Anna-Carolina Perrez Fremde Richter Die Rechtsprechung im Fürstentum Liechtenstein unter dem Einfluss schweizerischer und deutsch-österreichischer Richter 1938–1945 Fremde Richter Anna-Carolina Perrez Fremde Richter Die Rechtsprechung im Fürstentum Liechtenstein unter dem Einfluss schweizerischer und deutsch-österreichischer Richter 1938–1945 Informationen zum Verlagsprogramm: www.chronos-verlag.ch Umschlagbild: Landesarchiv Liechtenstein, B_26_012_002; Fotograf unbekannt. Foto aus der Zeitschrift «Sie und Er», 1. Februar 1946. © 2015 Chronos Verlag, Zürich ISBN 978-3-0340-1282-9 © 2015 Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein ISBN 978-3-906393-77-3 Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung im Rahmen des Pilotprojekts OAPEN-CH. 5 Inhaltsübersicht Vorwort 9 I Einleitung 11 1 Untersuchungsthema 11 2 Forschungsstand 12 3 Fragestellungen und Aufbau 15 II Das Fürstentum Liechtenstein in den 1930er und 1940er Jahren 19 1 Das politische System 19 2 Innenpolitische Lage 21 3 Kriegsende 25 III Rechtssystem und Richterwahl im Fürstentum Liechtenstein 27 1 Die Rechtspflege des Fürstentums Liechtenstein 28 2 Instanzen 34 3 Die Richterwahlen 1939–1945 45 4 Vermittler 52 5 Laienrichter 52 6 Staatsanwaltschaft 54 7 Richtereid 55 8 Kompetenzen des Fürsten in Gesetzgebung, Richterwahl und Rechtsprechung 59 6 IV Die Schweiz und Österreich in den 1930er und 1940er Jahren 61 1 Geschichtlicher Hintergrund der Schweiz 61 2 Österreich in den 1930er und 1940er Jahren 75 3 Recht und Justiz im Dritten Reich und in der «Ostmark» 85 V Die liechtensteinische Gesetzgebung: Grundlagen, Herkunft, Rezeption und NS-Einfluss 95 1 Gesetzgebung und Rechtsrezeption 97 2 Nationalsozialistische Elemente in der liechtensteinischen Gesetzgebung? 124 3 Fazit: Keine NS-Gesetzgebung im Fürstentum Liechtenstein 134 VI Biografien der ausländischen Richter in Liechtenstein 137 1 Methodische Aspekte 138 2 Biografien des Landrichters und seines Stellvertreters 141 3 Biografien der Kriminalrichter 146 4 Biografien der ausländischen Richter am Fürstlich liechtensteinischen Obergericht 162 5 Biografien der ausländischen Richter am Fürstlich liechtensteinischen Obersten Gerichtshof 184 6 Biografien der ausländischen Richter am Fürstlich liechtensteinischen Staatsgerichtshof 204 7 Biografien der ausländischen Richter an der Fürstlich liechtensteinischen Verwaltungsbeschwerdeinstanz 210 8 Biografien der vorgeschlagenen, aber nicht gewählten deutsch-österreichischen Richter 216 9 Biografie des ausserordentlichen Staatsanwalts Karl Eberle 225 VII Herkunft und Vernetzung 229 1 Theoretische Aspekte: Die sozialen Felder nach Pierre Bourdieu 229 2 Bildung 231 3 Recht 245 4 Politik 250 7 5 Militär und Wehrdienst 261 6 Religion 266 7 Aktivitäten im lokalen und regionalen Bereich 270 8 Fazit: Die entscheidende Rolle der Herkunft 271 VIII Rechtsprechung 275 1 Allgemeine Feststellungen 278 2 Hatte der biografische Hintergrund der Richter einen Einfluss auf die Rechtsprechung? 287 3 Einfluss fremder Richter auf die Rechtsprechung Liechtensteins? 290 4 Fazit: Vollzog sich die Rechtsprechung im gesetzlichen Rahmen? 345 IX Liechtensteinische Gerichte, eine politische Bühne der Nachbarstaaten? 349 1 Gesetze und Verordnungen: Waren liechtensteinische Gesetze in den Jahren 1938–1945 nationalsozialistisch beeinflusst? 349 2 Richter: Wer waren sie? Aus welchen sozialpolitischen Kontexten stammten sie? 351 3 Rechtsprechung: Lässt die Spruchpraxis die Felder der Richter erkennen? 354 4 Besonderheiten und Grenzen der Untersuchung 356 Schlusswort 359 Biografisches Analyseraster 361 Ausgewählte Begriffe des NS-Vokabulars 363 Tabellen und Grafiken 367 Abkürzungen 369 Quellen und Literatur 371 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 399 9 Vorwort Die Aufarbeitung der Geschichte Liechtensteins in der Zeit vom Anschluss Ös- terreichs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs steht in enger Verbindung mit dem Liechtenstein-Institut. Peter Geigers Werke «Krisenzeit» und «Kriegszeit» 1 wie auch die Publikationen der Unabhängigen Historikerkommission Liechten- stein 2 haben grundlegende Erkenntnisse ans Licht gebracht. Dabei ergaben sich auch neue Fragen, so die nach der Handhabung der liechtensteinischen Recht- sprechung in den 1930er und 1940er Jahren. Das Liechtenstein-Institut schrieb 2008 das Forschungsprojekt «Rechtsprechung in Liechtenstein unter dem Ein- fluss von deutschen und schweizerischen Richtern in den Jahren 1938–1945» aus. Das Projekt wurde vom Land Liechtenstein finanziell unterstützt. Prof. Dr. Al- termatt von der Universität Freiburg im Üchtland war bereit, die im Projektrah- men angesiedelte Dissertation wissenschaftlich zu betreuen. Mein erster Dank geht darum an Prof. Dr. Urs Altermatt für seine kontinuierliche fachliche Unter- stützung, an das Liechtenstein-Institut und das Land Liechtenstein. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Liechtenstein-Instituts gilt mein weiterer Dank. Namentlich möchte ich mich bei Priv. Doz. Dr. Peter Geiger be- danken, der mit seiner Begeisterung und seinem Wissen über Liechtenstein zur Kriegszeit meine eigene Forschungstätigkeit immer wieder anregte. Dem Land Liechtenstein und dem ehemaligen Vorsitzenden des liechtensteinischen Land- gerichts, Dr. Benedikt Marxer, danke ich für die Bewilligung zur Akteneinsicht. Diese Untersuchung war mit dem Besuch zahlreicher Archive verbunden. Mein herzlicher Dank für die Kooperation und Hilfeleistung geht an lic. phil. Paul Vogt und Mag. Rupert Tiefenthaler wie auch an die Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter des Liechtensteinischen Landesarchivs. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsarchive St. Gallen und Chur, des Vorarlberger Lan- desarchivs und des Feldkircher Stadtarchivs für ihre grosszügigen Hilfestellun- gen beim Suchen und Auffinden der Akten. Zudem bin ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive Schwyz und Nidwalden, des Bundesarchivs Bern, des Salzburger Landesarchivs, des Staatsarchivs Wien und des Bundesarchivs 1 Geiger, Krisenzeit; ders., Kriegszeit. 2 Geiger et al., Fragen. 10 Berlin zu Dank verpflichtet. Ein weiterer Dank geht an die zahlreichen Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler, denen ich im Rahmen von Tagungen und Summerschools begegnet bin. An den Workshops zur Rechtsgeschichte und zur Erforschung der NS-Justiz am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, am Graduiertenzentrum Geistes- und Sozialwissenschaf- ten – Research Academy in Leipzig und am Dokumentations- und Informa- tionszentrum in Torgau sowie am Hannah-Arendt-Institut für Totalitaris- musforschung an der Technischen Universität Dresden erhielt ich zahlreiche fachliche Anregungen. Die Rückmeldungen und die konstruktive Kritik möchte ich nicht missen. Für die biografischen Recherchen wurden Schulen, Gemeinden und Ämter an- gefragt, die sich grosszügig und freundlich Zeit nahmen, mir Auskünfte und Unterstützung zu geben. Stellvertretend für die vielen bereitwilligen Helfer danke ich den Herren Dr. Karl Heinz Lauda von der Mehrerau in Bregenz, Prof. Erwin Niese vom Akademischen Gymnasium Salzburg und Bruder Simon vom Benediktinerkloster Schwaz. Ein eigener Dank geht an Frau Mag. Dr. iur. Elisabeth Berger, Herrn Dr. iur. Hugo Vogt, LLM Anastasia Zacharatos und an Frau Dr. iur. Gunhilde Homma, die mich in juristischen Fragen beraten haben. Frau Prof. Dr. Rosmarie Zeller danke ich für die sprachwissenschaftlichen Auf- klärungen. Herrn Günther Fässler möchte ich für sein hervorragendes Lektorat danken. Dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaft- lichen Forschung und dem Liechtenstein-Institut danke ich für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Zum Schluss möchte ich meiner Familie und meinen Freunden danken, die mich all die Jahre mitfühlend und humorvoll unterstützt haben. Besonders dankbar bin ich meinen Eltern, die sich immer Zeit genommen haben, mir zuzuhören, und mein sicheres «Basislager» bildeten, wo ich mich erfrischen und in vielerlei Hinsicht auftanken konnte. Allen Genannten danke ich von Herzen. Anna-Carolina Perrez 11 I Einleitung Die liechtensteinischen Gerichte sind charakterisiert durch die Besonderheit, dass sie zum Teil aus Juristen vom Ausland zusammengesetzt sind. Seit 1922 werden Richter aus Österreich und der Schweiz ins Land geholt, um hier Recht zu sprechen. Betrachtet man das heutige Fürstentum, so begegnet man einem unabhängigen, wohlhabenden Rechtsstaat, der über ein stabiles politisches und demokratisches System verfügt, einen guten Bildungssektor aufweist und – trotz Krise – von einer funktionierenden Wirtschaft wie auch von einem erfolgreichen Finanzsektor getragen wird. Liechtenstein ist in ein friedliches Europa eingebet- tet, das aus demokratischen und rechtsstaatlichen Ländern konstituiert ist. Die jetzigen Verhältnisse sind keine Selbstverständlichkeit. Dem war nicht immer so. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die in den letzten Jahren auch das Fürstentum Liechtenstein eingeholt haben, mögen zwar Anzeichen einer Rezessionsphase sein, doch ist diese kaum vergleichbar mit der «Krisen-» und der «Kriegszeit» (Geiger ) der 1930er und 1940er Jahre. 1 Ein Blick in die Vergangenheit des Fürs- tentums lässt uns einen Staat und eine Gesellschaft erkennen, die in der Zwi- schenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs von existenziellen Sorgen und Nöten heimgesucht war. Das Land musste sich nicht nur mit seinen innen- politischen Problemen befassen, sondern es hatte sich auch im Machtgefüge Eu- ropas zu behaupten, welches Jahre prekärer Instabilität erlebte. 1 Untersuchungsthema Zur vollständigen Souveränität und Selbstständigkeit eines Staates gehört die Rechtsunabhängigkeit. Das Fürstentum Liechtenstein erreichte diese Souverä- nität schrittweise, hielt jedoch an der Praxis fest, österreichische und schwei- zerische Juristen in das liechtensteinische Richteramt zu wählen. Diese Richter waren jeweils in ihrem Herkunftsland und im Fürstentum aktiv. Während in Friedenszeiten die Beschäftigung «fremder» Richter unproblematisch scheint und nationalpolitische Interessenkonflikte, die sich in der Justiz widerspiegeln 1 Geiger, Krisenzeit; ders., Kriegszeit. 12 können, unwahrscheinlich sind, stellt sich die Frage, wie sich dies zu Kriegszei- ten darstellte. Wurden die Richter immanente Träger der jeweiligen nationalen Interessen? Wenn ja, wie beeinflussten diese Ausländer die liechtensteinische Rechtsprechung? 2 Forschungsstand Die historische Aufarbeitung der Krisen- und Kriegsjahre – und somit auch der Zeit des Nationalsozialismus – ist wichtig, um Transparenz und Klarheit zu schaffen, damit anhand von Fakten sachlich über die Vergangenheit befunden werden kann. Für das Fürstentum Liechtenstein hat dies vornehmlich Geiger mit seinen zwei umfassenden Werken «Krisenzeit» und «Kriegszeit», geleistet. 2 Ein weiterer grundlegender Beitrag ist die Publikation «Fragen zu Liechten- stein» der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein, die von Geiger präsidiert wurde. 3 Die Geschichtsaufarbeitung im Fürstentum Liechtenstein lehnt sich an die schweizerische Geschichtsschreibung an. 4 Die Geschehnisse in der Schweiz wie auch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Österreich wurden in Liechtenstein aufmerksam verfolgt. Die ersten wissenschaftlichen Aufsätze über die liechtensteinischen Beziehun- gen zum Deutschen Reich verfassten deutsche Autoren, 5 die sich massgeblich auf deutsche Akten bezogen, da die liechtensteinischen noch durch eine Sperr- frist geschützt waren. In Liechtenstein selbst fehlte es an zeithistorischer For- schung, was nicht nur an der Tabuisierung lag, sondern auch daran, dass es keine zeitgeschichtliche Forschungseinrichtung im Land gab. Erst mit der Gründung des Liechtenstein-Instituts im Jahr 1987 wurde im Fürstentum selbst zeithisto- rische Forschung betrieben. Seit den 1990er Jahren wuchs das Interesse an der Thematik, und es folgten erste Publikationen im «Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein» und in der Reihe «Liechtenstein Politische Schriften» 6 wie auch Geigers Bände «Krisenzeit». 7 Die öffentliche Debatte über die NS- und Kriegszeit hatte auch Liechtenstein erfasst. Im Jahr 2000 wurde dem Fürstentum in der Zeitschrift «Der Spiegel» in einem Inter- view mit Elan Steinberg, Generalsekretär des World Jewish Congress, vor- 2 Geiger, Krisenzeit; ders., Kriegszeit. 3 Geiger et al., Fragen. 4 Bergier et al., Schlussbericht; Kreis, Erinnern; Tanner, Bundeshaushalt; Urner, Schweiz; Las- serre, Suisse. 5 Walk, Liechtenstein; Carl, Liechtenstein; Krebs, Fürst. 6 Zum Beispiel Geiger, Liechtenstein; Geiger, Anschlussgefahren. 7 Geiger, Vergangenheitsbewältigung. 13 geworfen, es seien Vermögen von Holocaustopfern ins Land transferiert oder versteckt worden. 8 Die liechtensteinische Regierung reagierte rasch und bestellte 2001 die Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg (UHK), die von Peter Geiger präsidiert wurde. Auftrag der Kommission war es, Fragen zur Rolle Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg vertieft abzuklären. Jud behandelte in diesem Rahmen Liechtensteins Umgang mit den Flüchtlingen zur Zeit des Nationalsozialismus. 9 Marxer und Ruch untersuchten die liechten- steinischen Industriebetriebe zur Zeit des Zweiten Weltkriegs mit besonderer Berücksichtigung der Produktion für den deutschen Kriegsbedarf 1939–1945. 10 Lussy und López erforschten die Finanzbeziehungen Liechtensteins zur Zeit des Nationalsozialismus. 11 Tisa Francini befasste sich mit Liechtenstein und dem internationalen Kunstmarkt 1933–1945, wobei sie Sammlungen und ihre Pro- venienzen im Spannungsfeld von Flucht, Raub und Restitution untersuchte. 12 Den nachrichtenlosen Vermögenswerten bei liechtensteinischen Banken in der NS-Zeit widmete sich die Ernst & Young AG. Der Rolle der Versicherungen in Liechtenstein zur Zeit des Nationalsozialismus galt die Studie von Karlen. 13 Der Schlussbericht der UHK, verfasst von Geiger, Brunhart, Bankier, Michman, Moos und Weinzierl, erschien 2005 unter dem Titel «Fragen zu Liechtenstein in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg. Flüchtlinge, Vermögenswerte, Kunst, Rüstungsproduktion, Schlussbericht der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg». 14 Die nationalen Forschungsrapporte, der Bergier-Bericht (UEK) zur Schweiz, der Jabloner-Bericht zu Österreich und auch die «Fragen zu Liechtenstein» (UHK) setzten ihre Schwerpunkte auf Flüchtlingsfragen, Vermögenswerte und -transaktionen sowie auf aussenwirtschaftliche Verflechtungen. Nicht zuletzt sollte damit den wenigen noch lebenden NS-Opfern und deren Nachkommen entgegengekommen und der Weg für Rückerstattungen oder symbolische Wie- dergutmachungen geebnet werden. Die historische Untersuchung der Justiz während des Nationalsozialismus und die juristische Verfolgung von NS-Verbrechern sind auch über sechzig Jahre nach Kriegsende aktuell geblieben. Erste Publikationen über Nationalsozialis- mus und Recht waren Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre von Rüthers und Stolleis erschienen. 15 In den 1980er Jahren wurde das Thema vermehrt 8 Steinberg, Raubgut. Zur Vergangenheitsaufarbeitung siehe Schremser, Weltkriegsbeteiligung. 9 Jud, Flüchtlinge. 10 Marxer/Ruch, Industriebetriebe. 11 Lussy/López, Finanzbeziehungen. 12 Tisa Francini, Kunstmarkt. 13 Karlen, Untersuchung. 14 Geiger et al., Fragen. 15 Rüthers, Auslegung; Stolleis, Carl Schmitt. 14 aufgenommen, so erneut von Stolleis und Rüthers, 16 aber auch von Autoren wie Müller oder Werle. 17 Aktuell befasst sich in Deutschland unter anderem das Forschungs- und Dokumentationszentrum für Kriegsverbrecherprozesse an der Philipps-Universität Marburg (ICWC) unter der Leitung von Eckart Conze, Christoph Safferling und Wolfgang Form mit dem Thema der NS- Justiz. Das ICWC arbeitet eng mit dem Dokumentationszentrum für den ös- terreichischen Widerstand in Wien zusammen und fokussiert auf NS-Recht, politische Justiz und Wehrmachtsjustiz. 18 In Österreich wurde das Thema der NS-Justiz im Sammelband von Davy, Fuchs, Hofmeister, Marte und Reiter behandelt. 19 Einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung leisteten Form, Neu- gebauer und Schiller, die ein Buch über die NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945 verfasst haben. 20 Eine weitere namhafte Forscherin, die sich mit dem Thema NS-Justiz in Österreich befasst, ist Ursula Schwarz. 21 Die wissenschaftliche Forschung im Bereich der NS-Justiz und Gerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich ist somit noch voll im Gang. Ausserdem wird wei- terhin nach NS-Verbrechern gefahndet – so mit der «Operation Last Chance» , 22 welche 2005 ins Leben gerufen wurde –, und es finden Prozesse gegen NS-Ver- brecher statt. 23 In der Schweiz wurde das Thema Recht zur Kriegszeit im Rahmen des Bergier- Berichts untersucht. Aubert schrieb über die schweizerische Rechtslehre und das NS-Regime (1933–1945) 24 und Schindler über das schweizerische Neutrali- tätsrecht im Zweiten Weltkrieg. 25 Grossen machte eine juristische Untersuchung über die Goldtransaktionen der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. 26 Ferner leistete Haefliger einen Beitrag zu Aufarbeitung der Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts im Um- feld des nationalsozialistischen Unrechtsregimes und der Frontenbewegung. 27 Kälin untersuchte rechtliche Aspekte der schweizerischen Flüchtlingspolitik , 28 Haldemann forschte über den völkerrechtlichen Schutz des Privateigentums im 16 Stolleis, Rechtsordnung; ders., Nationalsozialistisches Recht; ders., Recht im Unrecht; Rüthers, Entartetes Recht. 17 Müller, Furchtbare Juristen; Werle, Justiz-Strafrecht. 18 Siehe Form/Schiller, NS-Justiz; Pirker/Wenninger, Wehrmachtsjustiz. 19 Davy et al., Nationalsozialismus und Recht. 20 Form/Neugebauer/Schiller, NS-Justiz. 21 Schwarz, Landesverrat; Form/Schwarz, Opfer. 22 Siehe www.operationlastchance.org, 19. 11. 2011. 23 Siehe Friederichs, KZ-Wächter Demjanjuk; Vensky, NS-Verbrecher. 24 Aubert, Haltung. 25 Schindler, Fragen. 26 Grossen, Transactions. 27 Haefliger, Rechtsprechung. 28 Kälin, Aspekte. 15 Kontext der NS-Konfiskationspolitik , 29 und Frowein beschrieb die schweize- rische Praxis zum NS-Unrecht nach dem Weltkrieg. 30 Während sich Band 18 des Bergier-Berichts mit öffentlich-rechtlichen Themen befasst, behandelt Band 19 das Privatrecht. 31 Vischer machte eine rechtliche Untersuchung über den Han- del mit ausländischen Wertpapieren während des Kriegs und über die Probleme der deutschen Guthaben in der Schweiz sowie der nachrichtenlosen Vermögen. 32 Ferner erforschte Lüchinger die Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte im Umfeld des nationalsozialistischen Unrechtsregimes auf dem Gebiet des Privatrechts, wobei das internationale Zivilprozess- und Vollstreckungsrecht (Schwerpunkt Ordre public) mit einbezogen wurde. 33 Siehr behandelte die Rechtsfragen zum Handel mit geraubten Kulturgütern in den Jahren 1933 bis 1950 , 34 und Dreifuss untersuchte die Geschäftstätigkeit der Schweizer Lebens- versicherer im «Dritten Reich» (Rechtliche Aspekte und Judikatur). 35 Für das Fürstentum Liechtenstein blieb die Erforschung von Recht, Rechtspre- chung, Gesetzgebung und juristischen Akteuren zur Zeit des Zweiten Welt- kriegs bis anhin weitgehend unbearbeitet. Über den Einfluss der aus den beiden Nachbarländern beigezogenen Richter auf die liechtensteinische Rechtspre- chung gibt es keine systematische und umfassende historische Untersuchung. Es liess sich auch keine vergleichbare historische Studie finden, da es zur Zeit des Zweiten Weltkriegs keinen Staat gab, der unter vergleichbaren Bedingungen wie Liechtenstein stand. Entweder waren es unabhängige Staaten, die keine auslän- dischen Richter benötigten, weil sie selbst über genügend personelle Ressour- cen verfügten, oder es waren Länder, die von den Nationalsozialisten besetzt worden waren, denen das nationalsozialistische Recht teilweise aufgezwungen worden war. 3 Fragestellungen und Aufbau Um der Fragestellung «Rechtsprechung in Liechtenstein unter dem Einfluss von deutschen und schweizerischen Richtern in den Jahren 1938–1945» gerecht zu werden, wurden drei verschiedene Aspekte der Jurisdiktion, die in einem inne- ren Zusammenhang stehen, untersucht: 1. Die Grundlagen der Rechtsprechung, 29 Haldemann, Schutz. 30 Frowein, Einordnung. 31 Thürer/Haldemann, Schweiz, Bd. 19. 32 Vischer, Handel. 33 Lüchinger, Rechtsprechung. 34 Siehr, Rechtsfragen. 35 Dreifuss, Geschäftstätigkeit. 16 die Gesetze und Verordnungen, 2. die Akteure der Rechtsprechung, die Richter, und 3. die Rechtsprechung an sich. Alle drei zentralen Themenbereiche bedürfen zu ihrem besseren Verständnis der historischen Kontextualisierung. In welchen historischen Kontexten situieren sich die Rechtssysteme Liechten- steins, der Schweiz und Österreichs? Als Erstes soll im Kapitel II die Situation des Fürstentums Liechtenstein der 1930er und 1940er Jahre beschrieben werden. Anschliessend wird im Kapitel III das damalige Rechtssystem vorgestellt: Wel- ches waren die einzelnen gerichtlichen Instanzen? Wie vollzogen sich die Rich- terwahlen zur Kriegszeit? Welches waren die Rollen der Laienrichter und des Staatsanwalts? Der Richtereid und die Kompetenzen des Fürsten in der liechten- steinischen Rechtsprechung sind zu beschreiben. Kapitel IV gilt den Nachbarstaaten Liechtensteins. Die Verhältnisse in der Schweiz werden mit einem kurzen Exkurs zum damaligen Rechtssystem um- schrieben. Dann wird die Situation des Nachbarlandes Österreich der 1930er und 1940er Jahre erörtert. Dabei sind auch geschichtliche Aspekte des Deut- schen Reichs zu beleuchten. Im dritten Teil des Kapitels folgt eine kurze Dar- stellung des Rechts und der Justiz im Dritten Reich und in der «Ostmark». Sie soll verdeutlichen, in welchem juristischen Umfeld sich die in Liechtenstein am- tierenden Richter in ihrer Heimat bewegten. Gesetze und Verordnungen: Waren liechtensteinische Gesetze in den Jahren 1938–1945 nationalsozialistisch beeinflusst? Kapitel V befasst sich mit den Ge- setzen und Verordnungen, die das Fundament der Rechtsprechung darstellen, auf dem die Recht sprechenden Akteure handeln. Woher stammten die Gesetze die 1938–1945 galten? Wie und von wem wurden sie konzipiert? Welcher Art Gesetze wurden erlassen und warum? Um diese Fragen zu beantworten, wird zuerst ein Blick in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg geworfen. Das liechtenstei- nische Rechtssystem hat dort seine Gestalt angenommen. Untersucht wurden alle neu erlassenen Gesetze und Verordnungen der Jahre 1921–1950, die in den liechtensteinischen Landesgesetzblättern erschienen sind. Die Studie setzt 1921 ein, weil das Land damals eine neue Verfassung erhielt und somit grundlegende Änderungen in der Gesetzgebung stattgefunden hatten. Die Gesetzesanalyse wurde für die Jahre 1945–1950 fortgeführt, um eventuelle markante Änderungen in den ersten fünf Jahren der Nachkriegszeit feststellen zu können. Ziel dieses ersten Teils wird es sein, einen Einblick in die Gesetzgebung der Jahre 1938–1945 zu vermitteln und zu klären, ob sich nationalsozialistisches Gedankengut in der liechtensteinischen Gesetzgebung feststellen lässt. Dabei wurde inhaltsanaly- tisch gearbeitet. 36 Die genaue Vorgehensweise und die Frage, was unter «natio- 36 Neuendorf, Content Analyses. 17 nalsozialistischem Gedankengut» verstanden wird, soll im Kapitel V ausführlich erläutert werden. Wer waren die Richter? Aus welchen sozialpolitischen Kontexten stammten sie? Ein besonderes Ziel war es, die Recht sprechenden Akteure – die Richter von 1938 bis 1945 – zu untersuchen. Da diese zum Teil vom benachbarten Ausland herangezogen wurden, um der einheimischen personellen Ressourcenknappheit Abhilfe zu schaffen, wird in den Kapiteln VI und VII nach relevanten Merk- malen ihrer Biografie und ihres biografischen Hintergrundes gesucht. Vor allem die politische und soziale Stellung sowie die amtliche Tätigkeit der deutsch- österreichischen und schweizerischen Richter waren von Interesse. Die Verfasse- rin versuchte die sozialen Netzwerke zu identifizieren, in denen sie lebten. Stu- dien in Österreich und Deutschland konnten dichte Netzwerke, auch politische, der damaligen Juristen aufzeigen. Es lag daher nahe, dass solche auch bei den in Liechtenstein tätigen Richtern aufzufinden wären. Die Angaben über die Metho- dik der biografischen Untersuchung sind im Kapitel VI aufgeführt. Neben der kurzen Nachzeichnung der individuellen Lebensläufe, soweit das die Aktenlage zugelassen hat, wurden diese in eine kollektiv-biografische Betrach- tung eingebettet: Welche relevanten Aspekte ihrer Sozialisation und beruflichen Karriere teilten die Richter aus den verschiedenen Ländern? In welchen unter- schieden sie sich? Als relevante Aspekte werden diejenigen bezeichnet, die als potenzielle Einflussfaktoren für das Verhalten, auch das richterliche, vermutet werden konnten. Als theoretische Grundlage diente Pierre Bourdieus Konzept der sozialen Felder. 37 Die Felder umschreiben solche potenziell relevanten Ein- flussfaktoren. Mit diesem Konzept sollten die Richter situiert und ihre Gemein- samkeiten und Unterschiede identifiziert werden. Auf Bourdieus Konzept der sozialen Felder wird ebenfalls im Kapitel VI genauer eingegangen. Es wurde angenommen, dass die liechtensteinischen Behörden Richter wählten, die aus dem katholisch-konservativen Milieu kamen. Aus diesem Grund wurde auch erwartet, dass der liechtensteinische Landtag keine extrem nationalsozialis- tisch gesinnten Richter wählte. Dies war der Anlass dafür, auch den Biografien der nicht gewählten Richter nachzugehen. Es wurde vermutet, dass diese wegen ihrer NS-Gesinnung von den liechtensteinischen Behörden abgelehnt worden waren. Diese Annahmen galt es zu überprüfen. Rechtsprechung: Lässt die Spruchpraxis die Felder der Richter erkennen? Kapi- tel VIII richtet die Aufmerksamkeit auf die Rechtsprechung in Liechtenstein im Zeitraum von 1938 bis 1945, mit dem Strafrecht im Fokus. Dabei stellte sich als Erstes die Frage, wie eine Einflussnahme auf die Rechtsprechung möglich war 37 Vgl. Bourdieu, Unterschiede; Fröhlich/Rehbein, Bourdieu-Handbuch; Abels, Einführung, 310. 18 und ob die Absicht dazu bestand. Bei der Untersuchung der Gerichtsakten sollte eruiert werden, ob sich die biografischen Hintergründe, die Felder der Richter in ihrer Spruchpraxis widerspiegeln. Ist der nationalsozialistische Hintergrund von Richtern in ihren Urteilen erkennbar? Können auf dem Hintergrund des weit- verbreiteten Antisemitismus judenfeindliche Urteile allenfalls auch bei anderen Richtern festgestellt werden? Lassen sich unterschiedliche Phasen der Spruch- praxis erkennen? Angaben zum Aktenmaterial und zur Vorgehensweise sind im Kapitel VIII dargestellt. Das letzte Kapitel fasst die Ergebnisse zusammen und versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, ob die liechtensteinischen Gerichte während des Zweiten Weltkriegs eine politische Bühne der Nachbarstaaten waren. 19 II Das Fürstentum Liechtenstein in den 1930er und 1940er Jahren In den 1930er/40er Jahren sah das Fürstentum Liechtenstein gänzlich anders aus als heute. Noch existierte sein gegenwärtig so berühmter Finanzsektor nicht, das Land war arm und bäuerlich geprägt. Eine umfassende Darstellung der damali- gen Verhältnisse findet sich in den bereits erwähnten Werken «Krisenzeit» und «Kriegszeit» von Peter Geiger. Das vorliegende Kapitel soll es dem Leser er- leichtern, sich in die Zeit hineinzuversetzen, in der die ausländischen Richter in Liechtenstein arbeiteten. Das Fürstentum Liechtenstein erstreckt sich über eine kleine Fläche von 160 Quadratkilometern, und 1930 zählte es 9948 Einwohner. 1941 war die Bevölkerung auf 11 094 Personen angewachsen, 1945 stieg sie gar auf 12 141 an. 1 Zum Vergleich: Im Dezember 2011 lebten im Fürstentum Liech- tenstein 36 475 Einwohner. 2 1 Das politische System Das Fürstentum Liechtenstein war und ist eine konstitutionelle Erbmonarchie. 3 Seit 1862 gibt es in Liechtenstein eine «konstitutionelle Verfassung», die 1921 durch eine neue ersetzt und seither mehrfach teilrevidiert worden ist. Die letzte grosse Verfassungsrevision fand 2003 statt. Das liechtensteinische Volk konnte ab 1862 zwölf von fünfzehn Vertretern in indirekten Wahlen in den Landtag delegie- ren; drei Abgeordnete ernannte der Fürst. 1921 wurden die Volksrechte um das Initiativ- und Referendumsrecht erweitert und die Wahl der fünfzehn Landtags- abgeordneten gänzlich dem Volk – nun in direkter Wahl – überlassen. Der Fürst berief den Landtag, schloss ihn und war befugt, ihn für Neuwahlen aufzulösen. Der Regierungschef und der Regierungschef-Stellvertreter wurden vom Landtag und vom Fürsten einvernehmlich bestellt, der Landtag wählte zwei Regierungs- 1 Amt für Volkswirtschaft, Statistisches Jahrbuch, 55. 2 Amt für Statistik, Statistisches Jahrbuch, 65. 1930 gab es im Fürstentum Liechtenstein 1691 Personen, 1941 waren es 1785. 1941 waren davon 1033 aus dem Deutschen Reich. Amt für Volkswirtschaft, Statistisches Jahrbuch, 73. 3 Geiger et al., Fragen, 11.