Slavistische Beiträge ∙ Band 301 (eBook - Digi20-Retro) Verlag Otto Sagner München ∙ Berlin ∙ Washington D .C. Digitalisiert im Rahmen der Kooperation mit dem DFG- Projekt „Digi20“ der Bayerischen Staatsbibliothek, München. OCR-Bearbeitung und Erstellung des eBooks durch den Verlag Otto Sagner: http://verlag.kubon-sagner.de © bei Verlag Otto Sagner. Eine Verwertung oder Weitergabe der Texte und Abbildungen, insbesondere durch Vervielfältigung, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages unzulässig. «Verlag Otto Sagner» ist ein Imprint der Kubon & Sagner GmbH. Jürgen Schellenberger Die Sprache des Artakserksovo dejstvo Studien zur sprachlichen Situation im Rußland des ausgehenden 17. Jahrhunderts Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access S l a v i s t i c h e B e i t r ä g e B e g r ü n d e t v o n A l o i s S c h m a u s H e r a u s g e g e b e n v o n P e t e r R e h d e r B e i r a t : Tilman Berger Walter Breu Johanna Renate Döring-Smimov Wilfried Fiedler Walter Koschmal Miloš Scdmidubskÿ ■Klaus Steinke BAND 301 V e r l a g O t t o S a g n e r M ü n c h e n Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access Jürgen Schellenberger Die Sprache des Artakserksovo dejstvo Studien zur sprachlichen Situation im Rußland des ausgehenden 17. Jahrhunderts V e r l a g O t t o S a g n e r M ü n c h e n 1993 Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 Bayerische Staatsbibliothek München ISBN 3-87690-555-9 © Verlag Otto Sagner, München 1993 Abteilung der Firma Kubon & Sagner. München Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 V o rw o rt H ä lt man eine A rb e it w ie die vorliegende in der Hand» geraten die m annigfachen S c h w ie rig k e ite n , die bei der E rs te llu n g zu überwinden w aren, le ic h t in Vergessen- h e it. W er je solch ein U nterfangen b e w ä ltig t hat, w eiß, daß dies ohne umfassende U n te rs tü tz u n g n ic h t m öglich is t. Die zahlreichen w issen schaftlich en H e lfe r werden in den Fußnoten und Anmerkungen erw ähn t und sind im L ite ra tu rv e rz e ic h n is a u fg e - fü h r t. Die Ü brigen G efährten, die gleichermaßen w ic h tig sind und die n ic h t nur fa c h lic h e Problem e zu lösen ha lfen , werden nach altem Brauch in das V o rw o rt v e rw ie - sen. Dieses W erk s t e llt die le ic h t gekürzte Fassung m einer A rb e it d a r, die in den Jahren 1989-1992 w ährend m einer A s s is te n te n tä tig k e it am In s titu t f ü r S la v is itik e n tsta n d und die von der Philosophischen F a ku ltä t II der F rie d ric h -A le x a n d e r- U n iv e rs itä t E rla n g e n -N ü rn b e rg im H erbst 1992 als In a u g u ra l-D is s e rta tio n angenommen w urde. Bedeutenden A n te il daran hat H e rr P rofessor Dr. Klaus Steinke, de r sich be- r e it e r k lä r t h a tte , eine im wesentlichen fe rtig e A rb e it w e ite r zu betreuen. E r gab m ir v o r a lle m in m ethodischer H insicht, aber auch bei term inologischen F ra g e s te l- lungen, viele Anregungen, die den Fortgang o f t e rle ic h te rte n , zuw eilen e rs t erm ög - lic h te n . Ihm g e b ü h rt daher mein g rö ß te r Dank. Außerdem möchte ich H e rrn P ro fe sso r D r. U lric h S te ltn e r h e rz lic h danken. E r hat im Rahmen einer Vorlesung über das ru s - sische D ram a das Thema angeregt, und er hat die A rb e it besonders in der A nfangspha- se w o h lw o lle n d b e g le ite t. Auch in s titu tio n e ile W id rigke iten h a lf e r zu m eistern. F e rne r ha t e r m ir in bezug a u f die E rs te llu n g des Textes am PC unschätzbare Dienste re in te ch n isc h e r N a tu r g e le iste t, ohne die die A rb e it in dieser Form n ic h t v o rlie - gen w ürde. N ic h t z u le tz t h a tte e r f ü r Fragen, die w eniger um das 17. Ja h rh u n d e rt k re is te n , sondern sich um Gegenwartsproblem e drehten, ste ts ein o ffe n e s Ohr. W ei- te rh in haben m ir die H errn Professoren D r. Hasso Baumann und Dr. Hans A uersw ald aus Jena in v ie lfä ltig e r Weise geholfen, w o fü r ihnen mein besonderer Dank zukom m t. T r o tz denkbar ungünstiger Umstände hat e rs te re r als ausgewiesener Kenner de r h is to - risch en Umstände und sprachlichen Gegebenheiten im Rußland des 17. Ja h rh u n d e rts den e rste n T e il d e r A rb e it g rü n d lic h d u rchg ea rbe itet und kom m entiert. L e tz te re r ha t m ir w ährend seiner T ä tig k e it in Erlangen vieles in fa chliche n Diskussionen und im p e r- sönlichen Gespräch zu klären geholfen. Frau G abriele Lechner, M.A. ha t die u n e r- q u ic k lic h e Aufgabe übernommen, die A rb e it K o rre k tu r zu lesen. Dabei hat sie meinen vom vielen E inzelw issen z e itw e ilig ge trübten B lick w ieder a u f das W esentliche ge- r ic h te t und manche w id e rsp rü c h lic h scheinenden Form ulierungen aufgedeckt. F ü r noch vorhandene F ehler gle ich w elcher A rt bin ich jedoch ausschließ lich selbst v e ra n t- w ö rtlic h . Auch H e rr P rofessor Dr. Werner L e h fe ld t aus G öttingen ha t m ir einige H in - w eise gegeben, w o fü r ich ihm eb en falls danken möchte. Leider e rre ic h te n m ich seine L ite ra tu rh in w e is e zu spät, so daß ich sie n ich t mehr berücksichtigen konnte. H errn P ro fe sso r D r. P eter Rehder habe ich es zu g u te r L e tz t zu verdanken, daß die A rb e it in den Slavistischen Beiträgen erscheinen konnte. F ü r seine ste ts fre u n d lic h e U n- te rs tü tz u n g möchte ich auch ihm sehr h e rz lic h danken. Im persönlichen Bereich bin ich n a tü rlic h zu e rst meinen E lte rn f ü r ih re ständige U n te rs tü tz u n g zu größtem Dank v e rp flic h te t. W eiterhin is t es m ir ein besonderes Anliegen, der F a m ilie Achim Langguth zu danken. Sie hat während de r le tz te n Jahre meine Launen auch in schw ierigen Momenten e rtra g e n und mich ste ts m it o ffe n e n Armen em pfangen. V ergleichbares kann von der Fam ilie T e tz la f gesagt werden. E rw ä h n t w e r- den s o llte n zudem die Fam ilien Ullm ann aus Erlangen sowie Močalov und Jüdin aus V la d im ir, die meine besondere Liebe z u r russischen Sprache und K u ltu r gew eckt bzw. stä n d ig v e r tie ft haben. A lle Genannten haben m ir in den le tz te n Jahren geholfen, m ir de r Tatsache bewußt zu werden, daß das Leben n ich t von der B eschäftigung m it dem 17. Jahrhundert ve rd rä n g t w ird , sondern daß die Gegenwart m it ih re n A n fo rd e ru n - Í en und Freuden auch an m ir n ic h t vorbeizie ht. Der Dank an Sabine s c h lie ß lic h be- a r f keiner großen W orte. Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access ׳S é- d k I 11* ־ צ ^ י י * t i 4 ־ ׳ l i ־ & ־ Ą ווו I ^ I f *״־ 1 !- * - * ׳ * Г 1 ОІІІ - V י ־ ' J E ■ у - . I Гt i t ^ ׳ I £י > , l i t ־ 1 ■ ■ 1 • _ " ־ » i ־ ׳ . Il ־ И r• ״ ни‘ ווו « 1 . 1 - д ד ־ V Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051906 G lie d e ru n g E in le itu n g 1 !. Vorbem erkungen 1.1. K lä ru n g z e n tra le r B e g riffe 5 1.2. F o rschu ng sarb eiten z u r Sprache im Rußland des 17. Ja h rh u n d e rts 7 1.3. Zeitgenössische Sprachbeschreibungen 1 1 1.4. Zusammen f assung 15 1. Teil: Die sp r a ch lich e n und k u ltu re lle n G egebenheiten im Rußland des ausgehenden 17. Jahrhunderts 2. Zur P roblem atik e in e r Standardsprache im Rußland d es 17. J a h rh u n d erts 2.1. G e sch ich tlich e H in te rg rü n d e 2.1.1. Die P eriode M ich a il Romanovs 17 2.1.2. Die P eriode A le kse j MichailoviČ* 18 2.1.3. Die k irc h e n p o litis c h e Lage 19 2.2. D ie K oe xistenz m e h re re r S prachform en 2.2.1. Die s p ra c h lic h e S itu a tio n bei den O stslaven 20 2 .2 .2 . D iglossie im Rußland des 17. Jah rhu nd erts? 22 2 .2 .3 . Ü berw indung de r D iglossie 28 2.3. Zusam m enfassung 29 3. A rtakserksovo d e jstv o im K on text s e in e r Z eit Zum V e rh ä ltn is zw ischen L ite r a tu r und Sprache 31 3.1. Neue lite ra ris c h e G attungen in Rußland 32 3.2. W erkgeschichte des Artakserksovo d e jstv o 3.2.1. Wahl des Themas 35 3 .2 .2 . Änderungen gegenüber de r b ib lisch e n V orlage 37 3 .2 .3 . A u to r und Ü b e rse tze r 38 3.3. A rtakserksovo d e jstv o a ls Gegenstand s p ra c h lic h e r U ntersuchungen 40 3.4. Zusam m enfassung 43 2. Teil: S p ra ch lich e U ntersuchung des Artakserksovo d e jstvo M ethodologisches 45 4 Ś U ntersuchung der la u tlic h e n Ebene Allgem eines 46 4.1. Vokalism us 4.1.1. S tellungsunabhängige Lautveränderungen 47 4.1.2. S te llu n g sb e d in g te Lautveränderungen 51 4.2. Konsonantism us 4.2.1. S tellungsunabhängige Lautveränderungen 57 4 .2 .2 . S te llu n g sb e d in g te Lautveränderungen 61 4.3. Zusam m enfassung 63 5. Morphologie Allgem eines 65 5.1. D ie Nomina 5.1.1. D e k lin a tio n und B ildung de r S u b sta n tive 66 5.1.2. P ro n o m in a lfle x io n 93 5.1.3. F le xio n und B ildung de r A d je k tiv e 107 5.1.4. F le xio n d e r Z a h lw ö rte r 118 Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 5.2. Die Verben 121 5.2.1. F in ite V e rb fo rm e n 122 5.2.2. In fin ite V erb form en 137 5.2.3. Aspekt und A k tio n s a rt 143 5.3. Die u n fle k tie rb a re n W o rta rte n 153 5.3.1. A dverbien 154 5.3.2. K o n ju n ktio n e n 157 5.4. Zusam m enfassung 159 6. L exik 6.1. V e rh ä ltn is de r Lexeme im A rtakserksovo d e js tv o z u r S p ra c h re a litä t im 17. Ja h rh u n d e rt und heute 161 6.1.1. Neubildungen 162 6.1.2. Geschwundene E rb w ö rte r 165 6.2. F rem dsprachliches im W o rts c h a tz des A rtakserksovo d e jstv o 166 6.3. Zusam m enfassung 169 7. Schluß 170 173 L itera tu r Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 E in l e i tu n g Die vo rlie g e n d e U ntersuchung ha t in e rs te r L in ie die sp ra ch lich e S itu a tio n in Rußland gegen Ende des 17. Ja h rh u n d e rts zum Gegenstand. Im V erg leich zu anderen Epochen d e r ru ssisch e n S prachgeschichte h a t sie in der Forschung bislang v e rh ä lt- nism äß ig w enig Beachtung gefunden. So mag a lle in de r T ite l eines im Jahre 1987 v e r ö ffe n tlic h te n A u fs a tz e s von G e rta H ü ttl- F o lte r , im m erhin e in e r de r ausgew ie- sensten K ennerinnen de r russischen S prachgeschichte, sym ptom atisch f ü r diese T a t- sache sein: ״Z u r R o lle des 17. Ja h rh u n d e rts in de r S prachgeschichte Rußlands". Bei de r b is h e r s tie fm ü tte rlic h e n Behandlung des 17. Jah rhu nd erts is t es kaum v e rw u n d e rlic h , daß d ie se r Z e itra u m noch n ic h t a lls e its a k z e p tie rt in die P e rio d i- sie ru n g d e r ru ssischen S prachgeschichte eingeordnet werden konnte. Weitgehende E in ig k e it h e rrs c h t le d ig lic h d a rü b e r, daß die Z e it vom 10. bis zum 13. Ja h rh u n - d e rt a ls d ie ,*ä lte s te Epoche" o.ä. bezeichnet w ird . Ihren sym bolischen Endpunkt m a rk ie rt das J a h r 1240, a ls Kiev von den Mongolen eingenommen w urde. Die Sprache dieser Phase w ir d gew öhnlich a ls A ltrussisch (d revn eru sskij), zuw eilen auch als G em einostslavisch bezeichnet. Die P e rio d is ie ru n g d e r folgenden Epochen is t jedoch re c h t u n e in h e itlic h . Es e x is tie re n fa s t so v ie le E in te ilu n g e n , w ie es A rb e ite n d a rü b e r g ib t. E xem plarisch seien e in ig e a n g e fü h rt. Eine sehr frü h e und einfache E in te ilu n g stam m t von N.M. K a ra m zin in de r Isto ri ja gosudarstva r o s s tjs k o g o aus dem Jahre 1818. E r gin g von d re i Perioden aus: e in e r a lte n (10. - 14. J a h rh u n d e rt), e in e r m ittle re n (14. - 18. J a h rh u n d e rt) und e in e r neuen (s e it dem Ende des 18. Jah rhu nd erts). A.A. Šachm atov sp rach e b e n fa lls von e in e r D re ite ilu n g (z.B. in seinem Oćerk osnovnych momentov r a z v ltija ru ssko g o literaturnogo ja z y k a do XIX w .): e in e r ä lte s te n Pe- rio d e (10. bis 14. J a h rh u n d e rt), e in e r Übergangsperiode (14. bis 17. Ja h rh u n d e rt) und e in e r neuen P eriode (ab dem 17. J a h rh u n d e rt). Die A utoren W. Boeck, Ch. F le k - kenstein und D. Freydank legten ih r e r 1974 in L e ip zig erschienenen G eschichte der ru ssisch en Literatursprache v ie r Epochen zugrunde: die der a ltru ssisch e n L ite r a - tu rs p ra c h e vom 11. b is zum 17. Ja h rh u n d e rt, die der russischen L ite ra tu rs p ra c h e im 18. und zu Beginn des 19. Ja h rh u n d e rts, die der russischen L ite ra tu rs p ra c h e des 19. Ja h rh u n d e rts und die de r russischen L ite ra tu rs p ra c h e de r so w je tisch e n Z e it. E.G. K ovale vskaja u n te rsch ie d in ih r e r Is to rlja russkogo literaturnogo j a - zyka (1978) d re i Perioden: die russische L ite ra tu rs p ra c h e de r vo rn a tio n a le n P e ri- ode (10. b is z u r M itte des 17. J a h rh u n d e rt), die H erausbildung d e r russischen L ite ra tu rs p ra c h e d e r n a tio n a le n Epoche (Ende des 17. bis M itte des 19. Ja h rh u n - d e rts ) und de r heutigen russischen Sprache. B.A. U spenskij s p ric h t in se in e r 1987 in München erschienenen Is to r ija russkogo literaturnogo ja z y k a (X I - XVII vv.) e b e n fa lls von e in e r D re ite ilu n g : e in e r Periode der D iglossie (11. bis un g e fä h r M itte des 17. J a h rh u n d e rts ), e in e r Übergangsphase de r Z w e is p ra c h ig k e it (M itte des 17. b is zum Beginn des 19. Ja h rh u n d e rts) und d e r neuen russischen L ite r a tu r s p r a - che de r heutigen Z e it. A. Isačenko ging in se in e r zweibändigen, 1980 und 1983 erschienenen Geschichte der ru ssisch en Sprache bei seiner E in te ilu n g von v ö llig anderen K rite rie n a ls die b ish e r genannten A uto ren aus. Die besondere Bedeutung des 17. Ja h rh u n d e rts w ir d jedoch daraus e rs ic h tlic h , daß de r e rs te Band den U n- t e r t it e l trä g t: Von den Anfängen bis zum Ende d es 17. Jahrhunderts. V or allem d ie z w e ite H ä lfte des 17. Ja h rh u n d e rts w ird in fa s t a lle n A rb e ite n u n te rs c h ie d lic h ein ge ord net. Das le g t d ie V erm utung nahe, daß diese Z e it eine Umbruchphase in d e r G eschichte de r russischen Sprache d a rs te llt. Der H auptgrund f ü r d ie Divergenzen in der sprachgeschichtlichen Einordnung d ü r fte in dem Um stand liegen, daß diese Phase n ic h t durch ein einschneidendes g e sch ich tlich e s E re ig n is z e itlic h genau abgegrenzt werden kann, w ie b e is p ie ls w e i- se die ä lte s te P eriode d u rc h den M ongolensturm im 13. Jah rhu nd ert beendet w urde. V ie lm e h r hat sich ein lä n g e rw ä h re n d e r Prozeß a ls Grund f ü r den sprachlich en Wan- del erw iesen: Moskau h a tte im L a u fe d e r Z e it seine P osition a ls Z e n tra lm a c h t kon- tin u ie r lic h ausbauen und fe s tig e n können, und es w urde zum a d m in is tra tiv e n Z e n- tru m in Rußland. Sein E in flu ß e rw e ite rte sich und re ic h te w e it Uber den Moskauer 1 Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access Raum hinaus. G le ic h z e itig w irk te es a ls Magnet und zog vieles von außen an sich heran. A u fg ru n d dieser p o litisch e n E ntw icklun g änderten sich in zunehmendem Maße die sprachlich en Gegebenheiten im Lande. Die W irkung, die von Moskau a u f die übrigen Gebiete Rußlands ausging, fa n d ih re n d e u tlic h s te n N iederschlag im sich ausweitenden Kanzleiwesen. Es w a r gegen M itte des 16. Ja h rh u n d e rts von Ivan IV. begründet worden. Die M ita rb e ite r in den K anzleien standen bald vo r der S c h w ie rig k e it, ne u a rtig e Lebensbereiche s p ra c h lic h erfasse n zu müssen. Sehr viele der M ita rb e ite r w aren im Laufe de r Z e it von a u ß e r- halb ins neue M achtzentrum gekommen. O ft w aren sie noch n ic h t einm al Russen. D a- durch haben fre m d s p ra c h lic h e E inflüsse an Bedeutung gewonnen. Im U m fe ld die se r K anzleien s te llte sich fo lg lic h in bis dahin n ic h t gekannter Weise das P roblem , eine ü b e rre g io n a l g ü ltig e S p ra ch fo rm zu finden. S chließ lich m ußte d ie d o rt v e r- wendete Sprache auch außerhalb Moskaus ve rs tä n d lich sein. Es b le ib t zu klä re n , welche A usw irkungen die entstandene S p ra ch fo rm , die entsprechend als Karxzleispra- che bezeichnet w ird , a u f die w e ite re E n tw icklu n g der russischen Sprache h a tte . Dabei w ir d die R olle de r fre m d sp ra ch lich e n E inflüsse zu be rü cksich tig e n sein. Im M itte lp u n k t d e r Diskussion s te h t s te ts das Nebeneinander von K irc h e n s la - visch und Russisch, das aus der K iever ״Rus e re rb t w urde. D ieser Z ustand w ir d o f t a ls D iglossie bezeichnet. Die Meinungen da rüb er, ob sie im 17. Ja h rh u n d e rt noch fo rtb e s ta n d oder ob sich beide Sprachen b e re its zu verm ischen begannen, gehen noch w e it auseinander. E rs c h w e rt w ird die Auseinandersetzung durch d ie u n g e k lä rte R olle de r K anzleisprache. Die Frage de r S prachnorm ierung und d a m it nach e in e r S tandardsprache s te llte sich im 16. und 17. Jah rhu nd ert in nahezu allen Ländern Europas. A uslöser und tre ib e n d e K r a f t bei diesem Prozeß w a r die R e fo rm a tio n und die durch sie e n ts ta n - denen k irc h e n p o litis c h e n S tre itig k e ite n . Ein w ich tig e s In s tru m e n t in diesen A us- einandersetzungen w a r im m er eine Übersetzung der Bibel in d ie je w e ilig e V o lks- spräche. A u fg ru n d de r a n de rsartigen histo risch e n Umstände in Rußland z e ig te sich diese P ro b le m a tik d o rt e rs t erh e b lich sp ä te r als im übrigen Europa. Der Fragenkom plex der D iglossie im Rußland des 17. Ja h rhu nd erts, d e r R olle der K anzleisprache und der S prachnorm ierung im H in b lick a u f die w e ite re E n tw ic k lu n g de r russischen Sprache soll am Beispiel des Artakserksovo d e js tv o , dem ersten höfischen Dram a Rußlands, a u fg e ro llt werden. Anhand dieses Stückes können a lle genannten Aspekte da rg e le g t werden. E rstens w urde das Stück im Jahre 1672 v e rfa ß t und a u fg e fü h rt. Es f ä l l t d a m it genau in die erw ähnte Umbruchphase. O bwohl es vor m ehr a ls 300 Jahren v e rfa ß t und a u fg e fü h rt w urde, is t seine Sprache noch keiner eingehenden U ntersuchung unterzogen worden. Ein w ic h tig e r G rund d a fü r d ü r fte sein, daß sowohl de r deutsche als auch der ü b erse tzte T e x t lange ve rsch o lle n w a - ren. Unabhängig voneinander w urden e rs t in den 50er Jahren unseres Ja h rh u n d e rts zw ei M anuskripte des Dramas v e r ö ffe n tlic h t: André Mázon und F ré d é ric C ocron gaben 1954 eine in Lyon gefundene H a n d s c h rift, die den deutschen und den üb erse tzte n T e x t e n th ä lt, heraus. Große T e ile , d a ru n te r der gesamte z w e ite A kt, fe h le n a lle r - dings. E tw a z u r gleichen Z e it w urde in Vologda eine H a n d s c h rift en td e ckt, die nur den Übersetzten T e x t e n th ä lt. E r w e ist eb e n fa lls Lücken a u f, da einige S eiten des T e xtes ve rlo re n gegangen sind. D ieser T e x t w urde 1957 von I.M. K u d rja vce v he rau s- gegeben. Außerdem v e rö ffe n tlic h te K. G ünther ein in W eimar gefundenes Fragm ent, welches die g rö ß te Lücke de r Lyoner Ausgabe, näm lich den zw e ite n A k t, e n th ä lt. Der ü b erse tzte T e x t is t v o lls tä n d ig , der deutsche hingegen lü cke n h a ft. Z w e ite n s w urde es - w ie schon angedeutet - a u f deutsch geschrieben und e rs t dann ü b e rs e tz t. Da zum indest T e ile der Ü bersetzung w a h rsch e in lich von M ita rb e i- te rn de r G esandtschaftskanzlei a n g e fe rtig t w urden, kann man einen gewissen A n te il an Elementen de r K anzleisprache e rw a rte n . Die fre m d sp ra ch lich e n E in flü sse müssen dabei aus besagten Gründen m it b e rü c k s ic h tig t werden. D ritte n s handelt es sich um die B earbeitung eines Themas aus dem A lten Testam ent (Buch E sth e r). D a m it is t das Nebeneinander von K irchenslavisch und Russisch b e rü h rt. Da das S tück a u f e in e r Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 T h ea terbühne zu re in unterhaltenden Zwecken a u fg e fü h rt w urde, u n te rla g es Z w ä n - gen, d ie p e r s e m it de r kirchenslavischen Sprache sch w e rlich in E inklang zu b r in - gen w aren: Ein b ib lis c h e r T e x t mußte f ü r einen Zweck in e in e r Weise sp ra ch lich b e a rb e ite t w erden, d e r von der K irche d a fü r n ic h t vorgesehen w ar. V ie rte n s w a r im 17. Jahrhundert auch die E ntw icklun g der L ite r a tu r in Rußland von d u rc h g re ife n d e n Veränderungen geprägt. A lte Gattungen ve rlo re n zunehmend an Bedeutung und neue, zum T e il bis dahin im Lande unbekannte G attungen tauchten a u f. Eine davon w a r das höfische Drama, das w ie gesagt m it dem Artakserksovo d e j- stvo in Rußland seinen Anfang nahm. Es gab in Rußland fo lg lic h k e in e rle i V o rb il- de r, nach denen sich A u to r und Ü bersetzer des Artakserksovo d e jstv o h ä tte n rie h - ten können; s c h lie ß lic h ste lle n neue lite ra ris c h e Gattungen neue A nforderungen an eine Sprache. Da keine Aufzeichnungen darüber e rh a lte n sind, daß d ie Sprache A n- stoß e r re g t ha t und da der Z a r alle am Stück B e te ilig te n nach de r A u ffü h ru n g re ic h h a ltig belohnt h a t, liegen wenigstens zw ei in d ire k te H inweise d a ra u f vor, daß die Sprache des Stückes zum indest verstä n d lich gewesen sein muß. Die be- schriebene A ufgabe w u rd e anscheinend irgendw ie angemessen gelöst. Um den S te lle n w e rt de r Sprache des Dramas im G esam tkontext je n e r Z e it he rau s- z u a rb e ite n , w erden die E igenarten der Sprache des Dramas m it den Ergebnissen der A rb e ite n aus dem und zum 17. Jahrhundert verglichen. Besonders in te re ssa n t sind in diesem Zusammenhang die zeitgenössischen von Ausländern geschriebenen Werke, w ie zum B eispiel die G ram m atiken oder die Gesprächsbücher. Ausländer konnten viel unvoreingenom m ener an die Sprache in Rußland herangehen, als es einem k irc h e n s la - visch g e b ild e te n Russen m öglich gewesen wäre. Es ersch e in t durchaus w a h rsch e in - lie h , daß m itte ls die se r Werke die dam alige S p ra c h re a litä t ve rh ä ltn ism ä ß ig gu t e r fa ß t w urde. Die A rb e it besteht som it aus zw ei H auptteilen. Zunächst werden in den "V o rb e - m erkungenH die w ic h tig s te n B e g riffe gegeneinander abgegrenzt und ein Forschungs- ü b e rb lic k gegeben. Da die E ntw icklung der russischen Sprache eng m it den je w e ili- gen g e sch ich tlich e n Ereignissen v e rk n ü p ft is t, werden im ersten , m ehr re fe rie re n - den T e il die g e schich tlich en Voraussetzungen f ü r den Sprachwandel in einem kurzen Ü b e rb lic k d a rg e le g t. Anschließend w ird die sprachliche U m b ru ch situ a tio n c h a ra k te - r is ie r t . Einen eigenen A b sch n itt w ird dabei die Einordnung des Artakserksovo d e j- stvo in den lite ra ris c h e n K on text seiner Z e it bilden. Im zw e ite n T e il w ird der T e x t des Artakserksovo d e jstv o sp ra ch lich u n te rsu ch t. jDer Frage, in w ie w e it die Übersetzung aus dem Deutschen als "in h a ltlic h r ic h tig " , irg e n d w ie a ls "gelungen" oder "kü n stle risch w e rtv o ll" bezeichnet werden kann, w ird n u r dann nachgegangen, wenn es den Argum entationsgang u n te rs tü tz t. V ielm ehr s o ll das Artakserksovo d ejstvo in den Rahmen seiner Z e it g e s te llt und u n te rsu ch t w erden, in w ie w e it es ein f ü r seine Z e it typ isch e r T e x t is t. Das synchrone System einer Z e it kann anhand de r Betrachtungen zu einem einzigen Werk kaum herausgele- веп werden. Das is t auch n ic h t Z ie l der Untersuchung. Es geht n ic h t darum , einen v o lls tä n d ig e n Ü be rb lick über die sprachlichen Gegebenheiten im Rußland des ausge- henden 17. Jah rhu nd ert zu geben. D a fü r sei a u f die L ite r a tu r verwiesen. Außerdem werden diachrone Überlegungen an ge stellt. Die heutige russische, po- ly fu n k tio n a le L ite ra tu rs p ra c h e s e tz t sich hauptsächlich aus Elementen des K ir - phenslavischen und des Ostslavischen bzw. des Russischen zusammen. Die D iglossie wurde, m it anderen W orten, irgendwann überwunden. Es is t noch n ic h t g e k lä rt, w ie iie s e r Prozeß im einzelnen verla u fe n is t. Die eingehende U ntersuchung eines T e x - ,es aus der angesprochenen Umbruchphase soll e in e rse its M a te ria l f ü r die w e ite re )iskussion b e re its te lle n . A ndererseits w ird bei der Untersuchung g e p rü ft, welche Elemente des T extes im heutigen Russischen noch verwendet werden bzw. welche in - :wischen verschwunden sind. Aus der A rt und der Anzahl dieser Elemente können ie l le ic h t Rückschlüsse im H inb lick a u f die Entstehung de r heutigen russischen Standardsprache gezogen werden. Diese A rb e it soll also keine theoretische Abhandlung sein, in de r ein neuer le g riffs a p p a ra t begründet werden soll. Die A rb e it w ird in e rs te r L in ie das M ate- 3 Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 r ia l eines T e xtes aus de r zw eite n H ä lfte des 17. Ja h rh u n d e rts a u fa rb e ite n und s o m it einen B e itra g z u r Diskussion um die Entstehung der heutigen russischen L i - te ra tu rs p ra c h e le iste n . L e d ig lich in methodologischen Vorbem erkungen zu den e in - zelnen K a p ite ln w ir d die Vorgehensweise begründet und a u f d ie Besonderheiten bei de r U ntersuchung eingegangen. Im wesentlichen werden jedoch die tra d itio n e lle n B e g riffe und In h a lte übernommen. N ur an den Stellen* in denen sich m ehrere gegen- Überstehen, w ird die Vorgehensweise a u s fü h rlic h e r d is k u tie rt. Die S ynta x w ird n ic h t u n te rsu ch t, denn der T e x t is t in gebundener Sprache g e - schrieben. So sind Fragen w ie zum Beispiel ob das A d je k tiv v o r oder h in te r dem entsprechenden S u b sta n tiv s te h t, n ic h t ein de utig zu bean tw orte n. Der vorliegenden A rb e it w urde de r e rs te Band der Reihe Rannjaja ru s s k a ja d r a - m aturglja (im folgenden "RRD 1972") zugrundegelegt. Diese g ib t den von I.M. K u - d rja v c e v 1957 herausgegebenen T e x t (der in dieser A rb e it a ls "M .“ a b g e kü rzt w u r - de) w ied er. Der von A. Mazon und F. Cocron herausgegebene T e x t (h ie r als "L ." bezeichnet) w urde n u r bei Abweichungen herangezogen. Ähnliches g ilt f ü r den von K. G ünther herausgegebenen T e x t (der als "W ." abgekürzt w ir d ) , da e r a ls E rg ä n - zung zu L. a u fg e f aß t w ird . Sowohl in M. als auch in RRD 1972 w urden die heute n ic h t m ehr verw endeten Grapheme >b<, >i<, >A< und >Ä< konsequent d u rch >e<, >и<, >я< und >y< e rs e tz t. Das b e t r i f f t auch die griechischen Grapheme >Ѳ<, >Ę<, > ф < und XíK, die d u rch >ф<, >кс<, >nc< und > 0 < e rs e tz t w urden. Diese V e re in b a ru n g w urde h ie r übernommen. Diese Grapheme sind z w a r in L. g e tre u wiedergegeben, a u f- g ru n d de r allgem einen Mängel dieser Ausgabe w urde a u f sie aber n u r in Ausnahm e- fä lle n z u rü c k g e g riffe n . A lle s p ra c h lic h b e tra c h te te n Formen sind in dieser A rb e it k u r s iv geschrieben. Dazu zählen auch Belege, wenn m ehrere u n te r de r G ru n d fo rm zusam m enfassend z i t i e r t werden. S ubstantive stehen im N om inativ S in g u la r, A d je k tiv e im N o m in a tiv S in g u la r m askulin, Verben im In fin itiv . Phoneme stehen in /S c h rä g s tric h e n /, L a u te bzw . Allophone in [eckigen Klam m ern!. Grapheme bzw. G raphem folgen stehen in > e in fa - chen<, Lexeme in » d o p p e lte n spitzen K lam m ern «. Bedeutungen und Ü bersetzungen sind in *einfachen A n fü h ru n g s s tric h e n ״ angegeben, Beispiele und Z ita te stehen in ״doppelten A n fü h ru n g s s tric h e n ". Im fo rtla u fe n d e n T e x t sind - b is a u f Belege - a lle W ö rte r d e r besseren L e sb a rke it wegen t r a n s f e r i e r t , Z ita te in d e r Regel Ü bersetzt. S c h lü s s e lb e g riffe und längere Z ita te sind jedoch in K lam m ern im O r ig i- nal angegeben. Belege w iederum sind in k y rillis c h e r S c h r ift a n g e fü h rt, einzelne Morpheme dagegen in la te in is c h e r. Die Reihenfolge, in der die Form en a u f g e fü h rt sind, r ic h te t sich nach de r im je w e ils verwendeten Alphabet üblichen. 4 Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 1. V o rb em erk u n g e n 1.1. K l ä r u n g z e n t r a l e r B e g r if f e Es e rs c h e in t u n e rlä ß lic h , vorab die im Zusammenhang m it der E n tw icklu n g der russischen S tanda rdsp rach e im m er w ieder a u f tauchenden B e g riffe Nationalsprache, Standardsprache , Literatursprache , Sprache der Literatur , S ch riftsp ra c h e und K anzleisprache k u rz gegeneinander abzugrenzen. D er z e n tra le T e rm in u s in der Diskussion is t der russische B e g r iff lite ra tu rn y j ja z y k . Gemäß d e r von A.V. Isačenko a u f der Basis der P rager T h eo rie von S c h r ift - spräche fo r m u lie rte n D e fin itio n hat der literaturnyj ja z y k folgende Merkmale: 1. E r is t p o ly v a le n t, d.h. durch ihn werden a lle Lebensbereiche abgedeckt; 2. E r is t in k o d ifiz ie r te Normen g e fa ß t ;1 3. Diese N orm en sind f ü r a lle M itg lie d e r einer S prechergem einschaft v e rb in d lic h ; 4. E r is t s tilis tis c h d iffe re n z ie r t; 5. E r h a t sow ohl eine s c h r iftlic h e als auch eine mündliche Form. E ntsprechend dieser D e fin itio n ste h t der litera tu rn yj ja z y k den D ialekten, dem Jargon und de r groben Umgangssprache (прост оречие) gegenüber. A lle diese S p ra ch - fo rm e n ergeben zusammen die N ationalsprache (н а ц и о н а л ьн ы й я з ы к oder общенародный язы к). In e in e r deutschsprachigen A rb e it s te llt sich das Problem, w ie de r (im R ussi- sehen e in g e b ü rg e rte ) T erm inus literaturnyj ja z y k wiedergegeben w erden s o ll. In den w esteuropäischen P hilologien w ird eine S prachform m it den oben genannten M erkm alen heutzutage zum eist als Standardsprache (engl, standard language) be- zeichnet (v g l. Bußmann 1983: 502). Der frü h e r verwendete B e g r iff Hochsprache g ilt in zw ische n a ls v e ra lte t. Der in der S la v is tik h ä u fig verwendete B e g r iff de r Lite- ratursprache is t außerhalb dieser D is z ip lin kaum a n z u tre ffe n , und wenn, dann m e ist in d e r Bedeutung *Sprache der (schönen) L ite ra tu r* (vgl. Bußmann 1983: 306). Gerade das s o ll jedoch n ic h t ausgedrückt werden. F ü r diese S p ra ch fo rm g ib t es im Russischen den B e g r iff ja z y k (chudožestvennoj) literatury, der s e it PuSkins Z e ite n ve rw e n d e t w ird . Es g ib t aber w esentliche Unterschiede zwischen d e r S ta n - d a rd sp ra ch e und de r Sprache der schönen L ite ra tu r. So is t zum einen de r U m fang d e r Sprache der Literatur w e ite r als der der Standardsprache , da sie durchaus Elem ente d e r D ia le kte , des Jargon und der groben Umgangssprache in sich aufnehmen kann. Zum anderen fe h lt ih r die der Standardsprache eigenen Polyvalenz, denn sie deckt n ic h t die Bereiche der P u b liz is tik , der W issenschaft usw. ab. Außerdem un - !e r lie g t d ie Sprache de r L ite r a tu r n ich t so strengen N orm ierungen w ie die S ta n - pardsprache. Ein entscheidender Punkt bei der Diskussion is t, in w ie w e it der lite ra tu rn y j fazyk das E rgebnis e in e r E ntw icklun g is t und welche W echselwirkungen bei diesem Prozeß z u r allgem einen ge se llsch a ftlich e n E ntw icklung bestehen. Die oben ange- rü h rte n M erkm ale tre te n zusammen nu r bei Sprachform en a u f, die e rs t in fo lg e einer E n tw icklu n g zu Standardsprachen geworden sind. Nun s p ric h t M.M. Guchman b e i- kpielsw eise davon, daß de r Grad, in dem die oben genannten K rite rie n (die sie im W esentlichen anerkennt) z u tre ffe n , von dem E ntw icklungsstand der je w e ilig e n Ge- L e lls ch a ft abhängig sei. Die Herausbildung der Standardsprache v e rlie fe p a ra lle l p i t de r d e r sie benutzenden G esellschaft. Som it sei ein (von A. Isačenko g e fo r - Die F r a g e , w a s u n t e r dem B e g r i f f N o r m genau zu v e rs te h e n i s t , s o i l h i e r n i c h t e r ö r - t e r t w e r d e n . In d ie s e r A r b e i t w i r d in A n le h n u n g an E. C oseriu N o r m “ a l s Syste m d e r o b l i g a t o r i s c h e n R e a l i s i e r u n g e n d e r s o z ia le n und k u l t u r e l l e n * A u fla g e n * " b e t r a c h t e t . Sie s t e h t d a m i t z w is c h e n dem Sprechen e in e r s e it s und dem System e i n e r S p r a c h e a n - d e r e r s e i l s , denn sie a b s t r a h i e r t von k o n k r e t e n E in z e l& u B e ru n g e n , i s t a b e r l e t z t e n d - l i e h e in e R e a l i s a t i o n d e r im r e i n a b s t r a k t e n System v o rgegebenen M ö g l i c h k e i t e n (1970: 209). 5 Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 d e rte r) Bruch bei de r H erausbildung des lite ra tu rn y j ja z y k n ic h t unbedingt e r f o r - d e rlic h (LÊS 1990: 270). V or der Bildung der N ation sei der lite ra tu rn y j ja z y k die Sprache des S c h rifttu m s überhaupt gewesen. Dementsprechend w ir d von einer *,L ite ra tu rs p ra c h e de r vornatio na len Epoche (л и т е р а т у р н ы й я з ы к д о н а ц и о н а л ь н о й э п о х и "; F ilin 1979: 131) gesprochen. Literatur w ird also generell m it G eschriebe- nem g le ich g e se tzt. Es b le ib t aber o ffe n , wann sich die N ation herausgebildet und w ie sich dies a u f die E n tw ic k lu n g des litera tu rn yj ja z y k a u s g e w irk t h a t. V ergleichsw eise ein d e u tig v e rh ie lt es sich in de r K iever Rus*. Im m ündlichen V erkehr w urde das A ltru s s isc h e (древнерусский язы к), zuw eilen auch a ls Ostsla - visch bezeichnet, verw endet. Es w a r die Sprache, die in der K iever Rus* a u f der G rundlage des Gem einostslavischen entstanden w ar. S c h r iftlic h ü b e r lie fe r t sind in dieser Sprache le d ig lic h Urkunden und Rechtsdokumente. Aus dem A ltru ssis ch e n sind die späteren Sprachen Russisch, U krainisch und W eißrussisch hervorgegangen. Die Sprache des üb rige n S c h rifttu m s dagegen w a r das K irchenslavische. A ls litera tu r - n y j ja z y k im oben d e fin ie rte n Sinne kann es jedoch n ic h t bezeichnet w erden, denn es w urde m ündlich n ic h t verw endet. Ebenso fe h lte ihm die Polyvalenz. Da keine lite ra ris c h e n Werke aus je n e r Z e it ü b e rlie fe rt sind, die n ic h t k irch e n sla visch a u f geschrieben w orden w aren, kann der Gegensatz zwischen dem K irchenslavischen und dem A ltru ssisch e n etw as ü b e rs p itz t gesagt als O pposition von geschriebener und gesprochener Sprache bezeichnet werden. M öglich w äre daher, das K irc h e n s la - vische a ls S c h riftsp ra c h e (im Gegensatz zum A ltrussischen) zu bezeichnen, die heutige russische S tandardsprache gemäß dem allgem einen Usus a ls Literaturspra - che. Dieses A u se in a n d e rkla ffe n von V o lks- und S c h rifts p ra c h e in d e r K ie ve r ״Rus w ird h ä u fig als D iglossie bezeichnet (vgl. 2.2.). D urch den T a ta re n e in fa ll im 13. Jahrhundert z e r s p litte r te d ie ostslavische S prachgem einschaft. In de r F olgezeit b ild e te sich neben Kiev ein neues k u ltu r e l- les und a d m in is tra tiv e s Z e n tru m in Moskau. D am it ging eine Verengung des B e g rif- fe s r u s s k i j (J a zy k ) einher: von *Sprache der Ostslaven* zu *Sprache de r Russen*. Das Russische, das aus dem A ltrussisch en hervorging, be w ah rte von den d re i e n t- standenen Sprachen am archaischsten den Bestand des A ltru ssisch e n , denn es g e rie t n ic h t u n te r den sta rk e n E in flu ß des Polnischen w ie die beiden anderen. In folge des M achtzuwachses Moskaus entstand ein neuer Moskauer M isch dialekt, d e r sü d - und 2 N u r d u r c h d ie s e G le i c h s e t z u n g sind Aussagen w ie M d ie L i t e r a t u r d e r R e c h t s d e n k m ä l e i ( B o e c k / F l e c k e n s t e i n / F r e y d a n k 1974: 29) zu v e rs te h e n . O b e r d i e F r a g e , w a s z u r Lite'■ r a t u r g e r e c h n e t w e r d e n k a n n , s. K a p i t e l 3. 3 Das e i n z i g e W e rk , d a s diesen A n s p ru c h erheben k ö n n te , i s t d a s I g o r Ì i e d é A u f g r u n d e r u n g e k l ä r t e n E c h t h e i t s p r o b l e m a t i k w i r d es h i e r n i c h t zu den T e x t e n des !2. J a h r h u n d e r t s g e r e c h n e t . H eld en ep en , E r z ä h l u n g e n usw. h a t es b e s t i m m t s c h o n v o r d e r Ein* f ü h r u n g des A l t k i r c h e n s l a v i s c h e n gegeben, a b e r es e x i s t i e r e n k e in e a l t r u s s i s c h ge s c h r ie b e n e n T e x t e , so d a ß auch sie n i c h t zu den a l t r u s s i s c h e n l i t e r a r i s c h e n W erke g e z ä h l t w e r d e n können. Die P r a v d a r u s s k a j a h a t , u n a b h ä n g ig von d e r F r a g e , ob s nun in r e in e m A l l r u s s i s c h v e r f a ß t w u r d e o d e r n i c h t ( v g l . d i e T hese von S.P. O b no r- s k i j aus dem J a h r e 1934 und d ie A n t w o r t A.M. SeliSCevs von 1941), s i c h e r l i c h kei• n e r l e i l i t e r a r i s c h e n W ert. 4 An diese m P u n k t muß a u t d ie б е р е с т я н ы е грамоты e in g e g a n g e n w e r d e n , d e r e n S p r a c h e ! l e t z t e r Z e i t v o r a l l e m von A.A. Z a l i z n j a k u n t e r s u c h t w o r d e n is t. Da a b e r d a s T h e m i d i e s e r A r b e i t n i c h t d i e s p r a c h l i c h e S i t u a t i o n d e r K ie v e r Rus’ i s t , w i r d h i e r n ic h l w e i t e r d a r a u f e in g e g a n g e n . Das w i c h t i g s t e A r g u m e n t f ü r diese N i c h t b e r U c k s i c h t i g u n ! i s t d i e T a t s a c h e , d a ß es g e w a g t e r s c h e i n t , a u f f r a g m e n t a r i s c h e r h a l t e n e n D e n k m ä le r! w e i t e r g e h e n d e S c h l u ß f o l g e r u n g e n zu ziehen. 5 N a t ü r l i c h w ä r e a u c h d i e V e r w e n d u n g des B e g r i f f e s S t a n d a r d s p r a c h e m ö g l i c h . E r h l sich a b e r in d e r S l a v i s t i k t r o t z e i n i g e r d a h i n g e h e n d e r B e s tr e b u n g e n b is la n g n ic h d u r c h g e s e t z t . In d e r r u s s i s c h s p r a c h i g e n L i t e r a t u r w i r d e r s o g a r v e h e m e n t a b g e l e h n t . 6 Jürgen Schellenberger - 9783954791163 Downloaded from PubFactory at 01/10/2019 03:19:55AM via free access 00051908 n o rd ru ssis ch e E ig e n a rte n in sich a u f nahm. Diese S pra chfo rm w ird als M ittelru s- sisc h bezeichnet. Eine w e ite re Folge des p o litisch e n E rstarkens Moskaus w a r das Aufkommen des K anzleiw esens im 16. Jahrhundert. Die d o rt verwendete S p ra ch fo rm , die a u f das M itte lru s s is c h e zu rü ckg e h t, konnte sich bald als überregional g ü ltig e s Kom m unika- tio n s m itte l e ta b lie re n . Sie w ird gemeinhin als Kanzleisprache (приказны й язы к) bezeichnet. Diese S p ra ch fo rm kann n ic h t als L ite ra tu rs p ra c h e angesehen w erden, da sie z w a r ü b e rre g io n a l, aber n ic h t polyvalent w ar. Wie einige T e xtprobe n in Unbe- gaun 1935 ve rd e u tlich e n , w a r diese Sprache zum indest im 16. Ja h rh u n d e rt v ie l zu h ö lze rn , a ls daß sie a ls Grundlage beziehungsweise als V o rb ild f ü r eine L ite r a - tu rs p