermeisten, wenn nicht gar al- len nicht-menschlichen Lebewesen trauen wir diese Form einer mitden- kenden Präsenz kaum zu. Zum anderen ist jedes Erleben stets auf ein ›Et- was‹ bezogen, gewöhnlich auf etwas Zeitliches, ein Geschehen oder ein Ereignis. Erleiden ist ein Modus des Erlebens. Wenn der Gegenstand des Erle- bens als unangenehm erlebt wird und deshalb für gewöhnlich kaum direkt gesucht werden dürfte (wo das der Fall ist, sprechen wir von ›Leiden- schaft‹), dann sind wir berechtigt, diese Form des Erlebens durch den Terminus ›Erleiden‹ näher zu bestimmen. Wir erleiden einen Verlust oder eine Niederlage, müssen Schmerzen ertragen, haben die Anwesenheit un- gebetener Gäste zu erdulden oder fühlen uns in Anbetracht einer bestimm- ten Äußerung beleidigt. Das Verb ›erfahren‹ meint mehr als Erleben oder Erleiden. Das hat ei- nige, unter den Soziologen vor allem Max Weber, dazu verleitet, eher ab- fällig vom Erleben und der Suche nach dem Erlebnis zu sprechen, als han- dele es sich dabei lediglich um einen defizitären Erfahrungsmodus. Dieses Urteil hat die Karriere des Wortes ›Erleben‹ in den letzten hundert Jahren jedoch nicht bremsen können. Das Gegenteil ist eingetreten, und es ist das Wort ›Erfahrung‹, das in einer sich beschleunigt wandelnden Welt zuneh- mend an Relevanz einzubüßen scheint. Wer sich auf Erfahrung beruft, be- ruft sich auf ein vielleicht bald obsoletes oder bereits heute schon nicht mehr verständlich zu machendes Wissen. Der Gebrauch des Wortes wirkt deshalb häufig pathetisch und kann als vorbeugende Abwehr von Nachfra- gen und Kritik verstanden werden. Gleichwohl gibt es nach wie vor Berei- che, in denen Erfahrung durch nichts Anderes ersetzt werden kann. Dazu gehören ganz sicher sexuelle Erfahrungen, im Arbeitsleben nach wie vor die Berufserfahrung, im Straßenverkehr die Fahrerfahrung, in der Freizeit vielleicht Erfahrungen mit Drogen oder auch die Erfahrungen, die man als Bergsteiger, Koch oder Ethnologe gesammelt hat. Wo das an Gewicht un- bestreitbar zunehmende, sich von Auflage zu Auflage wandelnde Lehr- buchwissen allein nicht ausreicht, da ist nach wie vor Erfahrungswissen gefragt. Wer Erfahrungen zu sammeln vermag und sich als erfahren er- weist, der hat aus dem, was er erlebt hat, etwas gelernt. Um Erfahrungen sammeln zu können aber bedarf es immer einer gewissen Auffassungsga- be, Sensibilität und Urteilskraft. Erfahrung, so wollte es Goethe, sei des- E INLEITUNG | 17 halb immer nur zur Hälfte Erfahrung. Sie ist notwendig immer auch Ver- allgemeinerung und geht spätestens mit ihrer begrifflichen Vermittlung unweigerlich über das unmittelbar Erfahrene, eben über die ihr zugrunde liegende Kette von Erlebnissen hinaus. Während zur Erfahrung das Urteil und die begriffliche Vermittlung hinzukommen, ist das Erleben darauf nicht notwendig angewiesen. Erlebnisse reihen sich einfach aneinander, Erfahrungen dagegen können widersprüchlich sein und müssen in An- betracht von Inkonsistenzen überdacht werden. Wenn im Amerikanischen deshalb von ›coherent‹ oder ›consistent experience‹ die Rede ist, dann geht es um Wirklichkeitserfahrung, wenn von ›immediate‹ oder ›lived expe- rience‹ die Rede ist, geht es um Wahrnehmen und Erleben. Ob Erleiden vielleicht eine größere Affinität zum Erfahren hat als Erleben, das soll hier nicht erörtert werden. Der Spruch, dass man aus Schaden klug würde, scheint doch kaum mehr als eine fromme Hoffnung auszudrücken und ge- rade lerntheoretisch schlecht abgesichert. Wer in seinem Leben, im Beruf oder in der Ehe ausschließlich negative Erfahrungen gesammelt hat, gilt typischerweise gar nicht als erfahren. Um tatsächlich Erfahrungen sam- meln zu können, müssen wir auch positive Erfahrungen machen. Erfah- rungen können dann aufeinander aufbauen, und deshalb können sie auch gezielt gesucht werden. Der Begriff der Erfahrung beschränkt sich daher nicht auf das eher passive rezeptive Registrieren und Sammeln, sondern umfasst auch das eher aktive produktive Erkunden und Erforschen von Wirklichkeit. In genau diesem Sinne hat sich die Soziologie zuweilen als ›Wirklich- keits- ‹ und ›Erfahrungswissenschaft‹ vorgestellt und in den akademischen Betrieb eingereiht. Das besagt natürlich noch wenig über ihren genauen Gegenstand. Die wohl wirkungsmächtigste programmatische Definition dessen, was Soziologie sei oder sein soll und womit sie sich zu beschäfti- gen habe, geht auf Max Weber zurück, bei dem es bekanntlich heißt, Soziologie sei die Wissenschaft vom »sozialen Handeln«, das sie deutend zu verstehen und unter Rückgriff auf diese Deutung zu erklären habe. Mit dem in dieser Weise zentral platzierten Begriff der ›Handlung‹ haben wir ein Passepartout verfügbar, das auch die äußeren Grenzen des hier tentativ mit den drei Begriffen ›Erleben‹, ›Erleiden‹ und ›Erfahren‹ markierten Sinnbezirks sichtbar macht. Sichtbar werden dürfte damit aber auch eine gewisse Schieflage oder Einseitigkeit, denn der Gegenstandsbereich der Soziologie lässt sich, wie bereits oben angedeutet, nur unzureichend als ein Kompositum isolierbarer Einzelhandlungen begreifen. An den Reaktionen unserer Mitmenschen lernen wir, wofür wir uns zu verantworten haben und was uns als Handeln, einerlei ob Tun oder Unter- lassen, zurechnen lassen müssen. Ja, erst anhand der Reaktionen relevanter Anderer lernen wir, wer wir überhaupt ›sind‹, wie Georg Herbert Mead nicht müde wurde zu betonen. Nur soweit wir diese Reaktionen zu antizi- pieren in der Lage sind, können wir erfolgreich handeln und unser Verhal- 18 | K AY JUNGE /D ANIEL Š UBER /G EROLD G ERBER ten mit Anderen koordinieren. Diese nach innen verlagerte Kontrolle ist der Normalzustand, von dem Weber ausgeht. Für Mead hingegen ist diese nach innen verlagerte Kontrolle ein allenfalls approximativ erreichbarer Grenzzustand. Typischerweise nämlich vollendet sich unser Handeln erst in der Reaktion des Gegenübers. Wo diese nicht richtig antizipiert wurde, werden wir zur Korrektur unserer Erwartungen gezwungen. Wir werden also, wie uns vor allem die Ethnomethodologie gezeigt hat, gewisser- maßen kontinuierlich nachsozialisiert. Die Frage, welche Ausschnitte aus unserem mehr oder weniger kontinuierlichen Verhaltensfluss als eine Handlung markiert wird, bleibt der Kontrolle des Interaktionssystems selbst überlassen. Was nicht als Handlung herausgehoben wird, bleibt sozial belangloses ›Verhalten‹, so scheint es. Aber auch das ist offenkun- dig nicht ganz richtig. Wo immer erfolgreiches soziales Handeln die Aufmerksamkeit der an- gesprochenen oder irgendwie involvierten Person zur Voraussetzung hat, wird typischerweise nämlich auch unser Erleben sozial ›konditioniert‹ und bestimmt. Soziale Beziehungen beruhen, so bekanntlich Weber, auf dem wechselseitigen Aufeinander-eingestellt-sein der involvierten Parteien. Wir müssen nicht nur wissen, über was sich ein Kollege freuen könnte, wenn wir ihm ein Geschenk zu machen gedenken, oder was ihn aus der Fassung bringen könnte, wenn wir ihn in den Wahnsinn zu treiben beab- sichtigen. Wir müssen auch selbst lernen, wie man sich angemessen über ein Geschenk freut oder wie man sich beleidigt und verletzt zeigt. Jeman- dem ein Geschenk zu machen ist eine Handlung, sich über ein Geschenk zu freuen gilt uns aber typischerweise als eine bestimmte Form des Erle- bens. Als Quelle oder Ursache des Schenkens betrachten wir die schen- kende Person. Den Grund für die Freude des Beschenkten aber lokalisieren wir in der Situation, eben in dem Umstand, dass er beschenkt wurde. Diese schematische Unterscheidung von Erleben und Handeln ist ein sozial all- gegenwärtiges Phänomen. Wenn einer spricht, muss die angesprochene Partei zuhören, oder sie wird dazu angehalten, bevor der Sprecher erneut beginnt. Der Sprecher handelt, aber der Zuhörer stellt sich nur auf die da- durch bestimmte Situation ein. Natürlich ist dieses Zuhören eine Aktivität und will gelernt sein, gleichwohl qualifizieren wir dieses Verhalten norma- lerweise nicht als Handlung. Wenn wir den Grund unseres Verhaltens vorrangig der Situation zu- rechnen, in die wir verstrickt sind, kann man dieses Verhalten als ›Erle- ben‹ qualifizieren. Wenn wir den Grund unseres Verhaltens in uns selbst verorten, sprechen wir typischerweise von einer ›Handlung‹. Aber auch wenn die Situation unser Verhalten zu determinieren scheint, reagieren wir nicht einfach unvermittelt auf externe Reize, sondern orientieren uns an Heuristiken und kulturellen Schemata. Wir haben gelernt, was es heißt, bei einer Party gute Laune zu haben, sich vor Gericht einsichtig zu zeigen, im Falle einer moralischen Belehrung betroffen zu sein, beim Einkaufen nor- E INLEITUNG | 19 mal, in der U-Bahn indifferent und bei einem Festvortrag interessiert. Ge- lernt haben wir dies durch Orientierung am Verhalten Anderer. Mit Orien- tierung am Verhalten Anderer entwickeln wir ein mehr oder weniger ex- plizites, zumeist aber habitualisiertes und routiniert gehandhabtes Erfah- rungswissen. Die Aktivierung dieses Wissens bleibt aber immer auf das jeweils aktuelle Erleben angewiesen. Die Orientierung am Anderen ist nicht nur ein Modus zur Generierung von Erfahrungswissen, sondern bestimmt, sobald Andere anwesend sind, auch aktuell unseren Erlebnis- fluss und unser Verhalten. Wir bemerken bei Tisch am suchenden Blick des Gastes, dass noch Salz fehlt, und wir haben umgekehrt auch ein Gespür dafür, wie wir Kopf und Augen bewegen müssen, damit der Ande- re darauf kommt, dass wir das Salz bräuchten. Der Kellner sieht sofort, wenn ein Gast die Toilette sucht und weist ihm ungefragt den Weg; der Gast weiß, wie er sich zu bewegen hat, um eben diesen Wink zu bekom- men. Erlebend und ohne einander adressieren zu müssen orientieren sich hier die Parteien aneinander. Wir hatten eingangs beobachtet, dass dem Verb ›erleben‹ eine Subjekt- und eine Objekt-Valenz zukommt. Hier nun scheint es, als würde eine drit- te Valenz, die durch die Benennung eines Partners besetzt werden kann, relevant. Für Verben, die für soziales Handeln stehen, ist eine solche drei- wertige Valenz von Subjekt, Partner und Objekt in der Tat charakteris- tisch. Schon die Grammatik zwingt uns gewissermaßen dazu, das damit bezeichnete Verhalten sozial anzubinden. Es muss heißen: »Ich schenke Dir ein Buch«. Der Gebrauch des Verbs »schenken« im Satzzusammen- hang verlangt die Besetzung von drei Valenzen, also die Nennung eines Subjekts, eines Objekts und eines Partners. Wer im Rahmen einer sozialen Beziehung handelt, adressiert damit eo ipso einen Anderen. Der Adressat einer solchen Handlung ist dadurch gezwungen, zu ihr Stellung zu bezie- hen. Im Unterschied dazu hat Erleben aber typischerweise keine Adresse. Es hat nur einen Anlass. Verben, die für unser rezeptives Verhalten, unser Erleben und unsere Befindlichkeit stehen, bedürfen nicht notwendig der Nennung eines Partners. Sie reduzieren die Situation auf eine Subjekt- Objekt-Konstellation. Das Erleben, Empfinden und Wahrnehmen unserer Mitmenschen bleibt deshalb auf charakteristische Weise unnahbar, unbe- streitbar und indisponibel; es wird somatisiert, psychologisiert und natura- lisiert und der kommunikativen Verfügbarkeit entzogen. Erleben steuert das soziale Geschehen nur implizit. Weil wir keinen unmittelbaren Zugang zum Erleben Anderer, ja viel- leicht nicht einmal zum eigenen Erleben haben, sind wir auf den Diskurs darüber verwiesen. Das explizite Kenntlichmachen unseres Erlebens, unse- rer Gefühle, Erfahrungen oder erlittenen Enttäuschungen ist dabei auf ganz bestimmte kommunikative Formate angewiesen. Eines der prominentesten Formate ist das Erzählen von Geschichten. Viele Kulturwissenschaftler sind heute geneigt, die identitätskonstitutive Synthese unserer Erlebnisse