Vandenhoeck & Ruprecht Esther Möller Orte der Zivilisierungsmission Französische Schulen im Libanon 1909–1943 Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Abteilung für Universalgeschichte Herausgegeben von Johannes Paulmann Band 233 Vandenhoeck & Ruprecht Orte der Zivilisierungsmission Französische Schulen im Libanon 1909–1943 von Esther Möller Vandenhoeck & Ruprecht Mit 1 Karte, 5 Abbildungen und 8 Tabellen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-10132-2 (Print) ISBN 978 - 3 - 666 - 10132 - 8 ( OA ) https://doi.org/10.13109/9783666101328 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Dieses Material steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Satz: Vanessa Brabsche Gedruckt mit freundlicher Unterstützung ###. Inhalt Danksagung ............................................................................................. 9 Einleitung ................................................................................................. 13 Forschungsgegenstand ..................................................................... 16 Forschungsstand ............................................................................... 29 Theoretische Herangehensweise ...................................................... 36 Quellen ............................................................................................. 46 Aufbau der Arbeit ............................................................................ 48 Transkription .................................................................................... 49 I. Das Projekt der mission civilisatrice in Frankreich ......................... 51 1. Kulturelle Expansion als politisches und gesellschaftliches Produkt ........................................................ 52 2. Zivilisierung durch Bildung: Schulen im Fokus der auswärtigen Kulturpolitik .................... 65 3. Die Verortung auf der Akteursebene: Lehrer als Träger der Zivilisierungsmission ............................ 69 II. Une ou Deux France? Die französische Schullandschaft im Libanon 1909 .................................................................................... 93 1. Rückbezug auf die französische Tradition im Libanon ........... 94 2. Unterstützung der Schulen auf Regierungsebene .................... 105 3. Mechanismen der Integration in die lokale Gesellschaft ......... 113 4. Zwischen Abgrenzung und Anpassung: Die Konfrontation der Mission laïque française mit den Beiruter Schulen ........... 123 III. Koloniale Bildung ohne Kolonie: Die französischen Schulen nach dem Ersten Weltkrieg ....................................................................... 135 1. Verkörperung und Inszenierung der mission civilisatrice ....... 141 2. Bildungspolitik als französisch-libanesische Partnerschaft ..... 150 3. Lehren und Lernen für Frankreich: Die ambivalente Vereinheitlichung von Abschlüssen und Prüfungen ................ 160 4. Zur Mobilität von Bildung: Wissens- und Erfahrungstransfer aus den Kolonien ...................................... 169 6 Inhalt IV. Sprachen zwischen Mission und Distinktion im Mandatsregime ... 177 1. Das Französische als Macht- und Identitätsmarker ................. 181 2. Arabischunterricht als Gratwanderung: Ignoranz oder nationales Bewusstsein? ................................... 197 V. Wer bildet den Libanon? Das Jahr 1925 als politische Zäsur .......... 215 1. Der Versuch einer Laizisierung der Zivilisierungsmission ..... 221 2. Forderungen nach arabischer Partizipation .............................. 234 3. Die Brisanz der Mädchenbildung ............................................. 246 4. Die Konstruktion der libanesischen Geschichte: Debatten an und über Schulen .................................................. 260 VI. Zwischen Markt und Moderne: Globale und soziale Herausforderungen für französische Schulen und die libanesische Gesellschaft ab 1930 .............................................. 275 1. Koloniale Bildung zum Anfassen: Die Beteiligung der Schulen an der Pariser Kolonialausstellung 1931 .................... 277 2. Bildung von Körper und Geist: Die Rolle der Erziehung außerhalb des Klassenzimmers ........ 291 3. Die Ehemaligenarbeit der französischen Schulen .................... 303 4. Die Verlagerung der Zivilisierungsmission: Verstärkte Kooperationen mit lokalen arabischsprachigen Schulen ......... 315 VII. Angst, Anpassung, Aufbruch: Reaktionen auf das nahende Mandatsende ...................................................................... 323 1. Zusammen gegen den Feind: Der Schulterschluss der französischen gegenüber anderen ausländischen Schulen ....... 328 2. Die Schulen als Forum für nationalistische Bewegungen ....... 345 3. Der arabische Libanon in den Curricula .................................. 364 4. In die Unabhängigkeit entlassen: Berufs- und Karrierewege von Absolventen und Absolventinnen französischer Schulen .. 370 Fazit und Ausblick ................................................................................... 385 1. Ergebnisse ................................................................................. 386 2. Historischer Ausblick ............................................................... 392 Anhang ..................................................................................................... 397 7 Inhalt Abkürzungen ........................................................................................... 399 Tabellen .................................................................................................... 401 Archive und Interviewpartner ................................................................. 407 1. Frankreich ................................................................................. 407 2. Libanon ..................................................................................... 410 3. Interviewpartner ....................................................................... 412 Bibliographie ............................................................................................ 413 1. Geschichtsbücher der Schulen .................................................. 413 2. Literatur .................................................................................... 413 Register .................................................................................................... 433 8 Inhalt Danksagung Dieses Buch ist das Ergebnis meiner 2011 an der Jacobs University Bremen eingereichten Dissertation. Beide wären nicht zur Vollendung gebracht wor- den ohne die großzügige Unterstützung vieler Personen und Institutionen. An erster Stelle möchte ich von Herzen meinem Doktorvater Marc Frey für die Betreuung der Arbeit, die Unterstützung in allen Momenten ihrer Entstehung und für seinen inhaltlichen Weitblick danken. Meinem Zweit- betreuer Harald Fischer-Tiné bin ich für die Impulse zur kolonialen Bildung und für seine komparative Perspektive sehr dankbar. Ein großes Merci geht außerdem an Bernard Heyberger, den dritten Gutachter der Dissertation, für die konstrutkive Kritik, aber letztendliche Unterstützung des Promotionsthe- mas, für alle Orientierung in der französischen und libanesischen Geschichte und für die Vernetzung mit weiteren Historikern, die zu französischer Bil- dungspolitik im Nahen Osten arbeiten. Für die finanzielle Unterstützung meines Promotionsvorhabens danke ich herzlich der Fritz-Thyssen-Stiftung, der Jacobs University Bremen, dem Orient-Institut Beirut, dem Deutschen Historischen Institut Paris und dem Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Im Rahmen der För- derung durch diese Institutionen erfolgte in der Regel auch eine Präsenta- tion und Diskussion meiner Forschungsergebnisse, wofür ich allen Beteilig- ten zu großem Dank verpflichtet bin. Dem Leibniz-Institut für Europäische Geschichte danke ich zudem herzlich für die Aufnahme der Arbeit in seine Schriftenreihe. Die Arbeit in den französischen und libanesischen Archiven war oft nur durch das Vertrauen und Engagement einzelner Personen möglich, insbe- sondere wenn es sich um private oder institutionelle Archive handelte. Stell- vertretend möchte ich an dieser Stelle Georgette Nakhlé, Charles Libois und Denis Paliès, Georges Krebs und Paul Henzmann danken, deren Unterstüt- zung mir den Zugang zu vielen unbekannten Quellen ermöglicht hat. Für die Vermittlung wertvoller Kontakte für Interviews im Libanon und in Frankreich geht ein herzliches »Schukran« außerdem an Walid Arbid, Emma Bosanski, Fatmé Saghir, Familie Zimmermann, Malek Sharif und Mohammad Soubra. Allen meinen Interviewpartnern in Paris und Beirut danke ich von Herzen für ihr Vertrauen, ihre Zeit sowie die Dokumente und persönlichen Erinne- rungen, die sie mir zur Verfügung gestellt haben. Glücklicherweise konnte ich die Ergebnisse und Fragen meiner Arbeit mit vielen KollegInnen im In- und Ausland diskutieren, die ich nicht alle nament- lich nennen kann. Repräsentativ sei an dieser Stelle Julia Hauser, Karène 10 Danksagung Sanchez, Jacques Thobie, Chantal Verdeil, Jérôme Bocquet, Kaïs Ezzerelli, Alain Messaoudi, Leyla Dakhli, Nadya Sbaiti, Dominique Trimbur, Chris- tian Sassmannshausen, Malek Sharif, Theodor Hanf, Carla Eddé, Kamal Salibi, Souad Slim, Bashar Abbas, Malgorzata Maksymiak, Johannes Wisch- meyer, Bernhard Gissibl, Manfred Sing und Sabine Dorpmüller für ihre kri- tische Auseinandersetzung mit meiner Arbeit und für alle wichtigen Hin- weise sowie Bereitstellung von Quellen- und Sekundärmaterial gedankt. Für die Unterstützung bezüglich der arabischen Quellen danke ich insbesondere Bashar Abbas, Alya Bahar und Manfred Sing. Damit aus der Dissertation ein Buchmanuskript wurde, habe ich von vie- len Seiten Unterstützung erfahren. Verbunden bin ich für gewissenhaftes und nimmermüdes Korrekturlesen Johannes Wischmeyer, Susanne Krause, Emmanuel Delille, Mareike Menne, Renate Adam, Hans-Martin und Ingrid Hohendorf, Julia Hauser, Maria und Matthias Kleimann, Johanna Möller, Julia Kerfin, Frauke Kersten, Aika Meyer, Silvia Hoffmann, Bernhard Gis- sibl, Manfred Sing, Thomas Deierling, Sara Mehlmer und Benan Sarlayan. Meiner Familie verdanke ich die Neugier und Offenheit, sich über Ost- westfalen hinaus für fremde Kulturen zu interessieren. Thomas kann ich nicht genug danken für die Unterstützung in allen Höhen und Tiefen mei- ner Promotion, für alle Diskussionen über die Arbeit und für die umfassende Versorgung in den letzten Wochen ihrer Fertigstellung. Karte: Du Mont Liban au Grand Liban. Quelle: Fabrice B alanche , Atlas du Proche-Orient arabe, Paris 2012, S. 28. Der Libanon vom Osmanischen Reich zum Mandatsregime 12 Danksagung Einleitung Im Archiv des von Jesuiten geführten Collège Notre Dame de Jamhour 1 in der Nähe von Beirut stieß ich auf ein schreibmaschinengetipptes Manuskript aus dem Jahr 1975, zu Beginn des libanesischen Bürgerkrieges. Darin hatten Schüler Interviews mit Nachbarn und Verwandten festgehalten, die sie nach deren Schulzeit zwischen 1890 und 1920 befragt hatten. Der Schüler Samir Abouda hatte notiert: L’USJ [L’Université Saint-Joseph 2 ], telle que la voyait [sic] les élèves d’autrefois, méritait fort bien le titre que lui avait donné Maurice Barrès, ce nom étant: ›Phare de l’Orient‹ 3 Zum »Leuchtturm des Orients« stilisierte bereits im Jahr 1923 4 der franzö- sisch-nationalistische Schriftsteller Maurice Barrès die Schule und Univer- sität der Jesuiten in Beirut. Auch im hier angeführten Zitat 50 Jahre spä- ter findet diese bis heute bekannte Metapher ihren Widerhall. Der direkte Bezug Samir Aboudas auf Barrèsʼ Metapher überrascht gleich durch dreier - lei: die positive Bewertung des durch die Schule vermittelten französischen Bildungssystems durch ehemalige Schüler, die ebenfalls positive Rezeption des umstrittenen Schriftstellers Barrès 5 durch seinen libanesischen Inter- viewpartner und die Aktualität dieses Themas über Generationen hinweg. Das Bild des Leuchtturms, der als Lichtquelle meist der einzige zuverläs- sige Orientierungspunkt und Richtungsweiser in der Dunkelheit ist, spiegelt eindringlich die Idee der Zivilisierungsmission (französisch mission civilisa- trice ) wider. Zivilisierungsmissionen waren seit dem späten 19. Jahrhundert Bestandteil aller imperialen Projekte europäischer wie auch einiger außer- 1 Diese französischsprachige Schule wurde in den 1950er Jahren in Jamhour eröffnet, als die ursprüngliche, gleichnamige Schule im Zentrum von Beirut die wachsende Schülerzahl nicht mehr fassen konnte. 2 Diesen Namen trug sowohl die von den Jesuiten geführte Université Saint-Joseph in Beirut als auch die ihr angeschlossene Sekundarschule, um die es in diesem Satz geht. 3 Samir a Bouda , 3.1, in: La vie scolaire au Liban de 1890 à 1920 environ. Enquête faite l’été 1975 par des élèves du Collège Notre-Dame de Jamhour, S. 43. NDJ, Rapport d’élèves 1975. 4 Ursprünglich bezog Maurice Barrès diesen Satz auf die Universität der Jesuiten in Beirut. Vgl. Enquête aux pays du Levant, Paris 1923, S. 33. 5 Bezüglich Maurice Barrès’ teils mystisch-bewundernder, teils kolonialistischer Wahrnehmung des Orients vgl. Bernard h eyBerger , Barrès Maurice, in: François P ouillon (Hg.), Dictionnaire des orientalistes de langue française, Paris 2008, S. 50–52. 14 Einleitung europäischer Gesellschaften, doch wurde ein zivilisatorischer Sendungsan- spruch von Frankreich besonders vehement für sich beansprucht: unter Beru- fung auf die französische Sprache als Trägerin universeller Werte waren viele französische Gruppen und Individuen davon überzeugt, die eigene Kul- tur bringe Licht und Fortschritt in ›dunkle‹, als rückständig wahrgenommene Regionen der Welt. Als besonders wirksame Stätten und Vehikel galten Bil- dungseinrichtungen wie Schulen oder Universitäten, da diese die französi- sche Kultur und Sprache durch das Angebot höherer Bildung flächendeckend und über lange Lebensabschnitte hinweg verbreiten konnten. Während diese Idee und ihre Praxis im Kontext der europäischen »Ver- schulung der Welt« 6 in allen kolonialen Gebieten Frankreichs weltweit implementiert wurde und oftmals auch auf Ablehnung stieß 7 , zeichnete sich der Libanon 8 dadurch aus, dass hier bestimmte Gesellschaftsschichten, die besonders unter den Christen aufgrund zahlreicher Verbindungen zu Europa stark vertreten waren, die französischen Schulen oft mit großem Interesse aufnahmen. Erst mit der Errichtung des kolonialen Mandatsregimes Frank- reichs Mitte des 20. Jahrhunderts wurden mehr Libanesen aus Gründen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Integration gezwungen, eine fran- zösische Bildungsstätte zu frequentieren. Dabei wurde die dahinterstehende Idee der französischen Zivilisierungsmission von einigen Libanesen über- nommen, von anderen dagegen rigoros abgelehnt und von wieder anderen nur zu bestimmten Zwecken selektiv angeeignet und adaptiert. Hierbei spielten wirtschaftliche und politische asymmetrische Machtverhältnisse eine entscheidende Rolle. Die unterschiedlichen Haltungen der Libanesen spiegeln die enge Verflechtung von Bildung, Sprache, kolonialer Herrschaft, politischer oder religiöser Identität und sozialer Differenzierung wider, durch welche die Bildungseinrichtungen einerseits inter- und intrakulturelles Kon- 6 Vgl. Jürgen o sterhammel , Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011, S. 1129. 7 Vgl. Denise B ouche , Histoire de la colonisation française, Paris 1991, S. 245; Nicola c ooPer , Making Indo-China French: Promoting the Empire through Education, in: Martin e vans , Cul- ture and Empire: An Overview, in: Ders (Hg.), Empire and Culture. The French Experience 1830–1940, London 2004, S. 131–147, S. 132. In Afrika kam es nach dem Ersten Weltkrieg zu einem stärkeren Interesse an französischer Bildung. Vgl. Pascal l e P autremat , La politique musulmane de la France au XX e siècle. De l’Hexagone aux terres d’Islam. Espoirs, réussites, échecs, Paris 2003, S. 315. 8 Die Bezeichnung Libanon wird im Folgenden auch für die Zeit vor der Gründung des Staa- tes Libanon in seinen heutigen Ausmaßen im Jahr 1920 verwendet. Auch wenn es während des Osmanischen Reiches den Libanon als Land oder Provinz noch nicht gab, ist damit für die Zeit des Osmanischen Reiches das Gebiet bezeichnet, welches dem Gebiet des heutigen Liba- nons entspricht. Dazu gehörten zur Zeit des Osmanischen Reiches das mutaṣarrif īya (Provinz) des Libanongebirges (Ǧabal Lubnān), die Küstenstädte Beirut, Tripoli und Saida sowie die vier ehemaligen osmanischen Verwaltungsbezirke von Hasbaya, Rashaya, Baalbek und Akkar. Vgl. Fawwaz t raBoulsi , A History of Modern Lebanon, London 2007, S. 80. 15 Einleitung fliktpotential schürten, andererseits aber auch als integrative Faktoren am Aufbau des neuen libanesischen Staates beteiligt waren. Dieser komplexen Verflechtungsgeschichte geht die vorliegende Studie nach, wobei die Frage im Zentrum steht, inwiefern Schulen unter franzö- sischer Trägerschaft im Libanon zwischen 1909 und 1943 als Orte der Zivi- lisierungsmission fungierten und zu welchen Zwecken sie von verschiede- nen Regierungs- und zivilgesellschaftlichen Instanzen in Frankreich und im Libanon genutzt wurden. Der Begriff Ort wird hier bewusst verwendet, um auf die Bedeutung des konkreten Raums hinzuweisen, in welchem die genannten Interaktionen stattfanden 9 . Das bedeutet allerdings nicht, dass der Konstruktionscharakter des Raumes und dessen Bedeutung als sozialer Raum, in welchem Machtbeziehungen konstituiert und in Frage gestellt wer- den, vernachlässigt wird, wie die soziologischen Raumtheorien in Anschluss an Pierre Bourdieu 10 und in jüngster Zeit auch die historische Bildungs- forschung 11 betonen. Untersucht wird erstmals die gesamte ideologische Bandbreite französi- scher Bildungseinrichtungen im Libanon, das heißt katholische, jüdische, laizistische und protestantische Schulen. Die Untersuchung erfolgt auf drei Ebenen: Erstens wird die Beziehung der Schulen mit französischen Regie- rungsvertretern und zivilgesellschaftlichen Gruppen, insbesondere mit der Kulturabteilung des Außenministeriums, dem Erziehungsministerium, den Konsulaten im Libanon und dem Hochkommissariat sowie mit Vertretern von Wissenschaft, Wirtschaft und Kirche, in den Blick genommen. Zwei- tens wird die Interaktion der Schulen mit der libanesischen Bevölkerung analysiert, wozu auch die Einbeziehung anderer lokaler und ausländischer Bildungseinrichtungen gehört. Drittens werden die pädagogischen, sozial- politischen und kulturellen Wandlungsprozesse innerhalb der Schulen selbst untersucht, das heißt politische Diskussionen innerhalb der Lehrerschaft, Konflikte über Lehrinhalte und -methoden mit den Schülern oder die Rezeption und Adaptation pädagogischer Reformen. Auf allen drei Untersu- chungsebenen – imperiale Einflussnahme der französischen Regierung auf die Schulen, Aneignung und Zurückweisung der Schulen durch die libane- sische Bevölkerung und Mittlerrolle der Schulen selbst – steht die Frage der Haltung der Schulen selbst im Mittelpunkt der Analyse. 9 Auf die konkrete Örtlichkeit der Schule hat auch Anthony Giddens hingewiesen. Er betont außerdem deren Abgeschlossenheit nach außen, ein Aspekt der in dieser Studie in Frage gestellt wird. Vgl. Anthony g iddens , Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main / New York 1995, S. 188–192. 10 Vgl. Pierre B ourdieu , Sozialer Raum und symbolische Macht, in: Ders., Rede und Antwort, Frankfurt am Main 1992, S. 135–154; Martina l öw , Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 180–183. 11 Vgl. Eckhardt F uchs / Christoph l üth , Transnationale Bildungsbemühungen und die Konstruk- tion des Raumes in historischer Perspektive, in: Bildung und Erziehung 6, 2008, S. 1–10. 16 Einleitung Forschungsgegenstand Die vorliegende Arbeit hat die Historisierung und Dekonstruktion der Idee der Zivilisierungsmission als Ausgangspunkt kolonialer Aushandlungspro- zesse über Bildung zwischen Franzosen und Libanesen zum Gegenstand. Dabei geht es um die Analyse der historischen Prozesse, die zur Entwicklung dieser Idee beigetragen haben sowie der unterschiedlichen Bedeutungen, die verschiedene Akteure ihr in unterschiedlichen Kontexten zuschrieben 12 Die Idee der Zivilisierungsmission ist ein Phänomen, das nicht nur franzö- sische Kolonialpolitik bestimmte, sondern ein zentrales Element kolonialer Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert allgemein bildete. In diesem Sinne hat Jürgen Osterhammel sie als handlungsleitende Überzeugung von der Überle- genheit der eigenen Kultur und den damit verbundenen praktischen Auswir- kungen definiert 13 . In der vorliegenden Studie wird die Zivilisierungsmission konkreter noch als bei Osterhammel als koloniale Praxis und in diesem Sinne gleichberechtigt neben der diskursiven Ausgestaltung einer zivilisatorischen Überlegenheit behandelt. Außerdem wendet sich diese Arbeit, indem sie nach der spezifischen historischen Genese und Entwicklung der Zivilisierungsmission in Frank- reich und in von Frankreich dominierten außereuropäischen Gebieten fragt, bewusst gegen eine zu starke Homogenisierung der Zivilisierungsmission als eines omnipräsenten Bestandteils aller kolonialen Ideologien. In der Tat sticht die Idee der mission civilisatrice dadurch hervor, dass sie als bereits zeitgenössisch kurrenter Begriff in der Rechtfertigung auswärtiger Kultur- und Kolonialpolitik Frankreichs eine zentralere Rolle gespielt hat als in den Diskursen und Praktiken anderer imperialer Staaten 14 Darüber hinaus ist es aber notwendig, auch diese Interpretationsebene weiter auszudifferenzieren, um zu einer Dekonstruktion der Zivilisierungs- mission zu gelangen. Gerade aufgrund der Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich zahlreich auftauchenden Konflikte zwischen klerikalen und anti- 12 Zum Begriff der Dekonstruktion in der Geschichtswissenschaft, speziell in der außereuropäi- schen Geschichte, vgl. Jürgen o sterhammel , Transkulturell vergleichende Geschichtswissen- schaft, in: Heinz-Gerhard h auPt / Jürgen K ocKa (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main / New York 1996, S. 271–313, S. 276. 13 Vgl. Ders., Europe, the »West« and the Civilizing Mission. The 2005 Annual Lecture, Lon- don 2006, S. 8; Jacques F rémeaux , Les empires coloniaux dans le processus de mondialisation, Paris 2002, S. 244. 14 Vgl. e vans 2004, S. 10; Jürgen o sterhammel , »The Great Work of Uplifting Mankind«. Zivi- lisierungsmission und Moderne, in: Boris B arth / Jürgen o sterhammel (Hg.), Zivilisierungs- missionen, Konstanz 2005, S. 363–425, S. 383; Philippe B eneton , Histoire de mots. Culture et civilisation, Paris 1975, S. 49–51; Annabelle s reBerny -m ohammadi , The Many Cultural Faces of Imperialism, in: Peter g olding / Phil h arris (Hg.): Beyond Cultural Imperialism. Globaliza- tion, Communication and the New International Order, London u.a. 1997, S. 49–68, S. 61. 17 Forschungsgegenstand klerikalen, monarchistischen und republikanischen Kräften ist es notwen- dig, nach deren unterschiedlichen Vorstellungen der mission civilisatrice zu fragen. In der Tat gab es, auch wenn diese von einem breiten gesellschaft- lichen Konsens in Frankreich getragen wurden, erhebliche Unterschiede im Verständnis der mission civilisatrice zwischen unterschiedlichen zivilgesell- schaftlichen Gruppen, die in Frankreich, aber auch in der französischen Bil- dungspolitik außerhalb Frankreichs agierten. Diese sind von der Forschung bisher nicht ausreichend gewürdigt wor- den, weshalb diese Arbeit sich das Ziel setzt, erstmals die unterschiedliche Ausgestaltung der Idee der Zivilisierungsmission von ideologisch so weit auseinander stehenden Gruppen wie französischen Katholiken, Laizisten, Protestanten und Juden im Libanon integrativ in den Blick zu nehmen und nach ihren Unterschieden, aber auch Gemeinsamkeiten zu fragen: kam es im gemeinsamen Agieren außerhalb Europas vielleicht sogar zu einer Über- einstimmung zwischen diesen Gruppen, die in Frankreich nie erfolgt wäre? Vor diesem Hintergrund wurden für die Analyse zentrale Dachorganisa- tionen und Missionsorden und ihre Bildungseinrichtungen ausgewählt, die ein unterschiedliches Verständnis von französischer Bildungsarbeit und der mit ihr verbundenen Zivilisierungsmission aufwiesen und zudem divergie- rende Beziehungen zum französischen und osmanischen bzw. libanesischen Staat hatten. Darüber hinaus stellten die ausgewählten Einrichtungen nicht nur spezifische Varianten französischer Bildung im Libanon dar, sondern stachen unter den bis zu 300 französischen Bildungseinrichtungen während der Mandatszeit 15 hervor, weil sie im Untersuchungszeitraum die höchsten Schülerzahlen verzeichneten und über eine hohe kulturelle Reichweite ver- fügten. Nicht nur Schüler aus dem Libanon, sondern auch aus der gesamten arabischen Welt frequentierten sie. Der räumliche Hauptakzent der Arbeit liegt auf den Schulen in Beirut, da sich insbesondere die Tätigkeit der laizistischen Organisation Mission laïque française 16 im Untersuchungszeitraum auf die Hauptstadt beschränkte. Zum anderen ist dieser räumliche Fokus praktisch durch das größtenteils nur noch in Beirut vorhandene Archivmaterial der einzelnen Schulen begrün- det. Zwei Schulen und ihre Archive konnten aber auch außerhalb Beiruts ausfindig gemacht werden. Querverweise zu französischen Bildungseinrich- tungen in anderen Städten und Dörfern werden zudem in die Untersuchung integriert, um ein möglichst flächendeckendes Bild der französisch-libane- sischen Schullandschaft zu vermitteln. Unter den katholischen Kongregatio- 15 In Syrien und Libanon zusammen gab es in der Mandatszeit über 400 französische Schulen. Vgl. MAE/Nantes, IP 130, »Renseignements statistiques«, 1936: Die Statistik dieses Jahres zählte 294 französische Schulen im Libanon und 435 in beiden Mandatsgebieten zusammen. Zur Anzahl der Schulen im Untersuchungszeitraum vgl. die Tabellen im Anhang. 16 Im Folgenden teils mit Mission laïque abgekürzt. 18 Einleitung nen sind neben den Jesuiten, die über eine sehr lange Tradition der Präsenz in der Levante verfügten und zudem stark international orientiert waren, die Lazaristen Gegenstand der Analyse, welche mit den Jesuiten in ständiger Konkurrenz lagen und ebenso wie die Frères des Écoles chrétiennes vor allem auf Frankreich ausgerichtet waren 17 Dabei können die Jesuiten auf die längste Präsenz im Libanon zurückbli- cken. Missionare dieses 1534 von Ignatius von Loyola gegründeten Ordens wurden bereits im 16. Jahrhundert in das Land der Zedern entsandt, um sich auf Geheiß des Papstes ein Bild der Situation der dortigen mit Rom unierten katholischen Gläubigen, der Maroniten, zu verschaffen und deren Bindung an Rom zu festigen 18 . Nachdem diese Mission auf positive Resonanz gesto- ßen war, errichteten die Jesuiten dann im 17. Jahrhundert mehrere Ordens- niederlassungen wie auch Missionsschulen in Syrien, Ägypten und im Liba- non, unter anderem in dem Ort Ayntoura (französisch Antoura). Im Jahr 1870 siedelten die Jesuiten als Reaktion auf den Aufschwung der Stadt Beirut ihr Priesterseminar, das zunächst in Ghazir errichtet worden war, und eine Schule in der Hafenstadt an, wobei sie der Schule 1875 die Université Saint- Joseph angliederten, nach dem 1866 gegründeten Syrian Protestant College , welche ab 1920 den Titel American University of Beirut trug, die zweite Uni- versität im Libanon. Die Jesuiten haben das intellektuelle Leben im Land stark mitbestimmt. Im Libanon unterhielten sie eine Vielzahl von Schulen, die sie nicht nur in den Städten, sondern auch in den Bergdörfern der Provinz des Libanongebirges (arabisch Ǧ abal Lubnān , französisch Mont Liban ). Auf diese Art und Weise erreichten sie mit ihrem Bildungsangebot eine große und vielschichtige Klientel 19 Die Lazaristen waren ein weiterer Orden mit ausgedehntem Aktionsra- dius im Libanon. Im Jahr 1625 von dem Priester Vincent de Paul in Paris unter dem Namen Congrégation de la Mission mit dem ausdrücklichen Ziel der Armenpflege und der Mission gegründet, expandierte der Orden bald weltweit. Auf den Libanon erweiterten die Lazaristen ihr Tätigkeitsfeld aller- dings erst im 18. Jahrhundert, wo sie zunächst einige Einrichtungen der Jesu- iten übernahmen und sich dann Mitte des 19. Jahrhunderts in Beirut nieder- ließen 20 . Selbst nach der Rückkehr der Jesuiten konnte der Lazaristenorden 17 Besonders ab dem Ersten Weltkrieg waren die Lazaristen von einem zunehmenden französi- schen Nationalgefühl geprägt. Vgl. Jérôme B ocquet , Missionnaires français en terre d’Islam: Damas (1860–1914), Paris 2005, S. 132. 18 Vgl. Charles SJ l iBois , La Compagnie de Jésus au »Levant«. La Province du Proche-Orient. Notices historiques, Beirut 2009, S. 59. 19 Besonders beeindruckend war die Anzahl der vom Jesuitenpater Joseph Delore gegründe- ten Schulen. Vgl. Lévon n ordiguian , Les petites écoles du Mont-Liban: Joseph Delore, s.j. (1873–1944), Beirut 2003. 20 Vgl. Pierre c orcKet , Les Lazaristes et les Filles de la Charité au Proche-Orient, Beirut 1983, S. 244. 19 Forschungsgegenstand die Schule in Ayntoura halten, diejenige ihrer Einrichtungen im Libanon mit der größten Schülerzahl, aber auch mit zunehmend höheren elitären Ansprü- chen 21 . Der außerdem untersuchte Orden der Frères des Écoles chrétiennes wurde zwischen 1680 und 1685 von dem Kanoniker Jean-Baptiste de la Salle explizit mit dem Ziel gegründet, Schulen speziell für arme Kinder einzurich- ten. Die Frères des Écoles chrétiennes gründeten nicht nur Schulen in ganz Europa, sondern auch in Nordafrika und im Nahen Osten, unter anderem in Palästina und dem Libanon. Zunächst reisten die ersten Mitglieder dieses Ordens im Jahr 1890 auf Bitten der Lazaristen nach Beirut, um diese in ihrer Arbeit zu unterstützen, eröffneten aber später mit dem Collège français du Sacré-Cœur die erste eigene Schule im Libanon. Ihre komparative Analyse verspricht neue Einblicke in das unterschiedli- che und oft paradoxe Verhältnis katholischer Orden zur französischen Nation. So waren die Lazaristen und die Frères des Écoles chrétiennes von den fran- zösischen Gesetzen zur Zurückdrängung der katholischen Orden in der Peri- ode von 1890 bis 1910 weniger stark betroffen als die Jesuiten 22 , deren Schu- len schon ab 1880 von der laizistischen Regierung der Dritten Republik in Frankreich verboten worden waren. Paradoxerweise förderte die Regierung den Jesuitenorden, wie auch die anderen Kongregationen, in der Levante zur gleichen Zeit jedoch finanziell weiter 23 . In dieser Zeit begann die ambiva- lente Beziehung zwischen der laizistischen Republik und den Jesuiten, die als Reaktion darauf ihren Dienst an Frankreich zunehmend herausstellten 24 Während für Jesuiten und Lazaristen die Erziehungsarbeit eine Aufgabe unter vielen darstellte, waren die Frères des Écoles chrétiennes explizit mit dem Fokus auf Bildung gegründet worden. Dadurch eröffnet sich eine weitere relevante Vergleichsebene, um die je unterschiedlichen Ausprägungen der mission civilisatrice erfassen zu kön- nen: der Umgang mit kultureller Differenz. Alle drei Orden unterschieden sich in der Tat signifikant in ihrem Verhältnis zur arabischen Sprache. Wäh- rend die Jesuiten, die auch wissenschaftliche Studien über die arabische Welt betrieben, in der Regel auch Wert auf deren Sprache legten, beherrschten viele Angehörige der Lazaristen und der Frères des Écoles chrétiennes das 21 Vgl. Victor h achem , Antoura, de 1657 à nos jours. Une histoire du Liban, Antoura 2003. 22 Beispielsweise gehörten die Lazaristen und den Frères des Écoles chrétiennes zu den fünf Kongregationen, die nach dem Gesetz zur Vereinigungsfreiheit von 1901 weiter bestehen blei- ben durften. Vgl. Jérôme B ocquet , Les Lois anticongréganistses et leurs effets au Levant, in: c aBanel , Patrick / d urand , Jean-Dominique (Hg.), Le grand exil des congrégations religieuses françaises 1901–1914, Paris 2005, S. 386–414, S. 386. 23 Vgl. Patrick c aBanel (Hg.), Une France en Méditerranée. Ecoles, langue et culture françaises, XIX e –XX e siècles, Paris 2006. 24 Vgl. Dominique a von / Philippe r ocher , Les Jésuites et la société française, XIX e –XX e siècles, Toulouse 2001, S. 75–82.