Daniela Holzer Weiterbildungswiderstand Pädagogik Daniela Holzer (Assoz. Prof. Dr.) lehrt und forscht im Fachbereich Erwachsenen- und Weiterbildung an der Universität Graz. Aus kritisch-theoretischer Perspekti- ve widmet sie sich in ihren Forschungen gesellschaftskritischen Analysen der Erwachsenen- und Weiterbildung. Daniela Holzer Weiterbildungswiderstand Eine kritische Theorie der Verweigerung Veröffentlicht mit der Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF): PUB 418-G29 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 (BY). Creative Commons Attribution 4.0 (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/de/legalcode) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2017, transcript Verlag Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Verena Hauser, Wien Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3958-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3958-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@transcript-verlag.de Inhalt 1. Einleitung | 11 2. Ankerpunkte: Kritische Theorie und kritische Bildungswissenschaft | 21 2.1 Grundlinien der Kritischen Theorie | 22 2.1.1 Neuer Wein in alten Schläuchen | 22 2.1.2 Vom Leiden über Dialektik, Kritik und Reflexivität zur Abschaffung von Leid | 27 2.2 Exkurs: Kritische Theorie und Poststrukturalismus – ein »Geschwister«-Streit | 32 2.3 Ähnliche Wege trotz differenter Theoriebezüge: kritische Bildungswissenschaft | 41 2.3.1 Exkurs: Begriffe in disziplinärer Uneinigkeit | 42 2.3.2 Von Aufschwüngen, Abschwüngen und Neubelebungen | 46 2.3.3 Ein schwieriges Verhältnis: Kritische Theorie und (Erwachsenen-)Bildung | 51 3. Negativ-dialektisch denken und lesen | 55 3.1 Lücken und Herausforderungen | 59 3.1.1 Theoriebildung »passiert einfach«? | 60 3.1.2 (Fehlende) Kritische Methodologie und Methoden | 65 3.1.3 Methodologie und Methode negativ-dialektischen Denkens und Lesens | 71 3.2 Das Was und das Wie von kritischer Kritik und kritischer Reflexion | 75 3.2.1 Vorangestellt: Denken | 76 3.2.2 Kritische Kritik: immanent, ideologie- und selbstkritisch | 84 3.2.3 (Selbst-)Reflexion und Selbstkritik | 97 3.2.4 Erste methodische Überlegungen: Denken und Verhältnisse in Bewegung bringen | 100 3.3 Negative Dialektik: Essenzielle Momente und erste methodische Fragmente | 103 3.3.1 (Negative) Dialektik | 106 3.3.2 Negation und das Negative | 112 3.3.3 Nichtidentisches | 118 3.3.4 Konstellationen | 121 3.3.5 Geistige, sinnliche, leibliche, emotionale Erfahrung | 128 3.3.6 Ergänzung: Möglichkeiten und Utopie | 133 3.4 Exkurs: Egon Schiele als negativer Dialektiker | 139 3.5 Radikale, negative Bildungstheorie | 141 3.5.1 Radikale Kritik und Selbstreflexion | 142 3.5.2 Negativität und Handlungsoffenheit | 143 3.5.3 Gesellschaftskritische, eingreifende Theorie und Praxis | 145 3.6 Negativ-dialektisch denken und lesen: ein Methodenentwurf | 149 3.6.1 Zur Navigation – prozesshafte Entwicklung von Aneignungen und Anwendungen | 151 3.6.2 Methodische Unmethode | 159 3.6.3 Unmethodische Methode | 167 3.7 Einmal Wüste und retour | 184 4. Widerstand in (Weiter-)Bildungskontexten | 187 4.1 Widerstand gegen (Weiter-)Bildung gesellschaftskritisch betrachtet | 191 4.1.1 Prolog: Leo N. Tolstoi: »Gedanken über Volksbildung« | 193 4.1.2 Hundert Jahre Leere? | 196 4.1.3 Paul Willis: »Spaß am Widerstand – Learning to Labour« | 198 4.1.4 Henry A. Giroux: »Theory and Resistance in Education« | 202 4.1.5 Dirk Axmacher: »Widerstand gegen Bildung« und Arbeiten von Wolfgang Huge | 207 4.1.6 Axel Bolder und Wolfgang Hendrich: »Fremde Bildungswelten« | 217 4.1.7 Daniela Holzer: »Widerstand gegen Weiterbildung« | 224 4.1.8 Versatzstücke und Splitter in weiteren Forschungen | 226 4.2 Übergänge | 230 4.2.1 Themenhefte: Begriffswandel und unverbundenes Nebeneinander | 231 4.2.2 Widerstände in (psychologischen) Lerntheorien – Peter Jarvis, Knud Illeris, Klaus Holzkamp, Peter Faulstich und ein Exkurs zu Frigga Haug | 240 4.3 Vollständiger Wechsel des Fokus: Lernwiderstände und der Verlust des Kritischen | 250 4.3.1 Thomas H. Häcker: »Widerstände in Lehr-Lern-Prozessen« | 252 4.3.2 Peter Faulstich, Petra Grell: Lernwiderstände | 254 4.3.3 Anke Grotlüschen: widerständiges Lernen und Interessetheorie | 258 4.3.4 Melanie Franz: Organisationstheoretischer Widerstand und Widerstand als Lernanlass | 261 4.3.5 Versatzstücke und Splitter in weiteren Forschungen | 262 4.4 Widerstand als Bildungsziel | 266 4.4.1 (Erwachsenen-)Bildung zwischen Anpassung und Widerstand | 267 4.4.2 Widerstand durch Bildung, Bildung durch Widerstand | 271 4.5 Forschungslinien, Anknüpfungspunkte und Leerstellen | 278 5. Ausflüge in Nachbardisziplinen | 291 5.1 Widerstandsforschung: Hype und Entwicklungen | 295 5.1.1 Widerstands- und Protestforschung | 296 5.1.2 Erweiterung des Begriffs und Dominanz von Poststrukturalismus und Cultural Studies | 299 5.2 Widerstand in Unternehmen: divergierende Interessen | 303 5.2.1 Widerstand managen | 303 5.2.2 Critical Management Studies und Organizational Misbehaviour | 312 5.3 Politische, gesellschaftstheoretische und philosophische Diskurse | 318 5.3.1 Juristische und demokratietheoretische Fragen des Widerstandsrechts | 319 5.3.2 (Ziviler) Ungehorsam | 323 5.3.3 Widerstand als moralphilosophische Dimension von Vernunft | 327 5.3.4 Verweigerung und Revolution | 331 5.3.5 (In-)Direkter Kampf gegen Herrschende oder ein diffuses Gegenüber | 334 5.3.6 Exkurs: Bartleby und seine Verehrer_innen | 339 5.3.7 Subjektivierung und Widerstand: Alltagshandeln mit subversiver Garantie? | 340 5.4 Mitzunehmende Gepäckstücke | 352 6. Weiterbildungswiderstand jenseits bisheriger Eingrenzungen: eine negativ-dialektische Lesart | 359 6.1 Umkreisungen von Worten | 365 6.1.1 Benennungsvielfalt und Konnotationen | 365 6.1.2 Erneuerte Begriffspraxis: Weiterbildungswiderstand | 370 6.2 Weiterbildungswiderstand als negativ-dialektisches Widerspruchsverhältnis | 375 6.2.1 Die Dialektik von Weiterbildung und Weiterbildungswiderstand | 375 6.2.2 Die Widersprüchlichkeit des Weiterbildungswiderstands | 383 6.2.3 (Gegen-)Gegen-Gegenbewegung | 388 6.3 Weiterbildungswiderstand als Negation | 400 6.3.1 Ein- und Entgrenzungen | 402 6.3.2 Wider die Positivierung | 404 6.3.3 Das »Nicht-« als Normbruch | 409 6.3.4 Die Negation nicht-beruflicher Erwachsenenbildung | 410 6.4 Interessenlagen | 414 6.4.1 Manifestationen von Interessengegensätzen | 415 6.4.2 Weiterbildungswiderstandsinteresse | 421 6.5 Antagonist_innen | 443 6.5.1 Das Gegenüber des Weiterbildungswiderstands | 444 6.5.2 Die (potenziell) Widerständigen | 448 6.6 Handlungen und Praktiken: Widerstand in allen Farben und Formen | 453 6.6.1 Widerständige Handlungsdimensionen | 455 6.6.2 Facetten weiterbildungswiderständiger Praxis lesbar machen – der Kontext | 466 6.7 Kritischer Weiterbildungswiderstand | 472 7. Essayistische Skizzen und Miniaturen | 483 8. Literatur | 507 9. Anhang | 555 Egon Schiele, Herbstbaum in bewegter Luft (»Winterbaum«), 1912 Leopold Museum, Wien Philosophie ist das Allerernsteste, aber so ernst wieder auch nicht. ( A dorno 1966/2003: 26) 1. Einleitung Er ist still, unauffällig, weitgehend unsichtbar. Er ist störend, lästig, irritierend. Er ist einsam, kaum artikuliert, teilweise unbewusst. Er ist negierend, wider- sprüchlich, unauflöslich. Er ist vielfältig, beweglich, unterschiedlichst inte- ressiert. Weiterbildungswiderstand hat viele Facetten, die es zu entdecken gilt. Weiterbildung ist kein neutraler Raum. Sie ist besetzt, vereinnahmt, um- kämpft. Manches Ringen antagonistischer Interessen tritt offen zu Tage, während andere Kämpfe unsichtbar und eher unauffällig bleiben. Weiterbil- dungswiderstand tritt zumeist in unspektakulärem Gewand auf, verschwin- det in seiner häufigen Unscheinbarkeit hinter offensichtlicheren Anliegen und rutscht zumeist unter die Wahrnehmungsschwelle. In manchen Erschei- nungsformen wird er in der Erwachsenen- und Weiterbildung von Lehrenden als Störung des Kurs- und Lerngeschehens getadelt, in stillen Unterlassungen, schweigendem Abwenden, unartikuliertem Entziehen tritt er aber nicht auf den ersten Blick hervor, bleibt in Form von Nicht-Teilnahme sogar weitgehend unbemerkt. Erst eine Perspektive, die Weiterbildungsabstinenz nicht lediglich strukturellen Verhinderungen zuschreibt, sondern solche Unterlassungen als eigenlogisches und subjektiv beeinflussbares, sogar sinnvolles Handeln re- konstruiert, eröffnet eine Betrachtungsweise, dass Erwachsenen- und Weiter- bildung nicht bei allen auf jenes hohe Interesse und jene Bereitschaft stößt, die unterstellt oder normativ erwartet wird. Obwohl vereinzelte Forschungen vorliegen und in der Fachliteratur gelegentliche Erwähnungen aufzustöbern sind, bleibt Weiterbildungswiderstand dennoch ein weitgehend vergessenes Moment. Er kann aber als Ausdruck subjektiver Bedürfnisse jenseits verordne- ter Lernzwänge, als Relevanz von Lebenswelten jenseits der Erwachsenen- und Weiterbildung oder als Problematisierung von Themen und Gestaltungen or- ganisierter Lehr-Lern-Prozesse gelesen werden. Er öffnet eine wissenschaftli- che und praktische Perspektive, sowohl Weiterbildungsabstinenz als auch Vor- gänge in Lehr-Lern-Situationen differenzierter zu beleuchten, als dies bisher erfolgt ist. Es gilt daher, ihn auf die Bühne zu holen, ihm einen angemessenen Raum in der wissenschaftlichen und praktischen Fachöffentlichkeit zu ver- schaffen und ihn aus dem Dunkel erklärter Irrelevanz hervortreten zu lassen. Weiterbildungswiderstand 12 Weiterbildungswiderstand kratzt am Image der Erwachsenen- und Wei- terbildung, werden doch deren kolportierte Sinnhaftigkeit, Nützlichkeit und Unumgänglichkeit in Zweifel gezogen, wenn Erwachsene sich entziehen, sich abwenden oder sich offen verweigern, ob nun in Form von Abstinenz oder in- nerhalb von Lehr-Lern-Prozessen. Widerständig handelnde Erwachsene stellen in Frage, ob Teilnahme und Lernen tatsächlich jene Bedeutung haben, die ih- nen gesellschaftlich derzeit verliehen wird und die von der Erwachsenen- und Weiterbildung mit gepflegt und vorangetrieben, selten aber hinterfragt wird. »Ob wir dem Trend zu einer beschleunigten Umwälzung des wissenschaftlich geprägten Berufswissens in Form von life-long-education, Umschulung, be- ruflicher und betrieblicher Weiterbildung folgen wollen, ist ein Problem, das in Erwachsenenbildungsprozessen wohl die größten Chancen hat, nicht gestellt zu werden« (Axmacher 1990a: 216). In gewissem Sinn bildete die Arbeit von Axmacher (1990 a) einen Auftakt dafür, dass Widerstand gegen (Weiter-)Bil- dung nicht mehr einfach ignoriert werden konnte. Auch im deutschsprachigen Raum können nun weder Wissenschaft noch Praxis weiterhin daran festhal- ten, dass Erwachsenen- und Weiterbildung unumwunden von allen gutgehei- ßen und freudestrahlend in Anspruch genommen wird, sondern sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich gegen zunehmenden Weiterbildungsdruck und -zwang auch Widerstand formiert. Seit Axmachers »Auftakt« gibt es ver- einzelte Auseinandersetzungen mit Widerstand gegen (Weiter-)Bildung (z.B. Bolder/Hendrich 2000), in den letzten Jahren auch eine Diskussion von Wi- derständen in Lehr-Lern-Situationen (z.B. Faulstich/Grell 2005); umfassende- re und die heterogenen Zugänge zusammenführende Widerstandsforschun- gen, insbesondere aber intensivere theoretische Überlegungen bleiben im Feld der Erwachsenen- und Weiterbildung aber aus. Zündfunken für eine Theorieentwicklung Woran entzündete sich der Funke, der mich bewegte, mich eingehend mit Wi- derstand gegen (Weiter-)Bildung auseinanderzusetzen? Ich beschäftigte mich bereits vor einigen Jahren erstmals intensiver mit diesem Themenfeld (vgl. Holzer 2004) und es ist seither nie ganz aus meinem Blickfeld verschwunden. Aus einem kritischen Erkenntnisinteresse heraus verfolgte ich einzelne Ge- danken zuweilen weiter, insbesondere die Spur, Weiterbildungswiderstand als kritische Praxis zu betrachten. In den letzten Jahren ist eine Verschärfung von Weiterbildungsverpflichtungen und von Lern- und Weiterbildungszumutun- gen wahrzunehmen. Kaum noch hinterfragbar und durchschaubar ist lebens- langes Lernen als unumgängliche, quasi »naturgesetzliche«, zumindest aber jenseits gesellschaftlicher Einflussnahmen fortschrittslogische Notwendigkeit besiegelt. Die dahinterliegenden Interessen werden zwar kaum verschleiert, vielmehr wird sogar direkt ausgesprochen, dass kapitalistischer Wettbewerb und ökonomischer Fortschritt angestrebt werden. Allerdings werden die ge- 1. Einleitung 13 sellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen als Strukturdeterminis- men dargestellt, denen wir nur noch folgen können, auf die aber angeblich keine Einflussnahme möglich ist. Unausgesprochen bleibt, dass die verspro- chenen individuellen Erfolge, sei es Erwerbsarbeitssicherung oder gesell- schaftliche Teilhabe qua Weiterbildung, lediglich Lockmittel sind, um jede_n zu motivieren, eigenständig die Ware Arbeitskraft weiterzuentwickeln, um sie am »freien« Markt zu verkaufen und jenen Mechanismen zuzuführen, die an- dere daraus Mehrwert abschöpfen lassen. Der »Fetisch« Bildung, also dessen quasireligiöse Verehrung als wertvolles, nützliches, brauchbares, emanzipato- risches Gut, ist aber bereits Grundlage der Konstitution der bürgerlich-kapita- listischen 1 Gesellschaft und dementsprechend noch tiefer in unserem Denken verankert als das berufliche Brauchbarkeitslernen. Weiterbildungswiderstand entzieht diesen Beteuerungen einige Grundlagen, indem er in Frage zu stellen droht, dass Lernen und Bildung nicht per se für alle gut und wünschenswert sind, dass Weiterbildungs- und Lernbedürfnisse nicht so groß sind, wie es die Weiterbildungspraxis erhofft und die Weiterbildungswissenschaft als Legiti- mation für ihr Tun braucht, und dass sich die Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit für viele nicht so recht einstellen will. An diesen Verhältnissen entzündete sich der Funke, Weiterbildungswiderstand nochmals in den Blick zu nehmen und genauer zu erkunden, ob und wie angesichts dessen Widerstand noch denkbar ist. Das Vorhaben bestand zunächst eigentlich darin, bereits in Forschungen angesprochene Motive, Hintergründe, Entscheidungs- und Handlungsmög- lichkeiten von Weiterbildungswiderstand zu erkunden, weil ich sowohl in Stu- dien zu Weiterbildungsbeteiligung als auch in jenen zu Weiterbildungsabsti- nenz und in Arbeiten zu Lernwiderständen noch ausdifferenzierbare Aspekte entdeckte. Mit dem Eintreten in das Themenfeld öffneten sich aber ständig neue Türen zu weiterführenden und komplexeren Denkmöglichkeiten, die mich dazu verführten, mich einer Theorie von Weiterbildungswiderstand zu widmen, da eine solche bislang erst in Ansätzen ausformuliert ist. Lücken und Leerstellen Was fehlt, ist ein umfassendes und komplexes Verständnis von Weiterbil- dungswiderstand in all seinen möglichen Facetten, Ausdrucksformen und Bedeutungen. Vorhandene Arbeiten liefern wertvolle Einblicke, wählen aber spezifische Ausschnitte, integrieren kaum konsequent andere vorhandene For- schungen im Feld und stellen wenig Verbindungen zu anderen philosophi- schen, sozial- und politikwissenschaftlichen Widerstandsforschungen her, ob- 1 | Obwohl die bürgerliche Gesellschaft bislang ausschließlich eine kapitalistische ist und umgekehrt, verwende ich den Doppelbegriff, um sowohl auf die kulturelle als auch ökonomische Dimension dieser Gesellschaftsform hinzuweisen. Weiterbildungswiderstand 14 wohl diese gerade in den letzten Jahren zahlreiche relevante Erkenntnisse über stille und unauffällige Widerstandsformen erbracht haben. Mit den jeweiligen Schwerpunktsetzungen, den engen Eingrenzungen von Widerstand und der Unverbundenheit der Forschungen wird aber der Eindruck erweckt, Wider- stand sei in Bildungskontexten ein zu vernachlässigendes Element, da er nur ein Randsegment der potenziellen oder realen Weiterbildungsteilnehmenden betreffe. In der Erwachsenen- und Weiterbildung stellte sich kein durchgän- giger und breiter Diskurs über Widerstand ein. Nicht zuletzt deshalb fanden nicht nur kaum Weiterentwicklungen statt – es blieb bei Inselforschungen –, sondern ist Weiterbildungswiderstand als Begriff und Handlung nicht in der Fachöffentlichkeit verankert. Statt auf geteilten und bekannten Erkenntnissen fußende neue Denkmöglichkeiten und empirische Studien zu betreiben, bleibt es bei einer verschwommenen Vorstellung davon, was unter Widerstand in Bil- dungszusammenhängen verstanden werden könnte, und beginnt jede Diskus- sion neuerlich weitgehend bei null. Dies verhindert eine Weiterführung der Gedanken und differenziertere Erforschung. In meinem Vorhaben stellte ich mir daher die Aufgabe, lose Stränge zusammenzuführen, vorhandene Frag- mente aufzuspüren, weiteren Spuren zu folgen und sie in eine integrierte Dis- kussion zu verbinden. Ein solches Anliegen trifft auf die Schwierigkeit, dass Weiterbildungswiderstand vor allem in der unsichtbaren Handlungsform der Unterlassung auftritt und noch dazu mit »Denkverboten« belegt ist. Ich richte meinen Blick – zuweilen stur – auf genau dieses Übersehene und »Undenk- bare«, wähle die Perspektive auf das Widerständige und die Widerständigen und suche nach potenziell weiteren Widerständen. Eine solche integrierende und über bislang Erforschtes hinausgehende Perspektive macht deutlich, dass Widerstand in Bildungskontexten kein randständiges Phänomen ist, wie bis- herige Forschungen vielleicht den Eindruck erwecken, sondern in vielen Fa- cetten die gesamte Erwachsenen- und Weiterbildung durchzieht. Widerstand gegen (Weiter-)Bildung ist ein – absichtlich oder unabsichtlich – vergessenes und übersehenes Phänomen. Weiterbildungswiderstand theoretisch zu fassen, lässt sich allerdings nur in Fragmenten verwirklichen, denn Theorie ist kein Wurf, der sich in einem Buch und von einer Person bewerkstelligen lässt. Einem kritisch-theoretischen Verständnis folgend ist Theorie auch nicht abseits der Praxis zu stellen. Sie wird »nicht durch einen einmaligen Akt zur Theorie. Eher kann Theorie als eine Serie von Äußerungen begriffen werden« (Demirović 2001: 168), die ihre Gültigkeit auch daran misst, ob und wie sie in die Praxis eingeht. Sie bedarf Weiterentwicklungen, Verfeinerungen, Ergänzungen und der Kritik. Gleich- wohl tritt Theorie aber an, einen Gegenstand »angemessen kompliziert zu ma- chen« (Steinert 2007a: 176). Erkenntnisgewinn dient einem »Naivitätsverlust« (ebd.: 177). Theorie hat jedoch auch immer Aspekte des Unwahren, ist Versuch und Entwurf und bedarf empirischer Ergänzungen. Zugleich gilt aber: »Ohne 1. Einleitung 15 jenes Sich-zu-weit-Vorwagen der Spekulation jedoch, ohne das unvermeidliche Moment von Unwahrheit in der Theorie wäre diese überhaupt nicht möglich: sie beschiede sich zur bloßen Abbreviatur der Tatsachen, die sie damit unbe- griffen, im eigentlichen Sinn vorwissenschaftlich ließe« (Adorno 1959/2006: 23). 2 Dieser Möglichkeiten und Grenzen bewusst, widme ich mich einer theore- tischen Ergründung und Vertiefung von Widerstand gegen (Weiter-)Bildung. Einzelne Ansätze einer theoretischen Fassung von Widerstand liegen bereits vor, beispielsweise von Giroux (1983/2001) im schulischen Kontext und von Axmacher (1990 a) auf Weiterbildung bezogen. Es gibt Ansätze des Widerstän- digen in lerntheoretischen Arbeiten (Holzkamp 1987/1997, 1993/1995; Illeris 2008, 2010; Jarvis 2010, 2012; Faulstich 2013) und es gibt empirische Erkun- dungen (Bolder/Hendrich 2000; Grell 2006a). Eine umfassende, komplexe Theorie für Weiterbildungswiderstand ist aber bislang ausständig und eine solche gilt es zu beginnen. Alle theoretischen Lücken werden aber nicht zu fül- len sein. Mein Blick muss sich fokussieren. Viele Anknüpfungspunkte werden lediglich gestreift. Auslassungen sind unvermeidlich. Der Theoriegenerierung geschuldet werde ich zudem kaum im Detail von einzelnen Widerständen, von widerständigen Handlungen und von handelnden Personen sprechen – diese treten in vorhandenen empirischen Studien bereits in vielen Facetten hervor und bedürfen noch weiterer Forschungen. Vielmehr bewege ich mich in erster Linie auf der abstrakten Ebene des Versuchs, Zusammenhänge zu ergründen, Erklärungen zu erschließen und alternative Denkansätze zu erkunden. Negativ-dialektische kritische Theorie Die Perspektive, von der aus ich Weiterbildungswiderstand erkunde, ist eine kritisch-theoretische, wobei ich an die sogenannte »ältere« Frankfurter Schule und deren Weiterentwicklungen anschließe. In diesen Ansätzen entdecke ich die adäquaten gesellschaftstheoretischen Erklärungsmaßstäbe, die erkennt- nistheoretischen Begründungen und Denkmöglichkeiten, die sich auch für die Erkundung von Weiterbildungswiderstand als treffend erweisen. Theorie- generierender Ausgangspunkt und sowohl inhaltlicher wie auch methodolo- gischer Leitfaden sind dabei Adornos Ausführungen in der Negativen Dialek- 2 | In den Quellenverweisen nutze ich die Darstellung in Form von doppelten Jahres- zahlen, um nicht nur auf die mir vorliegende Ausgabe, sondern auch das ursprüngliche Erscheinungsjahr hinzuweisen. Ich halte diesen genauen Hinweis für wichtig, um sowohl die historische Einbettung eines Textes zu verdeutlichen als auch den Denkverlauf von Autor_innen nachzuzeichnen. Bei Adorno und Foucault haben sich beispielsweise Über- legungen stetig weiterentwickelt und verändert, weshalb es von Bedeutung ist, ob es sich um frühere oder spätere Arbeiten handelt, und ich will nicht voraussetzen, dass das jeweilige Œuvre und dessen Verlauf vertraut sind. Weiterbildungswiderstand 16 tik 3 . In mehrfacher Hinsicht wäre es naheliegender, auf poststrukturalistische Ansätze und die Cultural Studies zurückzugreifen, befassen sich doch gerade diese eingehend mit Widerstand, insbesondere mit stillen, kleinen, entziehen- den Widerstandspraktiken und gesellschaftstheoretischen Erklärungen sol- cher Handlungsformen. Nicht nur, dass ich mit einigen Erklärungsmodellen dieser Ansätze nicht konform gehe, wie ich noch darlegen werde, finde ich darin auch nicht jene Denkansätze, die Weiterbildungswiderstand erhellend beleuchten können. Kritische Theorie hingegen verbindet mikrologische mit makrologischen Perspektiven, rekurriert in großem Ausmaß auf kapitalisti- sche Verwertungsstrategien. In der negativen Dialektik verbinden sich all jene erkenntnistheoretischen und inhaltlichen Elemente, die einer Analyse von Weiterbildungswiderstand zuträglich sind: Ideologiekritik, radikale Kritik, Reflexion, Dialektik, Negation, Nichtidentisches etc. Um dieses Denken, die- se Perspektive auf die Gesellschaft und ihre Verhältnisse voll ausschöpfen zu können, ist ein entsprechend langer Umweg über das Denken mit negativer Dialektik einzulegen, in dem ich neben dem Anspruch, die negative Dialektik zu erkunden, auch der Aufgabe nachgehe, diese als spezifische Denkform für die Theorieentwicklung in einer Art »Methode« nachvollziehbar zu machen. Negativ-dialektisch kann Weiterbildungswiderstand in ein Erklärungs- muster eingebettet werden, das zulässt, Weiterbildungsgeschehnisse in ge- sellschaftliche Verhältnisse verwoben zu fassen und mit gesellschaftstheo- retischen Analysen zu verknüpfen. Darüber hinaus – und dies ist für das Themenfeld Widerstand besonders relevant – eröffnet ein negativ-dialekti- scher Blick die analytische Perspektive auf Widerstand als Kehrseite einer ma- nifestierten Weiterbildungsaufforderung, als Negation der Weiterbildung, die zugleich als negative Stellungnahme zu den gesellschaftlichen Verhältnissen lesbar gemacht werden kann. Forschungsmethodische Aspekte vermischen sich – ganz im Sinne der wissenschaftstheoretischen Orientierung an Kriti- scher Theorie – mit davon nicht zu trennenden Inhalten. Negativ-dialektisch ist meine grundlegende Herangehensweise und negativ-dialektisch lesbar er- scheint der Weiterbildungswiderstand selbst. Der Inhalt ist dialektisch und er soll dialektisch erschlossen werden. Mit dem Zusammentreten eines negativ- dialektischen Nachdenkens und des negativ-dialektisch ausgeprägten Gegen- stands treten zuweilen eigenartig verschlungene Momente hervor, in denen Methode und Inhalt sich eng verbinden und ineinander verschwimmen. Ge- rade diese Verwobenheit zeichnet eine negative Dialektik aus und die kritisch- theoretische Positionierung weist so manchen Weg durch das Dickicht. Weiter- bildungswiderstand in dieser spezifischen Form zu »lesen« bedeutet, in den 3 | Im weiteren Text verwende ich Großschreibung (Negative Dialektik), wenn ich direkt auf Adornos Werk verweise. Mit der Kleinschreibung (negative Dialektik) werden die Phi- losophie, Erkenntnistheorie und Methode bezeichnet. 1. Einleitung 17 vorhandenen Stücken negativ-dialektische Aspekte ausfindig zu machen, den Weiterbildungswiderstand selbst als in sich negativ-dialektisch gestaltet aus- zuweisen und negativ-dialektische Begründungen zu erforschen. Ich erkunde dabei eine negativ-dialektische, kritische Theorie von Weiterbildungswiderstand und nicht eine Theorie kritischen Weiterbildungswiderstands . Letzteres würde bedeuten, entweder Weiterbildungswiderstand per se kritisch zu verstehen oder nur einen Ausschnitt, nämlichen den kritischen, zu untersuchen. Ob- wohl dem Widerstand zuweilen eine Konnotation des Kritischen anhaftet und er kritische Momente enthält, so wäre dies doch eine Verkürzung auf lediglich einen Teilaspekt und käme einer kritischen Überhöhung von Gegen-Handeln gleich. Eine kritische Theorie von Weiterbildungswiderstand ist hingegen daran interessiert, Vorhandenes kritisch zu beleuchten, möglichst nichts unhinter- fragt und unreflektiert stehen zu lassen, sondern alle Aspekte immer wieder gegen den Strich zu bürsten. Erkenntnisoffenheit und Unabschließbarkeit Erkenntnistheoretisch begründet die Kritische Theorie eine Unmöglichkeit der Abgeschlossenheit von Gedankengängen, da aus der jeweiligen historischen Konstellation heraus die Denkhorizonte begrenzt sein müssen. Denn in der gesellschaftlichen Gesamtheit können einzelne Gedanken, ob von Individuen oder von Kollektiven, lediglich Splitter sein und gesellschaftliche Verhältnisse nie ganz durchdrungen werden, sodass immer ein Rest des im Moment oder grundsätzlich Unsagbaren bleiben muss. Es zeigen sich Ähnlichkeiten zu an- deren kritischen Theorien, wenn Foucault davon spricht, »in einem vielschich- tigen Boden einige Probebohrungen vorzunehmen« (Foucault 1976/1997: 7). Und dennoch erfordert eine Schrift, an einem Punkt anzufangen und an einem anderen aufzuhören. Jedoch sind die Gedanken und Themen eher nur kurz einem größeren Zusammenhang entrissen und auf das Blatt gebannt. Zwischen jedem Wort, hinter jedem Gedanken öffnen sich die Verbindungen zu einem Mehr, zum Ungesagten, Unsagbaren und zum Weiterzudenkenden. Marx verbrachte viele Jahre mit den Vorarbeiten und Ausarbeitungen seines mehrbändigen Werkes »Das Kapital«, konnte es aber nicht zu Ende bringen. Nur der erste der drei Bände erschien zu seinen Lebzeiten, während Engels aus Manuskripten Band zwei und drei zusammenstellte. Der letzte Band schließt mit dem lapidaren Kommentar von Engels: »Hier bricht das Ms. ab« (Marx 1894/1986: 893). Ein, wenn auch nicht geplanter, so doch wunderbar offener Schluss. Ein solches Ende kann und will ich mir nicht erlauben, aber das Vor- haben bleibt dennoch ein Offenes und Unabgeschlossenes. Der Weg selbst wird von Ungewissheit begleitet, das Ergebnis ist ein of- fenes, die Suche bleibt ein Versuch, »in dem die Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläu- figkeit sich vermählt« und als »tastende Intention erfolgt« (Adorno 1958/1974: Weiterbildungswiderstand 18 25). Das Denken und der Inhalt entwickeln sich im Vorangehen, im Schrei- ben, mit reflexiven und selbstkritischen Zwischenstopps. Zu Beginn weiß ich noch nicht, wie »die Geschichte« vom Weiterbildungswiderstand enden wird. Sie als Leser_in haben hingegen den Vorteil, an dieser Stelle schon zum Schluss blättern zu können, weil Sie das Gesamtwerk vor sich haben. Ich hat- te diese Möglichkeit in den Momenten des Schreibens und Entwickelns der Gedanken nicht. Der Ausgang war unklar, die Erkenntnisse nicht abzusehen. Es blieb bis zuletzt unsicher, ob eine negativ-dialektische Theorie von Weiter- bildungswiderstand gelingen wird. Zahlreiche Wege, Veränderungen, Anpas- sungen, unerwartete Gedankengänge waren notwendig und nur ein Bruchteil dessen scheint in den folgenden Seiten auf. Der Prozess gleicht einer Suche im Dickicht ohne Weg, mit wenigen Anhaltspunkten und offen für jede Ab- zweigung. Die einzelnen Kapitel habe ich entworfen und in erster Fassung geschrieben, ohne zu wissen, wie sie sich in ein Ganzes einfügen werden. In- sofern entspricht der Auf bau einem kleinen Einblick in das voranschreitende Denken. Die Offenheit des Suchprozesses zeigt die Möglichkeit, Dinge zu ent- decken, die stringentes, klar vorstrukturiertes Vorgehen abschneiden würde. »Fragend schreiten wir voran«, so eine der zentralen Leitlinien der Zapatistas. Diskontinuitäten, Brüche, notwendige Kreise und Schleifen Meine Argumentation erfolgt in zahlreichen Schleifen, kehrt zuweilen an Aus- gangspunkte zurück, um von einem anderen Ausgangspunkt den Weg in eine andere Richtung zu beschreiten. Nach und nach betreten immer mehr Ele- mente die Bühne, bis sie bereit sind, miteinander in einen Dialog zu treten. Auch die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur ist ein solcher Dialog, wes- halb ich auf die sonst übliche Absetzung längerer Zitate verzichte. Dies würde den Fluss stören, würde den Eindruck erwecken, aus einem Gedankengang heraus- und in den Gedankengang einer/eines anderen einzutreten. Vielmehr sind die Gedankengänge ein Dialog zwischen mir und anderen Autor_innen, mal spreche ich, mal sie, mal wir gemeinsam. Der Auf bau und die Darstel- lungsform folgen, soweit dies in diesem Rahmen möglich ist, den Ansprüchen des offenen Voranschreitens und der Nichtlinearität dialektischen Denkens. Lenk beschreibt das kritisch-theoretische Denken als »eine ständig sich erwei- ternde Kreisbewegung«, mit der ergänzenden Beruhigung: »Wer glaubt, einen Gedanken verloren zu haben, braucht nicht in Panik zu geraten: er kommt wieder« (Lenk 2011: 179). In der Kreisbewegung ist es möglich, das Blickfeld Stück für Stück zu erweitern und zu vertiefen, um so die Elemente nach und nach hervortreten zu lassen. Holz zieht keine erweiternden Kreise, sondern beschreibt das Vorgehen in einer sich nach oben schraubenden Schleife, die immer wieder auf höherer Ebene zum Punkt zurückkehrt »und so von vor- läufigen zu elaborierteren Einsichten voranschreitet« (Holz 2005: XIV). Kreise und Schleifen tragen den komplexen dialektischen Zusammenhängen Rech- 1. Einleitung 19 nung, die nicht linear und eindimensional gestaltet sind, wie Textgestaltung dies aufzwingt. Dialektik als Blick auf Widersprüche und Gegensätze erzeugt Bewegung und damit sich immer wieder neu formierende Gedankengänge. »Mit jedem weiteren Schritt treten neue Schwierigkeiten auf« (ebd.). Dementsprechend werde ich argumentativ zuweilen zu bereits Angespro- chenem zurückkehren, werde Ähnliches in anderem Kontext neuerlich auf- scheinen lassen, um ansatzweise den engen Verwebungen und Verflechtun- gen der Themen und Gedankengänge gerecht zu werden. Gelegentlich gehe ich wieder einige Schritte zurück, um neu anzusetzen, und versuche, mich aus unterschiedlichen Blickwinkeln einer Frage zu nähern. Wiederholungen sind keine Ungenauigkeit der Bearbeitung, sondern notwendig, um der Sa- che in all ihren Dimensionen und Komplexitäten gerecht zu werden. Adorno spricht von konstellativen Annäherungen, bei denen sich erst im Zusammen- spiel unterschiedlicher Denkversuche und Perspektiven Ahnungen des Rich- tigen eröffnen. Er vergleicht solches Vorgehen mit dem Erlernen einer Fremd- sprache, bei dem die Worte erst ihre vielfältigen Bedeutungen zeigen, wenn sie in unterschiedlichen Kontexten erfahren werden, und nicht, wenn sie einfach nur aus dem Wörterbuch »übersetzt« werden. In diesem Sinn sind auch wis- senschaftliche Termini nicht einfach vorab und abseits der Zusammenhänge festzulegen, sondern sie erschließen sich – zumindest ansatzweise, wenn auch dem Nichtidentischen verpflichtet nie ganz – erst im Verlauf. Selbst manche zentralen Begriffe werde ich nicht zu Beginn festlegen, sondern zunächst vor- handenen Bezeichnungen folgen, um erst nach und nach, wenn sich der Zu- sammenhang stringenter erschließen lässt, eine Diskussion zu führen und vorläufige Vorschläge zu unterbreiten. Insbesondere der bereits im Titel und in dieser Einleitung auftretende Begriff »Weiterbildungswiderstand« wird in den nächsten Kapiteln zunächst auf die Seite gelegt, um ihn erst herzuholen, wenn die Argumentation reif dafür ist. »Wie aber beginnen?« (Holzkamp 1993/1995: 177) Für Holzkamp hängt es wesentlich vom Anfang eines Textes und einer Theorie ab, dass weder Einsei- tigkeiten noch Brüche passieren, sondern vielmehr »die wesentlichen Momen- te schließlich in ihrem Verhältnis zueinander transparent werden« (ebd.). In einer dialektischen Herangehensweise mit ihrer notwendigen Nichtlinearität relativiert sich dieser Anspruch allerdings und ich erachte es für wesentlicher, in den richtigen Momenten die richtigen Aspekte hinzutreten zu lassen. Für Adorno wäre eigentlich der Essay die einzig wirklich adäquate Form dialekti- scher Betrachtung, weil eine »kontinuierliche Darstellung einer antagonisti- schen Sache« (Adorno 1958/1974: 24) widerspräche. Wenn auch nicht in essay- istischer Form, so gilt es dennoch, den Widersprüchen und Diskontinuitäten des Weiterbildungswiderstands Rechnung zu tragen, indem Umwege einge- legt werden, an Ausgangspunkte zurückgekehrt wird, ähnliche Fragen unter leicht veränderten Kontexten erneut auftreten und Argumentationen an einem