101 Alp(-tag-)träume 1 101 Alp(-tag-)träume 2 3 Neue Welt O wann, wann öffnet sie sich die Flut über die Dürre. Aber wo ist er? Daß er beschwöre den lebendigen Geist Hölderlin 4 5 6 7 1 Hansel packte mich, schnallte mich auf dem Rücksitz an und gab mir links und rechts eine Ohrfeige. Hitler-Oma fragte: „Ist der Fratz jetzt endlich ruhiggestellt, damit wir losfahren können?“ „Ja, der wird keinen Mucks mehr von sich geben“, sagte Hansel, öffnete seine Büchse, nahm ein kleines gelbes Männchen heraus, öffnete die Motorhaube und drehte es als Zündkerze ein. Er nahm Platz und startete seinen gelben Mercedes. Man vernahm ein dumpfes Schreien aus der Motorhaube, aus dem Auspuff des Wagens drang eine dunkle Wolke, dann fuhren wir los. Hitler-Oma sagte: „Es gibt nichts Schöneres auf der Welt. Was Adolf nicht ausradiert hat, erledigt mein Hansel. Mein Mord-Hansel. Ich liebe meinen Mord-Hansel, auch wenn er mich manchmal erdrosseln will.“ 8 2 Hansel lauerte im Nebenzimmer. Er setzte seine Teufelsmaske auf und ergriff die Rute, ehe er begann, zu stampfen und zu brüllen wie ein tollwütiges Tier. So trieb er mich in die Stube, in der mich Hitler-Oma mit den Worten „Ist der Volksschädling endlich da?“ empfing. Sie zeigte auf ein Paket, das ich zu öffnen hatte. Hansel trieb mich mit der Rute und den Worten „schneller, schneller“ an. Im Paket befand sich eine Aufziehpuppe. Ich zog an der Schnur und die Puppe schrie: „Bitte sofort umbringen, Bitte sofort umbringen, Bitte sofort umbringen.“ ... Es hörte bis heute nicht auf. 3 Wir besuchten Hitler-Oma zum Kaffee – nach jedem Bissen sagte sie: „Alles in einen Viehwaggon hinein ...“ In ihrer Stube hing ihr Lieblingsbild. Es stellte folgende Szene dar: Zwei Afrikanerinnen mit Riesenpenissen und großen, spitzen Brüsten – die Mutter und Großmutter waren –, zerstampften in einem Mörser ihre Neugeborenen. 9 4 Hansel drehte den Volksempfänger auf und hörte sein Lieblingslied Watschnbaum vom Hinterstinkenbrunner Quartett. Hansel sang den Text des Liedes begeistert mit: „Mei Bua kriegt in der Fruah a Watschn. Zu Mittag a Fotzn, zur Jausen a Dachtel und am Abend a Flaschn, nachdem ich’s ausgsoffen hab.“ Auch Hitler-Oma schunkelte zum Lied. 10 5 Heute war er, der große Tag. Brigitte zog ihr braunes Dirndl an, ihr Kampf-Dirndl, und klebte sich den braunen Schnurrbart unter die Nase. Sie griff zur Rute und zum Knüppel und lauerte in dunklen Ecken. Hatte sie ein auserwähltes Opfer erspäht, legte sie es in Ketten und zerrte es in den Festsaal und kettete es an den Tisch. Im Saal roch es nach Schwefel, und es drang nur ganz wenig Licht durch eine winzige Öffnung an der Decke. Die Ketten befanden sich an den Beinen, Armen und um den Hals. Die Tafel im Saal war hufeisenförmig um ein Podest mit einem Thron angeordnet. Auch für mich gab es kein Entkommen, und ich wurde an einem Platz am Rande der Tafel angekettet. Als der Saal voll war, konnte die feierliche Zeremonie beginnen. Theresa, auch in einem braunen Dirndl und mit aufgeklebtem Bart unter der Nase, wurde mit einem Mann unter einer Kutte auf das Podest geführt. Theresa nahm auf dem Thron am Podest Platz, und der Mann diente ihr als Fußschemel. Brigitte nahm vor dem Thron Platz und sprach eine undeutliche Formel. Zum Schluss sprach sie: „Ich erkläre euch hiermit zu 11 Mann und Frau.“ Daraufhin kamen ihre beiden Gehilfen in schwarzen Uniformen und rollten einen Käfig herein, in dem der Mann gesperrt und angekettet wurde. Ein verkrüppeltes Kind trat ein und brachte auf einem Samtkissen eine Krone aus Kunststoff von einer Mülldeponie. Theresa setzte sie auf und krönte sich so selbst zur Kaiserin. Als nächsten Teil der feierlichen Zeremonie nahm sie wieder auf ihrem Thron Platz. Brigitte schob ein Silbertablett unter den Thron, und Theresa drückte aus ihrem After den Hochzeitsbraten. Brigitte nahm das Tablett mit den Exkrementen und begann, es zu tranchieren. Ihre Gehilfen kamen mit einem Teller, und Brigitte legte eine Schnitte des Bratens darauf. Die Gehilfen brachten den Teller zur Tafel, doch der Gast, der es essen sollte, weigerte sich. Daraufhin warf Brigitte einen Blick zu ihren Gehilfen in den schwarzen Uniformen, und diese zerrten den Gast in einen Nebenraum, aus dem ein dumpfer Knall zu vernehmen war. Alle anderen verzehrten daraufhin ihren Braten. 12 6 Wie jeden Abend kettete SIE mich an den schäbigen Holztisch. An jenen Holztisch, der von der Justizvollzugsanstalt Stein ausrangiert wurde. Danach montierte SIE wie jeden Tag das Hundeerziehungshalsband an meinem Hals und verband es mit der Leitung, die direkt in mein Gehirn führte. Die Leitung, mit der SIE meinen Willen auslöschen wollte, der in Wirklichkeit schon lange ausgelöscht war. SIE stellte mein Abendessen auf den Tisch. Es handelte sich um ein weichgekochtes Ei mit einer Schnitte Brot und Butter. SIE warf mir einen Blick zu, der mich aufforderte, unverzüglich mit dem Essen zu beginnen. SIE kontrollierte meine Bewegungen mit großem Argwohn und gab mir nach jeder falschen Bewegung einen Elektroschock über die Fernbedienung. Nach dem zehnten Fehler war es soweit. SIE begann, mich zu beschimpfen, und erzählte ausführlich über ihren Abschluss in der „Modularen Mittelschule“. Wurde dieser Punkt erreicht, drückte SIE auf der Fernbedienung jenen roten Knopf, der einen Elektroschock in der Leitung, die direkt in mein 13 Gehirn führte, auslöste. Zum Schluss hielt SIE wie jeden Abend fest, dass ich an allem Schuld sei. 14 7 Die weiße Kugel rollte in das Klassenzimmer und entfaltete sich zur Lehrperson. Der Unterricht konnte beginnen. Die Lehrperson stellte eine Frage: „Was können wir tun, um die Bettler zu vertreiben?“ Eine Kollegin meldete sich zu Wort: „Wir können dort, wo die Bettler sind, Luxusboutiquen errichten, denn dort, wo Luxusboutiquen sind, gibt es keine Bettler.“ Die Lehrperson antwortete: „Ausgezeichnet! Der Niveau ist so groß!“ Danach meldete sich Judith und ergänzte: „Man könnte natürlich die verbleibenden Bettler einsammeln und einheizen, um Brennstoffe zu sparen.“ Die Lehrperson antwortete: „Ausgezeichnet! Der Niveau ist so groß!“ Zum Schluss fügte noch Sabrina hinzu: „Und natürlich sollte man auch alle, die gegen diese ausgezeichnete Maßnahme sind, mitverbrennen, um diese endgültig zum Verstummen zu bringen, und außerdem neben den Bettlern alle Kinderschänder und sonstiges Gesindel verbrennen.“ Die Lehrperson antwortete: „Ausgezeichnet! Der Niveau ist so groß wie Misthaufen von Elefant!“ Die Lehrperson war vollends zufrieden, änderte ihre Farbe auf blau und 15 rollte sich wieder zur Kugel zusammen. Danach vollzog sie noch einige Freudensprünge im Klassenzimmer und rollte nach Hause. Der Unterricht war erfolgreich beendet. 8 In der Hilerstube befand sich der Automat – jener Automat, der mit dem Telefon verbunden war und menschliches Antlitz hatte. Es klingelte. Daraufhin drang Erbrochenes, das nach Bier roch, aus dem Mund des Automaten. Ich wusste, was ich zu tun hatte, und wischte das Erbrochene weg. Immer wieder klingelte es, woraufhin erneut Erbrochenes aus dem Mund drang, das von mir wegzuwischen war. 9 Jahre später wurde ich erneut in die Lehranstalt gebracht. Man kettete mich an und schnitt mir über Tage hinweg Fleischstücke aus dem Leib, bis nur mehr das Gerippe übrig war. 16 10 Man hatte mich bei der Religionspolizei angezeigt. Die Lehrperson band sich ihre Spitzenschürze um, setzte sich ihre Spitzenhaube auf und erklärte vor der versammelten Klassengemeinschaft, dass mir der Prozess gemacht werden müsse. Der Gerichtskäfig – er bestand aus Holz und hatte Stroh am Boden – wurde hereingerollt. Man kettete mich im Gerichtskäfig an Armen, Beinen und um den Hals fest. Die Verhandlung dauerte mehrere Tage. Als erste Zeugin wurde die Religionslehrkraft befragt, ob ich vom Glauben abgefallen sei. Auf diese Frage nickte sie nur kurz. Auch alle weiteren Zeugen gaben ihre Zustimmung durch ein kurzes Kopfnicken. Am letzten Morgen des Prozesses wurde das Urteil verkündet: qualvoller Tod durch Verbrennen. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Benzin wurde über den hölzernen Käfig, in dem ich mich befand, geschüttet, der daraufhin angezündet wurde. 17 11 Ziellos ging ich meiner Wege und kam an einer silbernen, alten Mülltonne vorbei. Die Tonne war außen stark verschmutzt, und es drang ein ekelerregender Geruch aus dem Inneren hervor. Plötzlich öffnete sich die Tonne, und dämonisches Licht drang aus ihrem Inneren. Eine Gestalt erhob sich aus dem Müllberg im Inneren – es war Theresa, und sie sprach: „Komm und folge mir in mein Reich, denn mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ 18