Grundlos Emergentes Multiversum (2.0) Eine Brücke zwischen Nicht-Dualität und Wissenschaft Hiveism 2025-02-12 Contents Einführung 2 Dekonstruieren 3 Was ist fundamental? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Grundlagen der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Gödels Unvollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Mengentheoretisches Multiversum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Russells Paradoxon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Sichtlose Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Überlagerung der Sichtweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Viele Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Frei von, aber nicht ohne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Rekonstruieren 14 Absolut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Symmetrie und Symmetriebruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Bezugsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Erhaltung von Größen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Subjektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Die Richtung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Ungewissheit und Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Objektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Was ist objektive Realität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Stabilität und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Schlussfolgerung 26 1 Einführung Die alte Frage „Warum existiert überhaupt etwas und nicht nichts?“ setzt bereits mehrere Annahmen voraus: einen Unterschied zwischen Existenz und Nicht- Existenz und eine Kausalität , die zur Existenz führt. Die Antwort liegt jedoch jenseits dieser Kategorien – außerhalb von Kausalität und Zeit, weder existierend noch nicht-existierend. In diesem Beitrag versuche ich, eine Antwort aufzuzeigen, die so einfach ist, dass sie jenseits aller Konzepte und Sprache ist. Wenn jemand nach der Natur der Realität fragt, erwartet er meist, eine definitive Antwort zu finden – eine fundamentale Schicht oder Substanz, einen Grund, auf dem man ruhen kann. Doch nichts dergleichen ist nötig. Grundlosigkeit und Nicht-Wissen reichen als Ausgangspunkt, um zu erklären, wie und warum etwas existiert. Mehr noch: Der Glaube an und das Bedürfnis nach einem Grund stehen der Erkenntnis im Weg. Das vollständige Loslassen des Bedürfnisses nach definitiven Antworten führt zur Freiheit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Der erste Teil dieses Beitrags wird zu diesen Verständnis hinführen. Der zweite Teil wird eine Intuition vermitteln, wie das Multiversum und alle physikalischen Gesetze aus Ungewissheit entstehen können. Die folgende Zusammenfassung wird wahrscheinlich erst im Nachhinein Sinn ergeben. Es handelt sich um ein sehr abstraktes Verständnis, das man durch eigenes Kontemplieren dieser Fragen erlangen muss. Gibt es keine Einschränkungen, so können alle in sich kohärenten Universen existieren. Egal, welches Universum man als das „wahre“ betrachtet, es schließt nicht aus, dass andere mögliche Universen parallel existieren. Letztlich enthält die größtmögliche Realität alle möglichen Universen. Jede mögliche Unterscheidung würde jedoch ein Universum gegenüber den anderen bevorzugen. Ultimative Realität kann daher nur frei von Eigenschaften sein. Wenn wir jedes Universum als Ansammlung von Unterschieden betrachten, ergibt sich eine Struktur in ihren Beziehungen. So sind sie nicht getrennt, sondern bilden ein Ganzes, das sich in unendliche Möglichkeiten verzweigt. Es ist logisch unmöglich, eine fundamentalere Erklärung zu finden, da diese alle anderen transzendiert und einschließt. Anders ausgedrückt: Wir können nichts über die Realität sagen, ohne eine Per- spektive, einen Bezugsrahmen, eine Beobachtung oder eine subjektive Erfahrung. Alles, worüber wir sprechen können, ist unsere Perspektive. Es gibt nichts, das wir über die ultimative Realität wissen könnten, außer unserer subjektiven Beobachtung. Die einzige Möglichkeit, wie Teile zu einem Ganzes werden oder ein Ganzer in Teile zerfällt, besteht darin, Grenzen zu konstruieren. Die Kombination von gewichteten Grenzen bildet eine Perspektive. Da alles aus Teilen besteht und jeder Teil eine begrenzte Sicht auf ein Ganzes ist, existiert alles als Sammlung von Grenzen mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit ihrer Existenz. Jedes Ding, das existiert, ist eine Perspektive. Jede Perspektive ist eine begrenzte und verzerrte Sicht der Realität. 2 Wir müssen schlussfolgern, dass die ultimative Realität an sich eigenschaftslos ist. Realität ist vielmehr die Überlagerung (Superposition) aller möglichen Perspek- tiven. Ohne Eigenschaften ist sie unbestimmt – weder wahrhaft existierend noch nicht-existierend. Leer von inhärenter Existenz ist sie vollkommen durchsichtig. Jede mögliche Perspektive auf die Realität ist daher eine Sicht auf alle anderen Perspektiven. Sie entstehen in bedingter Abhängigkeit, ohne Substanz, ohne Grund, der irgendwo zu finden wäre. Man kann nichts über die Realität sagen, außer seiner eigenen Perspektive auf sie. Ultimative Realität existiert weder noch existiert sie nicht – sie ist vollständig als Kombination aller möglichen Perspektiven auf sich selbst beschrieben. Die etablierte wissenschaftliche Weltanschauung postuliert, dass unsere Welt rein physisch ist. Einige Physiker schlagen vor, dass die Physik vollständig aus mathematischen Strukturen besteht. Die Mengenlehre kann alle mathematischen Strukturen erklären und selbst aus der leeren Menge – einer Sammlung ohne Elemente – konstruiert werden. Wenn wir dies akzeptieren, ist es kein großer Sprung, alles Existierende als Variationen einer Realität zu begreifen, die aus der leeren Menge abgeleitet werden kann. Dies bedeutet nicht , dass „nichts existiert“, sondern dass kein Ding unabhängig existiert. Alles ist nur Struktur, ohne Substanz. Alles existiert abhängig voneinander. Irgendwann werden wir in der Lage sein, eine vollständige Geschichte zu erzählen, die von der grundlosen Natur bis hin zu Ihrer subjektiven Erfahrung in diesem Moment reicht. Dieser Beitrag ist nur ein grober Umriss des ersten Teils dieser Geschichte. Dekonstruieren Was ist fundamental? Jede Theorie basiert auf Annahmen (oder Axiomen) – Aussagen, die innerhalb der Theorie nicht bewiesen, sondern als wahr akzeptiert oder angenommen werden. Wenn wir diese Annahmen weiter hinterfragen und verlangen, dass sie gerecht- fertigt und erklärt werden, bleibt uns – allein durch den Akt des Fragens – keine unerklärte Annahme. Was übrig bleibt, kann nicht weiter hinterfragt, gerechtfertigt oder erklärt werden. Eine solche Theorie wäre grundlos, obwohl fraglich ist, ob der Begriff „Theorie“ hier noch anwendbar ist. Sobald wir Phänomene durch andere Phänomene erklären können, impliziert dies eine Hierarchie, die einige Objekte als fundamentaler (und somit „realer“) beze- ichnet als die, die sie konstituieren. Ihr Körper besteht aus Organen, diese aus Zellen, Molekülen, Atomen, subatomaren Teilchen und den Elementarteilchen des Standardmodells, die eigentlich Felder sind – so weit sind wir bisher gekom- men. Felder sind mathematische Beschreibungen. Damit stellt sich die Frage: 3 Beschreibt die Mathematik etwas Fundamentaleres, oder sind Felder reine Math- ematik? Beginnen wir mit der Beobachtung, dass anscheinend alles erklärt werden kann – meist durch kleinere Dinge. Zumindest ist das die Erfahrung der wis- senschaftlichen Forschung bisher. Immer wenn eine fundamentale, unteilbare Substanz oder ein Mechanismus vorgeschlagen wurde, fanden wir später eine Erklärung und kleinere Teile. Sollten wir dies bis zum Äußersten fortsetzen, und wenn ja, wie sähe das aus? Es sind verschiedene Antworten möglich: • Dogmatisch – Es gibt einen fundamentalen Baustein oder eine Substanz. Wir haben ihn nur noch nicht gefunden. • Regressiv – Es sind Schildkröten bis in alle Ewigkeit. Das Dekonstruieren hat kein Ende. • Zirkulär – Irgendwann enden wir dort, wo wir begonnen haben. Dies ist als Münchhausen-Trilemma bekannt, da wir uns nach herkömmlicher Logik nicht wie Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können. Die allgemeine Annahme ist, wir müssten auf einem Grund stehen. Doch dies ist wie zu sagen, die Erde unter Ihren Füßen müsse auf einer unbeweglichen Grundplatte ruhen, weil alles andere absurd wäre. Wir wissen, dass die Realität unter dieser Logik absurd ist – die Erde schwebt im Weltraum, ihre Struktur wird durch ausgleichende Kräfte erhalten. Es gibt daher eine vierte Option: • Grundlos – Alles existiert, weil symmetrische Gegenstücke das Bedürfnis nach Existenzberechtigung aufheben. Unendlicher Regress und Zirkularität werden meist als absurd abgetan, was Dogmatismus und Grundlosigkeit übrig lässt. Bevor wir die Grundlosigkeit betrachten, sehen wir, warum das dogmatische Argument ebenfalls keinen Sinn ergibt. Die Idee einer fundamentalen Realitätsschicht ist eine Annahme, die mit einer Antwort darauf gefüllt werden muss, was diese Schicht sein soll. Doch durch die Annahme von etwas als fundamental erklärt man es nicht. Oft verläuft der Prozess umgekehrt: Wir können X nicht erklären, also muss es fundamental sein. Viele große Denker verlieben sich in Dinge, die sie nicht erklären können. Sie verehren das Mysterium und bauen darauf auf, anstatt es zu dekonstruieren. Um die Frage nach fundamentalen Bausteinen anzugehen, muss man jedes Konzept und jede Weltanschauung loslassen können. Für alles, was „fundamental“ genannt wird, können wir fragen: Woraus besteht es? Warum hat es seine Eigenschaften? Warum dieses Ding und nicht ein anderes? Kann man es definieren? Wenn ja, kann man die Definition dekonstruieren? Lassen sich andere fundamentale Objekte definieren? Selbst die grundlegende Opposition zwischen Existenz und Nicht-Existenz wird hinterfragt. Was bedeutet es überhaupt, dass etwas existiert? Wenn das fragliche Ding wirklich fundamental wäre, müsste diese Fragen aus dem Ding selbst heraus beantwortbar sein – ohne externen Bezug. Doch alle Fragen 4 ließen sich umformulieren zu: „Warum ist diese Theorie wahr und nicht eine andere?“ Dies kann innerhalb der Theorie nicht beantwortet werden, da sie keine Aussagen außerhalb ihrer Annahmen treffen kann. Selbst wenn eine Theorie konsistent und vollständig wäre, könnten wir mit begrenztem Sicht nicht wissen, ob es eine andere konsistente und vollständige Theorie gibt, noch zwischen ihnen entscheiden. Unter der Hypothese „Es muss etwas Fundamentales geben“ finden wir niemals eine befriedigende Antwort. Es erfordert Mut, alle Annahmen und Überzeugungen aufzugeben. Doch wenn wir dies tun, reicht das Verbleibende als Ausgangspunkt. Mit dieser Erkenntnis gibt es keine fundamentale Realitätsschicht. Betrachtet man alle möglichen Beobachtungen der Realität, bleibt kein Inhalt außer Beobach- tungen. Beobachtungen beschreiben wiederum nur ihre Beziehung zu allen anderen Beobachtungen. Alles ist leer von inhärenter Existenz und voll von abhängiger Existenz. Ohne fundamentale Schicht bricht der reduktionistische Ansatz zusammen. Keine Realitätsschicht ist realer als eine andere. Es gibt keine ontologische Hierarchie, kein Oben oder Unten. Früher oder später erkennen wir, dass die vielleicht grundlegendste und wichtigste Tatsache über jede Erfahrung ist, dass sie von der Art des Betrachtens abhängt. Das heißt, sie ist leer. Abgesehen von dem, was wir durch verschiedene Betrachtungsweisen wahrnehmen können, gibt es keine ‚objektive Realität‘, die unabhängig existiert; und es gibt keine Betrachtungsweise, die eine ‚objektive Realität‘ offenbart. — Rob Burbea, Seeing That Frees: Meditations on Emptiness and Dependent Arising Grundlagen der Mathematik Die moderne Mathematik scheint das fundamentalste Theoriegebäude zu sein. Schauen wir daher uns die dahinterstehenden Annahmen genauer an. Alle mathematischen Strukturen können als Mengen beschrieben werden. Die Mengenlehre ist somit eine Möglichkeit, über die Grundlagen der Mathematik zu sprechen. Diese Aussage ist jedoch leicht zirkulär, da mit dem Aufkommen der Mengenlehre Randfälle entdeckt wurden, die bestimmte Varianten nicht behan- deln können. Laut der Standard-ZF-Mengenlehre existieren rekursive Mengen nicht. Diese Einschränkung entstand durch Gödels Unvollständigkeitssätze und Russells Paradoxon, die in den folgenden Abschnitten diskutiert werden. Was also sind Mengen? Eine Menge entsteht durch die Zusammenfassung von Einzelobjekten zu einem Ganzen. Eine Menge ist eine Vielheit, die als Einheit gedacht wird. — Felix Hausdorff 5 Diese Beschreibung ist hier besonders nützlich, da sie Mengen nicht als eigen- ständige Dinge affirmiert. Erst durch das Denken einer Vielheit als Einheit wird sie zur Menge. Genauer gesagt ist kein Denken erforderlich – allein durch die Möglichkeit, eine Grenze zu ziehen und zusammenzufassen, existiert eine Menge. Beispielsweise bilden die ganzen Zahlen von 0 bis 5 die Menge {0, 1, 2, 3, 4, 5} , ebenso wie alle Lieder in meiner Wiedergabeliste. Um die Mengenlehre zu formalisieren und Paradoxien zu vermeiden, wurden Axiome formuliert. Das am weitesten verbreitete axiomatische System ist die Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre (ZF mit 8 Axiomen oder ZFC mit dem Auswahlax- iom - C für “Choice”). Diese Axiome ermöglichen die Konstruktion aller zuläs- sigen Mengen, ausgehend nur von der leeren Menge. Auch diese Axiome sind Annahmen, die für Funktionalität gewählt wurden. Dies zeigt sich in der Debatte um das Auswahlaxiom. Auch andere Axiome werden infrage gestellt, insbeson- dere das Fundierungsaxiom, das Mengen ausschließt, die sich selbst als Element enthalten (oder unendlichen Regress). Durch dieses Axiom ist x = {x} keine gültige Menge. Diese Einschränkung vermeidet Paradoxien, beschränkt aber gleichzeitig den Möglichkeiten. Die Mengenlehre erlaubt es, von der leeren Menge {} – einer Sammlung ohne Objekte – auszugehen und alle mathematischen Objekte zu definieren. Doch es gibt keinen einzige Methode. Die natürlichen Zahlen können alternativ ausgedrückt werden als: {} = Ø {{}} = {Ø} = 1 {{}{{}}} = {Ø, 1} = 2 {{}{{}}{{}{{}}}} = {Ø, 1, 2} = 3 oder: {} = Ø {{}} = {Ø} = 1 {{{}}} = {1} = 2 {{{{}}}} = {2} = 3 oder auf andere Weisen. Die Identität der natürlichen Zahlen ergibt sich nicht aus den sie definierenden Mengen, sondern aus ihren Beziehungen. Mengen können so konstruiert werden, dass sie diese Beziehungen abbilden. Dies impliziert, dass die Mengen selbst eine Sprache sind, um über Struktur zu sprechen – sie sind nicht die Struktur selbst. Folglich gibt es andere Wege, die Grundlagen der Mathematik zu beschreiben, die nicht auf Mengen basieren. Prominentestes Beispiel ist die Kategorientheorie , die alle Strukturen in ihren Beziehungen zueinander beschreibt. Die zentrale Einsicht hier ist, dass jede mathematische Struktur aus einfacheren Strukturen konstruiert werden kann und letztlich kein kleinstes oder initiales Element (Urelement) benötigt. Ohne Erklärung bleiben jedoch die Axiome. 6 Gödels Unvollständigkeit Der erste Unvollständigkeitssatz besagt, dass in jedem konsistenten formalen System F, in dem eine gewisse Menge arithmetischer Aus- sagen formuliert werden kann, Sätze der Sprache von F existieren, die in F weder bewiesen noch widerlegt werden können. Der zweite Unvollständigkeitssatz besagt, dass ein solches formales System seine eigene Konsistenz nicht beweisen kann (vorausgesetzt, es ist tatsäch- lich konsistent). — Stanford Encyclopedia of Philosophy Dies ist ein negierendes Ergebnis - es zeigt, was nicht existieren kann. Ähnliche Sätze wurden in anderen Bereichen wie der Berechnungskomplexität bewiesen. Es stellt eine harte Grenze für die Realität und unser Wissen dar. Es besagt, dass die Realität kein formales System sein kann, das zugleich vollständig und konsistent ist. Von diesen drei Anforderungen muss mindestens eine nicht gelten. Wahrheit in einem mathematischen System ist das, was aus ihm abgeleitet werden kann. Gödel zeigt, dass es Sätze gibt, die für das System wahr sind, aber nicht aus ihm abgeleitet werden können. Dies bedeutet jedoch nicht , dass sie universell wahr sind, sondern dass kein formales System alle wahren Sätze beweisen kann, da es Annahmen als wahr voraussetzt, die es nicht beweisen kann. Da kein formales System die perfekte Antwort auf Wahrheit liefern kann, ist Wahrheit immer abhängig vom verwendeten System. Was wahr oder falsch ist, hängt von den getroffenen Annahmen ab. Kein einziges axiomatisches System kann die Realität perfekt beschreiben. Was, wenn wir dieses Ergebnis einfach akzeptieren und erkennen, dass Wahrheit und Realität vollständig von unseren Annahmen abhängen? Die Art, wie wir die Realität sehen, wird durch die Brille geformt, die wir aufsetzen. Ohne formales System und ohne Axiome (ohne Brille) mag die Realität konsistent und vollständig sein, doch wir können keine Aussagen darüber treffen – vielleicht nicht einmal, dass sie konsistent und vollständig ist. Realität ohne Einschränkungen hat keine Eigenschaften. Jedes formale System und somit jede Theorie enthält Annahmen, die außerhalb der Theorie nicht gerechtfertigt sind. Was in einer Theorie „wahr“ ist, kann in einer anderen „falsch“ sein. Der Begriff von wahr oder falsch selbst ist somit abhängig von Annahmen. Ohne Annahmen fällt sogar die Unterscheidung zwischen wahr und falsch weg. Mit Gödels Beweis müssen wir akzeptieren, dass keine Theorie die ultimative Realität beschreiben kann. Wir betrachten jedoch Theorien, die unsere Er- fahrung besser beschreiben, als wahrer. Mathematik kann so abstrakt sein, dass sie keine Entsprechung in unserer physischen Welt hat. Manche Physiker leugnen die Existenz mathematischer Konzepte, die nicht in unserem Universum existieren können, wie Unendlichkeiten. Verwandt ist die Idee, dass Realität (wie Computer) fundamental auf Berechnungen baisert, nicht Mathematik. Akzep- 7 tieren wir jedoch, dass der Zweck der Mathematik nicht nur darin besteht, unser Universum, sondern jedes mögliche zu beschreiben, ändert sich die Perspek- tive. Unendlichkeiten existieren möglicherweise nicht innerhalb unseres lokalen Universums, doch unser Universum existiert innerhalb der Unendlichkeit. Umgekehrt hat dies einen Nebeneffekt: Wir können mathematische Theo- rien nicht mehr darin unterscheiden wie gut sie unser Universum beschreiben. Stattdessen gibt es verschiedene Modelle, die verschiedene Universen beschreiben – keines ist fundamental wahrer als die anderen. Das verwendete mathematische Modell hängt dann vom konkreten Problem ab. Mengentheoretisches Multiversum Verwandt mit Gödels Unvollständigkeit ist die Entdeckung, dass es Sätze gibt, die innerhalb eines Systems nicht als wahr oder falsch entschieden werden können. Ein Paradebeispiel ist die Kontinuumshypothese (Continuum Hypothesis - CH). George Cantor beobachtete, dass er die unendliche Menge der natürlichen Zahlen nicht in eine Eins-zu-eins-Entsprechung mit der unendlichen Menge der reellen Zahlen bringen konnte. Dies zeigte, dass es mindestens zwei Größen (Kardinalitäten) von Unendlichkeit gibt. Die Kontinuumshypothese fragt, ob es eine Kardinalität zwischen denen der natürlichen und reellen Zahlen gibt. Es stellt sich heraus, dass diese Frage in ZF nicht entscheidbar ist. Annahme ihrer Wahrheit führt zu einem Zweig der Mengenlehre, Annahme ihrer Falschheit zu einem anderen, inkompatiblen Zweig. Viele ähnliche unentscheidbare Aussagen wurden gefunden. Die CH und andere Fragen könnten als neue Axiome zu ZF hinzugefügt wer- den, doch ihre Aufnahme bleibt willkürlich. Andererseits können auch die bereits akzeptierten Axiome infrage gestellt werden. Jedes eingeführte Axiom begrenzt die mögliche Mathematik und bietet gleichzeitig eine Grundlage, auf der Mathematik aufbauen kann. Joel David Hamkins vertritt die Position, dass wir dieses mengentheoretische Multiversum einfach akzeptieren und erforschen sollten. Obwohl er es nicht mit dem physischen Multiversum in Verbindung bringt, sehe ich hier das gleiche Prinzip am Werk. Russells Paradoxon Gemäß dem uneingeschränkten Komprehensionsprinzip gibt es für jede hinreichend definierte Eigenschaft die Menge aller und nur der Objekte, die diese Eigenschaft haben. Sei R die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten. (Diese Menge wird manchmal „Russells Menge“ genannt.) Wenn R sich nicht selbst als Element enthält, folgt aus ihrer Definition, dass sie sich selbst enthalten muss. Enthält sie sich jedoch selbst, dann darf sie sich 8 nach Definition nicht enthalten. Der resultierende Widerspruch ist Russells Paradoxon. — Wikipedia zu Russells Paradoxon Das „uneingeschränkte Komprehensionsprinzip“ entspricht dem zuvor beschriebe- nen: „Allein durch die Möglichkeit, eine Grenze zu ziehen und zusammenzufassen, existiert eine Menge.“ Dies wurde später als „naive“ Mengenlehre bezeichnet, um sie vom axiomatischen Ansatz zu unterscheiden. Russell zeigte, dass bei Gültigkeit dieses Prinzips eine Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, konstruiert werden kann – was zum Paradoxon führt. In der ZF-Mengenlehre wird dieses Paradoxon vermieden, indem nur Mengen zugelassen werden, die sich nicht selbst enthalten (Fundierungsaxiom). Betrachten wir ein Gedankenexperiment aus der entgegengesetzten Perspektive: Angenommen, wir erlauben nur Mengen, die sich selbst enthalten. In diesem System wäre x = {x, y} erlaubt, x = {y} hingegen nicht. Nach dieser Logik hätte die „Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten“ keine Elemente – sie wäre die leere Menge. Wir können auch eine Meta-Perspektive einnehmen, die beide Ansätze umfasst. Aus dieser Sicht ist die Russell-Menge sowohl leer als auch enthält sie jede andere Menge. Ein scheinbares Paradoxon, doch wir können es auflösen, wenn wir neu definieren, was die leere Menge tatsächlich ist. Wir sagten, Mengen können als Sammlungen von Objekten gedacht werden. Was also ist eine Sammlung ohne Objekte? Wir beginnen mit absolut nichts und erschaffen eine Menge: {} Eine Grenze um Nichts gezogen. Zu Beginn haben wir noch keine anderen Mengen konstruiert. Innerhalb und außerhalb der leeren Menge existiert also nichts. Klarstellung: Absolut nichts bedeutet kein Raum, kein Universum, keine Mathe- matik, kein Beobachter, keine Menge – nichts, was diese Grenze trennen könnte. Die Grenze selbst ist kein Ding; nicht einmal die Behauptung, dass nichts ex- istiert. Sie ist eine Trennung ohne zu Trennendes. „Innen“ und „Außen“ der Menge sind beide nichts. Es gibt keinen Unterschied zwischen innen und außen. Die Menge zeigt an: Es gibt nichts, und innerhalb dieses Nichts gibt es immer noch nichts. Die leere Menge ist innerhalb von nichts und enthält nichts. Das bedeutet: Die leere Menge ist rekursiv Ohne Axiome, die eine leere, rekursive Menge verbieten, ist die Menge bereits ohne Ursache vorhanden. Sie erschafft sich selbst aus unbegrenzter Potentialität. Die leere Menge ist jedoch nicht nichts; sie ist bereits etwas – eine Grenze, eine Differenzierung. Während sich alles aus unbegrenzter Potentialität erschaffen 9 könnte, ist die leere Menge die einfachste denkbare Form des Existenz. Sie ist bloß die Behauptung, dass es sie selbst gibt. Ist die leere Menge rekursiv, können wir sie iterieren, indem wir die leere Menge in jede Instanz der leeren Menge einfügen: {} {{}} {{}{{}}} {{}{{}}{{}{{}}}} Diese Iterationen entsprechen der Definition der natürlichen Zahlen von oben. Jede dieser Mengen enthält die leere Menge und ist selbst eine Instanz der leeren Menge. Wir können das noch weiter treiben: Jede Menge kann als spezifische, begren- zte Perspektive der leeren Menge betrachtet werden. Umgekehrt enthält jede beschreibbare Menge die leere Menge. Da dies wechselseitig gilt, enthält jede so beschriebene Menge sich selbst. Die leere Menge enthält alle Mengen und ist dennoch leer. In dieser Sicht sind die Menge aller Mengen, die Russell-Menge und die leere Menge identisch ( V = R = {} ). Es handelt sich um ein einziges Fraktal, das alle mathematischen Strukturen enthält. Russells Paradoxon ist nicht länger paradox. Wir erreichen dies, indem wir Unterschiede zwischen Mengen als Unterschiede in der Perspektive neu definieren. Die Vielheit aller Mengen wird zu einer Leere mit multiplen Betrachtungsweisen. Beachten Sie, dass wir dabei mindestens eine subtile Annahme trafen: die binäre Unterscheidung zwischen Existenz und Nicht-Existenz. Doch das muss nicht sein. Wir können jedes Paar geschweifter Klammern („Dualitäten“) als Kontinuum von Nicht-Existenz zu Existenz oder von Ungewissheit zu Gewissheit betrachten. Der Übergang von einer Menge zur anderen ist dann nur eine kontinuierliche Änderung des Gewissheitsgrades. Figure 1: Verschachtelte Klammern mit Gewissheitsgraden, die einen kontinuier- lichen Übergang von Nicht-Existenz zu Existenz darstellen Russells Paradoxon ist paradox, weil es widersprüchliche Annahmen trifft. Die Standardlösung besteht darin, nur nicht-paradoxe Fälle zu betrachten – also die Sicht einzuschränken (durch das Fundierungsaxiom). Ein anderer Ausweg ist, die versteckte Annahme zu finden und fallen zu lassen. Alle Paradoxien weisen auf einen Konflikt in den Annahmen hin und können immer durch deren 10 Loslassen aufgelöst werden. Sichtlose Sicht Überlagerung der Sichtweisen Russells Paradoxon wurde im vorherigen Gedankenexperiment aufgelöst, indem wir eine Überlagerung aller möglichen Mengen einnahmen. Wir können in jede spezifische Menge mit unserer Perspektive eintauchen, sind aber nicht auf sie beschränkt. Dieser Prozess kann für zwei Optionen als ursprünglicher Zustand 0 beschrieben werden, der L und R enthält, aber unentschieden ist. Wenn wir unsere Sicht auf L als wahr einschränken, ist R falsch und umgekehrt. Dies ergibt vier mögliche Betrachtungsweisen: • L ist wahr • R ist wahr • L & R : beide sind wahr • 0 : keines ist wahr Diese vierfache Sichtweise wird catu s ko t i oder Tetralemma genannt. Sie umfasst Bejahung, Verneinung, beides oder keines. Dies steht im Kontrast mit der westlichen Philosophie, wo der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (entweder wahr oder falsch) grundlegend für die Logik ist. Doch auch dieser Satz ist nur eine Annahme, die gerechtfertigt werden muss. Um eine Rechtfertigung zu denken, muss man über ihn hinausgehen und alle Optionen berücksichtigen. N ̄ ag ̄ arjuna, ein buddhistischer Philosoph des 2. Jahrhunderts, fügt eine fünfte Option hinzu: die sichtlosen Sicht oder die Offenheit für Sichtweisen – den mittleren Weg. Er klammert sich nicht an eine Option als die einzig richtige, sondern sieht alle Wahrheitsansprüche als substanzlos an. Der Zweck dieser Logik ist ausdrücklich nicht, ein fixes Dogma darüber zu etablieren, wie die Dinge wirklich sind. N ̄ ag ̄ arjuna nutzt wie Gödel die Logik, um die Grenzen und Substanzlosigkeit der Logik aufzuzeigen. Weder aus sich selbst noch aus anderem, Noch aus beidem, Noch ohne Ursache Entsteht irgendetwas, irgendwo. N ̄ ag ̄ arjunas M ̄ ulamadhyamakak ̄ arik ̄ a , Kapitel 1, Vers 1 Dazu ein Beispiel: Ist eine Linie eine Sammlung von Punkten, oder sind Punkte Orte auf einer Linie? Versucht man, eine Linie aus Punkten zu konstruieren, müsste man unendlich viele Punkte hinzufügen. Nimmt man an, dass Punkte existieren, könnte man schließen, dass Linien unerreichbar und unmöglich sind. Nimmt man hingegen eine Linie und grenzt sie ein, erreicht man nie einen Punkt, da ein Punkt unendliche Präzision voraussetzt. Nimmt man an, dass Linien 11 existieren, könnte man schließen, dass Punkte unerreichbar sind. Was also trifft zu? Oder gibt es eine dritte Option? Eine Lösung ist, dass weder Punkte noch Linien die Realität selbst sind, sondern Beschreibungen davon. Abstraktionen, die nur existieren, weil man eine bestimmte Sicht einnimmt. Weder existieren Punkte noch Linien. Eine andere Lösung ist der Einwand, dass der Gedanke an Punkte oder Linien durch das Denken existiert. Beide existieren. Doch dann sind „beide“ und „keines“ ebenfalls Ansichten. Das eigentliche Problem liegt darin, zu denken, die Realität sei auf eine bestimmte Weise und man könne sie kennen. Lässt man das Bedürfnis nach Eindeutigkeit los, kann man in der Ungewissheit ruhen. Wie oben dargelegt, kann jedes mathematische Objekt als verschachtelte Menge – letztlich aus der leeren Menge bestehend – beschrieben werden. Jedes Objekt ist leer. Die Information, die nötig ist es zu beschreiben oder zu lokalisieren, ist äquivalent zum Objekt selbst und nicht reduzierbar. Es existiert aus sich selbst heraus. Eine dritte Sicht ist, dass das isolierte Objekt keine Eigenschaften haben kann; erst in Beziehung zu anderen Objekten zeigt es Eigenschaften – seine Existenz ist bedingt abhängig. Jede dieser Sichten als ultimative Wahrheit anzunehmen, schließt die anderen aus. Die beste Lösung ist, nicht zu entschei- den, sondern immer nur vorläufig zu nutzen. Selbst die Erkenntnis, dass alle Phänomene leer von inhärenter Existenz sind, ist nur eine vorläufige Wahrheit. „Leer“ sollte nicht behauptet werden. „Nicht-leer“ sollte nicht behauptet werden. Weder beide noch keines sollten behauptet werden. Sie werden nur nominal verwendet. Kapitel 22, Vers 11 Viele Welten In der Quantenphysik sind alle Kombinationen von Amplituden für L und R möglich. Es gibt nicht nur vier, sondern unendlich viele mögliche Werte. Doch bei der Messung wird nur eine dieser Optionen realisiert. Die Wahrscheinlichkeit ergibt sich aus dem Quadrat der Amplituden (Born-Regel). Dies führt zur Frage: Was ist eine „Beobachtung“ in der Quantenmechanik? Das Doppelspaltexperiment führte ein Problem in die Physik ein, das viele Interpretationen, aber keinen Konsens hervorbrachte. Vor der Messung verhält sich das Teilchen wie eine Welle von Wahrscheinlichkeiten, die mit sich selbst interagiert. Nach der Messung scheint es, als sei ein Teilchen an einem einzigen Ort beobachtet worden, bestimmt durch die vorherige Wahrscheinlichkeit. Was also ist eine „Messung“? Beeinflusst Beobachtung die Realität? Wo und wann geschieht „Beobachten“, und wer oder was beobachtet? Das Problem verschärft sich durch Nicht-Lokalität und Verschränkung. Glücklicherweise erlaubt die Viele-Welten-Interpretation ein Verständnis ohne neue, unerklärte Prozesse oder Entitäten. 12 Figure 2: Alle möglichen Zustände eines Qubits können als Punkte auf der Bloch-Kugel dargestellt werden (Quelle) Hugh Everett nannte seine Lösung ursprünglich „Relative-State-Formulierung der Quantenmechanik“ oder später „Theorie der universellen Wellenfunktion“. Der Begriff „Viele Welten“ entstand später und führt trotz seiner Prägnanz manchmal zu Verwirrung. Es ist nicht nötig anzunehmen, dass neue Welten bei jeder Messung entstehen. Everetts Interpretation ist konservativ, da sie keine zusätzlichen Entitäten außer der Wellenfunktion postuliert. Die Wellenfunktion ändert sich nicht durch Messung, sondern unsere Sicht darauf. Wo kommt dann die Messung ins Spiel? Alle möglichen Ergebnisse sind bereits vor der Messung in der Wellenfunktion vorhanden – eine Überlagerung möglicher Welten. Messen bedeutet, mit der Wellenfunktion zu interagieren. Diese Inter- aktion begrenzt, welche Welten aus der Perspektive des Beobachters zugänglich sind. Sie führt zu mehr Gewissheit über eine bestimmte Perspektive, doch ohne etwas, das das Ergebnis auswählt, wird jede mögliche Perspektive realisiert. Während andere Interpretationen versteckte Information oder Zufälligkeit als fundamental annehmen, ist Zufälligkeit in der Viele-Welten-Interpretation ein Artefakt der Wahrnehmung. Die Kette der Ereignisse erscheint nur aus der Beobachterperspektive zufällig. Bei der Messung eines Teilchens schränken wir unsere Sicht der Wellenfunk- tion auf den Teil ein, bei dem das Teilchen wahrscheinlicher an dieser Position ist. Aufgrund der Unschärferelation kennen wir die Position nie genau, haben aber eine Wahrscheinlichkeitsverteilung. Da zwei Verteilungen (Beobachter und Beobachtetes) interagieren, hat die resultierende Verteilung weniger Freiheits- grade. Die Welle-Teilchen-Dualität ist die Dualität von weniger und mehr Gewissheit. Ein Teilchen existiert nicht als separates Ding, solange es nicht beobachtet wird. 13 Die Position eines Teilchens ist kein Merkmal „objektiver“ Realität, sondern einer subjektiven Perspektive auf die absolute Realität. Jede Welt in der Viele-Welten-Interpretation ist eine Perspektive auf die Realität, und jede Perspektive ist eine Wahrscheinlichkeitsverteilung. Wie die leere rekursive Menge enthält die universelle Wellenfunktion bereits alle möglichen Perspektiven. Was uns als Messung erscheint, ist nur eine bereits im Multiversum existierende Perspektive. Frei von, aber nicht ohne Dieses Verständnis selbst ist keine Sichtweise. Vielmehr erkennt man durch das Verstehen der Natur aller Sichtweisen, dass sie nicht mit der Realität verwechselt werden dürfen. Als Analogie: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Zug und schauen aus dem Fenster. Sie können sich selbst als Bezugspunkt nehmen und die Landschaft vorbeiziehen sehen. Oder Sie nehmen die Landschaft als Bezug und erkennen, dass Sie durch sie reisen. Sie könnten dieses Spiel beliebig fortsetzen oder erkennen, dass alle Bezugspunkte Konstruktionen sind – etwas, das Sie tun . Wenn Sie ganz damit aufhören, bewegen sich alle Phänomene relativ zueinander. Von dort aus kann eine neue Frage entstehen: Was ändert sich nicht, wenn der Bezugspunkt wech- selt? Logischerweise ist das, was allen Sichtweisen gemeinsam ist, unveränderlich. Was allen Sichtweisen gemeinsam ist, ist ihre Natur als bedingte Sichtweisen. Diese Natur ist unbedingt. Doch man kann keine unbedingte Sicht auf die Realität einnehmen. Man kann sich nur der bedingten Natur der eigenen Sicht bewusst werden. Gemeinsamkeiten zu beobachten ist immer eine Abstraktion. Da jede Per- spektive einzigartig ist, könnte man sagen, dass keine zwei Dinge gleich sind. Die Fähigkeit, Formen wahrzunehmen und Dinge zu benennen, beruht da- rauf, Information zu ignorieren . Ohne Abstraktion könnten wir die Welt nicht verstehen. Alle beschreibbaren physikalischen Systeme haben nur aus der Per- spektive eines Beobachters Grenzen, indem Details ausgeblendet werden. Ohne Grenzen verschwinden alle Unterschiede. Ohne Unterschiede gäbe es nichts wahrzunehmen. Form existiert durch Beobachtung; Beobachtung existiert durch Form. Sichtweisen und ihr Inhalt entstehen gemeinsam in bedingter Abhängigkeit voneinander. Rekonstruieren Im ersten Teil haben wir festgestellt, dass kein einziges konzeptuelles System konsistent erklären kann, warum überhaupt etwas existiert. Selbst „Nichts“ ist ein inkohärenter Begriff, da „Nichts“ als Abwesenheit von etwas definiert werden müsste – was ihm Eigenschaften verleihen und es zu etwas machen würde. Daher muss etwas , irgendein Universum existieren. Doch unter allen möglichen Universen scheint es keine Möglichkeit zu geben, eines gegenüber anderen zu 14 bevorzugen. Um zwischen ihnen zu entscheiden, müssten wir Regeln außerhalb aller möglichen Universen finden, die festlegen, welches Universum realisiert wird. Es gibt auch keine Möglichkeit, diese Meta-Regeln auszuwählen. Es gibt keinen Grund, ein mögliches Universum einem anderen vorzuziehen. Daher müssen wir annehmen, dass alle Universen gleich existieren oder nicht existieren. Doch einige Universen teilen Eigenschaften; ihre Beziehungen ergeben eine höhere Struktur. Die Überlagerung aller Universen ist daher unentschieden, hat aber eine interne Struktur. Dies ist unser Ausgangspunkt. Von Nicht-Wissen können wir ableiten. Da kein Universum bevorzugt wird, kann jedes mögliche Universum als Bezugsrah- men dienen. Dieser Rahmen ist eine Perspektive auf die Realität. Jede Perspek- tive wird nur durch ihre Unterschiede zu anderen definiert. Durch Unterschiede entstehen Beziehungen; mit Beziehungen entsteht Struktur. Wir werden sehen, dass diese Struktur (den lokalen Eindruck von) Zeit, Kausalität, Raum, lokal gebrochene Symmetrien und alles Weitere hervorbringt. Symmetriebruch erzeugt Information. Folgt man dieser Struktur von symmetrisch zu weniger symmetrisch, findet man Verzweigungen, Verschmelzungen oder Sackgassen. Diese Diversifika- tion und Selektion ermöglichen eine universelle Evolution, die stabile Strukturen auswählt. Leben, Intelligenz, Bewusstsein und Kooperation entstehen durch Selektion für Stabilität. Das von uns beobachtete Universum ist eine Region innerhalb der Struktur der Realität, die komplexe Stabilität ermöglicht. Ohne etwas, aus dem die Realität letztlich besteht – weder real noch nicht-real –, ohne Hierarchie zwischen Groß und Klein, gibt es keine fundamentale Ebene. Es ist wahrhaft ein grundlos emergentes Multiversum Absolut Symmetrie und Symmetriebruch Unter Symmetrie verstehen wir die Existenz verschiedener Blick- winkel, aus denen das System gleich erscheint. Es ist nur leicht übertrieben zu sagen, dass Physik die Lehre der Symmetrie ist. — Philip Warren Anderson, More Is Different Unter dem mathematischen Begriff der Symmetrie oder Invarianz ist flüssiges Wasser symmetrischer als eine Schneeflocke. Etwas ist invariant , wenn es unter Transformation gleich bleibt. Man kann eine Schneeflocke spiegeln und drehen, und sie sieht gleich aus, aber Wasser kann man auf viel mehr Arten spiegeln, drehen und in jede Richtung verschieben. Reine Symmetrie ist reine Homogenität, Null Information. Sie ist unter jeder Transformation invariant. Sie bleibt immer gleich. Symmetrie ist in gewisser Weise die Anforderung, dass es keine Veränderung durch äußere Ursachen gibt. Sie ist substanzlos, kein Ding an sich. Ohne Differenzierung, wenn alles gleichwertig ist, gibt es reine Symmetrie. Auch ohne etwas zu verneinen, birgt sie das Potenzial für alle Dinge. Reine Symmetrie umfasst alles und sein Gegenstück. Die umgekehrte Sicht ist ebenfalls möglich. 15 Ausgehend von allem sehen wir, dass jedes Ding Symmetrien hat oder mit anderen Dingen symmetrisch ist. Die Überlagerung aller Dinge ist dann reine Symmetrie. In gewisser Weise gibt es nur eine Symmetrie, nämlich die Äquivalenz aller Dinge. Wenn wir etwas beobachten, liegt das nur daran, dass wir eine begrenzte Sicht haben und einige Teile ignorieren. Jede Erfahrung, Beobachtung, Perspektive oder jedes Phänomen ist eine begrenzte Sicht auf Symmetrie. Was etwas existieren lässt, ist seine begrenzte Sicht; es wird vollständig durch seine Asymmetrien definiert, durch das, was es ignoriert, durch seine Beziehungen zu allem anderen. Man könnte sagen, dass kein Ding fundamental für die Realität ist oder dass jedes Ding fundamental für sich selbst ist. Beide Sichtweisen wären gleichermaßen gültig, aber unvollständig wenn sie allein betrachtet werden. Ein paar Analogien können diese Idee veranschaulichen: Figure 3: Eine Reduktion der Symmetrie, veranschaulicht durch ein Schmetterling und einen halben Schmetterling. (Quelle) • Ein Schmetterling hat Spiegelsymmetrie. Wenn wir unsere Sicht auf eine Seite beschränken, verschwindet die Symmetrie. • Eine flache Ebene hat viele Symmetrien. Wenn wir einen Bereich auswählen (z. B. ein Quadrat), hat dieser Bereich weniger Symmetrien (für ein Quadrat ist es die Diedergruppe D4), aber alle sind in der flachen Ebene enthalten. Alle vorstellbaren flachen Bereiche existieren in dieser Ebene. • Ein unendlicher Raum, gefüllt mit einer Überlagerung aller möglichen Wellen, wird gleichmäßig sein. Wenn wir einen endlichen Bereich in diesem Raum betrachten, sind nur Wellenlängen stabil, die ein ganzzahliger Bruchteil sind (das Teilchen-im-Kasten-Modell). Jede Art die Welt zu begreifen beinhaltet Denken und somit Annahmen. Ein Beobachter, jeder Gedanke oder jede Wahrnehmung impliziert Asymmetrien; solange sie existieren, kann es keine reine Symmetrie geben. Wenn wir alle Annahmen loslassen, gibt es kein Denken und keine Erfahrung mehr. Es ist daher unmöglich, reine Symmetrie zu beobachten, sich vorzustellen oder zu erfahren. Symmetrie und das Prinzip der