Christa Binswanger Sexualität – Geschlecht – Affekt Gender Studies Christa Binswanger (PD Dr.) ist Kulturwissenschaftlerin und leitet den Fach- bereich Gender und Diversity an der Universität St. Gallen. Ihre Forschungs- schwerpunkte sind u.a. Geschlecht und Sexualität, geschlechtergerechter Spra- che und Affect Studies. Christa Binswanger Sexualität – Geschlecht – Affekt Sexuelle Scripts als Palimpsest in literarischen Erzähltexten und zeitgenössischen theoretischen Debatten Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förde- rung der wissenschaftlichen Forschung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). 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Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. wei- tere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Marlies Löcker, fernbedienen . graphic design bureau Lektorat: Maria Matschuk Korrektorat: Annick Bosshart Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5168-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5168-7 EPUB-ISBN 978-3-7328-5168-3 https://doi.org/10.14361/9783839451687 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau- download Inhalt Danksagung .............................................................................. 11 1 Einleitung ........................................................................... 13 1.1 Geschlecht, Sexualität und Narrativität............................................................... 16 1.2 Theoretische Debatten zu Sexualität und Geschlecht von der Nachkriegszeit bis heute ...................................................................... 18 1.3 Affekt, Sexualität und Geschlecht ......................................................................20 1.4 Sexuelle Scripts als Palimpsest: Palimpsestische Lektüre männlicher und weiblicher Sexualität ............................... 22 1.5 Thematische Schwerpunkte, Auswahl literarischer Texte und Analyseanordnung ....... 23 1.5.1 Sexualität und Geschlecht im Zeichen von Scham, Scheitern und Befreiung..... 23 1.5.2 Sexualität und Geschlecht im Zeichen von Angst, Trauma und Metamorphose..................................................................... 24 1.5.3 Sexualität und Geschlecht im Zeichen von Undoing Affect, Krise und Entgrenzung...........................................................................26 1.6 Palimpsestische Lektüre von Literatur und Theorie zu Sexualität und Geschlecht: Literatur als kritische Intervention .................................................................... 29 2 Sexuelle Scripts als Palimpsest .................................................... 33 2.1 Sexual Script Theory: Gagnon und Simon (1973)................................................... 34 2.1.1 Script Theory...................................................................................... 36 2.1.2 Sexual Script Theory von den 1970er Jahren bis heute ................................ 38 2.2 Die Metapher des Palimpsests ......................................................................... 43 2.3 Historisierung von Sexualität............................................................................45 2.4 Geschlechterkonfiguration in der Sexualität von der bürgerlichen Moderne zur neosexuellen Revolution .................................... 47 2.5 Subjekte der Sexualität: Von der Psychoanalyse zu Affect Studies ...........................54 2.6 Sexualität, gender-orientierte Erzähltheorie und narrative Identität .........................59 2.7 Synopse: Sexuelle Scripts als Palimpsest in literarischen Erzähltexten am Übergang der Moderne zur Spät- oder Postmoderne ....................................... 63 3 Palimpsestische Lektüre ........................................................... 67 3.1 Die drei Ebenen palimpsestischer Lektüre ......................................................... 68 3.1.1 Lektüre kultureller sexueller Scripts ....................................................... 68 3.1.2 Lektüre interpersoneller sexueller Scripts .................................................69 3.1.3 Lektüre intrapsychischer sexueller Scripts ................................................ 70 3.2 Dialogische Lektüre sexueller Scripts ................................................................ 70 3.3 Quer-Lektüre ( queer reading ) ............................................................................ 72 3.4 Transdisziplinäre palimpsestische Lektüre sexueller Scripts................................... 75 4 Sexualität und Geschlecht: Scham, Scheitern und Befreiung ....................... 77 4.1 Max Frischs Stiller (1954)................................................................................. 80 4.1.1 Einführung ......................................................................................... 80 4.1.2 Stiller : Plot und Erzählanlage...................................................................82 4.1.3 Sexuelle Scripts in Stiller ........................................................................84 4.1.4 Interpersonelle sexuelle Scripts ............................................................. 85 4.1.4.1 Männliches Scheitern ............................................................... 85 4.1.4.2 Gelingendes aussereheliches heterosexuelles Script......................... 87 4.1.4.3 Scheiterndes, schamvolles Script in der Ehe .................................. 88 4.1.4.4 Weibliche Lust im male gaze ........................................................ 92 4.1.4.5 Hemmungsloses männliches Script ...............................................95 4.1.5 Intrapsychische sexuelle Scripts..............................................................96 4.1.5.1 Westernheld White.....................................................................96 4.1.5.2 Die Ermordung animalischer Weiblichkeit im Traum ......................... 99 4.1.6 Kulturelle sexuelle Scripts .....................................................................100 4.1.6.1 Othering Schwarzer Weiblichkeit..................................................100 4.1.6.2 Sinn der Ehe............................................................................102 4.1.6.3 Weibliche aussereheliche Affäre .................................................104 4.1.6.4 Kunst versus Sinnenrausch .......................................................105 4.1.6.5. Schamvolle Homosexualität ....................................................... 108 4.1.7 Palimpsestische Lektüre: Stiller als ein Roman, der duale sexuelle Geschlechter-Scripts in Bewegung setzt.......................... 110 4.2 Verena Stefan Häutungen (1975) ....................................................................... 114 4.2.1 Einführung ......................................................................................... 114 4.2.2 Häutungen : Plot und Erzählanlage ........................................................... 117 4.2.3 Sexuelle Scripts in Häutungen ................................................................ 121 4.2.4 Interpersonelle sexuelle Scripts............................................................. 123 4.2.4.1 Heterosexuelle Scripts.............................................................. 123 4.2.4.2 Sexualitätsmüdigkeit................................................................. 127 4.2.4.3 Weibliche gleichgeschlechtliche Scripts ........................................128 4.2.5 Kulturelle sexuelle Scripts ..................................................................... 131 4.2.5.1 Shaming des weiblichen sexuellen Körpers ................................... 131 4.2.5.2 Der heterosexuelle Orgasmus im Patriarchat................................. 134 4.2.6 Intrapsychische sexuelle Scripts ............................................................ 137 4.2.6.1 Weibliche versus männliche Sexualität ......................................... 137 4.2.6.2 Eros des Schreibens ................................................................ 138 4.2.7 Palimpsestische Lektüre: Festigung sexueller Geschlechter-Scripts und Befreiung der weiblichen Sexualität von Scham in Häutungen ................ 140 4.3 Synopse: Scham, Scheitern und Befreiung in Stiller und Häutungen ......................... 144 5 Sexualität und Geschlecht: Angst, Trauma und Transgression ..................... 151 5.1 Guido Bachmann Gilgamesch (1966)...................................................................156 5.1.1 Einführung .........................................................................................156 5.1.2 Gilgamesch: Plot und Erzählanlage ..........................................................159 5.1.3 Sexuelle Scripts in Gilgamesch .............................................................. 163 5.1.4 Interpersonelle sexuelle Scripts..............................................................164 5.1.4.1 Transgressiver Knaben-Eros im Zeichen des Stigmas und des Unausweichlichen .........................................................164 5.1.4.2 Transgressiver Knaben-Eros im Zeichen von Gewalt ........................ 167 5.1.4.3 Intergenerationaler Eros ........................................................... 170 5.1.4.4 Heterosexuelle interpersonelle Scripts: Prostitution, Voyeurismus und Vergewaltigung .................................................................. 172 5.1.5 Kulturelle sexuelle Scripts ..................................................................... 173 5.1.5.1 Disziplinierung homosozialen Begehrens und Doppelmoral bei den Vertretern der Ordnung ................................................... 173 5.1.5.2 Männliche gleichgeschlechtliche Sexualität im Zeichen von Stigma und Gewalt in der Knabenerziehungsanstalt ................................... 175 5.1.6 Intrapsychische sexuelle Scripts............................................................. 175 5.1.6.1 Alpträume und Penetrationsmetaphern ........................................ 175 5.1.6.2 Rolands Tagtraum in der psychiatrischen Klinik: Sexuelle Scripts als Trauma .............................................................................. 177 5.1.6.3 Kunst als transformativer Eros der De- und Rekomposition von Trauer .............................................................................. 179 5.1.7 Palimpsestische Lektüre: Trauma und Transgression als konstitutiv für den gleichgeschlechtlich männlichen Eros in Gilgamesch ...................... 180 5.2 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) ..........................................................184 5.2.1 Einführung .........................................................................................184 5.2.2 Die Klavierspielerin : Plot und Erzählanlage ............................................... 188 5.2.3 Sexuelle Scripts in Die Klavierspielerin ..................................................... 191 5.2.4 Kulturelle und intrapsychische sexuelle Scripts ......................................... 192 5.2.4.1 Mutterbeziehung, Trauma und weibliches Begehren......................... 192 5.2.4.2 Selbstverletzendes Verhalten, Trauma und Angst ............................195 5.2.4.3 Weibliche Sexualität als Mangel und Verwesungsfantasie..................198 5.2.4.4 Penetration als Instrumentalisierung, Schmerz und Auslöschung des Selbst .............................................................................. 200 5.2.4.5 Markt- und Konsumlogik der Fleischeslust.................................... 202 5.2.4.6 Weibliche Unterwerfung im männlichen Script .............................. 203 5.2.5 Interpersonelle sexuelle Scripts............................................................. 204 5.2.5.1 Weibliches Script zwischen erregender Schaulust und Fühllosigkeit .. 204 5.2.5.2 Inzestuöse Tochter-Mutter-Transgression .................................... 207 5.2.5.3 Unterwerfung, S/M und die Re-Inszenierung von Trauma im heterosexuellen Script......................................................... 208 5.2.6 Palimpsestische Lektüre sexueller Scripts: Trauma und Kriegszustand im heterosexuellen Geschlechterverhältnis ................................................... 214 5.3 Synopse: Angst, Trauma und Transgression in Gilgamesch und Die Klavierspielerin ..... 219 6 Sexualität und Geschlecht: Undoing Affect, Krise und Entgrenzung ............... 225 6.1 Juli Zeh Spieltrieb (2004) ............................................................................... 228 6.1.1 Einführung ........................................................................................ 228 6.1.2 Spieltrieb : Plot und Erzählanlage ............................................................. 231 6.1.3 Sexuelle Scripts in Spieltrieb ................................................................. 235 6.1.4 Kulturelle sexuelle Scripts .................................................................... 237 6.1.4.1 In Konflikt mit dem hyperfemininen »Prinzessinnen-Script« ............ 237 6.1.4.2 Weibliche Adoleszenz und Undoing Affect in der Mutterbeziehung .... 239 6.1.5 Intrapsychische sexuelle Scripts............................................................ 242 6.1.5.1 Weibliches adoleszentes (Un-)Doing von Gefühlen und Kontrollverlust .................................................................. 242 6.1.5.2 Männliche adoleszente sexuelle und emotionale Impotenz ............... 243 6.1.6 Interpersonelle sexuelle Scripts............................................................. 246 6.1.6.1 Eros der Rede im weiblich gleichgeschlechtlichen Script ................. 246 6.1.6.2 Sexueller Übergriff durch Peers ................................................. 246 6.1.6.3 Männliche Entjungferung ohne Konsens ....................................... 247 6.1.6.4 Spiel, Medialität und sexuelle Scripts jenseits von Romantik............. 249 6.1.6.5 Weibliche Entjungferung per Dildo .............................................. 250 6.1.6.6 Von Nötigung und Erpressung zu einem dialogischen Script ............ 252 6.1.7 Palimpsestische Lektüre: Postmoderne Durchquerung adoleszenter Geschlechterpositionen .............. 257 6.2 Marlene Streeruwitz Kreuzungen. (2008)............................................................ 260 6.2.1 Einführung ........................................................................................ 260 6.2.2 Kreuzungen : Plot und Erzählanlage ......................................................... 264 6.2.3 Sexuelle Scripts in Kreuzungen .............................................................. 270 6.2.4 Intrapsychische und interpersonelle sexuelle Scripts ................................. 272 6.2.4.1 Die asiatischen Prostituierten .................................................... 272 6.2.4.2 Gescheiterte »nachbürgerliche Neigungsehe« .............................. 273 6.2.4.3 Der gewalttätige und übergriffige Vater und die Missbrauchsgenealogie .................................................. 275 6.2.4.4 Selbstgenügsamkeit und hermaphroditischer Akt der Neugeburt ...... 276 6.2.4.5 Kotkunst und Voyeurismus ........................................................ 277 6.2.4.6 Ehevertrag und In-vitro-Befruchtung ........................................... 279 6.2.5 Kulturelle sexuelle Scripts .................................................................... 280 6.2.5.1 Heterosexualität und der Missbrauch der Frauen............................ 280 6.2.5.2 Male gaze: Auf den Spuren der geheimnisvollen Frau in Venedig......... 281 6.2.5.3 Fragment einer Sprache der Liebe .............................................. 282 6.2.5.4 Psychoanalyse in Komplizenschaft mit Hegemonie......................... 283 6.2.6 Palimpsestische Lektüre: Von Hypersexualität zu Asexualität – Paranoia des Geschlechterverhältnisses.................................................. 284 6.3 Synopse: Undoing Affect, Krise und Entgrenzung in Spieltrieb und Kreuzungen ......... 288 7 Fazit: Sexualität, Geschlecht und Affekt von Frisch bis Streeruwitz ............... 293 7.1 Sexuelles Selbst, Geschlecht und Affekt............................................................ 294 7.1.1 Sexualität im Zeichen von Scham, Scheitern und Befreiung......................... 295 7.1.2 Sexualität im Zeichen von Angst, Trauma und Metamorphose ...................... 297 7.1.3 Sexualität im Zeichen von Undoing Affect, Krise und Entgrenzung ................ 298 7.2 Ko-Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie von Homosexualität und Heterosexualität ................................................. 300 7.3 (Neo-)Sexualität und Wahrheit ........................................................................ 301 7.4 Transformationspotential der Sexualität ........................................................... 303 8 Bibliographie: Theoretische Texte, Primärtexte und Forschungsliteratur ......... 305 Danksagung Diese Arbeit hat einen langen Abschnitt in meinem Leben begleitet, und viele Men- schen haben mich dabei wesentlich unterstützt – dafür möchte ich meinen tiefen Dank aussprechen. Andrea Maihofer danke ich an erster Stelle: Sie hat mich für drei Jahre am Zentrum Gender Studies und am Graduiertenkolleg der Universität Basel affili- iert und meine Forschung möglich gemacht. Viele wertvolle Anregungen habe ich von ihr erhalten. Auch allen Graduierten sei an dieser Stelle für bereichernde Dis- kussionen herzlich gedankt. Mein Forschungsaufenthalt wurde durch ein Marie- Heim-Vögtlin-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds gesichert – so gilt dem SNF Dank für die Finanzierung meines Wiedereinstiegs in die Wissenschaft. Margaret Bridges, Kathy Davis, Eveline Kilian und Brigitte Schnegg waren zu unterschiedlichen Zeitpunkten wunderbare und grosszügige Mentorinnen, die diese Arbeit und meinen akademischen Weg wesentlich unterstützt haben. Viele Kolleg_innen haben mir ein konstruktives Feedback auf diese Arbeit ge- geben und mich durch academic friendship gestärkt. Namentlich bedankt seien An- drea Zimmermann, Angelika Baier, Moni Götsch, Anika Thym, Lotta Samelius, Su- ruchi Thapar-Björkert, Benno Gammerl, Gabriele Dietze, Melanie Rohner, Carolin Schurr, Tanja Schneider, Sophie Rudolph, Jörg Metelmann, Karen Lambrecht, An- dreas Nievergelt, Sabina Zimmermann, Barbara Jeltsch und Sara Landolt. Meine Habilitation hat profitiert von einem Forschungsaufenthalt am Centre of Gender Excellence (GEXcel) an der Universität Linköping. Den Leiterinnen Ni- na Lykke und Babro Wyma danke ich für die Förderung meines Projektes, die ich an ihrem Zentrum erfahren habe, für die gelebte akademische Dialogkultur unter mehr als dreissig Fellows und für die Finanzierung des Forschungsaufenthaltes. An der School of Humanities and Social Sciences der Universität St.Gallen konnte ich die Arbeit abschliessen. Hier danke ich im besonderen Ulrike Landfes- ter und Franz Schultheis für die Begutachtung sowie der Kulturwissenschaftlichen Abteilung für die Unterstützung und Annahme dieser Habilitationsschrift. Helmut Puff und Andrea Maihofer haben die Arbeit als externe Gutachter_innen bewertet – hierfür gilt ihnen mein Dank. 12 Sexualität – Geschlecht – Affekt Bei den Korrekturen und beim Layout sind mir Margit Werk Albers und Annick Bosshart mit grosser Präzision zur Seite gestanden. Maria Matschuk schulde ich besonderen Dank für das sorgfältige und fundierte Lektorat. Ermutigung und mannigfaltige Unterstützung habe ich erfahren von meinen Eltern Annemie und Ulrich Binswanger, Axel Gerhardt, Anja Hermann, Verena Klingler und Cora Pauli – auch ihnen gilt mein grosser Dank. Unsere Kinder Ve- ra und Milena sowie unsere Nichte Phöbe sind während der Habilitation heran- gewachsen und haben den Prozess wesentlich mitgeprägt – sie sind dem Text in besonderer Weise eingeschrieben. Ich danke ihnen für die Geduld, die sie meiner wissenschaftlichen Arbeit entgegenbringen. Diese Studie widme ich meinem Lebenspartner Jörg Schlatter. 1 Einleitung Es gab Schichten der Wirklichkeit, offen zugängliche und verborgene, und wer sich für die verborgenen Schichten interessierte, brauchte Helfer, die einen zu unterweisen wuβten in der Kunst, sich durch das Zugängliche nicht ablenken zu lassen, es brauchte Hinwei- se nicht auf Phänomene in der Welt, sondern auf Sprachen, mit denen sie zu erschlieβen wären, auf Wege, die Schichten abzutragen und zu entblättern, um zu anderen Wahrneh- mungen der Wirklichkeit zu gelangen. Carolin Emcke (2012: 71) In Wie wir begehren (2012) blickt Carolin Emcke in die eigene Geschichte zurück, be- ginnend mit der Adoleszenz in den 1970er Jahren. 1 Sie fragt danach, welche Rolle Begehren seither in ihrem Leben gespielt hat, und schildert die vielen komplexen Prozesse, die dazu führten, unterschiedliche Formen eigenen Begehrens zu erken- nen, zu leben und eine Sprache dafür zu finden. Einer der vielen Ausgangspunkte hierfür war der Sexualunterricht in einem bundesdeutschen Gymnasium in den 1970er Jahren: »Das Sprechen über Sexualität blieb fortgeschritten und rückstän- dig zugleich. [...] Nicht wegen des sündhaften Charakters der Lust sollten wir Se- xualität fürchten, sondern wegen der gefährlichen Folgen der Lust. Sexualität war nicht mehr lasterhaft, aber bedrohlich« (Emcke 2012: 41f.). Meine Studie erörtert Darstellungen von Sexualität in deutschsprachigen lite- rarischen Texten der Nachkriegszeit. Dabei analysiere ich das Erzählen von Sexua- lität als ein konstitutives Hervorbringen ihrer selbst. Als Analyseinstrument dienen sexuelle Scripts. Sexual Script Theory nahm ihren Anfang bei Gagnon und Simon 1973. Mit dem Begriff sexuelle Scripts verorteten sie damals sexuelle Handlungen zutiefst in sozialen Interaktionen. Gagnon und Simon fassen sexuelle Scripts auf drei Ebenen: der intrapsychischen, der interpersonellen und der kulturellen Ebe- ne. Die Scripts werden als ein Repertoire von Szenen aufgefasst, über die jedes Individuum auf allen drei Ebenen verfügt, um sich auf sozialen Schauplätzen der 1 Emckes Wie wir begehren (2012) ist weder klar dem Genre der Erzählliteratur noch der klassi- schen Autobiographie oder Autoethnograpie, noch der theoretischen Debatte zuzuordnen. So ist ihr Text eine Form dokumentarisch-literarischer Auseinandersetzung mit Sexualität, die für diese Studie Anknüpfungspunkte bietet. 14 Sexualität – Geschlecht – Affekt Sexualität adäquat zu verhalten. Gleichzeitig weisen sie auch immer das Potential für Eigensinn und Veränderung auf. Diese Studie greift die Sexual Script Theo- ry und deren Fortführung seit den 1970er Jahren auf und entwickelt daraus ein Analyseinstrument für die Lektüre literarischer Texte. Die Anwendung dieses Ana- lyseinstruments auf Literatur ermöglicht es, die im literarischen Text in schriftli- cher Form zum Ausdruck gebrachte gelebte, fantasierte oder als kulturelle Norm dargestellte Sexualität von Figuren und Figurenkonstellationen zu untersuchen. Die je spezifische Ästhetik eines literarischen Textes, also die Art und Weise, wie er eine fiktive Wirklichkeit herstellt, überzeichnet, in Frage stellt usw., um »zu anderen Wahrnehmungen von Wirklichkeit zu gelangen« (Emcke 2012), ist eben- falls ein zentraler Untersuchungsgegenstand. Ausgehend von einem kultursemio- tischen Textverständnis (Nünning und Nünning 2008: 52), wird der Textbegriff in einem erweiterten Sinn aufgefasst. Der Disziplinen übergreifende Textbegriff, der sich innerhalb der Kulturwissenschaften sowohl auf schriftlich fixierte wie auch auf virtuelle, mediale, visuelle und auditive Artefakte bezieht, wird hier für die Diszi- plinen übergreifende dialogische Verbindung von literarischen und theoretischen Verständnisweisen von Sexualität und Geschlecht im Untersuchungszeitraum ge- nutzt. Konzepte von Sexualität und Geschlecht, so zeigt sich in vielerlei Hinsicht, sind seit der Nachkriegszeit von Dilemmas und Paradoxien geprägt, wie sie Emcke zu Beginn ihres autobiographischen Textes artikuliert, von Fortschritt und Rück- ständigkeit zugleich. Meine Leitfrage ist, wie sexuelle Scripts in den literarischen und theoretischen Texten als Persistenz herkömmlicher Geschlechterbeziehungen, -verhältnisse und -ordnungen zum Ausdruck kommen und in welcher Weise sie ein Potential für deren Veränderung aufweisen. Bereits in der Antike war Sexua- lität einerseits auf das Engste an den gesellschaftlichen Status einer Person ge- knüpft und in hohem Masse reglementiert (Foucault 1995), andererseits war sie Erfahrungsraum der Transzendenz, der Überschreitung von bisher Erlebtem, der Ekstase und als solche ein Moment der Neuschöpfung des Selbst. Doch auch in ekstatischen Momenten der Selbstschöpfung bleibt Sexualität in selbst auferlegte Schranken und in eine daraus resultierende ethische Selbstregulierung eingebun- den. 2 Diese Studie lotet aus, ob die in den literarischen Texten dargestellten sexuel- len Erfahrungsräume es vermögen, Geschlechterkonfigurationen in Bewegung zu setzen und zu transformieren. In den Literaturwissenschaften ist die zentrale Bedeutung von Begehrens- artikulationen als konstitutiver Bestandteil von Sexualität – einschliesslich des 2 Vgl. hierzu auch die Diskussion von Butlers (2009) Begriff des ekstatischen Selbst in Kapitel 2.5 dieser Arbeit. 1 Einleitung 15 Aufschubs sexuellen Handelns – breit anerkannt. 3 So besteht eine Vielzahl von Studien, welche die Analyse literarischer Texte mit der Frage nach Begehren und Sexualität verbinden. 4 Meine transdisziplinäre Ausrichtung unterscheidet die vorliegende Studie von disziplinär verorteten Analysen. 5 Sie folgt dem Desi- derat der Durchquerung von Disziplinen in der Geschlechterforschung, indem sozial-, sexual- wie auch literaturwissenschaftliche Deutungen von Sexualität und Geschlecht als transdisziplinäre Lektüren angelegt sind, die sich gegenseitig durchlässig zeigen und produktiv ineinander aufgehen (Maihofer 2005: 199). 6 Debatten um Sexualität in Gender, Queer und Affect Studies wie auch Critical Sexualities Studies werden also in Dialog gebracht mit meiner Lektüre literarischer Texte. Erzähltheorie dient als Instrument, den literarischen Artikulationsraum der Poetisierung und Ästhetisierung von Sexualität und Begehren zu fokussieren. Das Analyseinstrument der sexuellen Scripts hebt hervor, dass Sexualität sowohl in li- terarischen Texten als auch in theoretischen Auseinandersetzungen in eine diskur- sive Form gebracht ist, die vielschichtige Ebenen der Deutung, einschliesslich dar- aus hervorgehender Praxen, eröffnet. Ausserdem weist der Begriff darauf hin, dass der Prozess der Verschriftlichung prinzipiell unabschliessbar ist. Ein Ziel meiner Arbeit besteht darin, die beiden Felder der Wissensproduktion – die theoretische Reflexion und die ästhetisierte, fiktionale Erzählung von Sexualität – miteinan- der in Dialog zu bringen. Dem Erzählen als solchem und somit auch literarischem Erzählen wird hierbei eine für Sexualität und Geschlecht konstitutive Rolle zuge- schrieben. In der Einleitung lege ich im Folgenden die zentralen theoretischen, metho- dischen und inhaltlichen Foci der Studie dar. Kapitel 2 dient dem Einblick in den theoretischen Rahmen und in relevante theoretische Positionen. Kapitel 3 erläu- tert das Analyseinstrument sexueller Scripts sowie dessen Verbindung mit Ge- schlechterkonfigurationen. In den Kapiteln 4, 5 und 6 werden die drei thema- tischen Schwerpunkte sexueller Scripts – Scham, Angst und krisenhaftes Undo- 3 So gehört beispielsweise »Das Unbehagen in der Kultur« von Freud vielerorts zum germa- nistischen Grundstudium. Freud setzt dort die Verdrängung von Begehren in ein kausales Verhältnis zur Entstehung von Kulturleistung (Freud 1930). 4 Exemplarisch seien hier einige Titel genannt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu er- heben: Bovenschen (1979), Weigel (1990), Stephan (1997), Gratzke (2000). 5 Beispiele von Forschungsarbeiten, die ebenfalls einen inter- oder transdisziplinären Zugang aufweisen: Woltersdorff (2005), Babka, Finzi und Ruthner (2013), Zimmermann (2017), Baier (2017). 6 Ich nehme hier Maihofers Charakterisierung von Transdisziplinarität auf, Disziplinengrenzen als durchlässig zu zeigen: »Und genau hierin liegt auch die Produktivität transdisziplinärer Forschung: in der Überschreitung, Neugruppierung, Neukonfiguration von Fragestellungen, Theorien, Methoden und Lösungen, ohne den Zwang sich sogleich wieder disziplinär rück- oder abzusichern« (Maihofer 2005: 200). Dieses Verständnis von Transdisziplinarität suche ich in meiner Arbeit umzusetzen. 16 Sexualität – Geschlecht – Affekt ing Affect 7 – je anhand zweier literarischer Texte analysiert. Im einen Text ist die Hauptfigur jeweils männlich, im anderen Text ist die Hauptfigur jeweils weiblich; so kann die affektive Dimension der Geschlechterkonfiguration in der Sexualität exemplarisch anhand der beiden Geschlechterperspektiven diskutiert werden. In Kapitel 7, im Fazit, werden die Ergebnisse aus den einzelnen Kapiteln noch einmal zusammengeführt. Am Schluss der Arbeit wird das Interventionspotential literari- scher Erzähltexte allgemein wie auch im Hinblick auf Geschlechterkonfigurationen in der Sexualität in transdisziplinärer Verbindung mit theoretischen Positionen aus den kritischen Sexualwissenschaften, der Geschlechterforschung und den Af- fect Studies diskutiert und so dem Desiderat der transdisziplinären Durchquerung disziplinärer Forschung in den Kulturwissenschaften nachgekommen. 1.1 Geschlecht, Sexualität und Narrativität Der Begriff der Geschlechterkonfiguration bezeichnet in meiner Studie historisch gewachsene und kontextuell eingebettete Verständnisweisen von Männlichkeit und Weiblichkeit 8 , die sich jeweils gegenseitig ko-konstituieren. Der Begriff der Figur, der in Kon figur ation enthalten ist, dient als Signal für eine kulturwissenschaftli- che Perspektive. Für die Analyse sexueller Scripts werden literarische Figurenkon- stellationen in transdisziplinärer Verbindung von Narratologie und Sexual Script Theory untersucht (wie in Kapitel 2.6 ausgeführt). Dabei soll der Begriff der Fi- gur als Abstraktum gleichzeitig darauf verweisen, dass Geschlecht gesellschaftlich hergestellt wird, wobei Männlichkeit und Weiblichkeit historisch und kontextu- ell eingebettet als Existenzweisen(Maihofer 1995) entstehen. Die Konfigurationen von Geschlecht werden in meiner Studie hinsichtlich ihrer Wechselwirkung mit sexuellen Scripts befragt. Hierbei wird Foucaults (1995) These der engen Verbin- dung von Sexualität und Wahrheit besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er hat eindrücklich gezeigt, wie eng Sexualität in der Moderne mit dem Wissen und der Wahrheit über das Selbst verbunden wurde (Foucault 1995), und nennt diese Ver- bindung im ersten Band seiner Abhandlung über Sexualität und Wahrheit das Se- xualitätsdispositiv der Moderne. Foucault erklärt das Sexualitätsdispositiv an an- derer Stelle wie folgt: »Das, was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist 7 Da sich undoing affect nicht wörtlich ins Deutsche übersetzen lässt, verwende ich den engli- schen Ausdruck und passe ihn orthographisch durch Substantivierung ans Deutsche an. 8 Ich nutze hier die Möglichkeit der deutschen Sprache, die Begriffe Männlichkeit oder Weib- lichkeit als Abstraktum zu verwenden. Diese Abstraktion schliesst eine mögliche Vielfalt an Bedeutungen mit ein und erleichtert den Lesefluss. Da sich im anglophonen Raum hierfür oft die Verwendung des Plurals – masculinities und femininities – durchgesetzt hat, verwen- de ich manchmal mit Referenz auf ein englischsprachiges Original auch im Deutschen den Plural, also Männlichkeiten und Weiblichkeiten. 1 Einleitung 17 erstens eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Insti- tutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maβnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophi- schen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann« (Foucault nach Keller 2008: 93). In der Verbindung von Diskursen und Praktiken, von Institutionen und moralischen Lehrsätzen, von Wissen und Macht dient das Sexualitätsdispositiv der Selbsterkennung in Form eines Geständniszwangs über das Sexuelle und stellt des- halb eine enge Verbindung zwischen Sexualität, Erzählen und einem Wissen über sich selbst her. Es ist im Rahmen eines institutionell durch Kirche, Psychiatrie und Pädagogik hervorgebrachten Geständniszwanges zu situieren, der eine Intensivie- rung des Sprechens über Sexualität zur Folge hat, das je nach Situation auch ein Verbot implizieren kann (Foucault 1995; vgl. auch Kilian 2004a: 31). Das Wissen über Sexualität ist dabei an Subjektivierungspraxen gebunden, die von Machtbe- ziehungen durchdrungen sind: »Das läβt den Sex als Ursprung der Phänomene erscheinen, die in Wirklichkeit von den Diskursen über Sex generiert werden, so daβ die tatsächlichen, über das Sexualitätsdispositiv gesteuerten Machtbeziehun- gen, in die das Individuum integriert ist, verdeckt bleiben« (Kilian 2004a: 32). Die je individuell erlebten und imaginierten Formen von Sexualität werden so zu Sub- jektivierungsprozessen, zu Techniken des Selbst. Dabei wird Sex »mit einer uner- schöpflichen und polymorphen Kausalmacht« (Foucault 1995: 84) über Körper und Psyche ausgestattet. Und diese Kausalmacht von Sexualität führt direkt ins ver- meintlich Innerste des Subjekts. Die Annahme, Sexualität könne über die inneren Beweggründe des Subjekts Auskunft geben, enthält die Setzung, dass ein in Spra- che artikulierter Erkenntnisprozess die Sexualität als Wahrheit über das eigene Selbst freizulegen vermag. Auch Plummer (2005) greift auf Foucaults enge Verbin- dung von Sexualität und Wahrheit zurück, macht aber ausserdem geltend, dass Narrativität einen Anteil an Sexualität hat, der bislang wenig untersucht wurde. Die subjektive Konstruktion von Sexualität ergibt sich nach Plummer nicht nur aus sexuellem Handeln; die Geschichten, die über dieses Handeln erzählt werden, sind hierfür ebenso konstitutiv: »People ›do‹ sexualities as well as telling stories about them. [...] A key feature of much of [...] new theoretical work is to locate sex- ualities within frameworks of scripts, discourses, stories, and male power« (Plum- mer 2005: 188). Plummer rekurriert im Kontext des Geschichten-Erzählens auf den Script-Begriff und ist deshalb für meinen transdisziplinären Zugang zu Sexualität anschlussfähig. Heterosexualität als Norm, von Butler als die heterosexuelle Matrix (1991) be- nannt, ist für meine Studie der zentrale Ausgangspunkt gesellschaftlicher Wertun- gen, Erwartungen und Zuordnungen der Geschlechterkonfiguration in der Sexua- lität. Gerade auch weil sie dieser strengen gesellschaftlichen Kontrolle unterliegt, 18 Sexualität – Geschlecht – Affekt enthält Sexualität gleichzeitig das Potential, diese Erwartungen – manchmal nur sehr unmerklich, manchmal durch radikale Transgression – zu transformieren. Die heterosexuelle Norm als hegemoniale Position gegenüber Bi-, Trans-, Inter- und Homosexualität hat die Naturalisierung von Heterosexualität in der Abgren- zungsbewegung zu anderen Formen von Begehren zur Folge. Ausserdem bewirkt sie eine institutionelle Einschreibung in eine Vielzahl von Alltagshandlungen (Ber- lant und Warner 2000: 319). Schlichter schlägt in Anlehnung an Butler vor, »he- terosexuelle Subjektivierung als überdeterminierten Prozess des ›Heterosexuell- Werdens‹ unter den Bedingungen der Heteronormativität zu begreifen« (Schlich- ter 2006: 236). Diskurse und Erzählungen zu Sexualität und Geschlecht werden im Folgenden im Sinne Schlichters auf diese Überdeterminierung des Heterosexuell- Werdens bezogen und die literarischen Schilderungen sexueller Scripts auf ihr Transformationspotential von Geschlechterkonfigurationen befragt. 1.2 Theoretische Debatten zu Sexualität und Geschlecht von der Nachkriegszeit bis heute Meine Studie richtet den Fokus auf theoretische Debatten zu Sexualität seit der Nachkriegszeit, da die diskutierten literarischen Texte zwischen 1954 und 2008 ver- fasst wurden. Theoretiker_innen 9 wie Giddens (1992), Beck und Beck-Gernsheim (2002), Schmidt (2004), Sigusch (2005; 2013) oder Illouz (2011) konstatieren, dass sich Intimität gegen Ende des 20. Jahrhunderts transformiert habe. Sie verbinden diese Transformation mit einer generellen Liberalisierung der Sexualmoral und mit hoch individualisierten Konzepten des Selbst. 10 Plummer betont darüber hin- aus, dass diese Transformationen ein beträchtliches Potential für Verstörung auf- weisen; zeitgenössische Verstörungen und Irritationen rückt er mit dem Begriff intimate troubles (Plummer 2003a: 3ff.) in den Fokus. In der Weiterentwicklung von Foucaults Befunden zu Sexualität in der Moderne konstatiert er in einem späteren 9 Die Schreibweise mit Unterstrich, auch als Gender Gap bezeichnet, setzt den Anspruch ei- ner geschlechtergerechten Schreibweise um. Der Gender Gap symbolisiert – ähnlich wie der Asterisk (*) – die Möglichkeit, eine dritte Geschlechterposition sichtbar zu machen: Er reprä- sentiert all diejenigen Geschlechterpositionen, die sich nicht dem Dualismus von männlich ODER weiblich zuordnen. Obschon diese Schreibweise (noch) umstritten und die Umsetzung bei Artikeln oder Präpositionen komplex ist, stellt sie hier den Versuch dar, mehr Geschlech- tergerechtigkeit in die Sprache einzuführen. Da auch der Gender Gap teilweise als Reifizie- rung eines Geschlechterdualismus gesehen wird, kann das Problem damit nicht gänzlich ge- löst werden, und so sind weitere Auseinandersetzungen mit der Frage nach geschlechterge- rechter Sprache unumgänglich. Vgl. hierzu auch hornscheidt (2012). 10 Zu einer kritischen Reflexion dieser Einschätzung aus einer feministischen Perspektive siehe Jackson (2005: 15ff.). 1 Einleitung 19 Text einen Transformationsprozess: »›Sex‹ is no longer the source of a truth, as it was for the moderns with their strong belief in science. Instead, human sexualities have become destabilized, decentered, and de-essentialized« (Plummer 2005: 188). Diese De-Essentialisierung führt zu einer Auffächerung davon, was Sexualität sein könnte, und gleichzeitig zur grossen Frage, was sie im 21. Jahrhundert noch bedeu- tet und wie sie richtig gelebt werden soll. 11 Die hieraus resultierende allgemeine Verunsicherung ruft Ängste hervor, Plummer wie auch Sigusch konstatieren eine generelle Destabilisierung männlicher und weiblicher Sexualität, die von grossen Ängsten begleitet ist (Plummer 2005: 188; Sigusch 2013). Der Begriff der postmo- dernen Sexualitäten 12 ( postmodern sexualities ), wie er von Simon (1996) verwendet wird, dient hier zur Bezeichnung des Spannungsverhältnisses einer Transformati- on, die sich einerseits als Freiheitsgewinn, andererseits – mit Plummer – als eine Zunahme von »intimate troubles« (2003a: 3ff.) fassen lässt. Das vergeschlechtlichte und sexualisierte Selbst wird in dieser Studi